7 Lockvogel

Kitiara schlief traumlos. Als ihre Augen sich langsam öffneten, streckte sie sich und gähnte. Kit stellte erschrocken fest, daß ihr die Sonne hell in die Augen schien, und sie sprang bestürzt auf, wobei sie die Decke um sich zog.

Sie hatte am längsten geschlafen. Radisson, der gerade etwas an seinem Pferd festzurrte, grinste höhnisch. Trauerkloß saß bereits mit Sack und Pack auf seinem Maultier und wirkte so wach und zielstrebig wie seit Tagen nicht.

Mit schamrotem Gesicht huschte Kit hinter die Büsche, um ihre Männerkleidung anzulegen. Sie konnte Radisson kichern hören. Ursa sagte etwas zu ihm. Radisson murmelte noch etwas, doch Ursa befahl ihm, die Klappe zu halten. Wütend zog sie sich fertig an und kam wieder hinter den Büschen vor.

Ursa kam mit zornigem Gesicht zu ihr herüber. Er griff in die Tasche und holte einen Streifen Haarsträhnen von Kit heraus, die an einem Stück Mousselin befestigt waren. Mit einer Paste klebte er ihr den nachgemachten Schnurrbart so unsanft unter die Nase, daß sie zusammenzuckte. »Ja«, sagte Ursa beifällig, als er ihre männliche Verkleidung begutachtete.

In der ganzen Gruppe war eine gewisse Spannung zu spüren, jetzt, wo sie dem Ziel so nahe waren.

Aber wo steckte El-Navar? Sie entdeckte den sehnigen Karnuthier auf seinem weißen Hengst auf einer etwas entfernten Anhöhe, wo er mit der Hand seine Augen beschattete und nach Nordosten blickte. El-Navar saß fast wie ein Buckliger zusammengesunken im Sattel, denn wie gewohnt war er bei Tage wieder merkwürdig träge.

Für Kit hatte er keinen Blick übrig.

Sie merkte, daß sie den Karnuthier offen anstarrte und daß Ursa sie genau beobachtete. Deshalb wandte Kit ihr Gesicht abrupt dem Söldner zu.

»Warum habt ihr mich nicht eher geweckt?« wollte sie verärgert wissen.

»Warum bist du nicht von selber aufgewacht, Prinzessin?« flötete Radisson von seinem Pferd aus. Trauerkloß brach ganz untypisch in schallendes Gelächter aus.

Kitiara machte einen Schritt auf Radisson zu, während ihre Hand zu ihrem Messer glitt, das nicht da war – tatsächlich, sie war unbewaffnet, und zu ihren Kleidern gehörte weder ein Gürtel noch Schlingen für Waffen.

»Du hast dich gut ausgeruht«, sagte Ursa gereizt, der Kit den Weg abschnitt. »Du hast sowieso nicht viel zu tun. Aber jetzt beeil dich.« Er sah zur Sonne, die bereits die Hälfte ihrer morgendlichen Bahn zurückgelegt hatte. »Wir wollen doch unsere… Verabredung nicht versäumen.«

Kit sah unwillkürlich erneut zu El-Navar, doch der Karnuthier hatte sich nicht gerührt, ja, noch nicht einmal zu ihr hergesehen. Es sah aus, als würde er schlafen oder als wäre er tot, als wenn nur seine Augen lebten, die den Horizont absuchten.

Verdammt sollst du sein, dachte Kit kalt.

Während die anderen warteten, kümmerte sie sich um Cinnamon. Dann steckte sie – nur für alle Fälle – Gilons kleines Schnitzmesser ein. Minuten später hatte Kit sich schon auf die Fuchsstute ihres Vaters geschwungen und ritt als letzte der Söldnergruppe los, deren Mitglieder in weitem Abstand bereits dahinzogen. Heute ritt El-Navar ganz vorn, wenn auch im Sattel zusammengesunken. Die ganze Zeit warf er keinen Blick nach hinten.


Sie ritten über eine Stunde lang zügig voran und waren jetzt auf steilem, steinigem Gelände, das ins Ostwall-Gebirge führte. Kitiara schätzte, daß sie etwa eine Stunde von Silberloch entfernt waren und daß die Straße, die sie gelegentlich unten rechts zu sehen bekamen, die Hauptstraße war, auf der man mehrere Tage brauchte, um diese Bergkette zu umgehen. Sie war noch nie so weit im Norden gewesen, doch von groben Karten wußte sie, daß Silberloch am Fuß der Kette lag, die weiter oben bis auf vereinzelte Stellen praktisch unpassierbar wurde.

Nachdem sie noch etwas weiter geritten waren, kamen sie an ein wahres Labyrinth von Schluchten und Klamms. Sie hielten sich näher an die Hauptstraße, bis dann El-Navar weiter vorn ein Zeichen gab. Er zeigte nach Osten, saß ab, band sein Pferd fest und verschmolz mit den Steinen. Radisson und Trauerkloß ritten weiter, um dann bei El-Navars Pferd zu warten.

Als auch Kit nach vorn wollte, hielt Ursa die Zügel ihres Pferdes fest und zeigte hinter ihnen nach oben, einen steilen Abhang hoch.

»Da rauf«, sagte er, während er seine graue Stute wendete. Kit folgte ihm minutenlang direkt den Abhang hoch. Ursa ritt weiter Richtung Osten, und Kit folgte ihm, bis sie einen Absatz erreicht hatten, der über das Tal ragte und einen guten Blick auf eine Stelle erlaubte, wo die Hauptstraße sich geschmeidig durch die Felsen wand. Inzwischen konnte sie von El-Navar, seinem Pferd und ihren zwei anderen Gefährten nichts mehr erkennen.

