14 Mantillatal

Kitiara erwachte, weil ihr kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet wurde. Sie lag am Flußufer auf dem Rücken und blickte Colo ins Gesicht, die neben ihr hockte. Mit den hohlen Händen hatte die andere bereits die nächste Ladung geschöpft. Kit schreckte hoch, als ihr alles wieder einfiel – die Sligjagd, der Überfall, der zerstörerische Wirbelsturm.

»Pst!« flüsterte Colo.

Kit stützte sich auf die Ellenbogen. Die Umgebung kam ihr nicht besonders bekannt vor. »Wo bin ich?« fragte sie.

»Ungefähr eine halbe Meile hinter unserem Lager«, sagte Colo immer noch flüsternd.

»Wie…?«

»Ich mußte dich schleppen! Jetzt sei still, sonst verrätst du uns!«

Benommen hörte Kit etwas weiter entfernt im Unterholz Schritte, gedämpft streitende Stimmen und sich entfernende Pferde. Nach einer halben Ewigkeit wurden die Geräusche leiser, und sie und Colo waren schließlich von Schweigen umgeben.

»Was – «, setzte sie wieder an.

»Still«, befahl Colo, die Kit nachdrücklich die Hand auf den Mund legte. »Schlaf jetzt. Morgen früh…«

Sie versteckten sich hinter ein paar Steinen. Colo deckte Kit mit einer Lage Äste und Blätter zu, damit sie nicht so leicht zu entdecken war, und tarnte sich dann selbst ähnlich. Als Kitiara bei dem Versuch, die Ereignisse irgendwie in die richtige Reihenfolge zu bringen, einschlief, war sie sich bewußt, daß Colos wachsame Augen aus dem Versteck in die Nacht spähten.


Am anderen Morgen wachte Kit früh auf. Colo hockte neben ihr, warf ihre Würfel und murmelte in sich hinein.

Sie waren am Rand des Waldes in der Nähe der Flußbiegung, wo die vier Söldner am Vortag die erste Spur des Sligs gefunden hatten. Die Bedrohung bestand offenbar nicht mehr, denn Colo gab sich keine Mühe, nicht gesehen zu werden.

»Was war das für eine Bande? Was haben sie mit Ursa gemacht?« fragte Kit drängend. »Kannst du mir bitte sagen, was passiert ist? Wieso hat dieser Zauber einen Wirbelsturm heraufbeschworen?«

»Weiß ich nicht.« Colo unterbrach ihre Wahrsagung und antwortete unwirsch.

»Wie hast du – haben wir – es geschafft zu entkommen?«

Colo lächelte listig. »Als sie uns überraschten, hatte ich meine Hand in Schlaukopfs Tasche und konnte mir einen von seinen Giftpfeilen schnappen. Ich wußte ja, daß er sie dabei hatte. Der war so klein, daß ich ihn in meiner Hand verbergen und in den Mund schieben konnte. Ich habe auf den richtigen Moment gewartet, als nämlich der blöde Kerl, der mich töten sollte, seine Waffe zog. Dann habe ich ihm den Pfeil ins Gesicht gespuckt. Das Gift wirkt schnell, und in dem Durcheinander konnten wir entkommen. Ein paar von ihnen haben hinterher versucht, uns zu finden, was ihnen aber nicht gelang, weil ich dich flußabwärts gezogen habe.«

»Wo sind sie jetzt?«

»Ich glaube, sie haben aufgegeben«, sagte Colo. »Jetzt können wir sie verfolgen.« Sie war zum Flußufer gegangen und beugte sich hinunter, um mit den Händen Wasser zu schöpfen. »Trink etwas«, wies Colo Kit an. »Das wird dir guttun.«

Beide tranken, bis der Durst gestillt war. Colo hielt es für das beste, sich tagsüber vom Fluß fernzuhalten und in einem weiten Bogen durch den Wald zu der Stelle zurückzukehren, wo die Windhose entstanden war.

Sie hatten nur ein Schwert – das von Beck –, welches Kitiara die ganze Zeit über hatte festhalten können. Auf ihrem Weg durch den Wald trugen sie es abwechselnd und hackten sich damit den Weg frei, wenn er vom Unterholz versperrt war.

Nach einem kurzen, aber anstrengenden Marsch durch den Wald erkannte Kit die Gegend, wo sie am Vortag die Pferde angebunden hatten. Hier standen majestätische Bäume mit gelben Blättern. Einige Lichtungen waren voller Steine. Als sie auf eine solche Lichtung traten, blieben sie und Colo wie angewurzelt stehen: Ein schrecklicher Anblick erwartete sie.

Schlaukopf – oder Trauerkloß – baumelte an einem hohen Baum. Sein Körper war nackt, jedoch von Schnitten, Eiter und Blut überzogen. Sein Gesichtsausdruck war regelrecht friedlich, doch die Augen waren herausgeschnitten. Sie lagen unter ihm auf dem Boden, wo ein paar Vögel daran gepickt hatten.

Daneben lag die treue Cinnamon ausgestreckt und gräßlich ausgeschlachtet auf der Erde. Sie lag mit offener Flanke auf der Seite, so daß ihre Gedärme in der Sonne verfaulten. Trauerkloß war getötet worden, bevor man ihn aufgehängt hatte, aber Cinnamon war langsam gestorben und qualvoll verblutet, während die Aasfresser des Waldes schon über sie hergefallen waren.

Kitiara konnte den Anblick nicht ertragen. Sie fiel auf die Knie, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und kämpfte gegen die in ihr aufsteigende Übelkeit an.

Colo schlich vor, wobei sie sich aufmerksam umsah. Als sie Cinnamon erreichte, versetzte die Waldläuferin dem toten Tier einen festen Tritt, scheuchte jedoch nur Fliegen auf. Sie stieß auch Trauerkloß an. Obwohl der Mann mit dem traurigen Gesicht wie verrückt hin- und herpendelte, machte er keine weitere Bewegung und kein Geräusch. Schlaukopf war schon seit Stunden tot.

Nachdem sie sicher war, daß niemand in der Nähe war, stapfte Colo zu Kit zurück und stieß sie von hinten an.

»Was soll das?« fuhr Kit hitzig auf und sprang mit wütender Miene hoch.

»Wir haben keine Zeit für solchen Schulmädchenkram«, sagte Colo ärgerlich.

»Das war das Pferd meines Vaters«, flüsterte Kit.

»Na und? Wer ist dein Vater?«

»Gregor Uth Matar«, sagte Kit niedergeschlagen. Ihr Vater schien jetzt weiter entfernt denn je.

Bei dieser Mitteilung wirkte Colo überrascht. »Der, mit dem Ursa geritten ist?«

»Ursa?« erwiderte Kit noch erstaunter als ihre Begleiterin. »Was meinst du damit? Er hat mir nie etwas davon erzählt, daß er mit meinem Vater geritten ist.«

»Was weiß ich«, meinte Colo vorsichtig. »Vielleicht irre ich mich auch. Ich bringe oft Namen durcheinander.«

»Erzähl mir, was du weißt«, drängte Kit.

»Ich weiß gar nichts«, wehrte sich Colo. Sie stand Kitiara Auge in Auge gegenüber und ließ sich nicht im geringsten einschüchtern.

Obwohl Kit gerne weitergebohrt hätte, mußte sie zugeben, daß sie Colo vertraute, die ihr das Leben gerettet hatte, und das schon zweimal. Vielleicht irrte Colo sich wirklich. Und überhaupt – wie konnte Ursa mit ihrem Vater geritten sein und es nie erwähnt haben?

»Wir haben jetzt sowieso keine Zeit für so etwas«, wiederholte Colo.

»Was soll das heißen?«

»Dein Pferd haben sie getötet, die anderen aber nicht. Das bedeutet, daß noch drei Pferde frei im Wald herumlaufen könnten. Wir müssen mindestens eins von ihnen einfangen, wenn wir eine Chance haben wollen, sie einzuholen.«

Kit dachte einen Augenblick nach. »Wenn die Banditen sie nicht mitgenommen haben, sind die Pferde wahrscheinlich unserem Geruch gefolgt und beim Wasserfall und der Slighöhle angekommen. Das heißt, wenn wir immer in diese Richtung gehen, ist es gut möglich, daß sie uns über den Weg laufen.«

»Richtig«, sagte Colo und ging wieder auf den Wald zu. Kit warf noch einen letzten Blick zurück auf Trauerkloß und Cinnamon. Colo drehte sich um. »Kommst du?«

»Ja«, sagte Kit und eilte ihr nach.

Nachdem sie zwei Stunden langsam vorgedrungen waren, gelangten sie zu dem Hügel in Sichtweite des Wasserfalls, dem Ort, wo sie am Abend zuvor gelagert hatten und angegriffen worden waren.

