2 Die Geburt der Zwillinge

Als sie von den sonnenüberfluteten Hängebrücken in die Hütte stürmte, verlor Kit kurzfristig die Orientierung. Es war Mittag, aber es drang fast kein Licht durch die Fensterläden. Rosamund hatte es irgendwie fertiggebracht, sie aus Gründen des Anstands zu schließen, als ihre Wehen losgingen.

Während Kits Augen sich dem Dämmerlicht anpaßten, hörte sie Rosamund mehr, als sie sie sah, schwer atmen.

Kits Mutter hockte auf einer Seite des Wohnzimmers neben dem großen Bett auf dem Boden und sah verstört auf, als sie Kit hereinkommen hörte.

»Oh, Kitiara! Ich… ich wollte Gilon heute morgen nicht von seiner Arbeit abhalten, aber – « Ihre Worte brachen ab. Rosamund fixierte mit den Augen einen Punkt irgendwo über Kitiaras Kopf, verdrehte das Laken in ihren Händen und stieß ein leises Stöhnen aus, das sich zu einem entsetzlichen Schrei steigerte. Kit wich bereits zur Tür zurück, als der Ton nachließ und Rosamund an der Bettkante herunterrutschte.

»Bitte, bitte, hol Minna«, keuchte Rosamund.

Entsetzt schoß Kit aus der Tür und hetzte über die hohen Wege zwischen den riesigen Vallenholzbäumen zum Haus der Hebamme von Solace, ohne dabei auf die Leute zu achten, die sie anrempelte. Ihre Begegnung mit dem fremden Schurken und ihre Abenteuerlust waren vorerst vergessen, denn Kit fühlte sich plötzlich keinen Deut älter als ihre acht Jahre. Ach, wenn Gilon doch heute nicht Holzhacken gegangen wäre… Wenn Rosamund doch nur selbst zurechtkäme… Wenn es bloß jemand anderen zum Helfen gäbe als Minna!

Kit hielt einen Augenblick inne und holte tief Luft, bevor sie das Törchen zum Weg zur Hebamme öffnete. Wie immer, wenn sie an Minnas Haus vorbeikam, dachte Kit, daß das schmucke Fachwerkhäuschen, das sich zwischen zwei große Vallenholzbäume schmiegte, seiner Besitzerin doch sehr ähnlich sah – ordentlich und überheblich.

Kit klopfte an die Tür. Noch während Minna aufmachte, packte Kit sie am Arm und wollte sie nach draußen ziehen. Die rundliche, kleine Hebamme trug ihre Mousselin-Schürze – ihr Markenzeichen –, von der Kit angenommen hätte, daß sie sie sogar im Bett nicht ablegte, wenn sie nicht immer so sauber und frisch gestärkt gewesen wäre. Ihr dünnes, braunes Haar war sorgfältig frisiert und zusammengebunden.

»Schnell! Wir müssen schnell machen! Meine Mutter, sie hat die Wehen. Du mußt sofort kommen«, drängte Kit, während sie an ihr zerrte.

Minna wich zurück und befreite ihren Arm mühelos aus dem Griff des Kindes. Die Hebamme stand nur einen Moment da und sammelte sich. Während Kit dann an der Vordertür ungeduldig von einem Bein aufs andere trat, lief Minna geschäftig im Haus herum, um Tränke, Kräuter und Fläschchen zusammenzusuchen, die sie sorgfältig in einen großen Lederbeutel packte, wobei sie auf Kit einredete.

»Mein liebes Kind, du bist ja ganz rot im Gesicht. Komm doch erst mal wieder zur Ruhe. Ich muß meine Espenblätter finden. Espenblattsaft ist wirklich das Beste für die Blutgerinnung, weißt du. Ist in dieser Gegend ziemlich schwer zu bekommen. Ich lasse Asa – du kennst doch Asa, diesen komischen, schwarzhaarigen Kender, der hin und wieder in der Stadt auftaucht? – ich lasse Asa speziell für mich die Blätter sammeln, wenn er nach Qualinesti oder Silvanesti kommt. Er ist natürlich kein besonders zuverlässiger Sammler. Immerhin glaube ich, daß es wahrscheinlich sogar wirklich Espenblätter sind, wie er behauptet…«

Als Minna sich vor dem Spiegel das Haar zurechtzupfte, fing sie einen wütenden Blick von Kitiara auf, die die Hebamme am liebsten angebrüllt hätte, sie solle still sein und endlich rauskommen.

»Ist irgend etwas, Kleine?« fragte Minna mit einem besorgten Blick aus ihren kleinen, olivgrünen Augen.

»Ja, ja!« rief Kit und stampfte dabei mit dem Fuß auf. »Ich hab’s doch gesagt! Meine Mutter bekommt ihr Baby. Sie braucht dich!«

»Nun, das ist aber bestimmt kein Grund, unhöflich zu sein. Das greift in Krynn heutzutage schon viel zu sehr um sich«, sagte Minna beleidigt. »Frauen haben schon immer Kinder bekommen. Ich bin sicher, daß deine Mutter gut zurechtkommt«, fügte sie hinzu und überprüfte unterdessen ihren vollgestopften Lederrucksack ein letztes Mal, bevor sie ihn zuzog. »Ach, hier sind die Espenblätter. Ich sollte mir keine Gedanken machen. Ich nehme an, dein Vater ist zu Hause bei Rosamund?«

Die Frage hörte sich ganz unschuldig an, aber Kit, die immer dünnhäutig war, wenn nach ihrem Vater gefragt wurde, unterstellte Minna andere Gründe für ihre Frage. Die Hebamme legte Wert darauf, jeden Klatsch zu wissen, der in Solace herumging, und alles, was sie bei ihrem Herumschnüffeln herausfand, gab sie morgens auf dem Markt an Dutzende von Bekannten weiter. Kit wußte, daß Rosamund zu ihren Lieblingsthemen zählte.

Rosamund litt immer wieder unter merkwürdigen Trancen und wurde dauernd von Fieber und eingebildeten Leiden heimgesucht. Nachdem Gregor sie verlassen hatte, war die Sache nur noch schlimmer geworden. Kitiara nahm an, daß Rosamund sich die Schuld für Gregors Fortgehen gab. Nun, das sollte sie auch. Mit ihrem dauernden Genörgel hatte sie ihn regelrecht vertrieben.

Es war schwer, zu begreifen, was Gregor anfangs in ihrer Mutter gesehen hatte. Vielleicht war sie mal schön gewesen, räumte Kit widerstrebend ein. Und sie war eine ganz passable Köchin. Aber wer Rosamund auch gewesen war, in den letzten Monaten hatte sie sich immer mehr zu einer kränklichen Stubenhockerin entwickelt, wie Kit es niemals werden wollte.

