11 Die »Silberhecht«

Die Nachmittagshitze brachte das Deck zum Glühen und wurde nur gelegentlich durch eine leichte Brise gemildert. Lurie und Stratke hatten sich mittschiffs aufgestellt, wo sie abwechselnd Messer auf eine Puppe warfen, die an einen Mast gebunden war.

»Daneben, daneben, mein Lieber«, sagte Lurie. Er schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf, als er zu der Puppe hinstapfte. Sobald sein Rücken Stratke die Sicht nahm, zog Lurie das Messer heimlich aus der Mitte ihrer Zielscheibe und setzte es einen Fingerbreit daneben.

Sein hünenhafter Gegner stürmte zum Mast. Stratke warf Lurie einen mißtrauischen Blick zu, grunzte dann und zog sein Messer mit einem solchen Ruck heraus, daß die Puppe sich löste und kopfüber an einem Strick baumelte. Dann legte er seinen Arm, der so dick war wie der Ast eines Vallenholzbaums, um Luries Leib und hielt ihn am Mast hoch, um anzudeuten, daß der Maat die neue Zielscheibe abgeben sollte.

»Nein, nein, nein. Nicht bei deiner Treffsicherheit. Kapitän La Cava braucht mich. Lurie verletzt, ganzes Schiff verletzt, besonders Kapitän«, erklärte Lurie ungehalten.

Er konnte es sich leisten aufzuschneiden. La Cava machte unten ein Nickerchen. Der Kapitän übernahm gern nachts das Ruder, wenn alles schlief und er unter dem sternenübersäten Himmel allein war. Nachmittags holte er seinen Schlaf nach.

Auch Patrick war unten. Er hatte sich in seine Kabine zurückgezogen, um in sein Reisetagebuch zu schreiben, und hatte Stratke fortgeschickt, der sonst bei seinem Herrn geblieben wäre.

Alle anderen Passagiere waren nach dem Mittagessen vor der Sonne in ihre Kabinen geflüchtet. Selbst der Großteil der Besatzung hatte sich verkrochen. Nur zwei oder drei Seeleute waren an Deck geblieben. Die Minotauren ruderten, um das Schiff in Bewegung zu halten, strengten sich jedoch nicht besonders an. Der Himmel flirrte im grellen Licht, und das Wasser hatte ein tiefes Saphirblau angenommen. Der Bug des Schiffes wies nach Nordwesten.

Nachdem die Langeweile sie aus ihrer Kabine getrieben hatte, kam Kitiara gerade rechtzeitig an Deck, um zu beobachten, wie Stratke Lurie gewaltsam überzeugte. Da sie mit Stratke bereits zwei Wochen an Land unterwegs gewesen war und Lurie eine Woche an Bord der »Silberhecht« erlebt hatte, kannte sie beide gut genug, um sofort zu wissen, daß es kein echter Kampf war. Die beiden waren im Grunde gute Kameraden.

»He! Ihr zwei seht aus, als brauchtet ihr jemanden von göttlicher Weisheit, der euern Zwist beilegt. Ich wollte euch nur sagen, daß ich jetzt Zeit habe«, rief Kitiara ihnen grinsend zu, indes sie sich ihnen näherte, Kitiara hatte noch nie eine größere Wasserfläche als den Krystallmirsee gesehen, doch das Leben auf See sagte ihr zu. Während der ersten Tage hatte sie sich gründlich im Schiff umgesehen und sich an die Wellenbewegungen gewöhnt.

La Cava hatte Kit beobachtet, ihr auch noch die hundertste Frage beantwortet und dann entschieden, daß sie sich auch nützlich machen konnte. Er hatte Kitiara erlaubt, bei einigen Arbeiten an Bord zu helfen – Segel einholen, in die Takelage klettern, um Leinen zu entwirren, und sogar eine Weile im Ausguck zu sitzen und Wache zu halten. Die Sonne hatte ihre Haut verbrannt und ihr einen warmen, goldenen Ton verliehen, und die körperliche Arbeit hatte ihren schlanken Körper sehniger gemacht.

Die zahlenden Passagiere sperrten die Augen auf und rümpften die Nase, wenn sie so herumlief und mit der Besatzung flachste. La Cava verwöhnte sie wie ein Vater sein eifriges Kind. Allmählich sahen die meisten der Seeleute – die es doch nicht gewöhnt waren, daß eine Frau sich so wie sie benahm –, sie als ihresgleichen an, denn ihre Bereitschaft, alles auszuprobieren, verschaffte ihr Respekt.

Kit fand Patricks Reaktion schwierig. Sie spürte, wie er sie betrachtete, wenn sie auf dem Schiff umherlief. Manchmal schien ihre Energie und Kraft ihn nachdenklich zu machen, dann wieder wirkte er stolz auf sie und die Bewunderung, die ihr von den Matrosen zuteil wurde, fast als wäre sie sein Besitz.

Insgesamt aber zog sich Patrick mehr und mehr von ihr zurück. Je länger sie unterwegs waren, desto ausweichender begegnete er ihr, schweigend und launisch. Kit konnte nicht begreifen, was ihn so beschäftigte.

Nur abends, wenn sie mit La Cava aßen, lebte Patrick auf. Dann erzählte er stundenlang Geschichten über Gwynned und das Land seiner Familie und die Gegend dort. Mit Blicken und Gesten schloß er Kit in seine Erzählungen ein. Anschließend aber, wenn sie an Deck hochgingen, redete er nicht mehr so frei und berührte sie kaum einmal. Ihre Küsse, die normalerweise auf ihre Initiative zurückgingen, waren seltsam keusch.

Diese Gedanken schüttelte sie ab, als sie Lurie und Stratke begrüßte. »Zeigt mir, wie das geht«, bat sie die zwei.

Sie nickten, und Lurie reichte ihr das Messer mit dem schweren Griff, mit dem sie nach dem selbstgebastelten Ziel warfen, einem fußlangen Hobgoblin aus Stroh. Kitiara nahm das Messer in die Hand und merkte, wie schwer es war, als sie übers Deck zu dem zehn Fuß entfernten Ziel hinblinzelte. Mit der anderen Hand beschirmte sie ihre Augen vor der gleißenden Sonne.

Kitiara hatte in Solace schon viele Messer in der Hand gehabt, doch sie hatte nie richtig zielen gelernt, geschweige denn mit einem kurzen Messer wie diesem geübt. Gilons Messer waren eher nützlich. Sie eigneten sich dazu, Fleisch zu schneiden oder ein Tischbein zu glätten, und weniger zum Kämpfen.