Der Anblick, der sie erwartete, war noch unheimlicher als der auf der anderen Lichtung. Die Bäume hier waren abgeknickt, verdreht, ja, sogar entwurzelt. Doch der Boden war von Steinen, Blättern und allem anderen wie leergefegt. Über dem ganzen Ort hing ein durchdringender Gestank.

Es gab keine Spur von Ursa oder dem Kopf des Sligs oder der Wache, die Colo getötet hatte, keine Spur von irgend jemandem oder irgend etwas vom Vortag. Der Ort war nicht zerstört, nur merkwürdig leer.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Kit nervös.

Colo stapfte herum und versuchte, irgendwelche Spuren zu erkennen. »Mächtige Magie. Böse Magie. Ich glaube, sie waren hinter Ursa und – aus welchem Grund auch immer – hinter dir her. Dieser große Zyklon war ein magischer Wind. Er hat ihn und alles andere mitgenommen.«

»Er muß einen mächtigen Zauberer zum Feind haben«, überlegte Kit staunend. Sie dachte über Colos Worte nach und fragte sich, warum jemand hinter ihr hersein sollte.

»Oder jemanden mit genug Geld, um einen mächtigen Zauberer zu bezahlen«, ergänzte Colo nachdenklich. Plötzlich legte sie den Kopf schief. »Hast du das gehört?«

»Was gehört?« fragte Kit.

»Da ist es wieder!« rief Colo und rannte eilig in den Wald. Kit mußte so schnell laufen, wie sie konnte, und über Äste und Felsen springen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Sie stürmte auf eine Lichtung, und vor ihnen stand friedlich grasend der Maulesel von Trauerkloß. Er scheute vor ihnen, doch Colo hielt ihn fest. Nachdem sie ihm beruhigend den Kopf gestreichelt hatte, stieg sie auf und streckte dann Kit den Arm entgegen, um sie hinaufzuziehen.


Sie mußten den ganzen Nachmittag in immer weiteren Kreisen reiten, bis sie eine Spur fanden, obwohl sie nicht begriffen, warum die Spur auf nur zwei Pferde hindeutete, die nach Westen zogen.

Eine weitere Stunde später wurde es dunkel, doch Kit und Colo ritten weiter. Sie hatten nur Becks Schwert für beide, so daß Kitiara sich nicht nur fragte, wem sie eigentlich folgten, sondern auch, was sie machen sollten, wenn sie die anderen einholten. Weit nach Mitternacht sahen sie vor sich ein Lagerfeuer. Sie stiegen ab und krochen auf Händen und Knien voran.

Als sie sich näherten, sah Kit, daß es die zwei Dunkelelfen waren, die sich stritten. Noch näher dran, konnte Kit einzelne Worte verstehen. Sie stellte fest, die beiden stritten sich über sie – »das Schattenmädchen«, wie einer der zwei sie nannte – und darüber, wer die Schuld für ihr Entwischen trug.

»Wenn du es auf meine Art gemacht hättest – «

»Du warst einverstanden!«

»Tja, du wirst es erklären müssen.«

Colo legte einen Finger an die Lippen und schlug einen Bogen nach rechts. Kit hatte keine Ahnung, was sie vorhatte, hielt jedoch ihren Schwertgriff fest umklammert und wartete auf irgendein Signal.

Colo tauchte hinter den Elfen auf und sprang mit so atemberaubender Geschwindigkeit auf sie zu, daß Kit zurückschreckte. Die Waldläuferin hatte einen großen Stein in der Hand. Sie warf sich von hinten auf den einen Dunkelelfen und schlug ihm mit dem Stein auf den Kopf, wobei man ein scheußliches Knacken hörte.

Noch während sie das tat, sprang Kit aus ihrer Deckung und stürzte mit einem Schlachtruf los. Der andere Elf war aufgesprungen und hatte nach seinem Dolch gegriffen. Er stürmte Kit entgegen, doch die hatte den Vorteil der Überraschung und die längere Reichweite. Mit einem einzigen Hieb schlug sie ihm das Messer aus der Hand und stieß ihm die Waffe in die Brust. Er fiel tot um.

Innerhalb von Sekunden war alles vorbei. Kit sah zu, wie Colo ihr bewußtloses Opfer entwaffnete und ein Messer und mehrere Beutel an ihrem Gürtel festmachte. Mit zufriedenem Grinsen sah sie Kitiara an.

»Was jetzt?« fragte Kit, die ihr Schwert abwischte.

Colo setzte sich auf einen Baumstumpf und biß in die Rehkeule, die über dem Feuer briet.

»Wir warten«, sagte sie mit einer Handbewegung zu dem Elfen, den sie niedergeschlagen hatte, »bis der da aufwacht.«

Irgendwann kam der Dunkelelf benommen zu sich. Als er Colo und Kit über sich stehen sah, verhärtete sich sein Gesichtsausdruck. Er mühte sich ab, in eine sitzende Haltung zu kommen. Colo hatte ihm die Hände und Füße gefesselt und ein Seil um seinen Hals gelegt, das sie an einem starken Ast befestigt hatte, so daß er sich nicht weit bewegen konnte, ohne sich selbst zu erwürgen.

Es war der Elf, den Kit auf der Silberhecht gesehen hatte. Zum ersten Mal sah Kit ihn aus der Nähe – das mandelförmige Gesicht, die langen, spitzen Ohren, der hochmütige Ausdruck. Der Dunkelelf zeigte keine Furcht, sondern starrte sie dreist an, während er versuchte aufzustehen.

Colo schlug ihm einfach ins Gesicht, woraufhin Blut von seiner Lippe tröpfelte. Es gab eine lange Pause, bis der Dunkelelf langsam seine Zähne zu einem bitteren Lächeln fletschte. Colo schlug ihn wieder.

»Wo ist er? Wo sind sie hin?« wollte sie wissen.

»Weit fort von hier«, antwortete er gepreßt.

»Wie?« fragte sie.

»Zauberwind.«

Colo nickte Kit zu.

»Warum seid ihr nicht mitgegangen?« fragte sie.

»Weil wir das Mädchen verloren hatten«, sagte er mit einem Nicken zu Kit.

Kits Augen wurden größer. »Du hast mich schon auf dem Schiff verfolgt, oder?« bohrte sie.

»Nein«, sagte er. »Das war Zufall. Ich bin niemandem gefolgt. Aber dann habe ich das Schwert bemerkt, das Patrick trug.«

»Du hast ihn umgebracht!« herrschte Kit ihn an.

Jetzt hörte Colo mit großen Augen zu, während sie versuchte, alles zusammenzusetzen.

»Ich habe ihn umgebracht«, sagte der Dunkelelf, »und ich wollte das Schwert stehlen, doch ich wurde gestört. Das Schwert verschwand, und mir wurde klar, daß du es genommen hattest. Ich dachte, du wärst ertrunken, aber nachdem dein Pferd gestohlen wurde, reimte ich mir alles zusammen. Ich hätte nicht Patrick umbringen müssen, sondern dich. Wer bist du überhaupt?«

»Kitiara Uth Matar«, sagte sie stolz. »Sagt dir das etwas?«

Das sagte ihm gar nichts, verriet sein Gesicht. Er hatte ihren Namen noch nie gehört.

»Was wollt ihr von Ursa?« Colo nahm das Verhör wieder auf.

»Ich persönlich überhaupt nichts«, sagte der Elf hochmütig. »Meine Herrin hat gut für ihn bezahlt. Für die da würde sie mehr zahlen.«

»Wer ist deine Herrin?« wollte Kitiara wissen.

»Luz Mantilla. Eine Adlige, die sich an denen rächen will, die ihren Geliebten ermordet haben.«

»Lady Mantilla!« rief Kit aus.

»Du hast von ihr gehört«, sagte der Elf befriedigt. »Sie ist eine Verrückte, die genug Geld hat, um Dutzende von Zauberern, Spionen und Assassinen zu beschäftigen. Ihr Leben hat sie der Suche nach den Söldnern gewidmet, die ihren Verlobten überfallen und ermordet haben, einen unschuldigen Edelmann. Es waren fünf. Wir konnten bisher immer nur vier benennen. Wir wagten nicht, ohne den fünften zurückzukommen – und das bist du. Kitiara Uth Matar.«

»Zurückkommen, wohin?« fragte Colo.

Der Dunkelelf sprach mit beinah bösartigem Triumph. »In ein kleines, einstmals blühendes Reich auf der anderen Seite des Ostwall-Gebirges, heute ein totes, steiniges Land voller schwarzer Magie. Ein Ort der Hölle. Ich bin nie dort gewesen. Kontakt und Geld gingen über Kraven.« Kalt nickte er zu dem toten Elfen hin.

