Kitiara Uth Matar stand im Schatten einer freistehenden Eiche auf einer kleinen Anhöhe über einem flachen Tal. Der Tag brach gerade an, und über dem hohen Gras der Wiese, die sich vor ihr erstreckte, hing morgendlicher Nebel.
Von den vertrauten Vallenholzbäumen Solaces war sie eine gute Tagesreise entfernt, und jetzt hatte sie zum ersten Mal die Möglichkeit, einen Blick auf das hügelige Gelände zu werfen, das sich von ihrem gemütlichen Dorf weit nach Westen hinzog.
Als sie am Abend zuvor das Lager erreicht hatten, war es schon dunkel gewesen, und es hatten keine einladenden Lagerfeuer gebrannt. Die Soldaten wollten nicht riskieren, ihre Stellung zu verraten.
Als sie in das Lager hineingeritten war, hatte Kit das gedämpfte Klirren von Waffen und Rüstungen gehört, die abgelegt wurden. Die unscharfen Umrisse von Männern und anderen Wesen hatten ihre Decken zum Schlafen ausgerollt.
Kit selbst war gar nicht müde gewesen. Ihre Nerven waren bis zum Äußersten angespannt – ein neues, nicht unangenehmes Gefühl – Aufregung mit einem Quentchen Angst. Sie würde ihre erste Schlacht erleben!
Als Gregor Uth Matar sich jedoch geschmeidig von Cinnamon, seiner wertvollen braunen Stute, geschwungen und einem wartenden Knappen die Zügel in die Hand gedruckt hatte, war auch Kit von ihrem kleineren Pferd geklettert, um ihn nicht zu verlieren. Sie wollte sich nicht allzu weit aus dem Schutz dieses großen, eindrucksvollen Kriegers, der ihr Vater war, entfernen.
Der lief zügig auf die einzige Lichtquelle im Lager zu, eine abgeblendete Laterne im Zelt des Befehlshabers der Truppe. Nolan von Vinsen war – Gregor zufolge – nicht viel mehr als ein einfältiger Bauer, und Gregor hatte wenig Verwendung für Bauern und andere, zu deren Arbeit es nicht auch gehörte, ein Schwert zu führen.
Doch es war Nolan, der die fünf Mann starke Miliz der reichen Bauerngemeinde Vinsen anführte, und Nolan hatte die Hüter des Dorfes schließlich auch davon überzeugt, in die Taschen zu greifen und eine Söldnertruppe zu bezahlen, die die Ansässigen gegen das Heer der plündernden Barbaren verteidigen sollte, welches sie seit über einem Jahr in Angst und Schrecken versetzte. Also hatte er zumindest offiziell das Kommando.
Nachdem er sich etwas umgehört hatte, hatte Nolan von Gregor erfahren und ihn aufgesucht und angeheuert. Dann hatte Gregor an die fünfzig weitere wackere Kämpen rekrutiert. Außerdem hatte er Nolan geraten, nach Burek zu schicken, dem Anführer einer Minotaurentruppe mit Sitz in Kargod, die sich als Söldner verdingten. Wenn Nolan die Überfälle beenden wollte, indem er Flinkwasser und seine verfemten Gefolgsleute tötete, würde es nützlich sein, Minotauren auf seiner Seite zu haben, hatte Gregor erklärt.
»Ich habe von diesem Flinkwasser gehört«, erzählte Gregor seiner Tochter, als sie durch das stille Lager liefen. »Er ist ein Wilder, schlimmster menschlicher Abschaum. Es heißt, daß er ohne Kopf kämpft – und auch ohne Herz. Bei einem solchen Gegner sind die Minotauren ihren Preis wert. Seine primitive Wildheit wird sie wütend machen, und sie werden kämpfen bis zum Letzten.«
Als sie Nolans Zelt erreichten, wies Gregor Kitiara an, draußen zu warten. Sie kroch so nah wie möglich an das Licht heran, das unter der Türklappe des Zelts herausdrang, und blinzelte hinein. Sie sah ihren Vater mit dem Rücken zum Eingang vor einem Tisch stehen, auf dem eine große Karte ausgebreitet war. Nicht zum ersten Mal fand sie, daß Gregor der schönste Mann ihres Lebens war: Majestätisch und kräftig mit muskulösen Gliedmaßen und rabenschwarzen Haaren, die sich dicht um seinen Kopf lockten und seine Oberlippe mit einem üppigen Schnurrbart schmückten.