Stratke grinste sie ermutigend an. Er, Lurie und Kit waren so etwas wie Freunde geworden, was etwas überraschend war, wenn man bedachte, daß Stratke keinen einzigen Satz herausbringen konnte und Lurie seine ganz eigene Ausdrucksweise hatte, die nicht immer einen Sinn ergab.

»Hier«, sagte Lurie, »so halten.« Er legte ihr den Arm um die Schulter, legte seine Hand auf ihre, und wollte ihr zeigen, wie sie das Messer anfassen und die Finger am Griff entlang legen mußte. Dann machte er eine peitschenartige Bewegung zur Seite. Das Messer flog aus ihrer Hand, sauste über eine Handbreit am Ziel vorbei und bohrte sich dann in ein Regenfaß, das glücklicherweise leer war.

Stratke bekundete seine Verachtung für Lurie, der vergessen hatte, ihrer beider Schülerin eine lebenswichtige Sache mitzuteilen. Er lief hin, zog das Messer heraus und brachte es Kit zurück. Bevor er es ihr gab, wischte er betont sorgfältig beide Seiten der Klinge an seiner Hose ab. Verwirrt sah sie Lurie an, denn die Klinge war doch gar nicht naß geworden.

»Stratke meint: ›Trocken halten‹«, übersetzte Lurie.

»Wieso?« fragte Kitiara, die sich auf den nächsten Wurf vorbereitete.

Stratke gab ein paar kaum erkennbare, erstickte Laute von sich, die er mit dem für ihn typischen Grinsen beendete. »Besseres Ziel«, sagte Lurie wie nebenher. »Wasser krümmt das Messer. Trocken geht auch tiefer rein. Immer trocken vor großem Kampf oder nach jedem Wurf. Sehr trocken, am besten.«

Diesmal wollte Kit alleine werfen. Im letzten Augenblick brachte ein Schwanken des Schiffes sie aus dem Gleichgewicht, so daß der Wurf daneben ging und das Messer mehrere Fuß neben dem Ziel aufs Deck fiel. Begeistert rannte Stratke los, um es wieder zu holen.

Als der große Sklave zurückkam, zeigte er ihr, wie er gewöhnlich das Messer anfaßte und warf. Stratkes Finger schlossen sich um den Griff. Sein Körper spannte sich, als er sich halb herumwarf – trotz seiner Fülle war Kitiara von der Geschmeidigkeit seiner Bewegung beeindruckt –, und das Messer blitzschnell aus seiner Hand schoß. Einen Augenblick später sah sie, daß die Klinge in der Brust der Puppe steckte.

Lurie schlenderte hin, um es herauszuziehen, und warf Stratke einen verächtlichen Blick zu, als er sich selbst zum Werfen anschickte. Es war, als müßte sich Patricks Sklave eigentlich schämen, daß er geprahlt hatte. »Volltreffer«, meinte der Maat trocken.


Lurie wies Kitiara bereitwillig in alle Vorgänge auf dem Schiff ein, vor allem, argwöhnte sie, um dadurch seinen üblichen Pflichten zu entkommen. Mit nur gut hundertzwanzig Fuß Länge vom Bug bis zum Heck war die »Silberhecht« kein besonders großes Schiff. Dennoch gab es eine Unmenge Dinge zu sehen und zu entdecken. Der einzige Raum, der Kits Forschungsdrang verschlossen blieb, war La Cavas Privatkajüte. Der Kapitän schloß seine Kabine ab, wenn er nicht darin war, und Lurie, der einen Schlüssel besaß, wagte keine Übertretung. Kits und Patricks Kabine lagen neben der des Kapitäns im Heck.

Die anderen Passagiere waren weiter vorne in zehn Kabinen untergebracht, die kleiner als die von Kit, doch auch sehr schön eingerichtet waren. Einmal sahen sie und Lurie sich diesen kleinen Teil des Schiffes an. Mehrere Türen standen offen, damit noch der kleinste Windhauch eindringen konnte. Die stets neugierige Kit sah in alle Kabinen hinein, wo das möglich war, und entdeckte, daß jede einzelne mit Eiche getäfelt und mit eleganten, praktischen Möbeln und Plüschkissen eingerichtet war.

In einer Kabine erblickte sie eine dicke, verschleierte Dame, die trotz der Hitze ein Wollkleid trug und schwer atmend auf ihrem Bett ruhte. Der Junge, der mit ihr fuhr, gab sich größte Mühe, ihr mit einem großen Fächer aus Pfauenfedern Kühlung zu verschaffen. Beide waren für die Hitze absurd warm angezogen, was Kit ihnen beinahe gesagt hätte. Doch Lurie stupste sie an, und sie ging weiter.

Durch die andere Tür konnte Kitiara einen Blick auf einen blassen Elfen werfen, dessen spitze Ohren durch sein langes weißblondes Haar stachen. Er saß auf einem Hocker und starrte aus einem Fenster aufs Meer. Obwohl er mit dem Rücken zur Tür saß, kam es Kit so vor, als hätte er die Augen geschlossen. Er murmelte etwas, was sich wie eine Art Singsang anhörte. Lurie verlagerte neben ihr ungeduldig sein Gewicht, streifte dabei den Türrahmen und verursachte dadurch ein Geräusch, das den Elfen abrupt herumfahren ließ. Sein Gesicht trug einen so finsteren Ausdruck, daß Kit unwillkürlich einen Schritt zurücktrat und weitereilte.

An einem anderen Tag führte Lurie Kitiara zu den Gefangenen, wo ein Dutzend angekettete Minotauren bei Windstille zu einem rhythmischen Seemannslied rudern mußten. Sie wurden ständig von einem von La Cavas Männern bewacht. Immerhin wußte Kit, daß sie relativ gut behandelt wurden, denn sie bekamen das gleiche Essen und Wasser wie die Matrosen und die reichen Passagiere.

Kit starrte sie fasziniert an, denn sie erinnerte sich noch an das erste Mal, als sie einen Minotaurus aus der Nähe gesehen hatte. Da war Gregor dabeigewesen, damals vor der Schlacht gegen Flinkwasser. Diese hier trugen natürlich keine Waffen, aber ihre massigen, behaarten Körper flößten ihr dennoch Respekt ein. Ihre scharfen Hörner mußten tödlich sein. Die riesigen Augen schienen auf irgendwelche fernen Punkte zu starren, die für Menschen unsichtbar waren. Trotz der Ketten, die ihre Füße an den Boden banden, strahlten sie eine gänzlich ungebändigte Kraft aus.