Ein langes, lastendes Schweigen machte sich breit.

»Ich glaube, ich weiß, wo es ist«, sagte Kit zu Colo.

Colo zog sie beiseite, damit sie außerhalb der Hörweite des Elfen reden konnten. Sie hockten sich ins Mondlicht und sprachen gedämpft. Colos Gesicht war ernst. »Du weißt also doch etwas?«

Kit wartete einen Augenblick, bevor sie redete. »Es war Ursas Auftrag. Ich bin mitgekommen und habe geholfen, die Verfolger abzulenken. Nach dem, was er mir erzählt hat, ging die Sache schief, und dieser Beck, ein junger Adliger, kam um.«

Einen Augenblick blitzte jene Nacht vor Kitiara auf – die Erinnerung an Beck, sein lebloses Gesicht, seinen verstümmelten Körper.

»Ihr habt das Geld nicht gekriegt?« fragte Colo.

»Oh, ich habe kein Geld gekriegt«, sagte Kit bitter und trocken, »die anderen schon. Radisson, Trauerkloß, Ursa und« – ihre Stimme zitterte – »El-Navar. Sie haben mich beim Teilen der Beute ausgeschlossen und sind ohne mich weitergeritten. Ursa gab mir das Schwert hier als ›Belohnung‹. Es ist Becks Schwert.« Sie zeigte auf das Schwert in ihrer Hand, mit dessen Spitze sie unablässig im Boden herumstocherte.

»Und dann?« fragte Colo.

»Beck Gwatmey war mit einer Adligen auf der anderen Seite der Berge verlobt«, fuhr Kit fort. »Um die Ehe zu besiegeln, wurde eine Straße gebaut. Durch seinen Tod brach alles zusammen. Ich blieb ein paar Monate lang in Stumpfhausen hängen, einem kleinen Nest, wo ich viel Gerede über das hörte, was passierte. Luz Mantilla verlor den Verstand, hieß es, und brachte ihren eigenen Vater um. Er hatte den Hinterhalt geplant, um die Ehe zu verhindern. Sie schwor, sie würde die bezahlten Killer aufspüren. Niemand hat je gewußt, daß ich dabei war.«

»Außer den anderen vier«, sagte Colo.

»Radisson ist wahrscheinlich gestorben, bevor er etwas verraten konnte«, überlegte Kitiara. »Was aus dem Karnuthier wurde, weiß keiner. Und jetzt hat Luz Ursa…«

»Wo ist das?« fragte Colo.

»Jenseits des Kanals, dann eine Woche zu Pferd, Hunderte von Meilen durch bergiges Gelände.«

»Bestimmt hat sie der magische Sturm dorthin gebracht.«

Kit sagte nichts. Beide blickten sich zu dem Dunkelelfen um. Er stand gefesselt da, das Seil in einer engen Schlinge um den Hals, und sah sie haßerfüllt an.

»Sie kennen deinen Namen noch nicht und wissen nicht, daß du dabei warst«, meinte Colo.

»Solange Ursa ihnen nichts erzählt.«

»Falls er noch lebt.«

»Das ist so lange her«, überlegte Kitiara. »Drei Jahre. Ich hatte es fast vergessen. Bis auf…«

»Bis auf was?« Colo sah ihr tief in die Augen.

Kitiara wich ihrem Blick aus. »Nichts«, sagte sie.

Colo stand auf, nahm einen tiefen Schluck Wasser aus einer Blechtasse am Lagerfeuer und betrachtete den Dunkelelfen. Der lachte und spuckte in ihre Richtung. Sie gingen zu den zwei Pferden, um gezielt die Satteltaschen aufzuschneiden und die paar wertvollen Dinge herauszuholen – eine schwere Börse, Trockennahrung und eine zerknitterte Karte, die sie befriedigt Kit entgegenhielt.

»Was hast du vor?« fragte Kit.

»Was glaubst du wohl?« erwiderte Colo irritiert. »Ich werde Ursa nachreiten. Was ist mit dir?«

»Ich – ich weiß nicht«, sagte Kitiara.

»Bist du das einem Mann nicht schuldig, mit dem du im Bett warst?«

»Ich war nie mit Ursa im Bett«, erwiderte Kitiara.

»Du lügst.«

»Nein.«

Ihre Blicke trafen sich. Die Sekunden verstrichen. Colo wollte sich gerade abwenden, als Kit sich entschieden hatte.

»Ich komme mit«, erklärte sie.

Colo zog den Dolch, den sie dem toten Dunkelelfen abgenommen hatte, und reichte ihn Kit. »Was ist mit dem?« fragte Colo vielsagend. »Er weiß jetzt, wer du bist.«

Kitiara zögerte nur einen Moment lang, bevor sie den Dolch nahm und zu dem Gefangenen ging. Der große Dunkelelf starrte sie verdrossen an. »Erwarte nicht, daß ich bettle«, sagte er kalt.

Kit griff ihm in die Haare, riß seinen Kopf zurück und schlitzte ihm die Kehle auf. Er starb ohne ein weiteres Wort.

»Das war für Cinnamon«, murmelte sie. Und für Patrick, ergänzte sie in Gedanken.

Sie wischte das Messer an ihrer Hose ab und gab es Colo zurück. Die beiden sahen sich an. Kit nahm das eine von den Elfenpferden, Colo das andere. Die zwei Tiere waren starke schwarze Rösser. Den Maulesel von Trauerkloß, der ihnen gute Dienste geleistet hatte, ließen sie frei.

Trotz der späten Stunde schwangen sie sich auf die Pferde und ritten los.


In fieberhafter Eile hielten sie nach Südosten auf die Küstendörfer nördlich von Vocalion zu, wo Kit nicht erkannt werden würde. Die skizzenhafte Karte des Dunkelelfen wies ihnen den nächsten Weg in die Talfestung der Mantillas im Ostwall-Gebirge. Aber zunächst mußten sie den Kanal nach Abanasinia überqueren.

Nachdem sie morgens die Küste erreicht hatten, machten sie in dem verschlafenen Städtchen Conover halt, dessen Hafen voller Schiffe aller Art lag. Kit und Colo kletterten bei einem Dutzend Schiffe über das Fallreep und versuchten, eine Überfahrt für sich und ihre Pferde zu buchen. Dabei gaben sie acht, daß sie keine Aufmerksamkeit erregten. Doch während der kalten Jahreszeit gab es wenig Seeverkehr, so daß die meisten Schiffe vorerst festlagen. Und kein Kapitän wollte sie für das bißchen Geld übersetzen, das sie erübrigen konnten.

Am Ende eines enttäuschenden Tages im Hafen entdeckte Kit ein breites Frachtschiff, das abseits der Mole im Hafen ankerte. Sie ruderten hinaus, um mit dem Kapitän zu reden, einem kräftigen Seemann, der eine Ladung Pelze und Wolle an Bord hatte. Er willigte ein, sie mitzunehmen, aber nur unter der Bedingung, daß sie als Schiffsjungen einsprangen. Ihm fehlte ein Seemann, und er hoffte, daß zwei Frauen einen Mann ersetzen konnten.

Colo wäre ihm am liebsten an die Kehle gesprungen, doch Kit kam ihr zuvor. »Abgemacht«, stimmte sie zu und schüttelte ihm zur Bekräftigung die Hand.

Sein Schiff, die Fleury, lief früh am anderen Morgen aus. Die Woche an Bord des Segelschiffs war für Kit und Colo eine Qual – nicht wegen der harten Arbeit, die ihnen zumindest die Zeit nicht lang werden ließ, sondern wegen der Langsamkeit. Wenn sie nicht mit ihren Pflichten beschäftigt waren, liefen sie rastlos an Deck auf und ab, redeten wenig und fanden nur schwer in den Schlaf.

Als die Fleury endlich die Küste erreichte, ließ die Besatzung sie und ihre Pferde ins Wasser hinunter. Anstatt zu warten, bis sie eine nach der anderen mit dem Beiboot übergesetzt würden, schwammen sie lieber an Land.

Sie waren am äußersten Rand von Abanasinia und wußten von der Karte, daß sie zunächst nach Nordwesten reiten mußten, um die Ausläufer des Kharolisgebirges herum, bevor sie nach Süden auf die Gipfel des Ostwall-Gebirges zuhalten konnten.

Sechs Tage und sechs Nächte waren Kit und Colo unterwegs. Sie schliefen nur ein bis zwei Stunden pro Nacht und schwangen sich dann schon vor der Dämmerung wieder in den Sattel. Weil sie nur hin und wieder haltmachten, um starken Tee herunterzukippen und etwas Trockenobst in sich hinein zu schlingen, kamen sie gut vorwärts. Unbarmherzig trieben sie die Pferde voran. Colo bestimmte das Tempo, denn sie war eine geborene Reiterin und hatte vielleicht auch von Anfang an das stärkere Tier, doch Kitiara war nie weit hinter ihr.

