Kitiara und Trauerkloß warteten bereits seit fast zwei Tagen am verabredeten Treffpunkt am Rande einer schilfbestandenen Marsch zehn Meilen östlich von Vocalion. Zuerst war Kit geduldig, doch mit der Zeit wurde sie unruhig, denn sie befürchtete, Ursa könnte etwas zugestoßen sein.
Ihr einfaches Lager lag, von hohem Riedgras verborgen, abseits der Hauptstraße. Um sie herum erstreckte sich eine spärlich bewaldete Tiefebene mit einzelnen Tümpeln und Eisflächen. Weit im Norden konnte Kit eine Bergkette mit schneebedeckten Gipfeln erkennen.
Während der Wartezeit hatte Trauerkloß kaum etwas gesagt, wie das bei ihm üblich war. Falls der große, gebeugte, trübselige Mann sich wegen Ursa Gedanken machte, hatte er ihr das jedenfalls nicht gezeigt. Er war wieder so wie immer und las ungerührt in seinem Zauberbuch, wobei er die Lippen tonlos bewegte und gelegentlich die Seiten vollsabberte.
Als ihre Nerven vom Warten schon völlig am Ende waren, hörte Kit Hufgeklapper und dann die Geräusche von mehreren Pferden, welche die Hauptstraße verlassen hatten und in ihre Richtung kamen. Ihr wurde klar, daß Trauerkloß besorgter gewesen sein mußte, als er sich hatte anmerken lassen, denn er war sofort aufgestanden und erwartungsvoll von einem Bein aufs andere getreten.
Ursa tauchte auf, und Kits Herz machte einen Sprung, als sie ihr eigenes Pferd hinter ihm hertraben sah. »Cinnamon!« rief sie glücklich und rannte los, um das Pferd ihres Vaters loszubinden und Cinnamon fest zu umarmen. »Wie hast du sie zurückbekommen?« fragte sie Ursa. »Wie – «
Noch während sie diese Frage stellte, nahm Kit einen weiteren Reiter wahr, der gleich hinter Ursa ritt und ein geschecktes Pony hinter sich herzog. Dieser Reiter hatte lange, offene sandfarbene Haare, die mit Federn geschmückt waren, trug eine bemalte Lederweste und ebensolche Armbänder. Am meisten überraschte Kit jedoch, daß es sich bei dem Fremden um eine junge Frau handelte.
Das neue Mitglied der Gruppe sprang graziös vom Pferd. Sie war ziemlich klein und von fast pygmäenhafter Statur, jedoch offensichtlich gelenkig und kräftig. Während sie Kit betrachtete, fingerte sie an dem Dolch in ihrem Gürtel herum.
»War nicht einfach«, prahlte Ursa, der ein meckerndes Gelächter ausstieß, während er sein Pferd abband. »Der Kapitän von dem Schiff, ich glaube, der wollte dein Pferd selbst behalten. Cinnamon wurde erstklassig behandelt. Sie haben sie die ganze Zeit bewacht, und ich konnte kaum in ihre Nähe kommen, ohne Verdacht zu erregen. Immerhin erfuhr ich, daß sie zweimal am Tag an Land gebracht und herumgeführt wurde. Ich hab mir gedacht, daß das Schiff höchstens eine Woche im Hafen liegen würde. Dadurch hatte ich Zeit für einen alten Trick.«
Als er sich zu Kit umwandte, merkte Ursa, daß sie finster die neue Frau anstarrte, welche ihrem Blick kühl begegnete.
»Oh«, sagte Ursa, der seine kleine Überraschung genoß. »Das ist Colo. Sie ist schon ein paar Monate mit Schlaukopf und mir unterwegs. Colo, das ist Kitiara – ich habe dir von ihr erzählt.«
»Mir hast du nichts von Colo erzählt«, sagte Kit verstimmt.
Die andere hielt ihrem Blick wacker stand.