Außerdem ging ein kräftiger Geruch von ihnen aus. Lurie zog ein Taschentuch hervor, mit dem er seine Nase bedeckte.

»Sie wirken«, sagte Kit, die nach den richtigen Worten suchte, »beinahe königlich. Als wenn sie diejenigen in den Kabinen sein sollten und wir alle hier an den Rudern sitzen müßten.«

»Manchmal«, erklärte Lurie, der sich die Nase zuhielt, »spielen sie verrückt. Dann Ärger. Meistens schwere Arbeit, gute Arbeit. Stinken aber. Viel stinken.«

»Ja«, mußte Kitiara einräumen. »Viel stinken.«Nach einer Woche auf See erhielten Patrick und Kitiara vom Kapitän eine Einladung, anläßlich seines Geburtstags mit ihm zu speisen. Im Gegensatz zu den anderen Abenden, an denen sie im Speisesaal des Schiffs aßen, hatten sie diesmal das Privileg, in La Cavas Quartier eingeladen zu werden. Patrick hatte an diesem Tag besonders abwesend gewirkt, und um ihm möglichst gut zu gefallen, wollte sich Kit für diese Gelegenheit besonders anziehen. Sie wühlte in der Truhe seiner Mutter herum und wählte ein weißes, schulterfreies Kleid. Der durchsichtige Stoff wogte anmutig bis zum Boden um ihre Figur. Dazu trug sie den Chrysoprasanhänger, den Patrick ihr geschenkt hatte, und sie bürstete ihre Haare gründlich durch. Als er an die Tür klopfte und sie seine Reaktion sah, wußte Kitiara, daß sie gut gewählt hatte.

»Was für ein schöner Anblick«, murmelte er.

Patrick selbst trug eine Uniform, die einmal seinem Vater gehört haben mußte, denn sie war ihm ein wenig zu groß. Schultern und Hüften waren mit Tressen geschmückt, und die Uniform zeigte das Wappen der Familie. An seinem Gürtel hing zu Kits Überraschung das Schwert, das sie ihm geschenkt hatte. Die kostbaren Steine blinkten im Licht der Kabine. Kit fand, daß er umwerfend aussah. Spontan umarmte sie ihn und freute sich über seine warme Reaktion. Hand in Hand gingen sie zur Kapitänskajüte hinüber.

Kit wußte nicht, was sie erwartet hatte, doch was sie sah, waren bestens eingerichtete Zimmer, in denen sich ein anspruchsvoller Geschmack mit den unvorhersehbaren Spuren eines Lebens auf See vermischte. La Cava hatte Regale voller Bücher, dazwischen hin und wieder ein Stück Treibholz, an den Wänden hingen gerahmte Gemälde neben bunten Seekarten. Durch die Tür zu seinem Schlafzimmer konnte Kit sehen, daß sein Bett mit einer schön genähten, bunten Steppdecke zugedeckt war. In dem Raum, wo sie jetzt essen würden, stellte ein Podest den Ehrenplatz dar. Drumherum wickelte sich eine graugrüne Kreatur mit Tentakeln, herausquellenden Augen und rasiermesserscharfen Stacheln auf dem Körper. Sie war etwa so groß wie ein großer Hund.

»Das Vieh wurde bei einem Sturm an Bord gespült«, erklärte La Cava, als er sah, daß Kit das Wesen betrachtete. »Hat sich ums Ruder gewickelt. Aus den Tentakeln und den Stacheln spritzte Gift, und ich mußte heftig mit ihm kämpfen, um wieder ans Ruder zu kommen. Nachdem ich es getötet hatte, habe ich das Vieh von Lurie ausstopfen lassen. Ich bin nicht oft so nah dran, einen Kampf zu verlieren«, sagte er augenzwinkernd zu Kit.

Auch La Cava hatte sich in Schale geworfen. Er trug ein maßgeschneidertes, kurzes Jackett, dunkle Hose, eine rote Schärpe um den Bauch und ein rot-weiß gestreiftes Halstuch.

Mit einer kurzen Verbeugung lud er Kitiara und Patrick ein, sich einander gegenüber an den Holztisch zu setzen, der mit Porzellan gedeckt war und von Kerzen beleuchtet wurde. La Cava selbst setzte sich an den Kopf der Tafel. Die drei lächelten sich angesichts dieser ungewohnten Situation etwas gezwungen zu.

Doch alle Anspannung wich von ihnen, als Figgis, der Schiffskoch, höchst theatralisch ein Tablett mit gekochten Täubchen hereintrug. Kit hatte die Vögel noch am Morgen in ihrem Käfig zwischen anderen Vorräten gesehen. Dem tüchtigen Figgis folgte ein kleiner Küchenjunge, der das schwere Tablett mit Fischfilets, mariniertem Tang, Nußpudding und Trockenfrüchten kaum schleppen konnte.

Ein großzügiger Griff des Kapitäns in seine privaten Weinvorräte lockerte sie auf, je weiter der Abend fortschritt. La Cava hatte gute Laune, sprach jedoch wie gewöhnlich wenig und wählte seine Worte stets mit Bedacht. Patrick war bei diesem besonderen Ereignis aufgetaut und sorgte dafür, daß ihnen der Gesprächsstoff nicht ausging. Er redete viel und erzählte eine Geschichte nach der anderen, so wie Kit es von ihrer gemeinsamen Woche in Solace kannte. Patrick konnte manchmal wohl ein Langweiler sein, gestand Kit sich ein, aber er war bestimmt der bestaussehende Mann, den sie je getroffen hatte – außer Gregor natürlich. Sie lächelte ihn verführerisch an.

»Und da sagte meine Mutter…« Es war nach Mitternacht, und Patrick war mitten in einer langen Geschichte, wie sein Vater seine Mutter dazu gebracht hatte, ihn zu heiraten. La Cava hörte höflich zu, obwohl er die Geschichte bestimmt schon mehr als einmal gehört hatte. Der Kapitän wurde müde, bemerkte Kit.

»›Ich kann dich nicht heiraten, Alwit, ich bin einem anderen versprochen.‹ ›Gut‹, sagte mein Vater, ›dann kann ich entweder deinen Verlobten töten oder mich. Ich will nicht unglücklich sein. Du kannst wählen. Er oder ich.‹

Natürlich war das eine nahezu unmögliche Wahl. Beide sahen gut aus, beide waren aus guter Familie, und beide waren bereit, alles zu tun, um sie für sich zu gewinnen, denn sie war die schönste von ihren Schwestern und würde beim Tod ihres Vaters ein Vermögen erben.