Rosamund hatte nicht sehr viele Freunde oder Leute, die sie wegen ihrer Unpäßlichkeiten bemitleideten. Und da kam Minna ins Spiel. Kitiara mußte zugeben, daß Minna ihre Mutter versorgt hatte, so gut sie nur konnte. Und sie hatte Gilon nie gedrängt, die wachsende Rechnung zu begleichen.

Dennoch verabscheute Kitiara die herrische Klatschtante.

»Gilon«, Kit betonte seinen Namen, da er nicht ihr Vater war, »hackt im Wald Holz. Ich weiß nicht wo, wahrscheinlich meilenweit weg. Sonst würde ich losrennen und ihn holen. Meiner Mutter ging es in letzter Zeit ziemlich gut, und ich wollte ihn nicht bitten, zu Hause zu bleiben. Wir wußten ja nicht, wie nah ihre Zeit schon war. Kannst du dich nicht beeilen?«

Kit sah aus dem Fenster und wünschte sich sonstwohin – fort von diesem Haus, egal, wohin, außer vielleicht in ihre eigene Hütte. Sie konnte die bedrängten Schreie nicht vergessen, die Rosamund ausgestoßen hatte, ebensowenig den ängstlichen Ausdruck auf ihrem Gesicht.

»Ja, wer hat’s hier jetzt eilig, junge Dame? Sieh zu, daß du Schritt hältst.«

Damit fegte Minna an Kitiara vorbei aus der Tür. Kit hätte ihr am liebsten in den Hintern getreten. Aber der Gedanke an Rosamund daheim, die mit der Geburt kämpfte, ließ sie den Impuls unterdrücken. Das Mädchen mußte wirklich rennen, um mit Minnas Tempo mitzuhalten, denn diese eilte mit schnellen Schritten über die Hängebrücken.

Als sie die Hütte erreichten, sah Kit, daß ihre Mutter wieder auf das Bett geklettert war, dessen Decke und Laken fleckig und blutverschmiert waren.

Sie stieß ein leises Stöhnen aus, und ihr Atmen wurde schneller, weil eine neue Wehe begann. Diesmal schien sie zum Schreien fast zu erschöpft zu sein. Ihr langes, hellblondes Haar klebte schweißnaß an ihrem Kopf. Das zartknochige Gesicht war verzogen. Rosamund stöhnte erstickt und krümmte sich. Nach dem Abklingen der Wehe sank sie aufs Bett zurück.

Minna fühlte ihr eilig die Stirn. Die Wehen kamen schneller. Rosamunds Bett war bereits völlig naß. »Gut. Dein Wasser ist abgegangen«, erklärte Minna. Doch als die Hebamme die grünliche Farbe der Bettücher sah, runzelte sie die Stirn.

Minna zog Rosamund ohne Umschweife ihren Kittel aus und prüfte, wie die Wehen vorangingen. »Mach heißes Wasser und leg saubere Tücher bereit. Das Baby kann jetzt jeden Moment kommen. Dieses grüne Wasser bedeutet, daß es Schwierigkeiten geben kann«, sagte sie warnend.

Kit, die nie besonders gern im Haushalt geholfen hatte, half Minna verlegen, Rosamunds Bett mit sauberen Laken zu beziehen. Sie holte alle sauberen Tücher her, die sie finden konnte, und schleppte dann in einem Eimer Wasser heran, das sie in einem Topf über dem Feuer aufsetzte.

Inzwischen war Rosamund von der Geburtsarbeit so gefangengenommen, daß sie weder von Kitiara noch von Minna viel Notiz nahm. Ihre grauen Augen waren glasig, während ihr Körper von den schmerzhaften Wehen geschüttelt wurden, die unbarmherzig weitergingen.

Minna zog einen kleinen Beutel aus ihrer Tasche und befahl Kit, eine saubere Schüssel mit heißem Wasser an den Nachttisch zu bringen. Dann schüttete sie den Inhalt des Beutels in die Schale, tauchte ein Tuch in die bräunliche Flüssigkeit und wrang es aus. Mit diesem Tuch wischte Minna Rosamund die Stirn ab und wusch ihr gelegentlich den angeschwollenen Leib, wozu sie Rosamund den Kittel hochzog.

»Was ist das?« wagte Kit zu fragen.

»Geheimzutaten«, antwortete Minna selbstgefällig. »Ganz genau weiß ich es selber nicht.« Sie kicherte. »Hab’ ich von diesem Kender, von dem ich dir erzählt habe. Asa. Er nennt es ›Nie versagender Balsam‹.«

Kit mußte zugeben, daß ihre Mutter nach diesen Waschungen etwas leichter atmete.

Minna hielt Kit auf Trab. Sie befahl ihr, einen Stuhl zum Bett zu bringen, mehr Decken zu suchen, einen Tee zu kochen, mehr Feuerholz zu holen. Kit wußte, daß Minna sie nicht mochte, und daß sie Rosamund erklärt hatte, ihre kleine Tochter sei zu dickköpfig und müsse mehr an die Kandarre genommen werden. Jetzt ärgerte sich Kit über die Kommandos der Hebamme, denn sie merkte, wie Minna ihre Macht über Kitiara in diesem Notfall auskostete.

Rosamunds Stöhnen und Schreien hielt die zwei allerdings beschäftigt. Ihre Qual war für das Kind schrecklich mit anzusehen. Hin und wieder rollten Rosamunds Augäpfel ganz in den Kopf zurück, und ihr Körper versteifte sich unter dem Ansturm der Wehen.

Die Wehen zogen sich hin, und Kit sehnte sich heimlich nach Gilons beruhigender Gegenwart und fragte sich, wann ihr Stiefvater wohl heimkehren würde. Doch sie mußte verzagt feststellen, daß es erst Mittag war, und Gilon kam normalerweise nicht vor dem Abend nach Hause.

Etwa eine Stunde nach Minnas Eintreffen verlangsamte sich Rosamunds Atmung besorgniserregend. Die Hebamme steckte Rosamund die Hand unter den Kittel und nickte Kit zu. »Schieb das Baby raus, Rosamund«, kommandierte sie.

Kit sah Minna überrascht an. So blaß und weggetreten und schweißgebadet, wie Rosamund war, schien sie kaum fähig, ihren Kopf auf dem Kissen zu drehen, geschweige denn irgend etwas zu schieben. Dennoch stieg Kit auf Minnas Drängen hin aufs Bett und half Rosamund, sich aufzusetzen. Dann setzte sie sich mit ihrem schmalen Rücken gegen den schweißnassen Rücken ihrer Mutter und stemmte die Füße gegen das hölzerne Kopfende, um Rosamund aufrecht zu halten, während Minna ihre Mutter wieder zum Pressen aufforderte.