Am dritten Nachmittag brach Kits Pferd in vollem Galopp zusammen, und bis Kit sich aufgerappelt hatte, lag das Tier schon in den letzten Zügen. Ein paar Meilen mußten sie zu zweit reiten, bis sie von einem Bauern ein neues Pferd kaufen konnten.

Am vierten Morgen kam Colos Pferd nicht mehr auf die Beine, und sie mußten ihm den Gnadenstoß versetzen. Wieder ritten sie ein paar Stunden zusammen, bis sie in einer Schmiede an der Straße ein zweites Pferd erwerben konnten.

Während sie so vorankamen, wurde der Himmel grau, und zur Kälte gesellten sich Nieselregen und Nebel. Morgens lag Reif auf den Gräsern und später, als sie von der Küste in die höheren Regionen gelangten, auch ein dünner Schneeteppich. Zeitweise lag der Schnee über Eis, was für die Pferde gefährlich war.

Das Wetter schien es darauf anzulegen, sie aufzuhalten. Wenn es nicht schneite oder regnete, war es neblig. Die Feuchtigkeit kroch ihnen in die Glieder. So waren sie nicht nur erschöpft und wund vom Reiten, ja, fast taub vor Anstrengung, sondern konnten auch der ständigen Kälte nicht ein einziges Mal durch ein bißchen Sonnenschein entkommen.

Kit war noch nie so weit im Norden gewesen und hatte diesen Teil des Kharolis noch nicht gesehen. Ehrfürchtig betrachtete sie die Gipfel, die sich über viele Meilen bis zum Horizont erstreckten – große, zerklüftete Bänder in Braun und Violett, mit Schnee bedeckt.

Am sechsten Tag kam ihnen die Landschaft wieder vertrauter vor, denn sie erreichten die Nordwesthänge des Ostwall-Gebirges. Mit Hilfe der Elfenkarte folgten sie hier einem verschlungenen Weg, der über Trampelpfade, durch Schluchten und kleine Täler zum Lehen Mantillatal führte.

Der Weg war ziemlich tückisch, denn er wand sich durch felsiges Gelände, um große, zackige Gipfel und steile Klammen, über angelegte Fußwege und kaum passierbare Stellen, wobei er teilweise scharf abbog und im Kreis zurückkam. Die Pferde mußten sich immer wieder langsam einen Weg suchen. Hin und wieder wurden Kit und Colo auch gezwungen, abzusitzen und neben ihren nervösen Tieren herzulaufen. Immerhin stimmte die Karte, und sie kamen vorwärts.

Trotzdem forderte das schwierige steinige Gelände seinen Tribut von einem ihrer Pferde, das sich beim Stolpern ein Vorderbein verletzte. Sie hatten keine Wahl; sie mußten das leidende Tier erlösen und sich wieder ein Pferd teilen. Kit und Colo waren ihrem Ziel jetzt so nah, daß sie die letzten Meilen nach Mantillatal auch zu Fuß zurücklegen konnten.

Am Nachmittag des siebten Tages stießen sie auf einen verschneiten Hang mit einem schmalen Wasserfall. Der Hang lag über einem tiefen, unregelmäßigen Tal, das von hier ab durch dicken gelben Nebel verhüllt war. Auf der Karte war ein schmaler Pfad eingezeichnet, der den sanft abfallenden Hang hinunterführte.

Kit war noch nie so ausgepumpt gewesen. Jeder Knochen im Leib tat ihr weh, ihre Augen waren blutunterlaufen, die Kleider schmutzig und zerrissen. Colo, die neben ihr stand und das Mantillatal betrachtete, sah auch nicht besser aus. Im Gegenteil – als sie da standen, ohne einen Schritt auf ihr Ziel zuzumachen, sank Colo in die Knie.

Ihnen wurde klar, sie brauchten Schlaf, damit sie wieder etwas zu Kräften kamen, und deshalb beschlossen Kit und Colo, diese Nacht hier oben zu verbringen. Da es noch nicht dunkel war, hatten sie reichlich Zeit, um ihr Pferd zu versorgen und ein Lager aufzubauen. Sie ölten und trockneten ihre Waffen. Mit geschmolzenem Schnee gelang es ihnen, sich notdürftig zu waschen, was sie ein wenig erfrischte.

Colo zündete hinter ein paar Felsen ein kleines Feuer an, dessen Schein nicht einmal vom Tal aus zu sehen sein würde. Bei Einbruch der Nacht konnten sie unten im Tal nichts erkennen und auch am Himmel nichts, was noch seltsamer war. Es war eine Nacht ohne Mond und Sterne. Nur leere Dunkelheit.

Zuerst sprachen die zwei Gefährtinnen wenig miteinander. Sie waren müde, aber sie spürten, daß ihnen etwas bevorstand, das sie durchaus das Leben kosten konnte. Aus dem Essen, das sie unterwegs erbettelt hatten, bereitete Kit eine Mahlzeit zu, doch obwohl sie so hungrig waren, konnten sie vor Erschöpfung kaum etwas zu sich nehmen.

Nach einer langen Pause begann Colo zu sprechen. Sie erzählte Kit, wie sie Ursa kennengelernt hatte, was erst neun Monate her war. Er war in Südergod allein mit Schlaukopf unterwegs und gerade sehr heruntergekommen gewesen. Colo zufolge hatte Ursa schäbige Kleidung getragen und hätte jeden Auftrag angenommen.

In dem Gasthaus an der Hauptstraße, wo Colo die Nacht verbrachte, hatte man sie beschuldigt, beim Kartenspielen zu mogeln – was sie auch getan hatte. Ursa, der selbst mitspielte, sagte sehr wenig und spielte sehr gut, obwohl er dauernd verlor, am meisten an Colo. Trotzdem ergriff er bei dem Streit für sie Partei, und als so ein Bauerntrampel Colo mit dem Messer bedrohte, stellte sich Ursa trotz der Gefahr für sich selbst auf ihre Seite. Zusammen mit Trauerkloß verließen die beiden rückwärts das Wirtshaus und dann, von der Meute verfolgt, die Stadt.

Nachdem sie in Sicherheit waren, erklärte Ursa Colo, er habe die ganze Zeit gewußt, daß sie betrog, und forderte die Hälfte ihres Gewinns. Seitdem waren sie zusammen gereist.

»Ich wußte gar nicht, daß er gerne Karten spielt«, sann Kit. Was sie eigentlich meinte, war ihre Verwunderung darüber, daß Ursa sich dazu herablassen würde, um zu etwas Geld zu kommen.

»Ich glaube, er kann von allem ein bißchen«, sagte Colo bewundernd.

Danach wurde Colo müde und schlief bald ein.

Weil Kitiara unruhig war, lief sie zum Abhang und blickte ins Mantillatal hinab. Der Karte nach lag das Herrenhaus in der Mitte des kleinen ovalen Tals gut fünf Meilen nach unten und weitere fünf Meilen nach Westen. Angestrengt schaute sie in diese Richtung. Die undurchdringliche Schwärze verriet überhaupt nichts. Kein Lichtstrahl kam aus dem Tal herauf.

Kitiara dachte an Ursa Il Kinth, ob er wohl noch lebte, und wieso er eigentlich in ihrem Leben bisher eine so wichtige Rolle gespielt hatte.

Zum ersten Mal seit vielen Monaten dachte Kit auf einmal auch an Caramon und Raistlin. Wie es ihnen wohl ging? Caramon war bestimmt noch größer und stärker geworden und prahlte mit seinen Fähigkeiten. Raistlin war sicher noch mehr nach innen gekehrt, noch stiller und noch schlauer geworden. Kit war davon überzeugt, daß er Caramon das Wasser reichen konnte, wenn sich seine Begabungen auch auf ganz anderen Gebieten zeigten.

Sie hoffte, sie würde die beiden Zwillingsbrüder irgendwann wiedersehen. Aber heute abend war sie sich dessen gar nicht so sicher.

Und sie selbst? Kit spürte, endlich führte sie ein Leben, das ihr Vater verstehen würde. Als sie so über das Tal schaute und an den nächsten Tag dachte, formten ihre Lippen schweigend die Worte, die sie von Gregor Uth Matar so viele Male gehört hatte: Das Schwert ist die Wahrheit.