»Colo ist zäh«, warb Ursa, »und eine gute Kämpferin. Frag Trauerkloß.«
Trauerkloß, der sich wieder hingesetzt hatte, murmelte etwas Zustimmendes.
Als Kit diese Information abwog, entspannte sich ihr Gesicht. »Kitiara Uth Matar«, sagte sie und streckte zur Begrüßung die Hand hin.
Colo schlug die Hand aus, musterte Kit noch einmal und lief dann ein paar Schritte fort, wo sie sich mit dem Rücken zum Lagerplatz hinhockte und sich an etwas zu schaffen machte. Als Kit ihr über die Schulter guckte, sah sie, daß die kleine Söldnerin dabei war, einen Becher mit Steinen und Knochen zu werfen, um deren Stellung zu deuten.
»Nicht sehr freundlich«, maulte Kit Ursa an, ohne es allerdings besonders ernst zu meinen. Der Söldner hatte sich auf einen Stein am Feuer gesetzt, das sie und Trauerkloß angezündet hatten. Kit goß sich Tee ein, den sie über den niedrigen Flammen warm gehalten hatten.
»Ist nicht deine Schuld«, sagte Ursa mit gerunzelter Stirn. »Sie ist davon überzeugt, daß wir unter einem schlechten Stern stehen.«
»Wie aufmunternd.«
Ursa fing an, seine Decke auszurollen. »Nur eine Pechsträhne«, sagte er, während sein Mund zu einer harten, dünnen Linie wurde. »Hat vor vier Monaten angefangen, als Radisson umkam und El-Navar verschwand. Seitdem sind wir ständig auf der Flucht. Konnten noch nichts wieder anfangen. Sie glaubt, daß wir verfolgt werden.«
»Verfolgt?« fragte Kit. »Von wem?«
»Wer es auch war, wir haben ihn abgehängt«, prahlte Ursa zuversichtlich. »Wir haben uns im Zickzack bewegt und unsere Spuren verwischt. Jetzt wendet sich das Glück. Schließlich konnte ich Cinnamon befreien, und das ist doch Beweis genug, nicht?«
»Was war denn mit Radisson – und El-Navar?« mußte Kit fragen. »Du hast mir nicht erzählt, was ihnen passiert ist.«
Er setzte sich ihr gegenüber auf einen Felsblock. Kit fiel auf, daß Trauerkloß sein Buch gesenkt hatte und genau zuhörte. Colo achtete nicht auf sie, sondern wandte ihnen immer noch den Rücken zu und befragte ihr Orakel.
»Wir waren vor einem unbedeutenden kleinen Ort auf der anderen Seite des Kanals und dreihundert Meilen südwestlich von hier. Radisson und El-Navar gingen in den Ort, weil sie etwas trinken wollten und« – jetzt beobachtete er Kits Reaktion genau – »weibliche Gesellschaft suchten. Sie gingen in die Taverne ›Doppelmünze‹. Die kennt jeder, ist in der Gegend ein alter Treffpunkt für Reisende. Dort hätten sie sicher sein müssen. Wir waren vierzig Meilen von jedem Feind entfernt, vierzig Meilen weit fort von unserem letzten Auftrag.«
»Aber es hatte Zeichen gegeben«, warf Trauerkloß ernst ein.
Kitiara war so überrascht, den traurigen Söldner mit so fester Stimme reden zu hören, daß ihr beinahe ihre Blechtasse ins Feuer fiel. Ursa, der sich gerade selbst Tee eingoß, nickte bei dem Kommentar.
»Ja. Jemand oder etwas ist uns gefolgt. Ich weiß nicht, wer oder warum. Es waren unbekannte Vögel am Himmel, und bei Nacht gab es merkwürdige Geräusche. Ich hielt es für klüger, Menschen zu meiden und zusammenzubleiben. Aber Radisson wollte los und sich amüsieren, und El-Navar sagte, er wollte mitgehen.« Stirnrunzelnd hielt er inne. »Sie hätten sicher sein müssen. Radisson ist schlauer als die meisten anderen, und El-Navar ist so stark wie ein halbes Dutzend Mann zusammen.«
»Was ist passiert?« fragte Kit drängend.