»Pressen!« schrie Minna. »Wenn du willst, daß es endlich vorbei ist, dann preß!«

Eine Stunde später hatte sich noch nichts verändert.

Kit waren die Beine schwer wie Baumstümpfe, und Rosamunds Kopf war gegen den ihrer Tochter zurückgesunken, als hätte sie das Bewußtsein verloren. Minna hatte sich hingesetzt. Auf ihrer Stirn standen Schweißperlen, und ein paar Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht. Obwohl auch sie erschöpft war, forderte die Hebamme Rosamund immer wieder zum Weiterpressen auf.

Dann endlich gebar Rosamund mit einem langgezogenen Stöhnen.

Für Kit sah das Baby aus wie ein rotblaues, blutbesudeltes Äffchen, das mit einer weißen, käseartigen Schmiere bedeckt war. Ein durchdringender Schrei, der die Fenster zu erschüttern schien, kündete sofort von der Kraft des Kindes.

»Ein Junge!« krächzte Minna. »Du hast einen schönen, gesunden Jungen, Rosamund!« sagte sie, während sie das Neugeborene geübt abwischte, wickelte und in eine saubere Decke hüllte. »Na, der wiegt aber bestimmt zehn Pfund! Das ist ein Riese!«

Ihre Worte kamen bei der Mutter des Babys gar nicht an. Rosamunds Augenlider fielen zu, als Kit hinter ihr herausschlüpfte und Rosamund erschöpft in die Kissen sinken ließ.

Fast augenblicklich wurde Rosamund von einem scharfen Atemzug wieder geweckt. Ihre Augen waren erschreckt aufgerissen.

»Nur die Nachgeburt«, murmelte Minna in sich hinein, als sie Rosamund ansah. Doch dann drückte die Hebamme das frisch versorgte Kind rasch Kit in die Arme, um sich wieder um die Mutter zu kümmern. Nachdem sie sie genau angeschaut hatte, griff Minna nach ihrer Geburtshilfetasche, die vor dem Bett stand. Sie wühlte darin herum und zog einen anderen kleinen Beutel heraus, der doppelt verschlossen war. Als die Hebamme ihn vorsichtig aufmachte, hätte Kit, die neben Minna stand, schwören können, daß darin etwas leuchtete!

Minna holte eine Prise davon heraus. Mit dem Rücken zum Bett versprengte Minna den Staub in der Luft, wobei sie ein paar Worte sang, die Kit nicht verstand. Das Licht im Raum schien zu flimmern. Einen Augenblick später senkte sich ein Gefühl des Wohlbehagens über Kit. Sogar das Baby in ihren Armen hörte auf zu quengeln. Noch erstaunlicher war, daß Rosamund lächelte, einen tiefen Seufzer ausstieß und wieder in die Kissen sank. In diesem Bruchteil einer Sekunde schien Kits Mutter friedlich einzuschlafen! Das Mädchen wollte ihren Augen nicht trauen.

Doch dann verpuffte die friedliche Aura so schnell, wie sie eingetreten war.

Rosamunds Atem ging schneller. Sie riß die Augen auf, doch die Pupillen waren vollkommen verdreht.

Minna beugte sich besorgt über Rosamund und tätschelte ihr die Wangen.

Nur das Baby schien etwas länger von Minnas Hokuspokus zu zehren. Kit hielt das Kind steif von sich weg, als sie zu der Wiege ging, die Gilon liebevoll gebaut hatte. Zum Glück für alle Beteiligten vergaß Kits neuer Bruder rasch seinen Zorn darüber, aus dem warmen, gemütlichen Bauch gepreßt worden zu sein. Sobald Kit ihn in sein neues Bett gelegt hatte und die Wiege schaukelte, schlief er leise ein.

Minna zog Rosamunds Kittel hoch und legte beide Hände fest auf ihren dicken Bauch. Dann nahm sie etwas, das wie eine kleine Trommel aussah, aus ihrer Tasche. Allerdings lief der Boden der Trommel zu einem engen Hals zusammen und ging dann zu einem biegsamen Kelch auseinander.

»Eine Hörtrommel«, sagte Minna zu niemand Bestimmtem – jedenfalls nicht zu Kitiara. Das Ende des Kelches setzte sie auf Rosamunds aufgetriebenen Leib und legte gleichzeitig ihr Ohr an die Membran der Trommel. Als Rosamund zu wimmern begann, zog Minna überzeugt den Kopf zur Seite. Es ging eindeutig eine neue Wehe los.

»Da ist noch ein Baby drin«, erklärte Minna erstaunt.

Ein langgezogenes, rauhes »Neiiin!« entfloh Rosamunds gespitzten Lippen.

»Noch ein Baby!« rief Kit aus. »Wie kann denn das sein? Wieso hast du das nicht vorher gewußt? Was sollen wir denn jetzt machen? Noch eine Geburt überlebt meine Mutter nicht.«

»Hör mal zu, junge Dame. Werd mir bloß nicht frech.« Mit erstaunlicher Wildheit fuhr Minna Kit an, denn ihre Geduld war fast am Ende. Ihr Bienenstock von Haar war schlimm zugerichtet, und ihre normalerweise adrette Kleidung war durcheinander. Ihre scharfen Augen nagelten Kit fest.

»Ich brauche keine Ratschläge von einem Küken. So etwas passiert. Ich kann schließlich nicht alles wissen und alles in Ordnung bringen – «

Rosamunds Wimmern brachte beide auf die Beine.

Erneut fing Minna an, in ihrer Tasche herumzuwühlen. Regelrecht schreiend wies die Hebamme Kit an, einen neuen Kessel Wasser aufs Feuer zu stellen und mehr saubere Decken zu holen. Kit, die seit Sonnenaufgang auf den Beinen war und kein Mittagessen bekommen hatte, schwankte auf einmal vor Müdigkeit. Ihre Knie gaben nach, und fast wäre sie umgekippt.

Minna griff zu und hielt das Mädchen fest, bevor es umfallen konnte. Gewaltsam schüttelte sie sie durch. »Du mußt jetzt durchhalten, Kit«, sagte sie drohend. »Mach mir ja nicht schlapp. Ich brauche dich. Rosamund braucht dich.« Sie schubste Kit los, damit sie ihre Pflichten erledigte.