Ursa gab ihr einen Wink, so still wie möglich zu sein. Er machte sein Pferd fest und kroch zum Rand des Felsvorsprungs. Kitiara folgte seinem Beispiel und schlich langsam auf Händen und Knien heran, bis sie beide über den Rand spähen konnten. Unten war niemand zu sehen. Ursa wies sie an, ihm zurück zu folgen, was sie tat, bis sie wieder bei den Pferden waren.

»Das ist die Stelle«, sagte Ursa mit leiser Stimme. »Und das ist deine Aufgabe…« Rasch stellte Ursa ihren Teil des Plans dar. Kitiara hatte die Demütigung am morgen immer noch nicht überwunden.

Trotz machte sich auf ihrem Gesicht breit, während sie zuhörte. Obwohl sie jetzt wußte, was sie bei der Sache zu tun hatte, hatte niemand sich darum geschert, ihr zu verraten, was am Ende für sie herausspringen würde. Oder worum es eigentlich ging. El-Navar hatte sie gestern abend angewiesen, einfach ihren Teil zu erledigen und alles andere zu vergessen. Aber sie war es leid, von allen wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen zu werden.

»Was ist, wenn etwas schief geht?« fragte Kit Ursa. »Oder wenn ich euch… helfen… oder retten muß?«

Ursas Gesicht war noch undurchschaubarer als je zuvor.

Als sie ihn zum ersten Mal getroffen hatte, war er sehr ironisch und lustig gewesen, aber jetzt war in seinem eisernen Blick nichts davon zu erkennen.

»Wenn etwas schiefgeht«, fuhr Ursa sie an, »läufst du weg. Du hast eine einfache Aufgabe: Mach deinen Teil und laß dich nicht erwischen. Bleib vor deinen Verfolgern, laß nicht zu, daß sie dich genauer ansehen können. Dann kehrst du um und triffst uns wieder. Mehr hast du nicht zu tun. Wenn du das schaffst, reicht das völlig.«

Kit schwieg und zog einen Schmollmund.

»Wenn etwas schiefgeht, dann denk dran: Du kennst uns nicht, und du bist nie hier gewesen.«

Er klopfte Kit auf die Schulter und stieg auf sein Pferd. Nachdem er es gewendet hatte, warf er ihr noch einen Blick über die Schulter zu. Sein Ausdruck wurde freundlicher, und einen Augenblick lang lag wieder etwas von dem alten Ursa in seinen dunklen Augen, etwas Einmaliges und Warmes. »Viel Glück«, sagte er und winkte beim Fortreiten.


Eine weitere Stunde verstrich. So hoch oben gab es nur wenig Bäume, die Kitiara Schatten spenden konnten. Das Sonnenlicht, das von den Felsen zurückgeworfen wurde, blendete sie; die Hitze war fast zu greifen. Kitiara hörte nur hin und wieder die Geräusche von einem Vogel oder einem Tier, und sie blickte so angestrengt nach unten auf die Stelle, wo die Straße eine Kurve machte, ohne etwas zu sehen, daß vor ihren Augen lauter Punkte flimmerten. Sie kam sich vor wie mitten in einem wirbelnden Schneesturm, wenn alle Farben dem Weiß gewichen waren. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihre Augen zu schließen, sich hinzulegen und einzuschlafen, doch sie erinnerte sich, was El-Navar und Ursa gesagt hatten. Sie mußte wach bleiben und ihre Aufgabe erfüllen.

Dann hörte sie, wie jemand näherkam, und duckte sich sofort. Aufgeregt schob sich Kit auf Händen und Knien nach vorne, bis sie gerade eben über den Rand blinzeln konnte. Sie konnten sie bestimmt nicht sehen, weil sie die Sonne gnadenlos blendete. Doch Kit ging kein Risiko ein und blieb unten.

Sie konnte ein Stück von der steinigen Straße erkennen, wo diese zwischen den zerklüfteten Felsen hervortrat. Dort ging die Straße mehrere hundert Meter weiter, verschwand dann wieder in den Felsen, bevor sie endlich wieder ganz in Sicht kam. Den ersten Teil der Straße beobachtete sie genau, denn sie wußte, daß Ursa und seine Söldner hinter den Felsen warteten, die die enge, zweite Kurve verbargen.

Ohne Vorwarnung tauchte ein Berittener oben an der Straße auf. Er trug eine Rüstung, die in der Sonne wie Silber glänzte. Außerdem hatte er einen Helm und eine kurze Lanze mit einem lila Federbusch. Er war offenbar auf der Hut, als er langsam ins offene Gelände herausritt. Sein Pferd, ein prachtvoller Fuchs, tänzelte nervös. Aber der Anführer mit dem Helm behielt sein Tempo bei. Dicht hinter ihm folgten weitere Männer zu Pferd.

Bei den Göttern, es waren über ein Dutzend Reiter in voller Rüstung und dabei schwer bewaffnet. Einige trugen farbenprächtige Uniformen, andere einfache Kleider. Die Männer mit Rüstung hatten ausgezeichnete Waffen, während die anderen, die wahrscheinlich Landarbeiter waren, Speere trugen.