Gregor gegenüber stand auf der anderen Seite des Tischs ein blonder, glattrasierter Mann. Er trug eine grüne Bauerntunika, und sein Schwert steckte in einer Scheide, die er sich mit einer Schärpe ungeschickt vor den Bauch gebunden hatte. Nolan, dachte Kitiara.
Rechts neben Nolan trat auf ein Zeichen ihres Vaters jemand aus dem Schatten. Sie hielt den Atem an. Das Wesen überragte selbst Gregor, der über sechs Fuß groß war. Es trug einen schweren Ledergürtel, an dem bunte Edelsteine blitzten und in dem eine beeindruckende Vielzahl von Dolchen und anderen Waffen steckte, am auffälligsten darunter eine riesige Doppelaxt. Die zwei Hörner von jeweils mindestens zwei Fuß Länge, die aus seiner Stirn ragten, drohten die Spitze des Zelts zu zerreißen.
»Ein Minotaurus!« flüsterte Kit atemlos.
Ihr Vater hatte ihr viele Geschichten von diesen wilden, gnadenlosen Kämpfern erzählt, aber in ihren sieben Lebensjahren hatte sie in Solace, dem Dorf in den Baumwipfeln, noch keinen gesehen.
Burek, der Minotaurus, erläuterte mit tiefer, kehliger Stimme die Strategie für die Schlacht am nächsten Tag. Gregor und Nolan grübelten über der Karte. Irgendwann machte Gregor eigene Vorschläge für den Schlachtplan, von denen einige Burek offenbar nicht besonders gefielen. Nolan schlug sich unerwartet auf Bureks Seite, und Gregor, der vor unterdrücktem Ingrimm bebte, wandte sich gegen Burek. Er baute sich vor dem Minotaurus auf und redete heftig auf ihn ein. Burek wich nicht von seiner Meinung ab, doch auch Gregor gab nicht nach. Der Krieger bearbeitete Burek mit lauter Stimme und vor Wut rot angelaufenem Gesicht. Kitiara konnte sehen, wie die Punkte in den Augen ihres Vaters über dem Heben und Senken seines auffälligen Schnurrbarts tanzten.
»Red mir nicht von mutmaßlichen Situationen; gib mir den eisernen Würfel der Schlacht! Alles andere ist Blabla! Ich verwette mein Leben.«
»Pah! Ich sage, es ist besser, abzuwarten und zuzusehen. Dein Leben bedeutet mir nichts. Ihr Menschen habt es sowieso alle so eilig mit dem Sterben!«
»Wenn ich mal was sagen dürfte – «
»NEIN!«
Der Streit wurde heftiger. Er schien stundenlang so weiterzugehen.
Kitiara mußte eingeschlafen sein, während sie dort draußen vor dem Zelt auf dem Boden hockte. Sie erwachte, als Gregor sie liebevoll auf die Arme hob und mit ihr zu ihrem Nachtlager lief. Jetzt sah er gelassen aus, wie üblich um diese nächtliche Stunde, wenn alle Leute – und alle Streitereien – ruhten. Das kleine Mädchen lächelte seinen Vater verschlafen an, und er lächelte zurück. Ihre Gesichter waren sich so ähnlich. Beide zogen den rechten Mundwinkel immer ein wenig nach oben, was sie gleichzeitig charmant und durchtrieben wirken ließ.
»Morgen, meine kleine Kriegerin, morgen wirst du sehen, welche Macht und Wahrheit im Schwert liegt«, flüsterte Gregor Kit zu, während er eine Decke um sie feststeckte. Sie zitterte vor Vorfreude, rollte sich neben ihrem Vater zusammen und schlief wieder ein.
Es war noch dunkel, als Gregor Kitiara weckte. Die Sommernacht hatte sich nicht abgekühlt, und jetzt, vor der Morgendämmerung, hing die warme Luft schwer und feucht über dem Lager. Kit rieb sich die Augen und stand dann schnell auf. Sie band sich ihr geliebtes Holzschwert um, das Gregor ihr vor zwei Jahren von einem seiner Abenteuer mitgebracht hatte. Kitiara hatte mehr als vorübergehendes Interesse an dem Spielzeug gezeigt, so daß Gregor anfing, sie zur Kriegerin auszubilden.
Das Schwert paßte zu Kitiaras Größe und hatte eine äußerst scharfe Spitze. Gregor hatte die kostbare Übungswaffe mit Wappen und Siegeln verziert. Zu Hause trug Kitiara es vom Aufstehen an, bis sie abends ins Bett kippte, ständig am Gürtel. Es gab nichts, was ihr ähnlich wichtig war.