Das Mädchen konnte die Augen kaum noch offenhalten, während es im Raum herumtrottete und tat, was Minna angeordnet hatte. Am Nachmittag war es schrecklich warm geworden, und zusammen mit dem Feuer, das unablässig weiter brannte, um das Wasser zu erhitzen, erschien ihr das Innere der Hütte heißer als eine Zwergenschmiede. Kitiara glaubte, sie müßte ersticken.

»Kipp dir was über den Kopf!« riet Minna. »Wie?«

»Das Wasser, über deinen Kopf«, wiederholte die Hebamme.

»Oh«, sagte Kitiara, schöpfte kaltes Wasser aus dem Eimer und spritzte es sich über den Kopf, so daß ihr Gesicht und ihre Kleider naß wurden. Erfrischt schoß sie los, um einen weiteren Eimer zu holen.

»Dummes Ding«, murmelte Minna tonlos.

Rosamund glühte ebenso, und Minna gab sich größte Mühe, sie abzukühlen, indem sie sie dauernd mit einem nassen, kalten Schwamm abrieb. Kits Mutter wirkte schlaff und leblos und verlor immer wieder das Bewußtsein; sie war einfach zu erschöpft. Die Wehen gingen weiter. Was eigentlich eine kurze Geburt hätte sein müssen, zog sich unendlich lange hin.

»Das verstehe ich nicht. Dieses Baby müßte einfach rausflutschen«, sagte Minna leise zu Kit.

Nachdem sie unter Rosamunds Decke getastet hatte, fluchte Minna leise, denn sie hatte den Grund gefunden. Sie nahm Kit beiseite.

»Dieses Baby kommt mit den Füßen zuerst«, vertraute sie ihr vielsagend an, »nicht mit dem Kopf zuerst wie die meisten Babys. Es ist eine Steißgeburt. Da kann man nicht sagen, wie lange die Wehen noch dauern. Das ist nicht normal.«

Kit nahm Minnas Nachricht wie betäubt auf. Sie blickte zu dem ersten Baby, das immer noch mit friedlich geschlossenen Augen schlief. »Kannst du etwas tun?« fragte sie hoffnungsvoll.

»Ich kann es versuchen«, erklärte Minna schlicht. »Aber Paladin muß mir beistehen.«

Die Stunden verstrichen. Die Geburt zog sich schon fast bis Sonnenuntergang hin. Einmal begannen Rosamunds Augen unkontrollierbar zu zucken. Ihr Gesicht lief tiefrosa an, und ihr Körper wand sich ununterbrochen. Als Kit die Hand ihrer Mutter berührte, war diese glühend heiß.

»Sie hat hohes Fieber. Ihr müßt etwas tun«, schrie Kit fast anklagend.

Minna, die ernstlich besorgt war, ignorierte das Mädchen, bat aber um mehr heißes Wasser, damit sie eine weitere Portion »Nie versagenden Balsam« brauen konnte. Mit dieser Tinktur hatte sie Rosamunds Bauch während der ersten Geburt schon ständig abgewaschen.

Rosamund war jetzt die meiste Zeit bewußtlos. Kitiara mußte ihre Mutter so gut wie möglich von hinten stützen. Minna gab sich nicht einmal mehr die Mühe, Rosamund zum Pressen aufzufordern.

Schließlich gab es einen Fortschritt, und Minna lebte auf. »Ein Zeh, ich sehe einen Zeh. Wenn ich jetzt beide Füße zusammen rauskriege, dann erleben wir die Geburt von diesem störrischen Zwilling vielleicht doch noch.«

Irgendwann tauchten beide Füße auf, dann die Beine, dann die Hüften – es war noch ein Junge. Während Kit immer noch Rosamunds Rücken stützte, hörte sie Minnas aufgeregte Kommentare zum Fortgang der zweiten Geburt. Über die Schulter konnte sie sehen, daß die Augen ihrer Mutter geschlossen waren. Rosamunds Atmung war flach und kam stoßweise. Endlich, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, trat der Kopf des Babys heraus. Kit hörte Minna fluchen.

»Bei den Göttern! Er atmet nicht, und deine Mutter blutet in Strömen.«

Minna handelte schnell. Sie zog ein kleines Messer aus der Tasche und schnitt die Nabelschnur durch. Dann legte sie das Baby ans Bettende und widmete sich ganz der Mutter, die bewußtlos dalag. Mit einer Hand massierte sie Rosamund den Bauch, um die Nachgeburtswehen zu fördern, die helfen würden, die Blutung zu stoppen. Mit der anderen Hand rührte sie zerkrümelte Espenblätter in eine Tasse Wasser, um einen gerinnungsfördernden Tee zu brauen.

»Ich habe jetzt mit deiner Mutter alle Hände voll zu tun. Hilf du lieber deinem zweiten Bruder«, wies Minna Kit an. »Reib ihm die Füße. Versuch, ihn zum Atmen zu bringen. Tu irgendwas!«

Kit schlüpfte hinter Rosamund heraus und kletterte neben dem Baby aufs Bett. Während sie ihre Angst zu bezwingen suchte, schnappte sie sich ein paar saubere Tücher und fing an, den kleinen Körper abzureiben, wie Minna es beim ersten Kind getan hatte. Schließlich kam ein kratzendes Geräusch aus der Brust von dem Kind, als es eine kleine Menge grüne Flüssigkeit ausspuckte und ein paar armselige Atemzüge machte. Nach einer Minute setzte sein mühsames Atmen aus.

»Minna, was soll ich machen? Ich glaube, er atmet nicht besonders gut«, drängte Kit die Hebamme.

Minna wiegte Rosamunds Kopf und flößte ihr mit einer Pipette etwas von dem Espentee ein. Die Hebamme sah nur kurz hoch, bevor sie sich wieder Rosamund widmete, die selbst kaum noch am Leben war.

»Bring ihn ans Feuer und reib einfach weiter, besonders die Fußsohlen. Wenn das nicht reicht, kannst du ihm in die Bäckchen kneifen. Puste ihn vorsichtig in die Ohren. Was auch immer. Aber denk dran, der zweite Zwilling hat oft wenig Lebenskraft. Vielleicht ist er ein hoffnungsloser Fall.«

Bei dieser Bemerkung fuhr Kits Kopf herum, und sie funkelte die dumme Hebamme einen Augenblick lang an. Dann konzentrierte sie sich schnell auf die Rettung ihres Halbbruders und rannte zum Herd. Mit den Füßen stieß sie weitere Holzscheite ins Feuer, während sie das zarte Baby mit einem Eifer zu rubbeln begann, den sie normalerweise nur für das Üben mit ihrem Holzschwert aufbrachte. Endlich fing das Baby wieder an zu atmen.