Dieser beeindruckende Trupp war den Vieren, die ihm auflauerten, an Zahl und Bewaffnung weit überlegen. Erschrocken fragte sich Kitiara, ob sie Ursa und den anderen irgendwie ein Zeichen geben sollte. War ihnen klar, mit wieviel Männern sie es aufzunehmen hatten? Hatten sie die ganze Zeit geplant, einen solchen Gegner zu besiegen? Kit stieß einen leisen Überraschungslaut aus, als sie eine Gestalt in der Mitte der Gruppe ausmachte, die auf einem blassen Rotschimmel ritt, dem besten Pferd von allen. An dessen schmucken Sattel war eine kleine, verzierte Kiste gebunden, die – wie Kit vermutete – das begehrte Objekt enthielt.

Der Reiter dieses Pferdes war jung und schlank. Er hatte einen Schnurrbart und kurze, schwarze Haare und war unbewaffnet. Gekleidet war er in eine schwarze Herrenweste und eine weiße Spitzenbluse, und selbst von hier oben, aus einer Entfernung von mehreren tausend Schritt – besonders auf eine solche Entfernung –, erkannte Kitiara, daß man ihn leicht mit ihr verwechseln konnte.

Sie duckte sich noch tiefer und sah zitternd zu, wie die ersten Reiter hinter der Kurve verschwanden. Der Rest des Gefolges kam einzeln nach. Scheinbar endlos – in Wirklichkeit vielleicht nur einige Momente – herrschte gespannte Stille. Die Reiter würden etwa fünf Minuten brauchen, bis sie um die Kurve waren, schätzte Kit. Doch die Stille hielt an, bis Kitiara glaubte, sie müßte schreien. Es war, als würde alles schweigen, die Vögel, die Tiere, sogar der Wind. Kitiara verrenkte sich den Hals, konnte aber nichts erkennen.

Plötzlich ringelte sich vom Boden eine Staub- und Rauchwolke hoch. Die Wolke reichte nicht ganz bis zu ihrem Ausguck, so daß sie von oben auf sie herabsehen konnte. Sie hatte eine ungewöhnliche, perlweiße Farbe, die im Sonnenlicht fast durchsichtig aussah, doch innendrin schwirrten kleine, pechschwarze Teilchen herum.

Während sie noch staunte, knisterte die Wolke, und jedes der kleinen, schwarzen Teilchen brach auf. Soweit Kitiara erkennen konnte, stiegen an die tausend schwarze Krähen auf, die krächzten und kreischten und in einer so dichten, entsetzlichen Masse herumflogen, daß Kit die Augen zukniff und die Arme in die Luft warf, um sie abzuwehren. Ob sie echt waren oder nur Illusion, wußte sie nicht, doch als sie nach einigen Sekunden wieder die Augen aufschlug, waren sie allesamt verschwunden. Als sie hinunterschaute, sah sie, daß die perlweiße Wolke sich ebenfalls aufgelöst hatte.

Während dieses Vorfalls hatte Kit vage mitbekommen, daß unten geschrien, geflucht und gekämpft wurde. Sie meinte, Ursa hätte etwas gerufen. Sie hörte Stöhnen und Todesschreie und hoffte, daß El-Navar nicht unter den Sterbenden war.

Unter ihren Augen kamen mehrere der Ritter und Feldarbeiter um die Kurve herum geritten, wo sie offenkundig verwirrt haltmachten, als wäre etwas, das sie gejagt hatten, auf einmal verschwunden. Zwei oder drei von ihnen waren verwundet und bluteten. Verdächtigerweise fehlte der junge Edelmann, und Kitiara überschlug schnell, daß von der ursprünglichen Zahl Männer etwa die Hälfte fehlte.

Wie Ursa und seine Männer entkommen waren – falls sie entkommen waren –, wußte Kitiara nicht, aber das hier war ihr Einsatz.

»He da!« rief sie mit der tiefsten Stimme, die sie zustande brachte. Sie stand auf dem Felsvorsprung, wo sie für die dort unten deutlich sichtbar war, und winkte mit den Armen. Auf den aufwärts gerichteten Gesichtern konnte Kitiara die Verwirrung darüber sahen, daß ihr Herr so weit oben und so fern war. »Hier hoch!« rief sie. »Schnell!«

Dann fegte Kit außer Sichtweite, um auf die wartende Cinnamon zu springen. Nachdem sie einen Moment gelauscht hatte, registrierte sie zufrieden Stimmengewirr und dann Hufgeklapper auf der Straße. Sie wußte, für den Aufstieg würden sie eine Weile brauchen.

Sie hetzte Cinnamon die Serpentinen eines wenig begangenen Pfads hinauf, der noch höher in die Berge führte. Zweige peitschten Kit ins Gesicht. Scharfe Felsvorsprünge kratzten ihr die Beine auf. Einmal geriet Cinnamon ins Stolpern, und Kitiara mußte absteigen und sie am Zügel ziehen, um die Stute wieder in Gang zu bringen. Kleine Tiere schossen vor Kit über den Weg. Ein ärgerlich kreischender Habicht flog auf.

Nach ein paar Minuten stieg Kitiara ab und suchte sich, noch keuchend vor Anstrengung, eine neue Felsnase, die einen guten Blick über das Gelände unter ihr versprach. Sie wartete. Kurz darauf kam die Gruppe bewaffneter Ritter und Arbeiter in Sicht. Sie sahen sich um, blickten über den Rand und dann nach oben. Als sie nichts entdeckten, begannen sie, miteinander zu streiten.

»He da!« Kit stand wieder auf, winkte wild und sah die überraschten, argwöhnischen Mienen der Männer, als diese sie erblickten. Einer von ihnen schrie ihr etwas zu, was sie nicht verstand.