Erst jetzt, mitten in den Vorbereitungen zu einer echten Schlacht, fand Kit ihr Schwert plötzlich kindisch. Sie wollte es abnehmen, doch Gregor, der schweigend zugesehen hatte, hielt sie auf.
»Es gibt Männer, die können ein echtes Schwert nicht so gut führen wie du dein hölzernes«, sagte Gregor. »Keine Sorge. Nicht mehr lange, dann bist du so erfahren, daß du jedes beliebige Schwert schwingen kannst. Schließlich«, sagte er, während seine Augen sie anblitzten, »bist du meine Tochter.«
Die Siebenjährige erwiderte das Grinsen, überprüfte dann eifrig Gregors Dolche, Schwert, Schild, Bogen und Köcher und half ihrem Vater dann in seine Rüstung. Seine Rüstung bestand aus Eisenteilen, die von Lederriemen und Bronzegelenken zusammengehalten wurden. Der Helm war relativ offen, weshalb Gregor besser zielen und sich kühner bewegen konnte.
Kitiara wirkte wie eine verkleinerte Ausgabe des eindrucksvollen Kriegers. Gregor hatte Kit die langen Haare abgeschnitten, nachdem er sie zu diesem Abenteuer aus dem Haus geschmuggelt hatte.
Mit dem dunklen, lockigen Haarschopf und dem schlanken, aber athletischen Körperbau mochte man sie für einen kleinen Jungen halten. Ihre Augen waren so braun wie die von Gregor, und selbst den zielstrebigen Gang hatte die kleine Kit ihrem Vater abgeschaut, was schon fast komisch wirkte.
Wenn andere Soldaten zu ihm kamen, stellte Gregor Kit mit den Worten »mein hartnäckiger Sohn« vor, wobei er ihr heimlich zuzwinkerte, wenn niemand hinsah. Sieben Jahre war früh, um einen Jungen ins Lager zu bringen, aber keiner seiner Kameraden hätte es verstanden, daß Gregor eine Tochter mitbrachte, denn Mädchen galten vor allem als Last.
Daran störte sich Kit nicht. Keinesfalls wollte sie lieber ein Junge sein. Ihr taten die Leute leid, die eine Person wegen ihres Geschlechts oder wegen der äußeren Erscheinung nicht ernst nahmen. Diesen Fehler würde sie bestimmt nie machen.
Während sie sich weiter für den Kampf rüsteten, bemerkte Kit eine gewisse Unruhe am Rand des Lagers. Im schwachen Licht der frühen Dämmerung kam es ihr so vor, als sähe sie einen Haufen Kinder herumlaufen.
»Guck mal, Vater, vielleicht kann ich heute abend mit einem von den Kindern da Fechten üben«, sagte sie und zeigte auf die Gestalten.
»Das sind keine Kinder. Das sind Gossenzwerge.« Gregor spuckte den Namen dieser rückständigen Rasse aus, als wäre er ein Schimpfwort. »Es ist erstaunlich, wie sie früher oder später immer auftauchen, ganz egal, welche Gefahr droht oder wo man sein Lager aufschlägt.«
Während Gregor noch sprach, war einer der Gossenzwerge so dreist und huschte herbei, um neugierig ihre Ausrüstung zu begutachten. Von dem kleinen Wesen ging ein unangenehmer Geruch aus. Gregor holte mit dem Fuß aus und versetzte dem Gossenzwerg einen Tritt, der ihn durch das halbe Lager fliegen ließ. »War nett, dich kennenzulernen!« hörte Kit das unglückliche Geschöpf noch im Flug schreien. Offenbar unbeschadet und unbeeindruckt rappelte der Gossenzwerg sich wieder auf und hüpfte in die entgegengesetzte Richtung davon.
Kit lächelte in sich hinein. Selbst Gossenzwerge trugen zu ihrem Spaß am Lagerleben bei. Doch gleich mußte sie sich wieder wichtigeren Angelegenheiten zuwenden, als Gregor anfing, ihr den Schlachtplan zu erklären.
Flinkwassers Gesetzlose hausten an einem dicht bewaldeten Hang am anderen Ende des Tals. Von dem Ort aus konnten die Räuber den Osten hervorragend überblicken.
In ihrem Rücken stieg der Hang steil an und bot dort wenig Deckung bis auf ein paar weit auseinanderliegende Felsen. Ein Angreifer hatte kaum eine Wahl.