Alwit rechnete damit, daß Maryn, meine Mutter, mit ihrem besten Freund reden würde, einem Kender, und ihn um Rat fragen würde. Doch dieser Kender, er hieß Sampler, legte nicht nur die Karten für die Familie meiner Mutter, sondern spielte auch den Wahrsager für Ravetch, den Hauptrivalen meines Vaters. Sampler war genauso ehrlich wie die meisten Kender und glaubte wirklich, er hätte eine bescheidene Begabung, die Zukunft vorherzusehen. Vielleicht war es so, vielleicht auch nicht. Für das, was dann geschah, spielt es keine Rolle.

Als meine Mutter Sampler von der Drohung meines Vaters erzählte, entweder sich oder Ravetch umzubringen, machte Sampler genau das, was jeder normale Kender getan hätte. Er rannte los und sagte es Ravetch. Kender haben durchaus ihre Fähigkeiten, aber ein Geheimnis zu bewahren, gehört nicht dazu. Nun war Ravetch meinem Vater an Herkunft und Aussehen zwar durchaus ebenbürtig, aber weder so tapfer noch so schlau. Er geriet sofort in Panik und bat Sampler, ihm aus der Hand zu lesen. Sampler, der zweifellos in der Dramatik der Situation aufging, sagte voraus, daß jemand sterben würde, aber wer von den beiden Bewerbern das sein würde, könne er nicht feststellen. Er würde es hinterher wissen, aber nicht unbedingt vorher.

Ravetch war zu allem bereit, um meine Mutter zu heiraten, außer zum Sterben. Und er wollte kein Risiko eingehen. Deshalb verschwand er einfach und hinterließ die Nachricht, daß er weit im Norden zu einer Jagd auf Hobgoblins gerufen worden war. Dieser Ausflug dauerte neun Monate. Als er zurückkam, waren Maryn und Alwit bereits verheiratet. Und ohne allzu großes Aufhebens wendete Ravetch seine Aufmerksamkeit einer von Maryns Schwestern zu.«

»Was wurde aus Sampler?« fragte Kitiara.

»Oh, den gibt es immer noch«, antwortete Patrick gut gelaunt. »Er ist heute noch mit meiner Mutter befreundet, aber ebenso mit meinem Vater. Sie sagen, kurz nachdem Sampler Ravetch die Zukunft vorhergesagt hatte, wäre er eines Tages mit einer außergewöhnlichen Menge Gold im Beutel aufgetaucht, das er natürlich sofort ausgab. Verdient sich seinen Lebensunterhalt mit dem üblichen Kenderunsinn und sagt hin und wieder mal jemandem die Zukunft voraus. Ist eine echte Persönlichkeit. Und in Gwynned berühmt.«

Kitiara und La Cava lachten verständnisvoll. Dann streckte sich der Kapitän, um aufzustehen, und zeigte ihnen damit, daß es Zeit war zu gehen. Er wünschte ihnen eine gute Nacht und verbeugte sich, um Kits Handrücken mit seinen Lippen zu streifen. Kit wurde rot vor – ja, was? Freude? Peinlichkeit? Sie hakte sich bei Patrick ein, als sie die Kabine verließen.

Keiner von beiden wollte den Abend einfach so enden lassen. Sie gingen an Deck und starrten auf das schwarze, phosphoreszierende Wasser, das im Mondlicht schimmerte. Die Nacht war still. Das einzige Geräusch war das Gleiten des Schiffs durch die Wellen. Patrick löste sich von Kitiara und ging mit hinter dem Rücken gefaßten Händen ganz nach vorne. Kit hätte ihn beinahe aus den Augen verloren, doch Becks Schwert fing glitzernd das Mondlicht ein.

Eine Welle der Enttäuschung überkam Kit. Was war mit Patrick los, daß er jetzt so launisch war? Kit merkte, wie ihr Verlangen nachließ. Und zugleich schüttelte sie die Rolle ab, die sie zu spielen versucht hatte, die von Patricks Verlobter. Hier und jetzt wußte sie, daß das nicht ihre Bestimmung war.

Patrick drehte sich um und kam zu ihr. »Ich gehe nach unten«, sagte er leise. »Ich bin plötzlich sehr müde.« Seine Stimme klang rauh und erschöpft. Seine vorherige gute Laune war spurlos verschwunden.

Kitiara gab ihm zu verstehen, daß er nicht auf sie warten sollte. Sie wollte noch etwas an Deck bleiben.

Erst ein paar Minuten später vernahm Kit ein Geräusch und stellte fest, daß noch jemand an Deck war. Als sie nach vorne spähte, entdeckte Kit den Elfen, den sie unter den Passagieren bemerkt hatte. Er stand auf dem Vorderdeck, wo er, das Gesicht ihr zugewandt, mit dem Rücken an einem Mast lehnte. Selbst auf diese Entfernung hatte Kit das sichere Gefühl, daß der Elf sie und Patrick beobachtet hatte und daß in seinen Augen eine unbestimmte Drohung lauerte.


Am nächsten Morgen unterrichtete Stratke Kit und La Cava davon, daß Patrick mit Ruhr im Bett lag. Zwei Tage lang blieb er in seiner Kabine und wollte nur seinen treuen Diener um sich haben. Aus diesem Grund und wegen Stratkes eingeschränkten Fähigkeiten, sich verständlich zu machen, erfuhr Kit sehr wenig über Patricks Zustand. Am dritten Tag kam er zu einem morgendlichen Spaziergang wieder an Deck. Er wirkte etwas abgespannt und blaß, aber ansonsten nicht sehr krank.

Doch beide wußten, daß sie nicht mehr dieselben Gefühle füreinander hegten wie vorher. Kit beschloß, mit Patrick darüber zu reden, wie sie nach Abanasinia zurückkommen konnte, sobald sie in Gwynned gelandet waren, aber der junge Mann wich ihr aus. Er ging dazu über, das Abendessen nur mit Stratke zusammen in seiner Kabine einzunehmen. Wenn sie einander zufällig an Bord über den Weg liefen, sah Patrick Kit nicht in die Augen.

Zur gleichen Zeit war auch das Wetter umgeschlagen. Wolken hingen wie graue Steine am Himmel, und tagelang sahen sie keinen einzigen Sonnenstrahl. Dennoch hielt sich die lähmende Hitze. Offenbar braute sich am Horizont ein gewaltiger Sturm zusammen, ohne jedoch auszubrechen.