Unter dem dicken gelben Nebel wies die Straße zum Sitz der Mantillas auf Verschwendung und apokalyptische Katastrophen hin. Karren und Wagen lagen mit zerbrochenen Rädern verlassen da. Die Höfe waren halb niedergebrannt, die Felder verwüstet. Werkzeug, Ausrüstung, Kleider, Möbel und Hausrat lagen entlang der Straße verstreut. Über dem Land lag Totenstille. Kein Vogelgezwitscher, keine Stimme von Mensch oder Tier durchbrachen die unheimliche Ruhe. Kein Windhauch trieb den unnatürlichen Nebel auseinander.

Kit ritt hinter Colo auf dem letzten Pferd. Beide hatten die Hände an die Waffen gelegt. Anfangs ritten sie vorsichtig, doch als sie niemanden sahen, spornten sie das Tier an.

Als Kit und Colo dem Schloß näher kamen, tauchten die ersten Körper auf. Menschen hingen von geschwärzten Bäumen. Skelette lagen auf den Feldern. Verkohlte Körper und Körperteile lagen in Gräben oder übereinander, wo immer sie hingefallen waren. Manche waren offenbar schon monatelang tot, andere erst seit kurzem und verwesten noch.

»Sieh nur!« schrie Colo, die auf einen zeigte, der am Baum hing.

Kit nickte, als sie einen Soldaten in der Rüstung jener Einheit erkannte, von der sie vor zwei Wochen gestellt worden waren. Er gehörte zu dieser Truppe – oder hatte jedenfalls mal dazu gehört. Und er war nur der erste von vielen aus dieser Miliz, die brutal abgeschlachtet worden waren, wie Kit beim Weiterreiten feststellte.

Das Schauspiel war furchtbarer, als sie es je erwartet hatten. Nicht einmal im Traum hätte Kit sich dieses unaussprechliche Grauen ausmalen können, und sie mußte sich zusammenreißen, um es auszuhalten. Colos Augen blickten unentwegt nach vorn, doch auch sie würgte vor Ekel.

Sie ritten über ein Feld, auf dem die Leichen überall wie Vogelscheuchen an Pfählen baumelten. Ihre Gesichter glichen Gargylen, denn sie waren grotesk verzerrt. Manche waren alt und verwest, andere erst vor kurzem getötet. Es waren lauter Zauberer, und einige hatten Schilder umhängen. Einem, der mit schrecklichen Wunden überzogen war, hing eine Tafel vom Hals: Dieser Zauberer hat versagt und hat dafür bezahlt – Luz Mantilla.

»Der Zauberer«, flüsterte Colo und zeigte hin.

»Ja«, sagte Kit, die die Robe desjenigen erkannte, der erst vor zwei Wochen den magischen Zyklon heraufbeschworen hatte, der Ursa fortgetragen hatte.

Noch immer keine Menschenseele zu sehen.

Jetzt kamen die Türme des Schlosses in Sicht. Aber etwas daran war verkehrt. Die Türme waren schief und verzogen, einige Teile waren herausgebrochen. Nur ein dünner Turm im Zentrum des Durcheinanders reckte sich hoch in die Luft bis über den gelben Nebel. Dieser eine Turm schien von den anderen getrennt zu sein, eine einsame Insel in einem Meer der Trümmer.

Es war, als hätte eine göttliche Faust auf das Schloß geschlagen, es zerschmettert und in alle möglichen Richtungen in den Boden gequetscht.

Als sie näher kamen, wurde der gelbe Nebel noch drückender, und es war unmöglich, etwas klar zu erkennen, was mehr als ein paar Schritte entfernt war. Urplötzlich ragte ein Haufen aus Ziegelsteinen und Geröll vor ihnen auf, der die Straße versperrte. In der Mitte des Steinhaufens war ein von Balken eingerahmtes Loch, von dem aus Stufen nach unten führten. Sie konnten nicht weiter reiten.

Nur nach unten. Die Steinstufen führten in einen Gang. Kein Posten versperrte ihnen den Weg. Weiter vorne flackerte Licht.

»Hier lang?« vergewisserte sich Colo.

»Entweder hier lang oder umkehren«, sagte Kit.

»Dazu waren wir zu lange unterwegs.«

Kit nickte, nahm sich aber einen Augenblick, um ihre Waffen zu überprüfen. In der einen Hand hielt sie Becks Schwert, in der anderen trug sie einen Kupferdolch, den sie dem einen Dunkelelfen abgenommen hatte. Sie warf einen Blick auf Colo.

Die Waldläuferin hatte zwei Schwerter von den Elfen, ein kurzes Messer und eine Rolle Seil. Kits Gefährtin war im ersten Morgenlicht aufgestanden, hatte ihr Gesicht bemalt und ihre langen sandfarbenen Zöpfe mit Federn durchflochten. Jetzt band Colo das Pferd fest und ging voran.

Kit merkte, wie in ihr ein warmes Gefühl für die zierliche Frau aufstieg, die das völlige Gegenteil ihrer Mutter, dieser Stubenhockerin, war. Colo war eine der bewundernswertesten Frauen, die Kit je kennengelernt hatte.

Ohne weitere Worte begannen Kit und Colo vorsichtig, die Treppen hinunter und dann einen langen Steingang entlang zu schleichen, der sich schier endlos vor ihnen erstreckte. Fackeln, die hoch oben an den Wänden hingen, spendeten ein wenig Licht. Die Frauen blieben dicht bei den Wänden und hielten sich von der Gangmitte fern, um Fallen auszuweichen. Mit gezückten Schwertern schoben sie sich langsam vor, wobei sie nach Seitengängen tasteten.

Hin und wieder neigte sich der Gang leicht nach unten, dann wieder machte er einen Knick und stieg etwas an. Unsichtbare Tierchen huschten vor ihnen über den Weg. Der Tunnel war feucht, irgendwo tröpfelte Wasser. Durch Risse in den Wänden quollen unangenehme Dämpfe. Zeitweise war der Weg so dunkel, daß Kit bis auf Colos Umriß an der gegenüberliegenden Wand kaum etwas sehen konnte.

Nach einer Weile gelangten sie in eine große, hohe Kammer, die besser beleuchtet, aber an einem Ende anscheinend halb eingestürzt war. Es gab vier Ausgänge – fünf, wenn man den mitzählte, aus dem Kit und Colo gekommen waren. Sie gingen in vier verschiedene Richtungen, so daß sie zusammen mit dem Eingang einen Stern bildeten.

In der Mitte des Raumes lag ein großer Haufen Körper, die wie Feuerholz übereinander gestapelt waren. Einige waren am Stück hingeworfen worden und wirkten wie lebendig, wie mitten im Tun eingefroren. Andere waren nur noch Skelette. Es waren Dutzende, vielleicht über hundert Leichen mit weißen, verrotteten Schädeln und zerrissenen Kleidern. Überall lagen Eingeweide herum, und durch die Öffnungen schossen die Ratten.

Kitiara hielt erschrocken die Luft an und schlug eine Hand vor den Mund, während Colo bei diesem Anblick unwillkürlich näher an sie heranrückte.

»Was?« Kit fröstelte.

»Atme ganz flach«, wies Colo sie streng an. Sie legte Kit beruhigend eine Hand auf die Schulter.

Sie traten näher heran, um den schauerlichen Totenhaufen besser betrachten zu können, denn sie mußten sich davon überzeugen, daß Ursa nicht unter den Toten war. Plötzlich sprang eine geisterhafte Gestalt aus der Mitte des Stapels auf. Der bleiche, höhnisch grinsende Mann war nur noch Haut und Knochen, hatte dünnes weißes Haar und einen Ziegenbart und trug verfaulte, flatternde Lumpen.

Colo und Kit wichen sofort mit erhobenen Waffen auseinander. Doch ansonsten bewegte sich nichts im Raum, und der alte Kauz schien eher verrückt zu sein als gefährlich. Er sprang von einem Bein aufs andere, während er mit sich selbst redete. In der Hand hielt er einen Eisenring mit rostigen Schlüsseln.

»Sie ist gekommen! Ich bin frei! Welche ist es? Vielleicht sehe ich doppelt. Nach all der Zeit bin ich frei!« babbelte der Alte.

»Bleib stehen«, befahl Colo. »Was sagst du da, Großvater?«

»Hier! Hier!« Der Mann hielt ihnen den Schlüsselring hin.

Kit streckte zögernd die Hand aus und nahm den Ring. Das Metall war mit verkrustetem Schleim überzogen.

»Ich glaube, er ist nicht ganz bei Trost«, sagte Kit schneidend, während sie sich immer noch wachsam umsah.

»Wer bist du, alter Mann? Was geht hier vor?« fragte Colo wieder. Sie steckte ihr Schwert ein und schob das Messer in den Gürtel, um den Irren damit zu beruhigen.