»Wissen wir nicht.« Trauerkloß schüttelte trübsinnig den Kopf. »Wissen wir nicht.«
»Als sie nicht zurückkamen«, fuhr Ursa fort, »gingen wir in den Ort, um sie zu suchen. Die ›Doppelmünze‹ war dem Erdboden gleichgemacht – völlig zerstört. Es war, als hätte man das Haus entwurzelt, in Stücke gerissen und irgendwohin gesaugt.
Bis auf den Mittelpfosten war alles weg, und von dem baumelte Radissons Körper herunter. Er war nackt. Die Augen waren ihm aus den Höhlen gerissen, und sein Körper war über und über mit tausend kleinen Messerschnitten, Löchern und Zeichen bedeckt.«
»Und El-Navar?« Kit versuchte, ihre Stimme zu beherrschen, während in ihrem Gedächtnis Erinnerungen an den sehnigen Karnuthier aufstiegen. Sie dachte an seine tiefe, einschmeichelnde Stimme, die Schlangenhaare, seine sanfte Berührung, die Kraft des Panthers, die in ihm ruhte.
»Auch weg. Verschwunden. Kein Zeichen für seinen Tod, kein Hinweis, wo er sein könnte. Unsere Colo – «, er zeigte auf die Söldnerin, die mit ihrer Wahrsagerei beschäftigt war, »– ist eine gute Fährtenleserin. Sie konnte nichts finden.«
»Nicht einmal die Leute aus dem Ort konnten uns etwas sagen«, fügte Trauerkloß hinzu. »Sie wollten nicht. Sie hatten zuviel Angst, um zu reden.«
Nach dieser Bemerkung schwiegen sie lange. Ursa starrte in seinen Tee. Trauerkloß stand auf, ging zu seinem Gepäck und richtete seinen Schlafplatz her. Colo warf Ursa einen scharfen Blick zu, ging dann zu ihrem Pferd und schnürte ihre Decke los.
»Wie schon gesagt«, meinte Ursa, ohne auf Colo zu achten, während er einen letzten Schluck Tee trank und den Rest auf den Boden schüttete, »unser Glück wendet sich. Wir hatten seit Wochen keine Schwierigkeiten mehr, und jetzt sind wir auf dich gestoßen.« Er grinste Kitiara auf altvertraute Art an. »Ein bißchen gewachsen und noch kampferfahrener, als ich mich erinnere.«
Sie erwiderte das Grinsen unwillkürlich.
»Wird gut sein, wieder zusammenzuarbeiten«, endete er.
»Was ist das für ein Auftrag, von dem du geredet hast?«
»Keine große Arbeit, aber sehr einträglich. Ungefähr vierzig Meilen nördlich von hier versetzt ein Slig eine Gemeinde in Angst und Schrecken. Der Ort heißt Kimmel.«
»Was ist denn ein Slig?« fragte Kit.
»Oh«, Ursa lachte. »Ein Slig ist eine besondere Erfahrung. Wirst du schon früh genug herausfinden. Hier« – er stieß ein paar Zweige und Äste ins Feuer – »du übernimmst die erste Wache. Weck mich zum Ablösen.«
Sie registrierte, daß er sich in die Nähe von Colo legte, die bereits schlief.
Eineinhalb Tage lang ritten sie nordwärts durch hügeliges Gelände, wobei sie immer der hingekritzelten Wegbeschreibung folgten, die Ursa in der Tasche hatte und die er hin und wieder befragte. Sie ritten über Nebenstraßen und schlammige Wege, bis sie am Abend des zweiten Tages auf einen Fluß mit starker Strömung trafen, dem sie flußaufwärts zu einem kleinen Bauernhof folgten, der nach der herrschenden Familie, den Kimmels, benannt war.