»Sie sind hier oben! Ich habe einen gefangengenommen. Die anderen – « Kitiara fand es ganz geschickt, den Satz abzubrechen und gleichzeitig zu verschwinden. Sie lauschte kurz und hörte, wie sie sich wieder stritten. Sie wußte, einer oder zwei würden vielleicht zurückbleiben, aber selbst wenn die anderen nicht mehr davon überzeugt waren, daß sie ihr junger Herr war, konnten sie die Chance nicht verstreichen lassen, sich durch ihre Ergreifung zu den anderen Wegelagerern führen zu lassen.

Als Kit Cinnamon wieder bestieg, hörte sie unten die Pferde schnauben und wiehern, bevor sie ihr wieder den felsigen Hang hinauf nachkamen. Sie sah sich um und wählte einen anderen, noch schmaleren und gefährlichen Pfad, der sich nach oben schlängelte. In diesen Bergen konnte sie endlos Haken schlagen und irgendwann die anderen abschütteln, die nicht umkehrten. Sie mußte sich bloß von Silberloch fernhalten, und sie durfte sich nicht verirren!


Stunden später und ein Dutzend Meilen nordöstlich ihres Ausgangspunkts war Kitiara sich sicher, daß sie ihre Verfolger los war und keinen Grund mehr hatte, vorsichtig zu sein.

Bei einem Flußlauf hielt sie an und freute sich über die willkommene Erfrischung. Dann schöpfte sie Wasser und kippte es sich über den Kopf. Cinnamon senkte den Kopf und trank neben ihrer Besitzerin. Kitiara riß sich den Schnurrbart ab und warf ihn ins Gebüsch. Dann gestattete sie sich eine kurze Erholungspause, in der sie auf dem Rücken lag und die Strahlen der bereits absteigenden Sonne genoß.

Kitiara rechnete mit etwa zwei Reitstunden bis sie den Treffpunkt wieder erreichte. Das würde deutlich nach Einbruch der Dunkelheit sein.

Es waren wirklich fast zwei Stunden vergangen, als Kitiara sich dem Lagerplatz der letzten Nacht näherte. Müde und wund hing sie im Sattel, denn sie war viel erschöpfter, als sie gedacht hätte. Auch Cinnamon lief nicht mehr leichtfüßig, sondern schleppte sich regelrecht über den Waldpfad.

Als Kit sich dem Treffpunkt näherte, sah sie überrascht, was dort alles herumlag – zerrissene Kleider, kaputte Waffen, ein paar Münzen, etwas Schmuck und Holzstücke, die zu der Schatzkiste gehört hatten, die Gwatmeys Sohn dabei gehabt hatte. Sie bemerkte auch Spuren, die vom Weg wegführten.

Kit war auf der Hut, saß ab, zog ihr Messer und drang langsam ins Unterholz vor. Dort sah sie, daß Büsche und Zweige zertrampelt waren und daß diese Spur weiter in den dichten Wald führte. Tief gebückt folgte Kitiara dem Trampelpfad. Gleich würde es dunkel werden, doch sie war hellwach, und ihr Atem ging schnell.

Schließlich stieß Kit auf eine zertrampelte Gestalt, die mit dem Gesicht nach unten auf der Erde lag. Sie war der Länge nach ausgestreckt, als wäre sie davongerannt und dann mit solcher Gewalt niedergestreckt worden, daß sie nicht wieder hochgekommen war. Erschrocken blieb Kit stehen, um sich rasch umzusehen, doch sie entdeckte und hörte nichts.

Vorsichtig näherte sie sich. Dann drehte Kit den Körper mit wachsendem Entsetzen herum. Sie hielt die Luft an, als sie den Menschen erkannte, der ihr zum Verwechseln ähnlich sah – den jungen Edelmann mit seinen kurzen, schwarzen Haaren und dem dünnen Schnurrbart. Gwatmeys Sohn, der Mann, den sie verkörpert hatte. Er war tot.

Schlimmer als tot. Seine Vorderseite war in Fetzen gerissen, so daß Teile der Eingeweide heraushingen und an jeder Wunde das Blut geronnen war. Er sah aus, als hätte ein wildes Tier ihn zerrissen und dann – bei diesem Gedanken zuckte Kit zusammen – halb aufgefressen. Nur sein friedliches, schneeweißes Knabengesicht war anscheinend unberührt.

Es war das erste Mal, daß Kit einen Toten aus solcher Nähe sah. Es war das erste Mal, daß sie selbst für einen Tod verantwortlich oder zumindest mitschuldig daran war. Sie fühlte weder Bedauern noch Mitleid, sie war nur schockiert und hatte Angst.

Nachdem Kitiara zurückgetaumelt war, verlor sie völlig die Orientierung. Sie drehte sich um, rannte los, fiel hin, sprang auf, rannte weiter – wohin, wußte sie nicht –, wobei sie mit einem Arm Zweige aus dem Weg stieß, während sie mit dem anderen ihre Augen schützte. Sie konnte ihr Pferd nicht finden. Sie konnte nicht atmen. In der rasch hereinbrechenden Dunkelheit konnte sie nichts mehr sehen. Wieder stolperte Kitiara, aber dieses Mal stand sie nicht wieder auf. Sie lag einfach da und schlief ein.

Kit lag mit dem Gesicht zum Himmel auf der Erde.

Sie träumte von einem jungen, reinen und schönen Gesicht, das nicht zu seinem verstümmelten Körper gehörte, einem Gesicht, das ihrem eigenen auffällig ähnlich sah.


Im Unterholz war ein Knacken zu hören, und Kit spürte, da mußte irgend etwas sein. Noch bevor sie richtig wach war, wußte Kit, sie war nicht länger allein.