Der Alte war näher an Kit und Colo herangehüpft und tapste nun um sie herum, wobei er fröhlich mit sich selber redete. Seine langen, weißen Haare schimmerten wie Spinnweben. Immer wieder zeigte er in verschiedene Richtungen.

»Die große Herrin, sie hat gesagt, ich kann gehen, wenn ihr kommt. Ich war treu. Der letzte der Treuen bin ich. Seit vielen Jahren. Nur ich bin noch übrig. Außer«, er biß sich auf die Zunge und rollte die Augen, »außer der Eisernen Garde. Ich vergesse Euch nicht, meine Herren. Ich grüße Euch.« Krampfhaft nickte er mit dem Kopf.

»Nehmt schon«, sagte er mit einer Geste zu den Schlüsseln. »Sind eure. Ich gehe! Sie hat es versprochen.« Er winkte kurz und lief los.

»Warte!« schrie Kit wild, griff nach seinem Arm und fuchtelte drohend mit ihrem Dolch. »Wo ist die Herrin, von der du gesprochen hast?«

Er drehte sich um, sah sie an und streichelte seinen Spitzbart. »Es sind fünf Tunnels«, sagte der Alte nachdenklich. »Ihr findet sie, wenn ihr den rechten nehmt, glaube ich. Welchen? Ich rate nicht. Ich selbst«, er wirkte unruhig, »habe die große Herrin jetzt schon viele Monate nicht mehr zu Gesicht bekommen: Sie läßt mich in Ruhe. Das ist meine Belohnung. Andere sind nicht so glücklich. Seid sehr vorsichtig.«

Er beugte sich vor und flüsterte verschwörerisch: »Aber die Eiserne Garde habe ich gesehen. Die kommt und geht. Holt die Besucher. Meine Aufgabe«, sagte er mit stolzem Kichern, »ist es, mich um die Besucher zu kümmern. Nur«, er lockte Kit mit einem dünnen gelben Finger, »zwei übrig. Ts, ts.«

Er legte den Finger an die Lippen. »Die große Herrin ist sehr wütend«, fügte er wissend hinzu. »Pst«, sagte er ausweichend, um Colos Fragen abzuwehren. »Ich riskiere mein Leben, wenn ich euch das erzähle.«

Der Alte fuhr mit stolzgeschwellter Brust herum.

»Irgendwo oben im Turm und sehr wütend. Alle haben versagt, alle untreu. Viel Töten.« Angewidert nickte er zu dem Stapel Tote hin. »Ich nicht. Ich sehr zuverlässig. Ich hüte die Schlüssel! Ich treu!« prahlte er.

»Wo lang?« wiederholte Colo am Ende ihrer Geduld.

Er strich sich über seinen Bart. »Ja. Das ist die Frage. Ich hab’s immer gewußt« – er erschauerte – »früher, früher.« Er drehte sich langsam herum, wobei er jeden Ausgang nachdenklich anstarrte. Seine Augen waren verschwollen. »Ich hab’s vergessen«, klagte er. »Welcher Weg führt nach draußen?«

Colo wies mit dem Daumen über ihre Schulter zu dem Steingang, durch den sie eingetreten waren.

Blitzschnell schob sich der plappernde Alte an ihr vorbei und schoß in den Tunnel. »Gott segne euch!« rief er ihnen noch zu, als er verschwand. »Ich bin frei! Frei!« Minutenlang hörten sie das Echo seiner Schritte, gefolgt von seinem Glucksen.

Kit hielt Colo fest. »Laß ihn laufen«, sagte sie. »Der ist harmlos.«

»Vielleicht ist er ein Spion«, gab Colo zu bedenken.

»Sicherlich«, meinte Kit. »Aber Lady Mantilla weiß inzwischen sowieso, daß wir hier sind. Wir müssen gegen sie kämpfen, so oder so. Uns kann er gleichgültig sein.«

Kits Miene nahm einen beinahe amüsierten Ausdruck an. »Was ist mit denen?« fragte sie.

Colo nahm den Ring in die Hand, drückte zu und ließ einen der alten Schlüssel zerbrechen. »Ich glaube kaum, daß die uns viel nützen werden«, sagte sie trocken.

Als sie wieder in der riesigen Kammer standen, sahen sich Kit und Colo erneut dem grausigen Stapel von Toten gegenüber. Mißmutig musterten sie die mit Balken verstärkten Ausgänge, um ihre Wahl zu treffen. Einer war durch eingestürztes Gestein versperrt. Ansonsten gab es keinen Unterschied zwischen den dunklen Löchern.

»Nun?« fragte Kit.

»Ich finde, wir sollten zusammenbleiben«, schlug Colo vor.

»Dieses Gerede über die Eiserne Garde hat mir gar nicht gefallen.«

Wieder sahen sie sich unentschlossen um. »Also, über den da brauchen wir uns keine Gedanken zu machen«, meinte Kit, die auf den Ausgang zeigte, der von Trümmern und Geröll versperrt war. »Und wir wissen, daß hinter uns der Ausgang liegt«, fuhr sie fort und zeigte auf den Tunnel hinter ihnen. »Oder zumindest der Eingang. Wir können genausogut dort anfangen.« Sie zeigte auf den ganz linken Tunnel. »Von da aus können wir uns nach rechts vorarbeiten.«

Colo nickte. Als sie in den Tunnel hineinblickten, konnten sie eher noch weniger sehen als vorher. Dieser Gang war schwächer beleuchtet als der erste. Kit und Colo hielten sich zunächst eng an die Wände und tasteten sich mit kampfbereiten Waffen vorwärts. Als sie nichts hörten oder sahen, drangen sie nach einer Weile rascher vor.

Zunächst sah der Tunnel immer gleich aus, obwohl die Fackeln an den Wänden weiter auseinander lagen – leer, feucht und ungesund. Je weiter sie kamen, desto seltener wurden die Fackeln; die Abstände zwischen ihnen wurden immer größer. Jetzt stolperten Kit und Colo über heruntergefallene Holzlatten, breite Risse und lose Steine. Von der niedrigen Decke hingen stinkende Pflanzen herunter, und aus den Wänden ragten Schlingpflanzen und Wurzeln, an denen sich die Frauen im Vorübergehen verfingen. Der Gang stieg an und fiel wieder ab und änderte wiederholt die Richtung.

»Wahrscheinlich landen wir da, wo wir hergekommen sind«, vermutete Kit nach einer Weile verzagt.

Bei der ständigen Anspannung und Anstrengung, durch den muffigen Tunnel zu laufen, sackten ihre Schultern zusammen und wurden ihre Gesichter blaß. Kit hatte ihr Schwert weggesteckt und hackte mit dem Messer die zähen Spinnweben und Schlingpflanzen beiseite, die sie behinderten. Colo war auf ihrer Seite des Tunnels vorausgehuscht.

Ganz plötzlich horchte die Waldläuferin hellwach auf. »Was ist das?« Als Kit eilig aufschloß, hörte sie ein merkwürdiges, verstohlenes Geräusch, ein leises Zischen und Platschen. Obwohl sie nach vorne blinzelten, konnten sie die Quelle des Geräuschs nicht ausmachen. »Vorsicht«, warnte Colo.

Als sie jetzt aufmerksamer im Tunnel weitergingen, schwollen die Geräusche an und legten sich wieder. Nach lautem Geschmatze folgten Schweigepausen. Noch immer konnten sie vorne nichts erkennen. Beide hatten ihre Waffen gezogen, während sie stetig vorrückten.

Kit war Colo ein paar Schritte voraus und spähte angestrengt in die Dunkelheit, als sie auf einmal ausrutschte und wie in einen steilen Schacht hinunterschlitterte. Schreiend ließ sie ihr Kupfermesser los und schaffte es, sich mit der linken Hand an einer dicken, knorrigen Wurzel festzuklammern. In der anderen Hand hielt sie ihr nutzloses Schwert.

Sie baumelte im Leeren. Unter ihr war nichts zu sehen als ein finsterer, bodenloser Abgrund.

Aber sie hörte ein furchtbares Gebrüll und danach das Zischen und Platschen eines Wesens weit unten in einem Wasserloch. Der Gestank, der heraufwehte, drang ihr stechend in die Nase.

Fluchend entrollte Colo ihr Seil. Sie kam so weit nach vorn, wie sie es wagte, so daß sie gerade eben Kits angstverzerrtes Gesicht erkennen konnte. Der erste Wurf der Waldläuferin ging daneben. Beim zweiten Mal kam Colo zu nahe an den Rand, verlor den Halt und wäre fast selbst vornüber gefallen. Beim dritten Wurf gelang es Kit, den Arm hochzuschwingen und mit der Hand nach dem Seil zu greifen, die auch den Griff von Becks Schwert festhielt.