Die Spätherbsttage waren stürmisch, und die Nächte in dieser Höhe zunehmend kälter. Doch das Wetter blieb trocken, und Kit gefiel es, daß der nahende Winter in der Luft lag.
Merkwürdigerweise gefiel es ihr auch, wieder mit Ursa und Trauerkloß zusammenzusein, wie sie zugeben mußte. Ursa hatte sein großspuriges Auftreten wiedergewonnen, und sie hatte Spaß daran, wie er mit seinen Taten prahlte. Trauerkloß mit seinen langen, unergründlichen Schweigezeiten erinnerte sie an den armen, sprachlosen Stratke. Er war auch ebenso zugänglich geworden. Kit wunderte sich, was wohl aus El-Navar geworden war, doch sie konnte keinen ihrer alten Partner dazu bringen, mehr über den Karnuthier zu erzählen.
Colo war komisch – in mancher Hinsicht kriegerisch und männlich, in anderer schelmisch und weiblich. Sie schien nichts gegen Kitiara zu haben. Am ersten Abend an der Straße gab sie am Feuer einen wilden Tanz zum besten, bei dem sich alle vor Lachen die Seiten hielten. Sie ritt immer voran, denn ihre Augen konnten sehr weit sehen, behauptete Ursa.
Der Ort, den sie schließlich erreichten, war weniger eine Stadt als vielmehr eine Reihe Berggehöfte, die auf der Suche nach Gemeinschaft und Schutz aneinandergebaut worden waren. Die Einheimischen hatten ihre Ersparnisse zusammengelegt, um Söldner anzuheuern, die einen Slig erlegen sollten, der die Gegend heimsuchte, Essen stahl und nachts die Frauen erschreckte. Ein paar Bürger hatten versucht, den Slig zu bekämpfen, doch es handelte sich um ein wildes, durchtriebenes Biest, das sich von seinem Stamm getrennt hatte. Er war schwer zu verfolgen und noch schwerer in die Enge zu treiben.
In Vocalion hatte Ursa gehört, daß sich die guten Leute von Kimmel zusammengetan hätten und eine ordentliche Summe zahlen wollten, wenn jemand die Kreatur nachweislich erlegte.
Eine Stunde lang saßen die Söldner mit Vertretern der Bürgerschaft zusammen, die von ihrem Wachtmeister angeführt wurden, einem dummen Feigling, dem es offenbar darauf ankam, die Verantwortung für dieses Problem auf jemand anderen abzuwälzen. Ursa legte seine Empfehlungsschreiben vor, woraufhin sie ihm ihrerseits die Höhe der Belohnung bestätigten. Der ungefähre Aufenthaltsort des Quälgeists war gut bekannt. Der Slig wohnte irgendwo in den Sandsteinklippen am Flußufer in der Nähe des Waldrands.
In dieser Nacht campierten Ursa und die anderen wie gewöhnlich abseits der Stadt.
Ursa war in Stimmung wie einst Gregor. Am Lagerfeuer erzählte er Geschichten aus der Zeit, in der er mit einer Kompanie aufrechter Ritter von Solamnia herumgezogen war und so getan hatte, als wäre er einer von ihnen, bis man ihn wegen Sauferei und Frauengeschichten aus dem Regiment geworfen hatte. Wie bei den meisten Geschichten von ihm, konnte man sich nicht sicher sein, ob sie wirklich stimmte oder nicht, doch Kit, Colo und Trauerkloß hatten einiges zu lachen.
Sie legten sich früh schlafen. Colo verschwand in der Dunkelheit, um die erste Wache zu übernehmen. Seite an Seite auf ihren Decken liegend, blieben Ursa und Kit noch wach und teilten sich einen Krug Met aus dem Ort, den die dankbaren Bürger von Kimmel gestiftet hatten.