Gregors Truppen standen einsatzbereit zwischen Felsen und Bäumen verstreut an einem steilen Hang im Süden. Bisher war es ihnen gelungen, unentdeckt zu bleiben.
Burek hatte warten wollen, bis der Sturm ausbrach, der sich zusammenbraute und die Banditen ablenken sollte, damit sie den Angriff vielleicht übersahen, erklärte Gregor. Dann hätte der ebenso stolze wie ungeduldige Minotaurus einen Frontalangriff anführen wollen, um Flinkwasser und dessen Leute möglichst aus ihrem Schlupfwinkel zu locken. Ein Teil der angeheuerten Truppen sollte zusätzlich einen Halbkreis schlagen und den Versuch unternehmen, Flinkwassers Lager trotz des ungünstigen Geländes von hinten anzugreifen.
Gregor war dagegen gewesen und hatte sich schließlich durchgesetzt. Zuverlässige Späher hatten dem Söldnerführer berichtet, daß die Barbaren jeden Morgen eine große Gruppe Plünderer losschickten, die häufig von Flinkwasser selbst kommandiert wurde. Gregor wollte, daß sich die Minotauren aufteilten und vorsichtig im Schutz der Bäume auf beiden Seiten des Tals bis direkt unter den Grat vorrückten, auf dem sich das Lager der Gegner befand.
Wenn die Gruppe für den Raubzug auf der Wiese auftauchte, sollten die Minotauren ihnen den Rückweg abschneiden, während Gregor und seine Getreuen von vorne kamen. Mit etwas Glück würde Flinkwasser in der eingekesselten Gruppe sein. Wäre der erst tot, würden seine direkten Anhänger wahrscheinlich in Panik geraten und in den Wald fliehen. Ein paar von Gregors Soldaten würden zwischen den Bäumen warten, um sie dort zu erledigen. Der Plan brachte die Minotauren zugegebenermaßen in eine schlechte Position, da sie sowohl im Nahkampf mit der Räuberbande stehen würden als auch einen Angriff von hinten zu erwarten hatten, wenn die, die in Flinkwassers Lager zurückgeblieben waren, sich dem Kampf anschlossen. Aber Gregors Truppen sollten von allen Seiten heftig angreifen und versuchen, die Minotauren aus der Schußlinie zu bekommen.
Burek hatte Gregors kühnem Plan schließlich zugestimmt. Als kriegerische Rasse hatten die Minotauren ihre riskante Aufgabe mit Würde angenommen. Bevor sie sich aufteilten, bemerkte Kit, daß die hünenhaften Wesen, die voller glitzernder Waffen hingen, gemeinsam niederknieten, um geflüsterte Schwüre auszutauschen, geheime Worte, die kein Mensch je hören durfte.
Die anderen Söldner beobachteten das Ritual respektvoll. Die langen Minuten des Schweigens waren fast unerträglich.
Dann erhoben sich die gut zwanzig Minotauren hinter Burek wie ein Mann und marschierten los. Ihnen folgten sehr feierlich Gregor und seine Männer. Kits Vater ritt ein geliehenes Streitroß, einen silbergrauen Hengst. Seine kostbare Cinnamon hatte er Kit dagelassen, damit sie – für den unwahrscheinlichen Fall ihrer Niederlage – ein zuverlässiges Tier für die Flucht hatte.
Ihr Vater schenkte ihr jetzt keinerlei Beachtung mehr. Seine Augen richteten sich entschlossen auf die vor ihm liegende Aufgabe. Die Lippen hatte er fest aufeinandergepreßt. Es war das erste Mal, daß Kit Gregor in die Schlacht ziehen sah, und so wie in dieser Szene würde sie sich immer an ihn erinnern: stolz, aufrecht, unbesiegbar.
Hinter ihnen trotteten – eigentlich nur als Rückversicherung – Nolan und seine kleine Gruppe von Freiwilligen aus dem Ort her. Im Gegensatz zu den Berufssoldaten umklammerten die Bauern grobe Keulen und Schaufeln und merkwürdige Gerätschaften. Aber im Kampf von Mann zu Mann, der dem ersten Aufeinandertreffen folgen würde, konnten die genauso tödlich sein.
Von ihrem Aussichtspunkt unter der Eiche, den Gregor für sie ausgesucht hatte, versuchte Kit angestrengt, die Minotauren auszumachen, die hinter den Büschen und den paar Bäumen am Rand des Tals durch das hohe Gras liefen. Doch sie konnte sie nicht entdecken.