Sie versuchte, sich aufzusetzen, doch eine Hand auf ihrer Brust stieß sie zurück, und als sie die Augen aufschlug, sah sie Ursa. Er legte den Finger an die Lippen und flüsterte: »Pst. Sei ganz still.« Er hockte gebückt neben ihr, und seine Blicke schweiften zwischen den Bäumen hin und her.

Es war stockdunkel; Mitternacht war bereits vorüber. Die Luft hatte sich abgekühlt. Kit bemerkte, daß ihr Pferd und das von Ursa in der Nähe festgebunden waren. Zwischen den Bäumen konnte sie nicht sehr weit sehen. Für Kits Ohren hörte sich ihr eigenes schnelles Atmen laut an.

Nach endlosen Sekunden ließ Ursas Griff nach, und Kit konnte sich aufsetzen. Sie versuchte, sich zu sammeln und sich daran zu erinnern, was geschehen war und wie sie hierher gekommen war. Ach ja, ihr fiel alles wieder ein: Der Hinterhalt, das Täuschungsmanöver, der Rückritt, und wie sie dann… den verstümmelten Körper des jungen Edelmanns gefunden hatte.

Obwohl Kit wahrscheinlich nur ein paar Stunden geschlafen hatte, fühlte sie sich wie neugeboren. Sie hatte keine Angst mehr, sondern war richtig zuversichtlich. Sie sah sich nach den anderen um. Ursa stand auf, um ein kleines Feuer anzuzünden. Sie und Ursa befanden sich in einer kleinen Senke, die von Felsen und Büschen umgeben war. Ein gutes Versteck. Ursa mußte sie hierher getragen und Cinnamon gefunden haben.

»Wo sind El-Navar und die anderen?« fragte sie.

»Warten irgendwo«, sagte Ursa, der ihr den Rücken zukehrte. Seine Stimme klang betroffen. Er war damit beschäftigt, eine Brühe zu kochen – goß Wasser aus einer Feldflasche in eine große Blechtasse, fügte ein paar Zutaten aus den Behältern in seinem Gepäck dazu und hielt dann alles mit einer Astgabel über das Feuer.

Kitiara kam ans Feuer und setzte sich so hin, daß sie sein Gesicht richtig sehen konnte. »Haben sie euch verfolgt?« fragte sie besorgt.

»Dich?« fragte Ursa. Sein Ton verriet überhaupt nichts. »Ich habe sie vor Stunden abgeschüttelt«, erklärte Kit mit einem gewissen Stolz. »Zuerst dachten sie, ich wäre… du weißt schon, genau wie du gesagt hast.« Ihr Gesicht verdüsterte sich bei der Erinnerung an den gemeuchelten Edelmann. Falls Ursa das Zittern in ihrer Stimme bemerkt hatte, unterbrach er sie dennoch nicht.

»Aber dann«, fuhr Kit fort, »haben sie mich eine Weile durch die Berge gehetzt. Ich bin immer genau so weit vor ihnen geblieben, daß sie glaubten, sie könnten mich einholen.« Sie mußte etwas Kichern. »Als sie dann erschöpft aufgaben, schlug ich einen großen Bogen und kam hierher zurück, wo ich euch treffen sollte. Dann…« Ihre Stimme brach ab.

»Hier«, sagte Ursa, der ein Stück Stoff um die Blechtasse gewickelt hatte und sie ihr reichte.

»Was ist das?«

»Hat keinen Namen«, antwortete Ursa.

»Schmeckt gut«, meinte Kit, nachdem sie daran genippt hatte. Es schmeckte wie starker Tee, aber nahrhafter. Der Geschmack der Brühe erinnerte an eine Mischung aus Wurzeln und pulverisiertem Fisch. Kitiara hatte nicht gemerkt, wie hungrig sie war.

»Mhm«, machte Ursa nur. Sie wartete, daß er noch etwas anderes sagen würde, aber er saß bloß da und beobachtete sie minutenlang, bis sie die Tasse geleert hatte.

»Wo sind die anderen?« fragte sie wieder.

»Warten irgendwo«, wiederholte er.

»Das hast du schon gesagt.« Jetzt wurde Kit wütend.

Er starrte sie eine lange Minute an. »Sie kommen nicht«, sagte er, »und ich gehe auch bald.«

»Was soll das heißen?«

»Schau mal, sie wollten nicht einmal, daß ich herkomme«, erklärte Ursa schlicht. »Ich bin nur gekommen, um mich zu vergewissern, daß mit dir alles in Ordnung ist.«

»Warum?« wollte sie wissen. »Was soll das heißen? Was ist passiert?«

Er sah sie wieder lange an, bevor er antwortete. Dann stand er auf, um auf und ab zu laufen, ehe er sie ansah. »Ich finde, du hast ein Recht, es zu erfahren.«

»Was zu erfahren?«

Ursa setzte sich wieder, wobei er auf ihre Reaktion achtgab. »Die Zwerge in Silberloch bauen eine Straße durch die Berge. Der Trupp, den wir ausgeraubt haben, hatte ihren Lohn für ein halbes Jahr dabei – genug Gold und Silber, um uns vier für zehn oder sogar zwanzig Jahre reich zu machen.«

»Uns fünf«, korrigierte sie knapp.

Er ging nicht darauf ein.