»Sligs sind hartgesottene Verwandte der Hobgoblins«, erzählte Ursa Kit als Vorbereitung auf den morgigen Tag. »Geh unbedingt immer dem giftigen Speichel aus dem Weg. Der Speichel bringt dich nicht um, aber er verbrennt dir die Haut, so daß du dir wünschst, du wärst tot. Bei Tag sehen sie schlecht, aber bei Nacht oder in Höhlen zielen sie gut.«
Irgendwann war der Krug leer. Der betrunkene Ursa legte größten Wert darauf, Kit zu erklären, daß die Beute für das Erlegen des Sligs gerecht geteilt werden würde – vierhundert Goldstücke, also hundert für jeden. Er tat sein Bestes, seinen einstigen Betrug wiedergutzumachen.
Die Kälte hier oben war schlimm. Kit folgte Ursas Beispiel und zog sich die Decke über die Ohren. Als sie einschlief, wußte Kit, obwohl sie nur seine Augen sehen konnte, daß Ursa sie mit einem frechen Lächeln auf den Lippen beobachtete. Sein schiefes Lächeln war ihrem eigenen gar nicht unähnlich.
Am Nachmittag des folgenden Tages belauerten sie den Slig von einem Hochsitz am Waldrand aus. Colo hatte seine Spuren gefunden und ihn seit dem späten Vormittag verfolgt. Kit hatte so etwas noch nie gesehen. Der Slig war sechs Fuß groß, hatte tief orangefarbene, verhornte Haut, einen Stummelschwanz, große, spitze Ohren und eine lange, dünne Schnauze mit gemeinen Fangzähnen.
Ursa hatte recht. Die Augen des Sligs waren nutzlose, schmale Schlitze, und er hatte wenig Lust zu kämpfen, wenn die Sonne am Himmel stand. Der Slig wich ihnen möglichst aus.
Zu Pferde konnten sie dem Slig in dieser dicht bewaldeten Gegend schlecht folgen. Daher suchten die vier sich einen Platz, wo sie die Tiere anbanden, um dann zu Fuß weiterzulaufen. Der Slig schien mit ihnen zu spielen, denn sein Weg führte zwischen Felsen und Bäumen hindurch, und er war immer gerade so weit voraus, daß einer von ihnen aufholen konnte, ehe er sich umdrehte, um den vordersten Verfolger anzugreifen.
Colo war die Hurtigste von den vieren, und sie stürmte vor, sprang über Büsche und brach durchs Dickicht, immer dem Slig auf den Fersen. Sie trug einen Speer, den sie erst an diesem Morgen hergestellt hatte, indem sie ihr bestes Messer an einen Stab gebunden hatte. So einfach er war, konnte dieser Speer vielleicht wirklich die Haut des Sligs durchstoßen. Aber zuerst mußte Colo zum Werfen nah genug herankommen.
Als sie auf einem kleinen Hügel stehenblieb, um Luft zu holen, drehte sie sich zu den anderen um. Ursa und Kit waren nur Minuten hinter ihr; Trauerkloß machte mühsam das Schlußlicht.
Kitiara trug Becks Schwert. Als Ursa die Waffe erkannt hatte, die Kit am Morgen herausgeholt hatte, hatten sie ein verschwörerisches Lächeln getauscht.
»Schneller!« rief Colo. Doch gerade als sie sie sahen, drehte sich die kleine Kriegerin um und schien vornüber zu taumeln. Sie hörten sie schreien und schimpfen, konnten sie aber nicht mehr sehen. Kit erreichte die Anhöhe zuerst, doch zum Glück war Ursa ihr dicht auf den Fersen und konnte sie gerade noch davor bewahren, ebenfalls in die Fallgrube auf der anderen Seite zu rutschen.
Als sie hinunterschauten, sahen sie Colo am Boden eines schleimigen, rechtwinkligen Lochs, das fünfzehn bis zwanzig Fuß tief sein mußte. Sie stand auf den Beinen und blickte voller Wut zu ihnen hinauf.