Plötzlich hörte Kitiara in der stillen Morgenluft Pferde schnauben und wiehern. Vögel flogen aus dem Unterholz an der anderen Seite des Tals auf, und eine Gruppe von etwa vierzig Barbaren ritt einer nach dem anderen aus dem Wald, und zwar auf Vollblutpferden, die für ihre Schnelligkeit berühmt waren. Kitiara fragte sich, wie sich die Minotauren, die zu Fuß waren, wohl gegen sie durchsetzen würden.
Die Räuber saßen unbeschwert im Sattel. Aus der Ferne sah es für Kitiara so aus, als hätten sie Lederumhänge an, die mit bunten Federn geschmückt waren. Sie meinte auch, sie könnte den untersetzten, eingebildeten Häuptling Flinkwasser an der Spitze sehen. Dann fiel ihr ein anderer aus der Horde auf. Als einziger war er wie ein Geist gekleidet und trug einen Mantel ganz ohne Verzierung oder Farbe. Von seinem Sattel baumelte ein Haufen Fläschchen und Tränke. Ein Zauberer, folgerte Kit.
Nachdem die Barbaren das Land schon über ein Jahr lang ohne nennenswerten Widerstand heimsuchten, achteten sie nicht mehr auf mögliche Gefahren. Die Reiter redeten kaum miteinander, nur die kleinen, nebenherlaufenden Hunde kläfften oder knurrten gelegentlich.
Als die Gruppe auf die offene Wiese kam, brachen Burek und seine Gefährten aus dem Nebel, der immer noch über den tieferen Bereichen des Tals hing. Bei ihrem wilden Gebrüll bäumten sich eine Reihe von Räuberpferden vor Schreck auf, und mindestens zwei Reiter verloren den Halt und wurden im anschließenden Durcheinander totgetrampelt.
Einer der Barbaren setzte eine hohle Kürbisflasche an die Lippen und sandte damit einen schrillen Hilferuf aus. Schon rannten ein paar Männer aus dem dichten Kiefernwald oben auf dem Sims hinter den Minotauren, weil die Aufregung sie aufmerksam gemacht hatte. Kitiara konnte sehen, daß andere Kämpfer an den Waldrand kamen und mit Pfeil und Bogen auf Burek und seine mutigen Männer zielten.
Als die ersten Pfeile lossausten, hörte Kitiara einen Ruf und sah eine Brigade Soldaten ihres Vaters an der Seite des Hangs hochpreschen, wodurch sie die Bogenschützen zum Rückzug zwangen. Gleichzeitig schwang sich die Verstärkung hinter den Büschen und Bäumen, wo sie sich versteckt hatte, auf die Pferde und griff die Vorhut der Barbaren von vorne an. Flinkwassers Männer, die nun voneinander geteilt waren, wichen überrascht zurück.
Rauch und Feuer zeigten, daß es dem Zauberer gelungen war, einen Spruch zu beschwören. Oben über dem Gewühl erhob sich eine gräßliche, bluttriefende Gestalt mit grausigen, gelben Reißzähnen. Kitiara wußte, daß es eine Illusion war, die einen vor Schreck lähmen und Gegner in Panik versetzen sollte. Gregor hatte diese Taktik aufgrund seiner Erfahrung in vielen Schlachten vorausgesagt. Er und viele seiner Männer hatten sich die Augen mit einer Flüssigkeit benetzt, die gegen den Spruch wirkte.
Zum Glück war Kitiara vorgewarnt gewesen und hatte ebenfalls ihre Augen geschützt. Sonst hätte sie die Angst nicht beherrschen können, die angesichts des greulichen Blutdings selbst auf diese sichere Entfernung in ihr hochstieg.
Sie hörte furchtbare Schreie. Ob sie von den Barbaren oder von Gregors Seite kamen, konnte Kit nicht genau feststellen. Alle steckten mitten im Kampfgetümmel.
Kitiara sah einen kühnen Kämpfer – sie meinte, es müßte ihr Vater sein – in die Spitze vorstoßen und einen Barbaren auf einem großen Pferd angreifen, der nicht nur einen Lederumhang, sondern auch einen federnbedeckten, gefleckten Helm trug. Nein, sie hatte sich vorher geirrt. Der Mann, dem Gregor gegenüberstand, nicht der arrogante Barbar, den sie eher entdeckt hatte, mußte Flinkwasser sein. Die beiden Männer beugten sich auf ihren Pferden vor und schlugen mit den Schwertern aufeinander ein.