Das fauchende Monster unten stieß ein neuerliches Brüllen aus.

»Halt dich einfach fest. Ich ziehe dich hoch!« rief Colo ihr gepreßt zu.

Das Seil schnitt Kit so tief in die Hand, daß Blut ihr Handgelenk herunter tröpfelte. Es fiel ihr schwer, gleichzeitig das Seil und Becks Schwert festzuhalten. Colos Stärke war für jemanden von ihrer Größe bemerkenswert, aber dennoch brauchte sie lange Minuten, in denen sie Kit voller Anstrengung Handbreit um Handbreit über den steilen Rand zog.

Nachdem Kit herausgekrochen war, rieb sie sich mürrisch das Handgelenk. Colo hatte sich vor Erschöpfung lang ausgestreckt. Sie hörten das Brüllen und Toben des Wassermonsters in der Tiefe. Zweifelsohne war das Tier enttäuscht, weil Kit ihm entkommen war.

»Eindeutig kein Slig«, bemerkte Kit schließlich.

»Ja«, sagte Colo und setzte sich auf. Einen Moment später fügte sie trocken hinzu: »Jetzt sind wir eigentlich quitt.«

Langsam standen sie auf und machten sich auf den Rückweg. Sie konnten schneller gehen, aber dennoch dauerte es einige Zeit, bis sie wieder in der Totenkammer waren. Jetzt mußten noch zwei Tunnels erforscht werden.

Kit schätzte, daß die Mittagszeit schon vorüber war, und sie waren hungrig. In Gegenwart der Opfer von Luz Mantillas Rachedurst teilten sie ihre bescheidenen Vorräte. Inzwischen hatten sie sich schon fast an die groteske Umgebung gewöhnt.

Colo, die sich auf ein paar Trümmern ausgestreckt hatte, sagte nachdenklich: »Also, ich schätze, wenn wir für die beiden übrigen Tunnels jedesmal so lange brauchen wie für den ersten, dann sind wir noch den ganzen Tag und bis tief in die Nacht hier unten. Und selbst dann haben wir vielleicht noch nicht das gefunden, wonach wir suchen.«

»Ich dachte gerade dasselbe«, erwiderte Kit vorsichtig.

»Ich will nicht zwei Tage an diesem gräßlichen Ort verbringen«, sagte Colo, die sich mißtrauisch umsah.

»Ich auch nicht«, gestand Kitiara.

»Wir sollten uns aufteilen. Jede nimmt einen Tunnel. Wenn nichts dabei herauskommt, treffen wir uns hier wieder.«

»Abgemacht.«

»Laß dir Zeit«, mahnte Colo. »Paß auf. Sei auf der Hut vor Fallen und… vor der Eisernen Garde.«

»Keine Sorge«, sagte Kit mit ihrem schiefen Lächeln. »Ich mach’ doch nicht zweimal denselben Fehler.«

Stehend faßten sie einander an den Schultern. Kit wurde bewußt, wie gern sie inzwischen mit der Waldläuferin zusammen war. Aus Colos Augen sprach das gleiche Gefühl.

Colo drehte sich als erste um, ging zum äußersten Tunnel und verschwand darin. Kit wartete ein paar Minuten, hörte jedoch nichts als die leiser werdenden Schritte ihrer Kameradin. Also machte Kit sich zögernd in den letzten Tunnel auf.


Nach ungefähr zehn Minuten wurde Colos Tunnel vor lauter Geröll praktisch unpassierbar. Nicht nur Steine und Holz, sondern Trümmer und Chaos. Die Waldläuferin fragte sich, ob dieser Steintunnel vielleicht nicht mehr benutzt wurde, und ob sie nicht lieber umkehren und Kitiara nachgehen sollte.

Der Tunnel war mit allen möglichen Dingen übersät. Verrostete Rüstungsteile, stinkende Kleiderfetzen, schmutzige Lumpen, Tonscherben, alte Gartengeräte. Spinnweben und Moos hingen von der Decke herunter und verfingen sich in ihrem Haar. Handtellergroße Spinnen und Käfer hingen über ihrem Kopf. Sie konnte hören, wie Ratten und andere kleine Tiere in ihre Verstecke huschten, als sie vorbeikam.

»Bei den Göttern«, murmelte sie, während sie mit dem Schwert die Spinnweben zerschlug, »ich habe bestimmt die schlechtere Wahl getroffen.«

Nachdem sie fast eine Stunde lang vorgedrungen war, kam Colo nicht mehr weiter. Ein Haufen Steine, Holz und Trümmer versperrte ihr wie eine Wand den Weg. Er reichte bis zur Decke. Sie wollte gerade umkehren, als sie bemerkte, daß von der anderen Seite ein dünner Lichtstrahl hereinfiel. Als sie in die Knie ging und durch das winzige Loch spähte, konnte sie erkennen, daß der Tunnel auf der anderen Seite des Haufens besser begehbar war.

Seufzend nahm sie ihr Schwert und stocherte in dem Loch herum, um einen größeren Zugang zu schaffen. Als es groß genug aussah, um hindurchzukriechen, schob Colo zuerst den Kopf hinein. Sie stellte fest, daß sie sich mit etwas Anstrengung hindurchwinden konnte. Nachdem sie ein paar Minuten auf dem Bauch weitergekrochen war, war sie über und über mit Schlamm und Dreck bedeckt.

Wenn sie ihr Messer vor sich hielt, konnte sie sich einen Weg bahnen. Sie schob sich jedesmal ein paar Fuß weiter, bis sie auf einen besonders dicken Stein stieß, dessen kantiges, nach unten schräges Ende jedes weitere Vorwärtskommen unmöglich machte. Nach einer Weile gelang es ihr, ihn zu lockern, doch als er herauskam, hörte sie, wie die schwere Erde über ihr knirschte.

Colo kroch so schnell vorwärts, wie es ihr in dem engen Gangstück nur möglich war. Doch dann kam ein Zittern, und genau bevor sie sich auf der anderen Seite hinausretten konnte, brach der Trümmerhaufen zusammen und erwischte ihren linken Knöchel.

»Verdammt«, kreischte Colo. Sie versuchte, ihren Kopf so zu drehen, daß sie einen Blick auf ihren Fuß werfen konnte. Die Schmerzen waren zum Davonrennen.

Es gelang ihr, sich um ihre Achse zu drehen. Auf der Seite liegend, konnte sie mit dem Schwert um ihren Fuß herum stochern. Nach einigen Verrenkungen gelang es ihr, den Fuß aus den Trümmern zu befreien. Sie hatte ihn gerade losgerissen und war weitergekrochen, als der ganze Haufen zu beben und zu ächzen begann.

Colo rollte sich schnell zur Seite, als er herunterdonnerte.

Staub und Lärm legten sich. Nachdem Colo in sicherer Entfernung saß, wo sie ihren blutigen, gequetschten Knöchel rieb, schaute sie zurück und stellte fest, daß der ganze Haufen auseinandergerutscht war; jetzt konnte man ihn leicht überqueren.

Vor ihr lag ein weiteres Stück Tunnel, das verhältnismäßig sauber war und, von Fackeln erhellt, einen scharfen Rechtsknick machte. Ihr Knöchel tat sehr weh, aber er war nur verstaucht, nicht gebrochen, und Colo konnte ihn immer noch etwas belasten.

Sie riß ein Stück Stoff von ihrem Ärmel ab und wickelte es um ihren Fuß. Dann humpelte sie weiter, wobei sie sich an der Wand abstützte und den verletzten Fuß nachzog.

Während Colo dem Knick folgte, wurde ihr klar, daß sie in einer Art Verlies gelandet war. Von dem mit Öllampen beleuchteten Gang gingen nach beiden Seiten eine Reihe Zellen ab. Diese waren größtenteils leer – ein paar Knochen hier, quietschende Ratten dort. Beim Weitergehen zählte sie mindestens hundert von diesen steinernen Kerkern, jeder so groß wie eine Pferdebox. Sie hielt sich an den Gitterstäben fest, damit sie das Gleichgewicht besser halten konnte.

Weiter vorne machte der Tunnel wieder eine Biegung nach rechts, und dahinter hörte sie ein Geräusch. Sie befürchtete ein weiteres Wesen wie das in der Fallgrube, darum suchte sie als erstes den Boden ab und vergewisserte sich, daß sie nicht in eine weitere Falle stürzte. Aber dieses Geräusch war anders, ein Tappen und Schlurfen, gefolgt von Räuspern.

Menschliche Atemzüge!

Sie hinkte weiter, umklammerte ihr Schwert und spähte um die Ecke. Was sie ein kurzes Stück weiter sah, war eine schmale Treppe, die rechts nach oben führte, und eine größere Zelle als die anderen, die ganz am Ende des Gangs lag. In dieser Zelle lief Ursa Il Kinth auf und ab; er war nur mit einer ramponierten Hose bekleidet.