»Alles in Ordnung?« rief Ursa.
»Nichts gebrochen«, schrie sie zurück. »Aber der Boden dieser Fallgrube wimmelt vor Eidechsen, die vielleicht giftig sind. Ein paar habe ich getötet, und die anderen halten sich im Moment zurück, aber ich weiß nicht, wie lange noch. Holt mich hier raus!«
Kitiara sah geradeaus, wo sie nicht weit entfernt den Slig entdeckte, der sie beobachtete. Das Untier machte sein Riesenmaul auf und gab ein komisches, langgezogenes, schluckaufähnliches Brüllen von sich, bevor es sich umdrehte, um davonzuspringen.
»Er lacht«, sagte Ursa, der Kit an der Schulter berührte. »Mit dieser Fallgrube hat er uns einen Streich gespielt. Natürlich«, fügte er nüchterner hinzu, »würde er zurückkehren, um sie später zu fressen. Gut.« Er blickte auf. »Schlaukopf.«
Trauerkloß war angekommen und stand mit den Händen in den Hüften da, um die Situation einzuschätzen. Er hatte ein festes Seil dabei, das er schnell zum Boden der Fallgrube herunterließ. Colo griff eilig danach und wurde von den anderen mit vereinten Kräften nach oben gezogen. Als sie schließlich oben ankam, war sie mit Matsch und einem dicken gelben Schleim bedeckt.
Während sie ihre eigene Dummheit verfluchte, spritzte sie Wasser aus ihrer Feldflasche über ihren Kopf und wischte sich mit Stoffetzen ab, die sie von ihrem Mantel abriß. Die anderen warteten, bis Colo sich von dem Schleim befreit hatte.
»Hätte schlimmer sein können«, verkündete Ursa mit weiser Miene. »Sligs graben bekanntlich Fallgruben, die bis zu fünfzig Fuß tief sind, und im Boden stecken manchmal angespitzte Stöcke. Ich finde, du hast Glück gehabt.«
»Komisch«, sagte Colo, die einigermaßen fertig war, »aber das finde ich gar nicht.«
Die anderen bissen sich auf die Zunge, um bei Colos Anblick nicht zu lachen, denn sie wußten, daß die Fährtensucherin das überhaupt nicht witzig fand. Sie hatten kostbare Minuten verloren, und von dem Slig war nichts mehr zu sehen. Doch Colo hatte die Spur bald wieder gefunden, und bald waren die vier ihm wieder dicht auf den Fersen. Diesmal gaben sie besser acht und wichen den Fallgruben aus, die sich hin und wieder vor ihnen auf taten und mit Schlingpflanzen und Gras getarnt waren.
Gegen Abend hatten sie den Slig mit ihrer pausenlosen Verfolgung müde gehetzt, und das Monster hatte genau das getan, was sie gehofft hatten, nämlich sich in seinen Bau zurückgezogen, eine Höhle im Sandstein hinter einem Wasserfall. Dort drin war das Licht schwach, und der Slig fühlte sich hier zweifellos unbesiegbar. Er hockte da, starrte durch den Wasservorhang und brüllte trotzig, als sich die vier Söldner unten versammelten.
Ursa hatte einen Plan. Er hatte ein Bündel pechgetränkter Zweige mitgebracht, die er jetzt Colo und Trauerkloß aushändigte. Dann kündigte er an, daß sie den Slig mit hellem Feuer ablenken sollten, während er und Kitiara versuchen würden, auf das Monster loszuspringen und es umzubringen.