Da Patrick sich von ihr zurückgezogen hatte, verbrachte Kit mehr Zeit allein oder mit Lurie und den anderen Seeleuten. Sie hatte Spaß daran, sich mit ihnen zu messen, und forderte sie zum Messerwerfen oder zum Wettklettern bis in die Spitzen der Takelage heraus. Obwohl sie kleiner als die Männer war, zeigte sie, daß sie ihnen in diesen Dingen zumindest gewachsen war. Oft konnte sie Lurie und die anderen sogar schlagen. Manchmal fühlte sie dann La Cavas Blicke auf sich ruhen. Kit spürte, er hatte besser als sie verstanden, was zwischen ihr und Patrick los war; doch er sagte nichts.

An den Nachmittagen, wenn sie über das Deck stromerte, die Arbeit getan und die Spiele meist vorüber waren, kam Kit immer wieder auf die Frage zurück, was sie als nächstes machen sollte. Sie konnte nach Solace zurückgehen, denn sie erinnerte sich an Raists Vorhersage, daß sie früh genug zurück sein würde. Kit fragte sich, wie es ihren Brüdern erging. Sie waren noch so klein – Raistlin so verwundbar und Caramon so einfältig. Doch sie wußte, daß sie aufgrund der Umstände bemerkenswert selbständig geworden waren. Nun, sie hatte ihr Bestes getan. Mochten die Götter sie anlächeln. Eines Tages würde sie zurückkehren, aber nicht sofort.

In ihrem Herzen verspürte Kitiara den Wunsch, weiter zu reisen und die Suche nach ihrem Vater wieder aufzunehmen. Doch seitdem sie die letzten vagen Hinweise auf seinen Verbleib – irgendwo im Norden – erhalten hatte, waren Jahre vergangen. Wo sollte sie anfangen zu suchen?

Als Kit eines Nachts nicht schlafen konnte, begegnete sie an Deck La Cava und Lurie. Sie wurde wieder munter, als sie die beiden sah, denn sie hatte vorgehabt, den verschlossenen Schiffskapitän in eine Unterhaltung zu verwickeln. Es gab ein bestimmtes Thema, das sie anschneiden wollte.

Also marschierte sie geradewegs auf ihn zu. Als La Cava verschwinden wollte, versperrte Kit ihm kühn den Weg. Um die Lippen des Kapitäns spielte ein feines Lächeln. Er nickte Lurie zu, der auf dieses Zeichen hin verschwand, jedoch an Deck blieb und müßig auf die See starrte. La Cava selbst trat einen Schritt zurück und zeigte Kit durch seine Haltung, daß er ihr fürs erste zuhören würde.

»Was beschäftigt Euch, Fräulein Kitiara?« fragte La Cava in der eleganten, etwas ironischen Art, in der er sie immer ansprach.

»Kapitän«, sagte sie ohne Umschweife, »an dem Tag, als wir uns kennenlernten – «

»Ja?« La Cava zog eine Augenbraue hoch.

»Da hatte ich den sicheren Eindruck, daß Ihr von meinem Vater gehört habt. Gregor Uth Matar.«

»Ich sagte etwas anderes.«

»Ihr sagtet etwas anderes, aber ich hatte eben diesen sicheren Eindruck.«

Ihr störrisches Kinn verriet ihre Entschlossenheit, und ihre Augen blitzten. Ja, je mehr sie darüber nachgedacht hatte, desto überzeugter war sie, daß La Cava etwas über ihren Vater wußte. Sein Gesicht hatte das verraten, aber vielleicht hatte er vor Patrick nichts davon erwähnen wollen.

La Cava griff in die Tasche und zog eine Pfeife heraus. Aus der anderen Tasche holte er einen Tabaksbeutel und stopfte den Pfeifenkopf. Nachdem er den Beutel wieder eingesteckt hatte, zog er Flint und Stahl heraus und schlug damit einen kräftigen Funken. In dem Lichtblitz erkannte Kit das, was sie hinter La Cavas kavaliersmäßiger Fassade erahnt hatte: einen wilden Charakter, den nur Alter und Weisheit zügelten.

La Cava drehte sich um, lehnte sich an die Reling und sog an seiner Pfeife. Auch er blickte auf die See – wie ein Spiegelbild von Lurie, der ein ganzes Stück weiter an der Reling stand. Segler finden oft Trost oder kommen auf Ideen, wenn sie an einer Reling stehen und aufs Meer hinausschauen.

Kitiara sah dies als Einladung an. Sie kam näher und lehnte sich neben La Cava an. Allerdings sah Kit nicht aufs Meer, sondern starrte den Kapitän an.

»Ich hatte den sicheren Eindruck«, wiederholte sie zum dritten Mal.

»Ihr seid äußerst hartnäckig, Kitiara«, sagte La Cava, der etwas den Kopf drehte, um sie anzusehen. Seine Stimme war leiser geworden und hatte etwas von der förmlichen Höflichkeit abgelegt. »Richtig stur. Ihr seid entschlossen, etwas vom Leben zu bekommen, aber Ihr habt keine Ahnung, was Ihr eigentlich wollt. Hartnäckigkeit ist eine Eigenschaft, die ich bewundere, aber ich halte es für wichtig, daß Ihr wißt, was Ihr wollt.«

»Mein Vater…«

»Vergiß doch mal eine Minute lang deinen Vater, Mädchen«, fuhr La Cava sie in scharfem Ton an. »Was willst du? Was willst du selbst?«

»Was meint Ihr damit?« fragte Kitiara verwirrt.

»Du wirst doch nicht Patrick heiraten«, sagte La Cava etwas abschätzig. »Für den bist du zu klug und zu stark. Er könnte dich niemals zähmen. Ich könnte dich zähmen, aber ich bin zu alt für solche Sachen und zu klug, es zu versuchen. Ich will lieber meinen Frieden haben, mein kleines Schiff und meinen Tabak. Mehr brauche ich nicht. Meine Abenteuerlust ist gestillt. Aber was ist mit dir, Kitiara. Wonach suchst du?«

Jetzt war es an Kitiara, den Blick abzuwenden. Sie wußte, daß Lurie ein Stück weiter wahrscheinlich lauschte und einiges von La Cavas Worten mitbekommen haben mußte. Sie mochte Lurie. Dennoch war sie rot vor Scham, denn La Cavas Worte hatten sie tief getroffen.