Kitiara ließ die beiden nicht aus den Augen. Rauch und Lärm waren jetzt überall. Sie gab sich Mühe, das Paar nicht aus dem Blick zu verlieren; Gregor gab nicht nach, und Flinkwasser parierte Schlag um Schlag und zeigte, was in ihm steckte. Um sie herum tobte die Schlacht – voller Lärm und Raserei und Blut.
Fast unbewußt zog Kitiara ihr Holzschwert und begann, in der schweren Sommerluft anzugreifen und zu parieren und die Kämpfe auf dem Feld nachzuahmen…
»Aha! Nicht schlecht für so ein kleines Gerippe mit Holzschwert.«
Kitiara wurde durch den Klang einer Stimme und ein leises Bums hinter sich aus ihrem Tagtraum gerissen. Als sie herumfuhr, stand sie einem Mann mit dunkelblonden Haaren und glitzernden, dunklen Augen gegenüber. Er trug braune Hosen und eine enge Tunika. In einer Hand hielt er einen glänzenden, roten Apfel, die andere ruhte gelassen auf dem Griff seines Schwerts. Er sah aus, als wüßte er es zu gebrauchen.
»Wo kommst du denn her?« fragte sie herrisch, denn sie schämte sich ihrer Holzwaffe und war wütend, daß er sie überrascht hatte.
»Rüstest du dich zum Kampf, so vergiß nie, die Götter um ihren Segen zu bitten, und wenn deine Augen dabei nicht beschäftigt sind, dann schaue nach Feinden, die sich im Wald versteckt halten. Altes solamnisches Sprichwort. Überrascht mich, daß ein so wackerer Kampe wie du es nicht kennt«, sagte der Fremde in spöttischem Ernst. Damit setzte er sich im Schneidersitz hin und biß hungrig in seinen Apfel. Er lächelte sie neckend an.
Weil sie keine Lust hatte, sich verspotten zu lassen, wurde Kitiara rot vor Zorn, bevor sie mit dem Schwert auf ihn zeigte. »Wenn du als Solamnier erzogen bist, dann wirst du wissen, daß du meine Forderung zum Kampf nicht ausschlagen kannst, ohne deine Ehre ernsthaft zu beflecken.«
»Vorausgesetzt, daß ich noch Ehre hätte, die ich beflecken könnte«, sagte er ungerührt, während er nochmals von dem Apfel abbiß.
Mit bemerkenswerter Kühnheit für ein achtjähriges Kind trat Kitiara vor und schlug dem Fremden den Apfel aus der Hand, indem sie mit der Breitseite ihres Schwerts auf seine Fingerknöchel hieb. Sein Lächeln verschwand, und er schürzte die Lippen ernst. Dann erhob er sich und baute sich vor ihr auf.
»Schade, daß du so wenig Respekt vor Erwachsenen hast«, sagte er bedauernd. »Da hat doch jemand versäumt, dir Manieren beizubringen. Ich werde das Versäumte mal nachholen.«
Er kam auf sie zu, aber Kit wich mit auf ihn gerichtetem Schwert nach links aus und hielt ihn auf Abstand. Er umkreiste sie, wobei seine Miene genauso verstimmt war wie die ihre.
Obwohl sie höchstens halb so groß war wie er, war sie fest entschlossen, ihn zu durchbohren, ob Holzschwert oder nicht.
Der Fremde ließ die Schulter sinken und tat plötzlich, als wolle er nach seiner Waffe greifen, die noch in der Scheide steckte, woraufhin Kitiara angriff. Unerwartet ließ er sich fallen und rollte genau auf sie zu, um sie an den Knöcheln zu packen, bevor sie ihr Schwert einsetzen konnte. Im nächsten Augenblick war er schon wieder aufgesprungen und warf sich das tretende, schreiende Kind über die Schulter.
Ihr Holzschwert fiel zu Boden.
Ohne jede Anstrengung lief der Fremde zu ein paar Bäumen und stieß sie kräftig nach oben. Zu ihrem Erstaunen merkte Kitiara, daß sie wie ein Blatt in die Luft getragen wurde. Sie landete hoch über dem Boden in den krummen Zweigen eines Apfelbaums. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie wieder zu Atem kam. Dann sah sie nach unten, wo der Fremde mit unnachgiebiger Miene zu ihr hochschaute.
»Nimm aber einen schön saftigen«, sagte der Fremde.
»Lieber sterb’ ich!« schrie sie trotzig zurück.