»Die Straße«, fuhr Ursa ungerührt fort, »sollte zwei Landsitze auf beiden Seiten dieser Bergkette verbinden. Ohne die Straße braucht man Wochen, manchmal Monate, um von einem Gut zum anderen zu kommen. Eine direkte Verbindung würde die Zeit auf eine Woche oder höchstens zehn Tage verkürzen.«

»Ja, und?« fragte Kitiara. Warum erzählte er ihr das alles? Ursa seufzte. »Nun, Kitiara, wenn du ausnahmsweise mal zuhören könntest, anstatt mich dauernd zu unterbrechen… Es ist immer gut für einen Söldner, etwas mehr über seine Aufgabe zu wissen, als nur wann er kämpfen oder was er stehlen soll. Zum Beispiel wie und warum man etwas macht. Warum brauchen diese zwei Landgüter eine so teure, direkte Verbindung, und was haben wir damit zu tun?«

Kitiara mußte zugeben, daß das eine vernünftige Frage war. Sie schlug einen versöhnlicheren Ton an. »Gut«, meinte sie neugierig. »Weiter.«

»Auf der anderen Seite der Berge wohnt ein reicher Winzer, dessen Felder von Minotauren bestellt werden, die bei Schlachten im Ausland gefangengenommen wurden. Der Winzer ist als Lord Mantilla bekannt, ist aber genausowenig adlig, wie ich Barde aus Silvanesti bin. Die Minotauren kauft er zu hohen Preisen auf Sklavenauktionen. Dieser Winzer hat eine Tochter namens Luz, die sich auf einer Reise zu einer solchen Auktion in einen jungen Edelmann verliebt hat. Der junge Edelmann lebt auf der anderen Seite der Berge. Sein Vater ist ein eingebildeter Waldbesitzer, dessen Familie schon seit Generationen ein weiter Landstrich hier gehört, und dessen Sohn sein größter Stolz ist. Er ist wirklich von Adel, ein ehemaliger Ritter von Solamnia mit dem Namen Sir Gwatmey.«

»Ich verstehe«, sagte Kitiara mit großen Augen. Aber sie verstand gar nichts. Diese lange, nächtliche Erzählung erinnerte sie an jene Geschichten, die ihr Vater ihr immer erzählt hatte und bei denen sie meist eingeschlafen war. Aber jetzt war sie nicht schläfrig, und sie war sicher, daß Ursa auf etwas hinauswollte.

»Nein, du verstehst nicht«, sagte Ursa, wenn auch etwas freundlicher als zuvor. »Noch nicht. Als junger Mann hat der Winzer für den Förster gearbeitet, wurde jedoch schlecht entlohnt und beschuldigt, Vorräte aus dem Herrenhaus gestohlen zu haben. Nachdem er voller Wut davongezogen war, durchquerte er die Berge und gründete sein eigenes Gut, auf dem er ein neues Leben anfing. Das Schlimmste, was ihm passieren konnte, war die Heirat seiner Tochter mit dem Sohn seines Feindes, darum gab er sich alle Mühe, den Heiratsvertrag zunichte zu machen.

Aber das mußte er so tun, daß seine Tochter nichts von seinem Tun mitbekam, denn die hat ihren eigenen Kopf und hätte darauf bestanden, ihren Willen auch gegen den seinen durchzusetzen.«

»Hmmm.« Allmählich fügte sich eins zum anderen.

»Jetzt hat Radisson zufällig einen Bruder, der in Lord Mantillas Haushalt arbeitet. Radissons Bruder wurde beauftragt, eine Gruppe Söldner anzuheuern, die den Lohn abfangen sollten, um so den weiteren Bau der Straße durch die Berge zu stoppen, der Teil des Heiratsvertrags war. Die Lohnkiste war so wertvoll, daß der Förster seine Straße jetzt lange Zeit nicht mehr zu Ende bauen kann, vielleicht sogar nie mehr. Die Zwerge werden nicht weiterarbeiten, wenn sie von dem Überfall hören, und keine andere namhafte Kolonne von Straßenbauern wird den Fehler machen, die Aufgabe zu übernehmen. Keine Straße, keine Hochzeit.«

»Habt ihr die Kiste bekommen?« fragte Kitiara etwas verwirrt.

»Ja«, antwortete Ursa finster. »Drei von ihnen wurden getötet, aber von uns hat keiner auch nur einen Kratzer. Es ist uns gelungen, den Sohn des Edelmanns zu fangen und im Schutz der magischen Rauchwolke, die Trauerkloß zusammengebraut hat, zu entkommen. Dann hast du den Rest der Wachen auf einer wilden Jagd in die falsche Richtung geführt. Soweit ging alles glatt und wie geplant.«

»Aber warum feiern wir dann nicht? Was ist schief gegangen?«

»Etwas, womit wir nicht gerechnet hatten«, sagte Ursa mit bitter verzogenem Mund. »Auf der Truhe lag ein Zauber. Wir konnten sie nicht öffnen. Trauerkloß hat alles Erdenkliche versucht, aber seine Magie ist begrenzt, er kann im Grunde nur Illusionen erzeugen, aber nichts wirklich verändern. Wir haben alles versucht, um Beck – den Sohn des Edelmanns – dazu zu bewegen, uns das Geheimnis des Zaubers zu verraten. Aber Beck Gwatmey erwies sich als eingebildeter Pinsel, der uns weder etwas über die Truhe erzählte, noch davon abließ, uns die ganze Zeit zu erklären, wie er uns einsperren und hinrichten würde.«

Jetzt war Ursa aufgestanden. Er hatte ihr wieder den Rücken zugedreht und sprach mit vor Anspannung tiefer Stimme.

»Ich habe seinen Körper gesehen«, meinte Kit leise.

»Das gehörte nicht zum Plan«, sagte Ursa rauh. »Das war El-Navar, der sich nicht im Zaum halten konnte.«

»El-Navar?« setzte Kit verwundert an.