Nach langem Schweigen sagte sie langsam: »Ich weiß es nicht.« Weil La Cava nicht reagierte, folgte erneut langes Schweigen. »Ich möchte… Anerkennung. Ich will mehr sein als bloß ein gewöhnliches Mädchen aus Solace. Ich will herumkommen und etwas erleben und in Entscheidungsschlachten dabei sein. Ich will… jemand sein. Nein, das ist nicht richtig. Ich will ich selber sein, Kitiara Uth Matar, und reich und mächtig werden. Reich und mächtig.«

La Cava nahm einen tiefen Zug von seiner Pfeife. »Das kannst du durchaus«, sagte er schlicht.

»Und mein Vater?« erinnerte sie ihn.

La Cava seufzte tief und wandte ihr das Gesicht zu, so daß sie ihm in die Augen sehen konnte. »Dein Vater«, wiederholte er. »Dein Vater ist in manchen Teilen von Krynn berühmt, in anderen unbekannt.«

Kit wartete ab, ob er fortfuhr, doch es sah so aus, als würde ihm das schwerfallen. »Ich habe ihn weder selbst kennengelernt noch je gesehen, und kenne auch niemanden, der ihn kannte. Aber ich bin überall gewesen, wo Schiffe hinkommen, und ich habe von Gregor Uth Matar und seinen Taten gehört«, – hier machte er eine Pause – »und von seinem Ende.«

Kit stockte der Atem. »Was ist passiert?«

»Das ist keine schöne Geschichte, und ich erzähle nicht gern Klatsch oder Legenden. Sie kann genausogut nicht wahr sein.«

»Erzählt sie mir trotzdem«, forderte sie ihn auf.

Wieder ein tiefer Seufzer. Dann drehte der Kapitän sein Gesicht zum Meer zurück. »Oben im Norden liegt Whitsett, eine Region, wo seit fast hundert Jahren ständig Krieg herrscht. Manche nennen es Bürgerkrieg, andere reden von einer Blutfehde zwischen zwei rivalisierenden Familien, die beide reich und mächtig sind und große Verluste verkraften können. Dein Vater, Gregor Uth Matar, hat einen gewissen Ruf als meisterhafter Stratege, und vor einer Weile hat er sich an die Spitze eines tausend Mann starken Söldnerheers gestellt, dessen Krieger allesamt skrupellose Recken waren.«

»Weiter.«

»Es heißt, daß dein Vater diese Armee nach Whitsett geführt und seine Dienste beiden Familien angetragen hat. Er hat seine Reiter einfach demjenigen unterstellt, der am meisten bot. Ich weiß nichts über die beiden Seiten in diesem Krieg, doch es heißt, daß einer der Lords absichtlich weniger geboten hat, damit Gregor und seine Männer für den langjährigen Erzfeind seiner Familie ins Feld ziehen würden. Dann hat dieser Lord sich heimlich mit einem kleinen Teil von Gregors Männern verbündet und ihnen das Doppelte geboten, wenn sie ihren Anführer ausspionieren würden.«

»Verrat!« rief Kitiara aus.

»Ja, Verrat von Männern, die er gerecht behandelt hatte«, sagte La Cava. »Aber sein Geschäft gründete sich auf Geld, nicht auf Treue. Natürlich wiederhole ich nur, was ich gehört habe. Ich selbst kann nicht beurteilen, was davon wahr ist. Man hört so manches auf Reisen, und derartige Geschichten werden ausgeschmückt und aufgebauscht.«

»Was ist passiert?« bohrte Kitiara. »Was ist mit meinem Vater passiert?«

»Soweit ich gehört habe«, sagte La Cava noch sanfter, »hat Gregor seinen Teil des Handels erfüllt, indem er die Armee umzingelte, die er bekämpfen sollte, und sie problemlos besiegte. Die Armee seines Auftraggebers ist einmarschiert, um den Übergabevertrag zu unterzeichnen, und er war einfach zu selbstzufrieden. Auf ein Zeichen hin erhoben sich die Verräter unter Gregors Soldaten und erschlugen den Hauptrivalen und seine Generäle ebenso wie – «

»Ja?« verlangte Kitiara zu wissen.

»– wie Gregor und seine wenigen treuen Gefolgsleute.«

Kitiara bekam keine Luft mehr. Ihre Kehle zog sich zusammen, und Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie wollte nicht zulassen, daß diese Tränen flossen. Sie mußte sich an der Reling abstützen, denn sie konnte nichts mehr sehen, nichts fühlen, nichts denken außer Gregor. Ihr Vater. Tot. Verraten.

»Verräter«, fauchte sie. »Verräter.«

»Ja«, sagte La Cava traurig. »Wenn es stimmt.«

»Dann ist das mein Ziel!« rief sie. »Ich gehe nach Whitsett.«

»Wenn es sein muß«, meinte La Cava. »Aber soweit ich gehört habe, teilten die Verräter ihre Belohnung und trennten sich voneinander. Sie haben sich in alle Ecken von Krynn verstreut. Keine zwei zusammen. Keiner hat seither mehr von ihnen gehört.«

»Ich werde sie finden«, beharrte Kitiara mit erstickter Stimme. »Ich werde jeden einzelnen dieser Hunde jagen, und wenn ich mein ganzes Leben dazu brauche.«

»Wenn es sein muß«, sagte La Cava ergeben. Er wandte sich um zum Gehen, wobei er Kitiara warm an die Schulter faßte. »Wenn es sein muß.« Sie nahm ihn überhaupt nicht mehr wahr.

Als sie einen Augenblick später aufsah, war La Cava gegangen, und Lurie stand mit gesenktem Kopf – wie üblich – neben ihr. Auf seinem Vogelgesicht lag ein mitleidiger Ausdruck. Kitiara konnte lange nichts sagen und stand deshalb eine ganze Weile einfach neben ihm. Innerlich kochte sie. Trotz ihrer tollkühnen Wut war sie jetzt unsicherer denn je, wohin sie gehen und was sie machen sollte. Ihr Vater war tot. Verraten.

Schließlich brach Lurie das Schweigen. »Sag dir was«, bemerkte er wie nebenbei.

»Was?«

Der Maat lehnte sich rücklings an und beobachtete ihre Reaktion. »Über Patrick.«

»Was ist mit ihm?« Ihr Tonfall war fast mürrisch.

»Andere«, sagte er. »Andere Frauen, die er heiraten wollte. Hat sie auch an Bord gebracht.«

»Was für andere?« Jetzt hörte sie Lurie doch zu.