»Wieso Kitiara?« beschwerte sich Colo. »Ich bin schon länger bei euch als sie. Ich habe mehr Erfahrung.«
Kit wollte etwas zu ihrer Verteidigung anbringen, doch Ursa meinte scharf: »Du bist zu schlecht mit dem Schwert. Sie ist besser. Nur darum habe ich sie ausgesucht. Nimm deinen Speer mit. Du bist weiter weg und hast vielleicht eine Chance, ihn zu werfen.«
Kit konnte ein stolzes Grinsen nicht unterdrücken. Ursa wollte schon losgehen, doch dann fiel ihm etwas ein. »Denkt dran, worüber wir geredet haben«, erinnerte er sie alle. »Sligs sind intelligent. Der da wird uns zuhören, wenn wir angreifen, und versuchen, unsere Strategie zu durchschauen. Redet so wenig wie möglich miteinander. Redet lieber direkt mit dem Slig. Lenkt ihn durch Worte ab. Verwirrt ihn durch Sprechen.«
Kit war doch beeindruckt von Colos Mut, als die Söldnerin die Klippe neben dem Wasserfall hochkletterte und gefährlich nah an den Höhleneingang herankroch, wobei sie einen brennenden Ast vor sich hielt. Sie stieß damit in das dunkle Loch. Der Slig sprang brüllend auf sie los, griff das Feuer jedoch nicht an. Bald zog er sich tiefer in die Höhle zurück.
Der stets vorsichtige Trauerkloß stand auf der anderen Seite der Öffnung auf einem Felsvorsprung. Auch er schwang seine Fackel hin und her, wobei er ununterbrochen schrie und sang, um die Aufmerksamkeit des Monsters auf sich zu ziehen.
Nachdem der Slig abgelenkt war, schlugen Kit und Ursa unauffällig einen Bogen, bis sie halsbrecherisch an den glitschigen Felsen über dem Höhleneingang hingen. Auf ein Zeichen sprangen sie hinein. Der Slig warf sich auf sie, schmiß Ursa um und riß ihm die Schulter auf. Ursas Schwert fiel hin, doch es gelang ihm, aufzuspringen und es aufzuheben, bevor er an die Seite der Höhle eilte. Kit hatte sich an die andere Seite zurückgezogen, wo sie mit dem Rücken zur Wand stand.
Der Slig stand zwischen ihnen, und seine schlitzartigen Augen gingen nervös hin und her. Ihm machten auch noch die beiden Menschen am Höhleneingang zu schaffen, die Feuerstöcke schwenkten und auf ihn einbrüllten. Die Höhle war verräuchert, was das Atmen erschwerte.
»Ursa!« rief Kit besorgt.
»Es geht mir gut!« schrie er. Ursa arbeitete sich langsam zur Rückseite der Höhle vor, hinter den Slig.
»Sket migutt!« kreischte der Slig. »Sket migutt!«
Er macht Ursas Worte nach, dachte Kit, während sie lossprang und mit Becks Schwert angriff.
Als sie das tat, sprang der Slig geschickt zur Seite, so daß Kit seitwärts stechen und dann weit zurückweichen mußte. Jetzt konnte sie Ursa nicht mehr sehen, der weit hinten im Dunkel der Höhle verschwunden war. Colo war inzwischen auf Händen und Knien weitergekrochen, wobei sie ihre brennende Fackel hochhielt.
Der Slig warf der Pfadfinderin einen verächtlichen Blick zu und konzentrierte sich dann ganz auf Kitiara. Seine Augen fixierten sie, und sie sah gebannt in seine fiebrig weißen Pupillen. Kit hielt drohend ihr Schwert hoch, fragte sich aber dabei, ob sie im Zweifelsfall überhaupt ihre Beine bewegen konnte.
Trauerkloß stieß einen Wortschwall aus, woraufhin das Gesicht des Sligs zuckte. Er war kurzfristig abgelenkt. Doch ehe Kit zu sich kommen konnte, hatte der Slig sich wieder umgedreht und bannte sie wieder mit seinem schwefligen Blick.