Schließlich gab das Baby ein paar unzufriedene Maunzer über diese grobe Behandlung von sich. Wenigstens wurde die bläuliche Färbung jetzt etwas rosiger. Doch als sie versuchte, mit der heftigen Massage aufzuhören, wurde die Atmung des Babys wieder langsamer. Also ging das heilsame Rubbeln weiter. Kitiara war fest entschlossen, Minna zu beweisen, daß sie unrecht hatte, doch sie war um das Leben ihres zweiten Halbbruders zugleich auch höchst besorgt. Sie warf einen kurzen Blick auf den ersten Zwilling, der friedlich in Gilons Wiege geschmiegt lag. Dieser kräftige und im Vergleich engelhafte Junge schlief tief und fest. Wie verschieden sie waren! Doch als Kit länger den älteren Bruder anstarrte, hatte sie den Eindruck, daß er im Gleichklang mit seinem schwächeren Zwilling atmete. Sie konnte jetzt mit dem Reiben aufhören. Das zweite Baby atmete nun besser und war eingeschlafen.

Auf der anderen Seite des Raums lehnte sich die Hebamme zurück.

Auch sie war erfolgreich gewesen. Rosamunds Blutung war gestillt. Kits Mutter schlief den Schlaf der Erschöpfung und war dabei leichenblaß.

»Puh«, seufzte Minna, die ein Laken und eine Decke über Rosamund zurechtzog, »das war eine der schwierigsten Geburten, die ich je erlebt habe. Nicht, daß ich mir Sorgen gemachte hätte! Wenn man in diesen Dingen so erfahren ist wie Minna, mein Kind…«

Kit, die mit dem Baby im Arm am Herd saß, hörte ihr kaum zu. Als sie aufblickte, stand Minna mit rotem Gesicht und inzwischen schiefem Haarknoten vor ihr.

»Deine Mutter muß alle zwei Stunden geweckt werden und einen guten Schluck Tee aus diesen Espenblättern trinken«, sagte die Hebamme kühl. »Du oder Gilon, einer muß heute abend los und Ziegenmilch auftreiben. Deine Mutter ist nicht in der Lage, diese Babys zu stillen, und Ziegenmilch ist das beste für neugeborene Menschenbabys. Ziegen haben auch Junge, wie du weißt.«

Als sie die offensichtliche Abneigung auf Kits Gesicht bemerkte, befand Minna, daß das Mädchen ein paar ganz normale Manieren zu lernen hatte. Kitiara sah zur Seite und betrachtete intensiv den zweiten Zwilling, um zu prüfen, ob ihre sorgfältige Massage Erfolg gehabt hatte. Das Baby gab einen erstickten Laut von sich. Kit fing wieder an, es zu massieren.

»Ich weiß nicht, ob ich darauf meine Hoffnung setzen würde«, sagte Minna trocken. »Du solltest diese Energie lieber für die Pflege deiner Mutter nutzen. Ich hab dir doch gesagt, daß der zweite Zwilling oft nicht lange lebt. Kann sein, daß wir ihm schon morgen früh ein Grab schaufeln können.«

Die ganze Angst und Hilflosigkeit und Enttäuschung der letzten Stunden stieg bei Minnas herzloser Bemerkung in Kit wieder hoch. Ihr kleiner Körper bebte vor Zorn, der sie auf die Füße riß. Ohne eine bewußte Entscheidung holte Kit aus und schlug der Hebamme, so fest sie konnte, ins Gesicht.

»Sag das nicht noch mal!« schrie Kit.

Empört ergriff Minna Kit unsanft an der Schulter, wodurch sie ihr fast das Kind aus den Armen gerissen hätte. Auf ein Geräusch von der Tür her drehte sich erst Minna, dann Kit um. Dort stand Gilon mit ernster Miene. Ein leichter Luftzug blies ihnen ins Gesicht.

»Habt Ihr das gesehen, Meister Majere?« Minna ließ Kits Schulter los und rannte zu Gilon. Sie bebte vor Wut. »Habt Ihr das gesehen? Sie hat mich geschlagen! Das dürft Ihr ihr nicht durchgehen lassen. Ich verlange eine Entschuldigung, und ich finde, ich habe das Recht, sie zur Strafe zu verprügeln. Wenn dieses Kind nicht richtig bestraft wird, dann endet sie noch wie ihr Vater – als Lump!«

Gilon sah von der Hebamme zu seiner Stieftochter. Seine müden braunen Augen verrieten nicht Zorn, sondern Trauer. Er stellte seine Axt hinter der Tür ab und zog langsam seine Jacke aus. Seine große Hündin, Amber, die Gilon stets beim Holzholen begleitete, spürte, daß etwas nicht stimmte, und trottete davon. Der unerschütterliche Gilon fuhr mit den Fingern durch sein dickes, braunes Haar und ließ sich lange Zeit, bevor er redete.

Ohne ein Wort zu ihrer Verteidigung zu sagen, hatte Kit wieder angefangen, das Baby abzureiben. Sie war hundemüde, doch sie haßte die Tränen, die in ihren Augen standen. Sie beugte ihren Kopf tief über das Baby und weigerte sich hochzuschauen.

»Gerede über Beerdigungen am anderen Tag«, sagte der stämmige Holzfäller schließlich, »ist bei einer Geburt unerwünscht. Ich würde sagen, ihr zwei seid praktisch quitt.« In seiner Stimme lag eine stille Autorität. Sein Gesicht war unbewegt.

Kit blickte weiterhin das Baby an, doch innerlich jubilierte sie.

»Na schön!« Vor sich hin schimpfend lief Minna eilig in der Hütte herum und schmiß ihre Sachen einfach in die Tasche. Sie hielt einen Beutel Espenblätter in die Luft und warf ihn demonstrativ auf den Nachttisch. »Ich komme morgen wieder und seh’ nach ihr!« fauchte sie, bevor sie durch die Tür hinausrauschte.

Als Kit das Schloß klicken hörte, blickte sie endlich auf. Sie erwiderte Gilons seltenes Lächeln.

Der ging los und sah sich zunächst besorgt Rosamund an, dann die Wiege, dann das Kindchen in Kits Armen. Auf seinem Gesicht mischte sich Stolz mit Verwirrung.

»Zwillinge, wirklich Zwillinge? Wie geht es Rosamund? Wie geht es den beiden? Was soll ich machen?« Er machte eine flehende Geste mit seinen großen, groben Händen.