»Oh, zwei oder drei andere, ich meine, vor dir«, sagte Lurie. »So eine pro Jahr. Wir segeln herum. Er steigt aus, geht auf Reisen. Stratke geht mit. Ich nicht. Ich warte mit dem Kapitän. Zeit vergeht. Er kommt zurück. Jedesmal mit neuer Frau, die er heiraten will. Macht er bloß nie.«

»Macht er nicht? Wieso? Was wird aus ihnen?«

»Nichts wird aus ihnen. Wir schicken sie zurück, hinterher.«

»Hinterher?« Kitiara mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor Enttäuschung zu schreien. Was wollte er ihr damit sagen? Lurie meinte es gut, aber seine Ausdrucksweise war zum Verrücktwerden.

»Patrick fährt los«, fuhr Lurie fort, »ganz glücklich. Neues Mädchen. Alles gut. Aber… wenn wir näher kommen, er wird nervös. Durcheinander. Ängstlich. Ändert seine Meinung. Braut doch nicht so ganz perfekt. Vielleicht will er doch nicht heiraten. Nicht so hastig.«

»Er verliert die Nerven«, murmelte Kitiara, die allmählich begriff. »Er will eigentlich gar nicht heiraten.«

»Nicht ganz«, erwiderte Lurie. »Macht sich Gedanken über seine Mutter, über Vater. Besonders Mutter. Mächtig wichtige Frau. Sehr eingebildet. Guckt auf alle herab. Keine gut genug für Patrick. Jede zu viele Fehler. Patrick Angst, sich gegen Lady Maryn durchzusetzen.«

Kitiara war still vor Wut, während sie diese neueste Nachricht verarbeitete. Wenn Lurie Kitiara vom Schicksal ihres Vaters hatte ablenken wollen, so war ihm das gelungen. Zumindest im Moment war Gregor Uth Matar aus ihren Gedanken verschwunden, und Patrick war an seine Stelle getreten. Möglich, daß sie nie wirklich vorgehabt hatte, diesen Trottel zu heiraten, aber das war schon ein starkes Stück, sie einfach so mitzuschleifen.

»Je näher an zu Hause«, fügte Lurie tröstend hinzu, »desto mehr kommt er zu anderer Meinung. Nicht diesmal heiraten. Auf nächste Reise warten. Neues Mädchen finden. Besseres Mädchen. Es Mutter recht machen.«

Zornig legte Kitiara ihr Kinn vor. »Die Genugtuung bekommt er nicht, daß er mich zurückweist«, erklärte sie wild, fegte an dem erstaunten Mann vorbei und eilte in ihre Kabine.

Lurie machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber Kit war bereits unten verschwunden. Plötzlich war er allein an Deck, überwältigt vom dunklen Himmel, den glitzernden Sternen und dem unendlichen, wogenden Ozean.

Der Maat war mit dem ziemlich unangenehmen Gefühl zurückgeblieben, daß das Gespräch recht abrupt geendet hatte und daß etwas in seinen Worten Kitiara beleidigt hatte. Was mochte das sein? Er hatte ihr doch nur den Gefallen getan, die Wahrheit zu sagen.


Bis nach Mitternacht wälzte sich Kitiara unruhig herum, konnte aber nicht einschlafen. Sie konnte nur noch an das denken, was Lurie ihr erzählt hatte. Ihr Kopf brodelte von Szenen, in denen sie Patrick eine Lektion erteilen würde.

Der Sturm, der schon tagelang in der Luft gelegen hatte, brach in der dunkelsten Stunde dieser Nacht aus. Laute Donnerschläge und wilde Blitze gingen einem sintflutartigen Regenguß voraus. Die Blitze erhellten den Himmel in hellen Streifen und warfen in ihrer Kabine schreckliche Schatten. Der Wind nahm an Stärke zu, bis die Wellen über den Bug klatschten.

Überall auf dem Schiff wurde herumgeschrien, während die Matrosen losrannten, um die Segel einzuholen und zu tun, was sie konnten, um das Schiff auf Kurs zu halten. In ihrer augenblicklichen Verfassung hatte sie nicht den Drang, aufzustehen und mitzuhelfen. Von ihrem schmalen Bett aus lauschte Kitiara dem Knarren und Stöhnen des Schiffs in den hohen Wellen.

Dann saß sie senkrecht im Bett. An ihrer Tür war ein Geräusch, ein Kratzen und zaghaftes Klopfen, das nicht zur Sinfonie des Sturms gehörte.

Beim Aufstehen raffte sie ihre Decke um sich und schlich zur Tür, die sie einen Spaltbreit öffnete. Stratkes Gesicht drückte sich schwer in die Öffnung. Er versuchte, etwas zu sagen, doch Kit konnte ihn kaum erkennen, geschweige denn seine gurgelnden Laute verstehen. Als sie die Tür weiter aufmachte, fiel er wie betrunken in ihre Kabine. Sie drehte sich um, um ihm ihre Meinung zu sagen, diesem aufgeblasenen Narren, der die ganze Zeit Patricks Spielchen mitgespielt hatte.

Merkwürdigerweise hatte sich Stratke über ihr Bett geworfen, als wenn er darunter etwas suchen würde. Sie nahm ihn an der Schulter und drehte ihn unsanft um.

»Was zum Teufel«, setzte sie an, brach jedoch mitten im Satz ab. Er stürzte auf den Boden, und ihr Gesichtsausdruck wandelte sich von Ärger zu Entsetzen. Rasch hockte sie sich hin und nahm seinen Kopf in den Arm.

Der arme Stratke sah noch einen Moment zu ihr auf, und die Lippen versuchten, sich zu bewegen. Aus seinem Mund kamen keine Worte, sondern sprudelndes, dunkelrotes Blut. Kit sah genauer hin und erkannte, daß man ihm sauber und tödlich den Hals aufgeschlitzt hatte. Sie konnte zusehen, wie seine Augen sich flatternd schlossen.

Entsetzt ließ Kitiara seinen Kopf auf den Boden sinken, stand auf und warf sich rasch ein paar Kleider über. Dann sah sie sich nach einer Waffe um. Die einzig verfügbare war eins von den Messern, mit denen sie an Deck trainiert hatte. Stratke war unbewaffnet und anscheinend im Nachthemd überrascht worden.

Wieder öffnete Kit ihre Tür einen Spaltbreit und spähte vorsichtig in den Gang. Vom Deck her hörte sie die lauten Rufe der Seeleute, die darum kämpften, das Schiff zu retten. Im Gang war nichts, kein Geräusch, kein Mensch.