Mit einer schnellen Bewegung hatte der Fremde sein Schwert gezogen und nach oben gestoßen, auf Kitiara zu. Trotz seiner Größe und Reichweite konnte das Schwert des Fremden sie nur gerade so eben erreichen, doch seine Spitze ratschte durch ihren Hosenboden. Sie beeilte sich auszuweichen, doch das hier waren nur Apfelbäume, keine mächtigen Vallenholzbäume, und über ihr gab es keine starken Äste mehr, auf die sie hätte fliehen können.
Indem sie sich so klein wie möglich machte, zog sich Kitiara an den Baumstamm zurück. Der Fremde reckte sich bloß etwas höher und riß ihr mit seiner Schwertspitze die Hosenbeine auf.
»Ts, ts, ts«, sagte er. »Dir muß mal jemand die Hosen flicken.«
Sie machte ein verdrossenes Gesicht und beschloß, gar nichts zu sagen. Er reckte sich noch etwas weiter, bis sie merkte, daß die Schwertspitze wieder zuckte.
»Autsch!«
»Erster Treffer«, sagte der Fremde fröhlich. Dann änderte sich sein Tonfall. »Fordere mich nicht heraus, Kleiner. Krynn wimmelt nur so von Kindern, besonders von Waisen. Eins weniger wäre nur ein Segen.«
Es folgte eine kurze, lastende Stille. Dann raschelte es in den Zweigen, und Kitiara sprang mit einem reifen Apfel herunter. Mit abgewandten Augen hielt sie ihn dem Fremden ihn, der triumphierend sein Schwert in die Erde steckte und nach der Frucht griff.
Bevor er reagieren konnte, hatten sich ihre Zähne in sein Handgelenk gegraben.
»Aua!« schrie er und schlug Kitiara mit einem wütenden Fluch ins Gesicht, wodurch sie unsanft zu Boden ging.
Sie stand langsam wieder auf. Während sie sich die Wange rieb, senkte Kitiara den Blick nach unten und kämpfte gegen die Tränen an. Vor einem Fremden würde sie nicht weinen.
Was den Fremden anging, so widmete auch der sich seiner Verletzung, indem er mit beleidigtem Gesichtsausdruck sein Handgelenk rieb. Als er aufsah, traf sich sein Blick mit Kitiaras. Zu ihrem Leidwesen wurde die Situation plötzlich lächerlich. Das Gesicht des Fremden verzog sich zu einem breiten Grinsen, und er begann, laut und schallend zu lachen.
Kit konnte nicht abstreiten, daß der komische Kerl viel netter aussah, wenn er lachte. In dieser Hinsicht war er wie ihr Vater: im Kampf so, im Frieden ganz anders. Trotzdem steckte sie immer noch voller Trotz.
Etwas mühsam bezähmte der Fremde sein Lachen. »Weißt du, ich dachte erst, du wärst ein Junge, sonst hätte ich dich nicht geschlagen. Du kämpfst wie einer. Eines Tages kämpfst du vielleicht wie ein Mann.«
Das war für sie kein Kompliment. Aber als der Fremde ihr die Hand zum solamnischen Gruß anbot, lächelte sie unwillkürlich doch. Sie drückte ihm fest die Hand.
Er lachte wieder, setzte sich und biß in den Apfel, den Kitiara gepflückt hatte. Aus dem Mantel zog er noch einen Apfel hervor, den er ihr mit durchtriebenem Grinsen anbot.
Sie runzelte verärgert die Stirn.
»Ach, mach dir nichts draus«, sagte der Fremde beruhigend. »Wie heißt du, Mädchen?«
Mit deutlicher Zurückhaltung nahm sie den Apfel.
»Kitiara Uth Matar«, sagte sie stolz.
Bildete sie es sich nur ein, oder verriet das Gesicht des Fremden wirklich, daß er diesen Namen schon einmal gehört hatte? Jedenfalls hatte er deutlich reagiert.
»Irgendwie verwandt mit Gregor Uth Matar?« fragte er immer noch lächelnd.
»Kennst du ihn?« Sie beugte sich aufgeregt vor.
»Nein, nein«, erwiderte er hastig und wechselte den Tonfall. »Hab’ natürlich von ihm gehört. Nur von ihm gehört.« Er schien Kitiara anders anzusehen und ihr Gesicht genauer zu mustern. »So einen Mann würde ich gerne mal treffen – falls er zufällig mal in diese Gegend kommt.«
Auf einmal mußte Kitiara gegen Tränen ankämpfen. »Mein Vater wohnt nicht mehr in Solace«, sagte sie nach ein paar Augenblicken ruhig. »Er ist bald nach unserer Rückkehr aus der Schlacht mit ein paar Barbaren von zu Hause weggegangen. Das ist über ein Jahr her.«
Diesen schrecklichen Morgen würde Kitiara nie vergessen. Auf einmal war ihr Vater nicht mehr dagewesen, hatte sie beim Aufwachen nicht mehr angelächelt. Es hatte keine echte Vorwarnung für seine Abreise gegeben. Er hatte mit Rosamund Streit gehabt, aber das war nichts Neues. Und der Zettel, den er ihr dagelassen hatte, hatte auch wenig erklärt.