Ursa fuhr herum und packte sie an den Schultern. »Er ist ein Gestaltwandler, du Dummchen! Weißt du denn gar nichts über Karnuthier? Warum sie in diesen Teilen der Welt nie auftauchen? Sie können sich in blutrünstige Panther verwandeln – können es und tun es, besonders bei Nacht. Das ist ihr wahres Wesen. Sie können nicht schwimmen und haben panische Angst vor Wasser, weshalb sie nie das Meer überqueren. Aber El-Navar wurde in seiner Heimat gefangengenommen und in einem Schiff über den Ozean gefahren. Auf dem Kontinent konnte er seinen Häschern entkommen, und dann habe ich ihn kennengelernt. Meistens kann er sich beherrschen, wenn er zum Panther wird. Er ist ein guter Gefährte. Aber manchmal überkommt es ihn einfach. Er nimmt seine Tierform an und…«

Kitiara war sprachlos. Mit glasigen Augen kämpfte sie mit der Vorstellung, daß El-Navar sich in einen Panther verwandeln konnte. Das erklärte den merkwürdigen Unterschied zwischen seinem Verhalten bei Tag und bei Nacht.

»El-Navar«, fuhr Ursa fort, »hat sich so aufgeregt, daß er sich vor unseren Augen verwandelte und Beck angriff. Er hat ihn zerrissen und gefressen. Es war unglaublich. So etwas habe ich noch nie gesehen. Bevor wir überlegen konnten, was wir tun sollten, war es auch schon vorbei. Ich weiß auch nicht, ob wir überhaupt etwas hätten ausrichten können, selbst wenn wir es versucht hätten.«

Jetzt machte Ursa eine Pause, denn ihm versagte die Stimme. »Das Komische ist«, fügte er nach einer Weile hinzu, »daß der Zauber auf der Truhe gebrochen war. Was es auch war, der Zauber hing mit Becks Leben zusammen. Als Beck tot dalag, war es auch mit dem Zauber vorbei. Wir konnten die Truhe öffnen, das Gold und das Silber nehmen und so schnell wie möglich vom Schauplatz dieses Alptraums verschwinden.«

Kitiara dachte schweigend nach. Jetzt begriff sie. »Und El-Navar?«

Ursa fuhr wütend herum. »Vergiß El-Navar«, sagte er zornig zu ihr. »Der ist davongerannt. Wir haben ihn eingeholt, aber da war er schon wieder… Mensch. Mach dir keine Sorgen um El-Navar. Du führst dich auf wie eine liebestolle Kuh.«

»Mit Liebe hat das gar nichts zu tun«, behauptete Kit nachdrücklich. Sie stand auf, um Ursa anzustarren.

Der sah ihr in die Augen. Sie hielt den Blick stand. Nach einem Moment trat er zurück und setzte sich müde hin. »El-Navar geht es gut«, erzählte er ihr ruhiger. »Sie warten ein paar Meilen weiter. Keiner wollte das Risiko eingehen, zum Treffpunkt zurückzukehren.«

»Na, großartig«, schnaubte Kitiara, die sich wieder setzte.

»Dann bin ich also die einzige, die sich noch als Teil der Gruppe betrachtet.«

»Ich bin zurückgekommen«, betonte Ursa. Er schlug die Augen auf, um sie anzusehen, und sie nickte dankbar.

Einen Augenblick herrschte Stille. Sie waren von Schwärze umgeben und sahen sich über das kleine Feuer hinweg an.

»Trotzdem«, fügte er sorgenvoll hinzu, »ist es eine üble Sache. Keiner hat uns beauftragt, Beck zu töten. Sir Gwatmey wird ein Kopfgeld auf uns aussetzen, und ich habe keine Ahnung, wie Lord Mantilla die Nachricht aufnehmen wird. Wenn er schlau ist, sagt und unternimmt er gar nichts. Er haßt die Familie Gwatmey. Aber die ganze Geschichte könnte unter Umständen auf ihn zurückfallen. Und was El-Navar getan hat, könnte darauf hinweisen, daß ein Karnuthier bei uns ist, und jeden seiner Kameraden verraten.«

»Das heißt?« fragte Kitiara.

»Das heißt«, erwiderte Ursa, »daß ich es für das Allerbeste halte, wenn wir uns eine Zeitlang trennen, diesen Teil der Welt völlig meiden und nicht auffallen. Wir lassen Gras über die Sache wachsen. Warten wir ab, was passiert.«

Kitiara dachte darüber nach. »Na schön«, stimmte sie zu. »Gib mir meinen Anteil. Ich wollte ursprünglich sowieso nur bei dieser einen Sache mitmachen.«

»Du hast nicht verstanden«, sagte Ursa, der aufstand und zu seinem Pferd ging, um am Sattel und an den Zügeln herumzufummeln. Er drehte sich um und sah sie an. »Du hast nie zu uns gehört. Wir haben dich nur gebraucht, um den Plan zu vereinfachen, um Radisson zu ersetzen, damit der uns beim Angriff helfen konnte. Du bekommst keinen Anteil.«

»Was?« Kit sprang auf und stürzte sich mit gezücktem Messer auf ihn. Aber Ursa bewegte sich noch schneller und ergriff sie am Handgelenk. Er bog es zurück, bis das Messer ihr ins Gesicht zeigte. Mit der anderen Hand schlug er sie kräftig ins Gesicht. Dann entwand er ihr das Messer und stieß sie weg.

»Sie würden nicht zulassen, daß ich dir einen Teil gebe«, sagte er wie zur Entschuldigung. »Selbst wenn ich wollte.«

Kitiaras Gesicht war vor Wut verzerrt. Sie machte wieder einen Schritt auf Ursa zu, doch der drohte ihr mit dem Messer, und sie wich zurück.