»Colo!« rief er aus und packte die Gitterstäbe, als er sie sah.

»Ursa!« So gut sie konnte, lief sie hin, wobei sie den verletzten Fuß hüpfend hinter sich herzog.

Beim Näherkommen erkannte sie, daß Ursa verprügelt, dünn und geschwächt aussah. Sein Gesicht war grün und blau geschlagen, die nackten Füße geschwollen und violett angelaufen. Er starrte sie genauso an, bemerkte sie, als sie ihm mitleidig betrachtete, denn sein Blick hing an ihrem verletzten Fuß, dessen einfacher Verband vom Blut schon dunkelrot war.

Sie schlugen im selben Moment die Augen auf, und Ursa brach unwillkürlich in bellendes Lachen aus, so ähnlich war ihr Ausdruck von Mitleid füreinander.

Gut, dachte Colo, seinen Humor hat er noch.

»Was ist denn mit dir passiert?« fragte Ursa.

»Eine Art Erdrutsch hinten im Tunnel«, meinte sie knapp. »Nichts Schlimmes. Ich gewinne zwar heute kein Wettrennen mehr, aber ich kann laufen. Was ist mit dir?«

»Hunger. Schmerzen. Erschöpfung.« Seine dunklen Augen glänzten. »Aber noch am Leben!«

Im Gegensatz zu den anderen Zellen war seine mit zwei Reihen dicker Eisenstangen abgetrennt. Als Colo fest an den vordersten rüttelte, stellte sie fest, daß sie kaum zu zerbrechen waren. Zwischen den zwei Reihen Stangen stand ein etwa zwergenhoher Wassertrog, durch den ein schlammiges Rinnsal floß. Als Colo sich in Ursas Zelle umsah, entdeckte sie nur zwei Holzeimer, nicht einmal ein Feldbett.

»Ein Eimer für das Wasser, das sie bringen«, sagte Ursa finster, nachdem er ihre suchenden Augen bemerkt hatte, »und der andere für das, was ich ihnen dafür zurückgebe. Glaub mir, hier geht’s nicht raus.«

»Gibt es einen Schlüssel?« fragte sie, während sie sich verfluchte, weil sie den rostigen Ring zurückgelassen hatte. Nur die innere Reihe Stäbe schien eine Tür zu haben, ein schweres Metallstück ohne erkennbares Schloß.

»Pah!« schnaubte er. »Die Tür wird durch Zauberei geöffnet, und der einzige Mensch, der sie öffnen kann, ist ›die Herrin‹.«

»Lady Mantilla?«

»Ja«, sagte Ursa. »Sie ist verrückt und gefährlich. Kitiara, ist sie… ist sie bei dir?«

»Ja«, erwiderte Colo nervös. »Sie untersucht einen anderen Tunnel.«

»Du mußt sie finden und warnen«, drängte Ursa. »Sie stirbt als nächste. Ich bin nur deshalb noch am Leben, weil ich der Lady nicht gesagt habe, wer Kit ist oder wo sie steckt.«

Colo warf einen Blick über die Schulter, dann auf ihren blutigen, gequetschten Fuß. Sie fragte sich, wie sie Kit finden sollte, und wie schnell sie ihr folgen konnte. »Was ist da oben?« fragte Colo und zeigte die schmale Treppe hinauf.

»Weiß ich nicht genau«, antwortete Ursa, der gleichfalls Colos blutverkrusteten Fuß ansah und ihre Gedanken las. »Da kommt sie immer her.«

Als Colo ihm wieder in die Augen sah, hatte sie sich entschieden. »Hier ist praktisch alles verlassen. Ist sonst noch jemand da? Zauberer? Wir haben einen alten Mann getroffen, der von dieser Eisernen Garde geredet hat…«

»Sie hat eine Truppe Wachen«, warnte Ursa knapp. »Die sind hervorragend. Was die Zauberer angeht, so hat sie jede Woche einen neuen. Die werden bei ihr nicht alt.«

Colo streckte ihm eins von ihren Schwertern mit dem Heft voran durch die Gitterstäbe, dann hinkte sie zur Treppe. Ursa legte sein Gesicht an die inneren Stangen.

»Ich sag’s dir, Colo, sie ist gefährlich und wahnsinnig.«

»Ich kann auch gefährlich sein«, zwinkerte die kleine Frau ihm mutig zu, während sie langsam die Treppe hochstieg.


Kitiara erforschte ihren Tunnel. Er war ausreichend beleuchtet, doch es gab keine Abwechslung außer losem Geröll und Abfällen. Der Gang wurde ihr fast langweilig, weil es immer das gleiche war, und Kit kam schnell vorwärts. Sie trug die einzige Waffe, die ihr geblieben war, Becks Schwert.

Nach einer Weile bog der Tunnel nach links ab, wo eine kleine Treppe auf eine tiefere Ebene führte. Als sie nichts Bedrohliches sah, stieg Kit vorsichtig die Stufen hinunter. Die Decke war hier so niedrig, daß Kit sich bücken mußte, um nicht mit dem Kopf anzustoßen. Als der Gang weiterging, wurde die Decke sogar noch niedriger.

Schließlich war Kit gezwungen, auf die Knie zu gehen, um weiterzukommen. Es schien keine Gefahr zu geben außer der, einfach steckenzubleiben.

Als Kit die Höhe der Decke allmählich besorgniserregend fand, sah sie vor sich wieder einen Linksknick. Sie kroch um die Ecke und bemerkte einigermaßen erleichtert, daß die Decke wieder höher wurde und der Steingang zu einer weiteren kleinen Treppe nach unten führte. Diese endete in einem sauberen und größeren Tunnel. Und am Ende des Gangs stand eine riesige, abgedeckte Art Kiste, aus der ein deutliches Tappen und Schnüffeln kam.

Kit zögerte. Was mochte das sein? Sollte sie umkehren und Colo suchen?

Zuerst wollte sie es untersuchen.

Kit glitt langsam vorwärts. Das Licht hier war schwach, doch sie konnte sehen, daß die Riesenkiste in schweren schwarzen Samt gehüllt war.

Als Kit näher kam, wurden die Geräusche lauter, und hin und wieder erklang ein Brüllen, das sie erzittern ließ. Aber nichts griff sie an. Schließlich stand sie vor dem Ding, das ungefähr quadratisch war und doppelt so hoch wie sie. Kit bemerkte eine enge, steinerne Wendeltreppe, die steil nach oben führte und hinter der verhüllten Kiste in der linken Wand verschwand.

Kit lehnte sich nach vorne, berührte mit ihrem Schwert eines der Halteseile an der Seite und schlug es durch.

Als der schwarze Samt hochschnellte und dann um den Käfig – es war ein riesiger Holzkäfig – zu Boden sank, sprang sie zurück. In dem Käfig lief ein Tier herum, das ebenso groß und wild wie schön war: ein schwarzer Panther.

El-Navar!

Obwohl Kit den Karnuthier in seiner Panthergestalt erkannte, erinnerte sich El-Navar offenbar nicht an sie. Sobald der schwarze Vorhang sich hob, sprang das Tier gegen die Stäbe und fletschte seine scharfen Zähne. Seine Augen glühten, sein Fell war ungepflegt, und um das Maul stand Schaum.

Es gab zwei Reihen Stäbe hintereinander, weshalb Kit gefahrlos die äußeren Stäbe untersuchen konnte, ohne daß ihr der Arm abgebissen wurde. Sie bestanden aus einer Art dickem Rohr, ließen sich nicht biegen, und ihr Schwert konnte nur kleine Stückchen abschlagen.

Wieder warf sich der Panther brüllend vor Wut gegen die inneren Stäbe. Selbst auf die Entfernung von mehreren Fuß konnte Kit seinen heißen Atem fühlen. Der Angriff erschreckte sie, und sie wich zurück. Frustriert lief das mächtige Tier auf und ab, belauerte sie und peitschte dabei mit seinem langen, eleganten Schwanz.

War das wirklich der verführerische Karnuthier, mit dem sie ihre erste Liebesnacht verbracht hatte? Minutenlang starrte sie die Raubkatze an und dachte an jene Zeit, die nun schon so lange zurücklag.

Wenn bloß Raistlin hier wäre, dachte Kit. Er hätte gewußt, was zu tun war.

Noch während sie an Raistlin dachte, wanderte ihr Blick nach links, wo sich die steile Wendeltreppe nach oben schraubte. Nach einem mitleidigen Blick auf El-Navar – der immer noch wütend in dem Holzkäfig umherlief –, begann sie hinaufzusteigen.

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