»Du mußt gleich los und Ziegenmilch holen«, erklärte Kit. »Minna hat gesagt, das wäre das einzige, was die Babys trinken können, und ich glaube, das müssen wir ihr glauben. Dann müssen wir Mutter wecken und…«

»Moment, Moment«, unterbrach Gilon sie noch immer aufgeregt. »Ich weiß noch gar nichts über meine Kinder. Sind es wirklich zwei?« wiederholte er. »Zwillinge?«

»Ja, zwei Jungen.« Kit war über sich selbst überrascht, denn sie sagte das mit solcher Befriedigung, als wäre sie selbst die Mutter.

Wieder lief Gilon zur Wiege und strahlte seinen Erstgeborenen an, der sich allmählich wieder regte. Dann kam er zu Kit, die immer noch das zweite Baby rieb und tröstete.

»Schsch«, warnte sie. »Das ist der schwächere.«

Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Nur das sterbende Feuer erhellte noch den Raum. Hastig zündete Gilon zwei Öllampen an, die riesige, tanzende Schatten an die Wände der Hütte malten.

»Es war nicht einfach«, gestand Kit, wobei sie ihre Erleichterung, daß alles vorbei war, durch einen gleichmütigen Tonfall überspielte. »Mutter hat viel Blut verloren. Ich glaube, sie erholt sich wieder. Das erste Baby, das ist kräftig. Aber auf das hier, auf das muß man gut aufpassen.«

Gilon ging zu Rosamunds Bett, setzte sich vorsichtig neben sie und nahm ihre Hand. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen. Sie lag ganz still da und atmete nur flach. Als er sie sanft auf die Stirn küßte, regte sie sich nicht. Das Wimmern seines Babys lockte Gilon von seiner Frau zur Wiege.

»Ich sollte lieber losgehen und diese Milch holen, bevor wir hier einen Aufstand haben.« Er zog seine Jacke an, blieb dann aber neben Kit stehen, um ihr die Hand auf die Schulter zu legen. Kit reagierte nur zögernd. Sie und ihr Stiefvater berührten sich selten. Gilon drückte leicht ihre Schulter, ehe er sich umdrehte, um seine Pflicht zu tun.

An der Tür blieb er stehen. »Rosamund und ich hatten uns für den Namen Caramon entschieden, falls es ein Junge werden sollte«, sagte er fast entschuldigend zu Kit. »Das bedeutet ›Kraft der Vallenholzbäume‹. Mein Großvater hieß so. Ein guter Name, oder was meinst du?« Nach einer Pause lächelte er und fügte hinzu: »Aber wir brauchen noch einen Namen für den anderen Knaben. Überleg doch mal, ob dir nicht ein schöner Name einfällt.«

Daß Kit gebeten wurde, den Namen mitauszuwählen, machte sie so glücklich wie einen Kender auf einem Jahrmarkt. Sie merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß. Feierlich erwiderte sie, sie würde darüber nachdenken.


Gilon kam mit der Ziegenmilch zurück und fand Kit mit einem Kind im Arm vor, während sie mit dem Fuß die Wiege bewegte, in der das andere begonnen hatte, durchdringend vor Hunger zu brüllen. Mit Hilfe der Haut vom Euter eines toten Mutterschafs stellte Gilon aus schmalen Gläsern zwei Fläschchen her. Nachdem er den brüllenden Caramon hochgehoben hatte, hielt der frischgebackene Vater ihn im Arm und ließ den Kleinen kräftig an der Flasche saugen.

Kitiara wünschte, ihr Zwilling wäre auch nur halb so energisch. Sie mußte den Zweitgeborenen dazu verlocken, überhaupt den Sauger zu nehmen, und es fiel ihm schwer, die Milch zu schlucken. Bei all dem Spucken und Herumgezappel befürchtete Kit, daß er kaum etwas von der Milch bei sich behielt.

Irgendwann schliefen beide Kinder ein. Kit hatte immer noch den Kleinen auf dem Arm. »Ich habe einen Namen«, sagte sie vorsichtig.

»Und was schlägst du vor?« fragte Gilon, der Kit ganz ernst nahm.

»Raistlin.«

»Hmm. Raistlin«, wiederholte Gilon. »Hört sich gut an, Raistlin und Caramon. Aber was bedeutet das?«

»Ach, eigentlich gar nichts. Ich meine, ich weiß es nicht genau. Muß ich irgendwo gehört haben.«

Kit verriet Gilon nicht, daß Raistlin der Held in den erfundenen Geschichten war, die Gregor ihr manchmal zum Einschlafen erzählt hatte. Die meisten Geschichten von Gregor waren entweder wahre, eigene Erlebnisse oder Legenden über die alten Helden von Krynn. Aber es gab eine Geschichte, die er gern erzählte, von der Kit glaubte, daß ihr Vater sie sich ausgedacht hatte. Sie hatte immer neue Fortsetzungen, und Gregor hatte sie nie zu Ende erzählt, wahrscheinlich, weil es kein Ende gab. Und weil er gegangen war.

Der Raistlin aus den Geschichten ihres Vaters war weder der Tapferste noch der Stärkste, aber er war schlau und hatte einen eisernen Willen. Immer wieder benutzte er seinen Verstand und schlug so auch überlegene Gegner.

Wenn Caramons Name für die Kraft der Bäume stand, so würde Raistlins für Schlauheit und Willensstärke stehen, dachte Kit.

Gilon überlegte. Wieder einmal ging er an Rosamunds Bett.

Kits Mutter hatte die Augen immer noch geschlossen. Ihm wurde klar, daß es einige Zeit dauern konnte, ehe Rosamund ihre Meinung kundtun konnte. Gilon lächelte Kit an, als er seine Entscheidung traf.

»Raistlin… Ich finde, das paßt gut.«

Ein oder zwei Stunden später saß Kit noch mit Raistlin am Herd, während Gilon gerade die lange, umständliche Aufgabe beendete, Rosamund mit dem Schwamm abzuwaschen, um ihr dann die Bettwäsche und die Kleider zu wechseln.

Der Nachtwächter hatte schon längst Mitternacht ausgerufen. Vor dem Fenster stand Lunitari, der rote Mond, hoch am Himmel. Er teilte sich das nächtliche Firmament mit Solinari, der bereits sank. Kit mußte mit Raistlin am Feuer eingedöst sein. Sie wachte abrupt auf, als der kleine Raistlin einen tiefen Atemzug machte.

»Zeit für Mutters Tee«, sagte Kit müde.

Gilon, der auf Rosamunds Bettkante saß, sah zu dem Mädchen hinüber und erkannte plötzlich, wie erschöpft sie war.

Der Stiefvater nahm ihr Raistlin vom Arm und schickte sie ins Bett.