In diesem Teil des Schiffs lagen nur drei Kabinen: erst ihre, dann, weiter von der Treppe entfernt, die des Kapitäns, dann die von Patrick. Sie schlich an der Wand lang auf La Cavas Quartier zu. Die Tür war geschlossen, doch sie trat sie auf und sprang mit erhobenem Messer hinein.

Als ihre Augen die Kajüte absuchten, merkte sie, daß ihr Arm zitterte und sie sich Mühe geben mußte, nicht die Nerven zu verlieren. Nichts. Niemand. La Cava war offensichtlich oben an Deck, um das Schiff sicher durch den Sturm zu führen.

Ein lauter Knall ließ Sie zusammenzucken, doch das war nur der bisher lauteste Donner. Der Sturm ließ nicht nach.

Zurück im Gang, machte sie sich langsam zu Patricks Kabine auf, obwohl sie sich vor dem fürchtete, was sie dort erwarten mochte. Gebückt kam sie um die Ecke, wo ihr auffiel, daß die Tür nur angelehnt war. Kit streckte einen Arm aus und stieß die Tür auf und wartete auf eine Reaktion. Nichts.

Noch weiter gebückt, so daß sie fast auf Händen und Knien hockte, schlich Kitiara weiter. Als sie durch die Tür kam, war sie bereit, beiseite zu springen oder zu rollen. Weil sie niemanden sah, stand sie auf. Erst da bemerkte sie den Umriß eines Körpers auf dem Bett, der mit einer blutigen Decke zugedeckt war. Schon bevor Kitiara ihm die Decke vom Kopf zog, wußte sie, daß es Patrick war. Er lag in einer Blutlache, die sich aus einer Wunde in seiner Brust immer weiter ausbreitete. Es war klar, daß er wie Stratke überrumpelt und im Schlaf erstochen worden war.

Mit angespannten Sinnen lief Kit zur Tür und blickte noch einmal in den Gang, doch wie zuvor hörte und sah sie nichts. Nachdem sie die Tür zugemacht hatte, blickte sie sich in Patricks Kabine gründlich um. Es gab keine Anzeichen für einen Kampf, keinen Hinweis darauf, wer Patrick und Stratke umgebracht hatte.

Patricks riesige Reisetruhe war noch da, ebenso seine Beutel, alles eben, was einen Dieb gelockt hätte. Einen Augenblick lang setzte sie sich benommen und verwirrt auf den Rand von Patricks Bett. Wieso sollte sich jemand hier hereinschleichen und die beiden ermorden? Welches Motiv konnte es außer Raub überhaupt geben?

Ihr Blick wanderte zu Patricks Gesicht, das totenstarr war, aber ansonsten unverändert schien. Wahrscheinlich war er gestorben, ohne zu erwachen. Sie verspürte kaum eine Regung von Mitleid.

Einen Moment lang dachte Kitiara an den anderen jungen Mann, der vor einigen Jahren in der Blüte seines Lebens ermordet worden war. Sie war Beck Gwatmey nie begegnet, aber ob er sich so sehr von Patrick von Gwynned unterschieden hatte?

Entschlossen stand sie auf und sah sich um. Patricks Tod bedeutete, daß sie das Schiff so schnell wie möglich verlassen mußte. So wie sie auf das reagiert hatte, was Lurie ihr erzählt hatte, würde man sie verdächtigen, ihn getötet zu haben. Kit hatte nicht die geringste Lust, die Grenzen von La Cavas Gnade kennenzulernen.

Rasch durchwühlte sie die Taschen von Patricks Kleidern, in denen sie Ausweispapiere fand, die nützlich sein mochten, und die sie in ihre Bluse stopfte. Dann nahm sie ein paar Kleidungsstücke von Patrick und steckte sie in eine seiner mittelgroßen Reisetaschen. Sie zerrte und stocherte an dem Schloß seiner großen Truhe herum und versuchte dann, es mit dem Griff ihres Messers aufzubrechen, doch ihre Anstrengungen hinterließen kaum eine Spur. Zum Glück entdeckte Kit einen kleinen Beutel mit Edelsteinen im Absatz von Patricks Ersatzstiefeln. Auch die stopfte sie in die Tasche, die sie sich schließlich um die Schulter schlang.

Sie kniete sich hin, und unter dem Bett fand Kit Becks Schwert, das zwischen einer Planke und der Wand klemmte. Sie zog es heraus, vergewisserte sich, daß es gut verpackt war, und band es sich auf den Rücken.

Zuletzt ging Kit zu Patrick hinüber, nahm das Amulett ab, das sie immer noch trug, und legte es auf seinen Körper. Das ist nur gerecht, dachte sie. Und sie wollte nicht an ihn und seine Mutter erinnert werden.

Als sie sich in den verlassenen Gang gestohlen hatte, lauschte Kit auf das immer noch andauernde Chaos an Deck und stellte fest, daß sie jetzt handeln mußte, solange der Sturm auf seinem Höhepunkt war und die Leute abgelenkt waren.

Kit holte tief Luft und stieg so unverdächtig wie möglich die Treppe hoch. Die Männer rannten hin und her, machten Taue fest und riefen einander Kommandos zu. Das Schiff schwankte wild, so daß Kit einige Male auf das Deck stürzte, ehe sie ihr Gleichgewicht wieder fand.

Der Donner krachte, Blitze spalteten den Himmel. Einen kurzen Augenblick beleuchteten die Blitze La Cava am Ruder. Der Kapitän brüllte seiner durchnäßten Crew lauthals Befehle zu.

Kit hatte richtigerweise angenommen, daß sie in diesem Tumult niemand bemerken würde.

Taumelnd kämpfte sich Kit zum Heck des Schiffs vor. Die Küste war höchstens zehn Meilen entfernt, und Kit fand, daß sie eine gute Chance hatte, es zu schaffen, selbst in diesem Sturm.

Ein Blick zum Himmel verriet ihr, daß das Gewitter nachließ. Das Schlimmste war vorbei.

Nachdem sie ihre Stiefel ausgezogen und im Beutel verstaut hatte, überzeugte sich Kit, daß sie alles fest an ihren Körper gebunden hatte. Sie kletterte auf die Reling und sprang ohne einen Blick zurück vom Schiff.

Die kalten, tosenden Wellen prasselten wie Steine auf sie ein und hätten sie fast betäubt. Doch bevor Kit das Bewußtsein verlieren konnte, schwamm sie auch schon, ein Punkt im Wasser, der sich langsam, aber stetig vom Schiff entfernte.

»Mann über Bord!« war das letzte, was sie hörte.

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