Leb wohl fürs erste. Kümmere dich um Cinnamon. Sie gehört dir. Du weißt, daß dein Vater dich liebt. Denk an mich. Gregor.
Er hatte sein Lieblingspferd dagelassen und war auf einem kürzlich erst eingetauschten davongeritten. Kitiara hatte das Papier zerknüllt und tagelang, ja, wochenlang immer wieder geweint. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte wenigstens den Zettel noch, als Erinnerung.
Keiner in Solace konnte sagen, welchen Weg Gregor genommen hatte, welche Straße in welche Richtung.
»Hast du in letzter Zeit von ihm gehört?« fragte sie den Fremden.
»Hmmm. Ich glaube, ich habe etwas über ein paar Abenteuer im Norden gehört«, antwortete der ausweichend, weil er jetzt dabei war, aufzustehen und sein Schwert wieder wegzustecken.
»Seine Familie stammt aus dem Norden«, sagte Kit offensichtlich aufgeregt.
»Oder vielleicht war es auch in der Wildnis von Khur, im Osten. Ich bin mir nicht sicher.«
»Oh.« Kits Stimme wurde leise.
»Ein Mann wie er bleibt nie lange am gleichen Ort«, fuhr er fort.
»Was soll das heißen?« fragte Kit etwas aufgebracht. »Ein Mann wie er?«
Als er aufblickte, sah er den Ärger, der über Kits Gesicht zog. »Ich muß los, Kleine. Falls mir dein Vater über den Weg läuft, soll ich ihm dann etwas ausrichten?« fragte er nicht unfreundlich.
Kitiara wog ab, was sie diesem Fremden sagen sollte, der sie in mancher Hinsicht an Gregor erinnerte, obwohl er weder so groß noch so schön war. »Sag ihm einfach, daß ich trainiere«, meinte sie schließlich. »Und daß ich bereit bin.«
Sie standen jetzt gerade außer Sichtweite von Kits Zuhause auf einer Lichtung unter den hohen Wegen zwischen den Vallenholzbäumen. Kit kam oft hierher, um mit dem Schwert zu üben. Der Fremde wollte schon aufbrechen, als Kit noch daran dachte, ihn nach seinem Namen zu fragen.
»Ursa Il Kinth, aber du kannst Ursa zu mir sagen, falls wir uns mal wieder begegnen.«
»Warte!« schrie Kit fast verzweifelt, als er sich umdrehte. »Nimm mich mit, Ursa. Ich brauche nur ein richtiges Schwert oder ein Messer, und dann könnte ich dich unterwegs auch beschützen. Ich mach’ dir keinen Ärger. Ich habe Verwandte im Norden; die können mir helfen, meinen Vater zu finden. Oh, bitte, bitte, nimm mich mit!«
»Du mich beschützen?« schnaubte Ursa. »Ich hoffe doch, es dauert noch ein paar Jahre, ehe ich den Schutz eines Kindes brauche!«
Wieder brach er in höhnisches Gelächter aus.
»Wenn schon ein Kind, dann du, kleine Kitiara«, sagte Ursa über die Schulter, während er einige Schritte von ihr fortging.
Nachdem er einen scharfen Pfiff durch die Zähne ausgestoßen hatte, kam eine kräftige, graue Stute aus dem Wald gelaufen. Gleich darauf stieg er auf und ritt immer noch lachend davon.
Eine zu allem entschlossene Kitiara wollte ihm gerade hinterherrennen, als sie von zu Hause lautes Rufen hörte.
»Kitiara! Kitiara! Komm nach Hause! Ich brauche Hilfe!«
Kit blieb stehen und sah grollend in Richtung der Rufe.
»Die Wehen haben eingesetzt! Mach schnell!«
Seufzend kletterte Kitiara nach einem letzten Blick auf Ursas Rücken den nächsten Vallenholzbaum hoch. Auf halber Höhe des Baumes stieg sie auf den Weg nach Hause, dorthin, wo ihre Mutter gleich niederkommen würde.