Kits Beine waren so schwer, daß sie kaum die Leiter hinaufklettern konnte, die zu ihrem Schlafplatz über dem hinteren Teil des großen Raums führte. Eigentlich war es nur ein Plätzchen, das sie sich im Speicher unter dem Dach der Hütte hergerichtet hatte.

Hinter Jutesäcken voll Korn und anderen getrockneten Vorräten standen ihr Feldbett und eine kleine Kommode. Das einzige Fenster, das oben unter dem First war, bot ihr einen phantastischen Blick in das Gewirr der Vallenholzzweige. Wenn Kit während der Sommerzeit hinaussah, kam sie sich vor, als würde sie auf einer Blätterwolke schweben. Für den Luxus eines eigenen Plätzchen in der engen Hütte ertrug sie gern die Sommerhitze und die winterliche Kälte oben unter den Dachsparren.

Kit ging zu der Kommode, zog sie von der Wand ab und tastete dahinter nach dem versteckten Brett.

Vorsichtig holte Kitiara ein abgegriffenes Stück Pergament hervor. Als sie es entrollt hatte, starrte sie die Tintenzeichnung darauf an, von der sie wußte, daß sie das Wappen eines Ritters von Solamnia darstellte. Im blassen Mondlicht, das durch ihr Fenster fiel, sah Kit die Fänge eines Habichts, einen Pfeil und eine Umrandung in der Form eines Auges.

Nach ein paar Minuten rollte Kit das Pergament wieder zusammen und verstaute es wieder. Vollständig angekleidet fiel sie auf ihr Feldbett und sank sofort in festen Schlaf.

In dieser ersten Nacht schlief Caramon friedlich in seiner Wiege. Gilon behielt Raistlin zwischen sich und Rosamund im Bett, weil er hoffte, daß ihre Körperwärme dem Baby helfen würde. Kit bekam nichts davon mit, daß ihr Stiefvater viele Male in der Nacht aufstand und für seine geliebte Frau und die neugeborenen Zwillinge sorgte.


Am nächsten Tag bereitete Gilon gerade über dem Feuer einen Topf Brei zu, während Kit Raistlin im einen Arm hielt und gleichzeitig versuchte, Caramon in der Wiege die Flasche zu geben, als jemand an die Tür klopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten, trat Minna mit ihrer Schwester Yarly ein.

Yarly war eine jüngere Ausgabe von Minna – ganz genauso klein und dick und gestärkt. Beide trugen ihre Schürzen, doch Yarlys Haare waren unter ein Häubchen gekämmt. Anscheinend hatte sie von ihrer Schwester Anweisung bekommen, wenig oder gar nichts zu sagen. Beide wirkten verdrießlich, aber Yarly hatte eine dicke, vorstehende Unterlippe, die sie immer irgendwie mürrisch aussehen ließ. Minna ignorierte Kit geflissentlich und hatte für Gilon nur ein kühles Nicken übrig, als sie mit Yarly im Schlepptau zu Rosamunds Bett marschierte.

Rosamund war immer noch nicht wieder ganz bei Bewußtsein, obwohl sie heute ruhiger schlief und leichter atmete.

»Wie geht es uns?« fragte Minna, während sie Rosamunds Bauch abtastete.

»Nicht so gut«, antwortete Gilon mit offensichtlicher Sorge. »Sie hat weiterhin Fieber, und sie hat eigentlich noch gar nicht die Augen aufgemacht. Sie ist zu schwach zum Essen.«

»Mmmmm. Das arme Ding hat viel Blut verloren. Ich denke, sie wird es schon schaffen, auch wenn es Wochen dauern kann, bis sie sich selbst um ihre kleinen Babys kümmern kann. Vergiß das Essen. Achte nur darauf, daß sie reichlich von dem Heiltee trinkt, den ich euch dalasse. Und achte darauf, daß sie nicht durch wilde Spiele gestört wird«, fügte Minna mit einem vielsagenden Blick in Kits Richtung hinzu. »Ich würde sie an deiner Stelle in das kleine Zimmer legen. Sie braucht etwas Ruhe.«

Im Augenblick sah Kit, die versuchte, beide Kinder zu wiegen, allerdings eher wie eine gehetzte Hausfrau denn wie eine mögliche Unruhestifterin aus. Sie drehte Minna den Rücken zu, um den kleinen Raistlin den scharfen Augen der Hebamme zu entziehen.

Der Raum, auf den Minna anspielte, war der einzige Nebenraum der Hütte. An der Nordwand war ein kleines Stück abgeteilt, wo Rosamund die Näharbeiten machte, mit denen sie etwas Geld für den Haushalt dazu verdiente. Gilon sah ein, daß Minnas Rat klug war, und nickte zustimmend.

»Du kennst doch meine Schwester Yarly? Sie wird die nächsten paar Tage nach Rosamund sehen, dann brauche ich euch nicht mit meiner Meinung zu ärgern. Danach kommt ihr wohl allein zurecht.«

Minna war herangetreten, damit sie über Kitiaras Schulter einen Blick auf Raistlin werfen konnte. Kit drehte sich um und starrte der Hebamme, die sich überall einmischte, trotzig ins Gesicht. Minna sah betont auf das zarte Kind herunter, schniefte mitleidig und schaute dann zu dem robusten, das zufrieden in der Wiege an seiner Flasche nuckelte.

Raistlin war blaß und stand noch nicht allzu fest im Leben. Den ganzen Morgen hatte Kit sich bemüht, nicht an das zu denken, was Minna über schwächliche, zweite Babys gesagt hatte.

»Hmpf«, machte Minna, als sie sich abwandte.

Sie zog Gilon beiseite und holte etwas aus der Tasche.

Dann zeigte sie ihm kurz, wie er einen Lederriemen umlegen sollte, mit dem man das eine Baby am Körper tragen konnte, gleichzeitig aber die Hände für andere Aufgaben frei hatte. Schließlich sagte Minna in barschem Ton auf Wiedersehen und zog mit Yarly ab.

»Na gut«, sagte Gilon, nachdem er unschlüssig einen Moment geschwiegen hatte. »Nett von ihr, daß sie vorbeigeschaut hat.«

Kitiara murmelte eine unverständliche Antwort.

»Und das Ding hier ist wirklich praktisch«, meinte Gilon gutmütig, wobei er die Schlinge hochhielt. »Mal sehen, ob wir es dir anlegen können.«Die nächsten drei Wochen trug Kit Raistlin in der Schlinge ständig bei sich. Die Atmung des Babys wurde besser, war aber immer noch nicht stark oder stetig. Jeden Moment konnte es vorkommen, daß Kit alles fallenlassen mußte, um seine Fußsohlen zu reiben und damit seine Atmung und seinen Kreislauf anzuregen.