»Wenigstens bin ich zurückgekommen«, betonte er zwischen zusammengepreßten Zähnen. »Ich bin zurückgekommen, um zu sehen, ob es dir gutgeht. Die anderen wollten weiterreiten.«

»Na dann herzlichen Dank«, spie Kit heraus. Sie sah sich nach einer anderen Waffe um, nach etwas, egal, was, womit sie werfen konnte, aber es gab nichts.

Ursa beobachtete sie einen Augenblick lang, bis er sicher war, daß sie wirklich nichts fand. Dann drehte er sich zu seinem Pferd um, band ein langes Bündel los, das in einen dünnen Leinenstoff eingewickelt war, und warf es ihr vor die Füße.

»Was ist das?« fragte sie verächtlich, ohne es richtig anzusehen.

»Mach’s auf«, sagte er.

Vorsichtig bückte sich Kit und löste die Schnüre und den Stoff, bis sie eine beschlagene Lederscheide in der Hand hielt, aus der sie ein Kurzschwert zog: beinerner Griff, schwere, geätzte Klinge, Heft und Handschutz mit winzigen, glitzernden Steinen geschmückt. Es war das hinreißendste Schwert, das sie je in der Hand gehabt hatte.

»Gehört dir«, sagte Ursa. »Das ist soviel wert wie ein gutes Pferd.«

»Wieso ich?« fragte Kit mißtrauisch, während sie es ausprobierte.

»Becks Schwert«, sagte Ursa ungerührt. »Offensichtlich von persönlicher Bedeutung, vielleicht ein Erbstück. Das einzige, was wir damit machen könnten, wäre, es zu vergraben. Du kannst es nach Solace mitnehmen; das ist weit genug weg. Du bist die letzte, die bei diesem Auftrag dazugestoßen ist. Keiner weiß, daß du bei uns warst. Du bist sicher – aber ich würde es einige Zeit lang nicht herumzeigen.«

Ursa wartete auf ihre Reaktion. Kit starrte zufrieden auf das Schwert in ihrer Hand, doch als sie Ursa wieder ansah, waren ihre Augen hart und unversöhnlich.

»Du mußtest sowieso zurückkommen, um Beck zu begraben«, sagte Kit anklagend.

Ursas Gesicht wurde stur. »Vielleicht«, erwiderte er. Er wartete, doch als Kit nichts mehr sagte, wollte er aufsitzen. In dem Moment, als er ihr den Rücken zudrehte, wußte Ursa, daß er einen Fehler gemacht hatte.

Der Söldner spürte, wie sich ihm eine scharfe Spitze in den Rücken bohrte. Aus der Wunde tröpfelte Blut.

»Nicht so schnell«, zischte Kitiara.

Langsam drehte er sich um.

Jetzt fuhr die Schwertspitze bis in Brusthöhe hoch und ritzte wieder seine Haut.

»Danke für das Schwert«, sagte Kitiara. »Ich will meinen Anteil.«

»Spiel doch nicht verrückt«, sagte Ursa gereizt.

Kit zuckte kurz mit der Schwertspitze, wodurch sie ihm eine weitere kleine Wunde zufügte. »Ich habe nichts dabei«, sagte Ursa verbissen.

»Dann sollten wir aufbrechen und etwas holen«, beharrte Kit.

»Sie würden dir nie etwas geben«, warnte Ursa. »Sie würden dich umbringen und mich von dir umbringen lassen, falls nötig, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.«

»Was für ein Pech für dich«, sagte Kitiara. Sie stieß noch einmal mit dem Schwert zu, und die Wunde blutete stärker. Doch als sie das tat, überraschte der Söldner sie, indem er mit erstaunlicher Geschwindigkeit Zugriff und ihr Schwert an der Klinge festhielt. Sie hatte übersehen – wie blöd! –, daß seine Hand in einem dicken Lederhandschuh steckte. Und obwohl das Schwert tief in das Leder einschnitt, konnte Ursa es fest anfassen und fortreißen, bevor Kit reagieren konnte.

Kit war abgelenkt, und Ursa trat zu und erwischte sie im Bauch. Als sie zusammenknickte, trat er mit dem anderen Bein noch höher und traf sie am Kinn. Sie fühlte ein Knacken und brach zusammen, wobei sie das Schwert fallen ließ. Ursa versetzte Kit einen weiteren, noch gemeineren Tritt in die Seite, ehe sie das Bewußtsein verlor.

Ursa stand über ihr und wickelte seine Hand eilig in einen Fetzen, den er von seiner Tunika abgerissen hatte. Die verbundene Hand blutete heftig, doch der Schnitt war im Prinzip weder besonders tief noch sehr schmerzhaft. Ursa wußte, daß er heilen würde. Auf seinem Gesicht zeigte sich hauptsächlich Ärger. Seine Augen waren kalt und unnachgiebig.

Er hob Becks Schwert auf und wickelte es etwas mühsam wieder in seine sorgfältige Verpackung. Kitiara regte sich nicht.

Ursa schlurfte zu seinem Pferd und stieg steif in den Sattel. Er wollte Becks Schwert gerade wieder in sein Gepäck zurückstecken, als er wieder zu Kitiara sah und seine Meinung änderte.

»Hier«, sagte er mit belegter Stimme zu niemand bestimmten.

Er warf das Schwert neben ihren zusammengekrümmten Körper auf den Boden. »Hast du dir verdient, Fräulein Kitiara«, fügte er hinzu, während er sein Pferd wendete.

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