An den meisten Abenden kippte Kit angezogen und todmüde ins Bett. Wenn sie morgens erwachte, hatte sie meistens noch Minnas Schlinge um, so daß sie Raistlin aus Gilons müden Armen entgegennehmen und weitermachen konnte.

Am ersten Morgen der vierten Woche bemerkte Kit beim Aufwachen, daß sie verschlafen hatte. Sie sprang aus dem Bett, kletterte die Leiter hinunter und sah sich um. Caramon trat kräftig in seiner Wiege herum, aber Raistlin schlief noch in der zweiten Holzwiege, die Gilon eilig zusammengezimmert hatte.

Kit warf einen Blick in den kleinen Nebenraum und sah, daß auch ihre Mutter noch schlief. Rosamund war seit der schweren Geburt bettlägerig. An den meisten Tagen regte sie sich kaum, oft konnte sie nicht einmal sprechen. Sie mußte ebenso sorgfältig beobachtet werden wie Raistlin. Wenn man sie nur einen Moment aus den Augen ließ, konnte Kits Mutter senkrecht und mit weit offenen Augen hochschrecken und vor Angst losheulen. Inzwischen zeigte sie auf Dinge, die niemand sehen konnte und faselte nur noch unzusammenhängendes Zeug.

Neben ihrem großen Bett lag eine Strohmatratze, auf der Gilon gewöhnlich schlief. Es war seine Aufgabe geworden, den starken Tee zu bereiten, der Rosamund manchmal beruhigen konnte. Doch selbst mit dem Beruhigungstee konnte man nie sagen, wie lange ihre plötzlichen Trancen dauern würden. Kits Stiefvater betrachtete seine Frau inzwischen mit mehr und mehr Kummer, denn die sanfte Frau, die er einmal geliebt hatte, war einer unberechenbaren Fremden gewichen.

Heute war sein Lager leer und Gilon schon fort. Seit der Geburt der Zwillinge war er zu selten in den Wald gegangen. Der Haushalt konnte es schlecht verkraften, wenn sowohl sein Lohn als auch die mageren Beträge ausblieben, die Rosamund mit Nähen und Flicken verdient hatte. Kit hatte Gilon gegenüber darauf bestanden, sich voll und ganz der Pflege der Zwillinge zu widmen, wenn er wieder arbeiten ging.

Bei Caramon war das einfach. Solange man seine Windel nicht zu naß werden ließ, ging es ihm gut. Laut, rastlos, ständig hungrig, aber gesund.

Mit Raistlin war es anders. Kit mußte ihn genau beobachten, auf sein Atmen hören und ihn dazu bringen, daß er aß. Das kleine Mädchen fand diese Pflichten nicht annähernd so erschöpfend wie die Zeit, in der sie an das Kind dachte und Raistlin inständig aufforderte, doch endlich stärker zu werden.

Als sie heute ans Frühstückmachen ging, hörte Kit ein leises Geräusch und sah sich um. Zu ihrer Überraschung stand Rosamund – wacklig, aber sie stand – auf der Schwelle zu ihrem Raum. Wenn Kit ihr nicht in die Augen gesehen hätte, hätte sie glauben können, es ginge ihrer Mutter gut. Aber Rosamunds Augen waren verschwommen und blicklos.

Als Gilon eine Weile vor der Dämmerung heimkam, begrüßte Kitiara ihn an der Tür. Sie waren übereingekommen, daß Kit bei seiner Rückkehr auf der Stelle aus der engen Hütte fliehen durfte. Anstatt sich gleich zum Abendessen hinzusetzen, spielte die Achtjährige bis zur völligen Dunkelheit. Meistens übte sie Fechten, und zwar so versunken, als wollte sie ihr ganzes Kindsein in die wenigen Stunden zwängen.

»Mutter ist heute viel im Haus herumgelaufen«, berichtete Kit Gilon heute, während sie sich zum Gehen fertigmachte. »Ich mußte sie einmal am Bett festbinden.«

Gilon zog überrascht die Augen hoch und schaute dann in den kleinen Nebenraum. In ihrem fleckigen Nachthemd saß Rosamund in der Ecke im Schaukelstuhl und bewegte die Hände, als würde sie stricken, doch sie hatte weder Nadeln noch Wolle.

»Ich weiß nicht, was die Zwillinge von ihrer Mutter denken, aber sie hat sie überhaupt nicht beachtet«, erzählte Kit Gilon mit einer gewissen Befriedigung, bevor sie in den warmen Sommerabend hinausschoß.


Als die Zwillinge sechs Wochen alt waren, kam Kitiara abends nach dem Spielen nach Hause und fand Rosamund am Küchentisch sitzend vor, wo sie Raistlin auf dem Arm hatte und Caramon in seiner Wiege etwas vorsang. Obwohl Gilon ihr bestimmt geholfen hatte, zu baden und sich anzuziehen, sah Kits Mutter nach der wochenlangen Krankheit immer noch aus wie ein Geist. Doch ihr Gesicht strahlte genauso wie das von Gilon, der daneben stand und die Szene mit freudigem Stolz betrachtete.

Rosamund wandte sich von den Zwillingen ab, als sie Kit in der Tür hörte, und winkte ihre Tochter warmherzig heran. Sie legte Raistlin in seine Wiege, damit sie dem Mädchen ihre blaugeäderten Hände auf die kräftigen Schultern legen konnte. Rosamund versuchte, Kit an sich zu drücken, doch ihre Tochter wich zurück.

»Ich möchte mich bei dir bedanken für alles, was du getan hast. Gilon sagt, du warst… unentbehrlich«, sagte Rosamund mit einem Blick auf das rabenhaarige, kleine Mädchen, der sowohl Liebe als auch Unsicherheit ausdrückte.

Kitiara sah auf den Boden, denn ihre eigenen Gefühle, die zugleich dankbar und trotzig waren, verwirrten sie.

Rosamund stand auf und schlang ihre dünnen Arme ungeschickt um ihre Tochter. Kit blieb starr stehen, lief aber im gleichen Moment zur Tür, als sie merkte, daß ihre Mutter sie losließ.

Rosamund sank erschöpft auf ihren Stuhl zurück, während Gilon sprungbereit daneben stand, ohne zu wissen, was er sagen sollte. Rosamunds Augen füllten sich mit Tränen, während sie ihrer Tochter nachsah, die in die Sommernacht zurückrannte.

»Dein Vater wäre stolz auf dich«, flüsterte Rosamund Kits verschwindender Gestalt nach.

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