»Paß auf!« hörte Kit gerade noch, bevor sie von Colo umgeworfen wurde. Als Kit zur Seite rollte, merkte sie, daß der Slig einen Schwall seines giftigen Speichels auf sie gespuckt hatte. Doch statt dessen hatte er Colo getroffen, die Kit aus dem Weg gestoßen hatte. Jetzt brüllte die Pfadfinderin vor Schmerzen und wälzte sich auf dem Sandboden der Höhle.
Nachdem Kit mühsam auf die Beine gekommen war, hatte sie gerade noch Zeit, Colos Lage zu begreifen, bevor der Slig angriff. Er holte einmal mit seinem großen Arm mit den hakenartigen Klauen aus und warf sie um. Im Fallen ließ Kit ihr Schwert los, das von ihr fortrutschte.
Als der Slig auf die hilflose Kit zusprang, blieb er plötzlich stehen und stieß ein gräßliches Jaulen aus. Auf der Stelle fuhr er herum, und beim Davonkriechen sah Kit, daß sein kurzer Schwanz abgeschlagen war und auf dem Boden zuckte. Der Slig hüpfte auf Händen und Füßen herum und kreischte vor Qual.
Ursa tanzte vor ihm herum und stieß mit dem Schwert nach dem Untier. Er hatte die braunen Haare nach hinten geworfen, und seine dunklen Augen glänzten vor Entschlossenheit.
Trauerkloß, der auf den Sims zur Höhle geschlüpft war, trat vor und warf ein schweres Netz über das Monster.
Der Slig warf den Kopf zurück, brüllte wütend und versuchte, das Netz abzuschütteln. Sofort wich Trauerkloß zurück, um sich an den Sims zu klammern. Ohne seinen Schwanz schien der Slig das Gleichgewicht nicht richtig halten zu können, deshalb torkelte er auf Ursa zu, wobei er vergeblich, aber mit Wucht mit seinen dicken, muskulösen Armen ausholte.
Kit warf einen Blick zu Colo, die zitternd und stöhnend auf dem Boden kauerte. Da war nicht viel zu machen, nicht jetzt. Kitiara huschte zu ihrem Schwert, das auf der Erde lag, und konnte es aufheben.
Ursa war nicht zurückgewichen, und Kit war von seiner Kraft, seinem Mut und seiner Entschlossenheit beeindruckt. Der Slig griff den Söldnerführer wütend an, doch Ursa ließ nicht locker. Dann stolperte der Slig, und Ursa sprang hin und stieß ihm das Schwert tief in die Seite. Eine schwarze Flüssigkeit strömte heraus.
Der Slig fuhr tobend herum und schlug Ursa ins Gesicht, doch der Söldner ließ sein Schwert nicht los und stieß es mit übermenschlicher Anstrengung noch tiefer hinein. Zugleich kam Kit von hinten herangesprungen, um dem Slig ihre eigene Waffe tief ins rechte Bein zu stoßen. Augenblicklich zog sie das Schwert wieder heraus und rammte es dem Untier dann in den Leib.
Der Slig fuhr so abrupt zurück, daß Kitiara loslassen mußte. Er geriet ins Taumeln und fiel vornüber, wobei er Ursa umriß und auf sein rechtes Bein kippte. Trauerkloß stürzte los und half Kit, ihren Anführer unter dem toten Slig herauszuziehen.
Einen Augenblick später setzte sich Ursa mit zaghaftem Lächeln auf dem Gesicht auf. Über seinen Schultern zog sich ein blutiger Riß, und sein Gesicht war zerschlagen und zerkratzt. Doch er konnte sein Bein ohne allzu große Schmerzen anwinkeln und auch stehen.
Auf der anderen Seite der Höhle kümmerte sich Trauerkloß bereits um Colo. Er hatte ihr die Kleider heruntergerissen und rieb ihren Körper mit einer seiner Tinkturen ab. Ihr Stöhnen hatte aufgehört, doch hin und wieder schrie sie vor Schmerz auf. Das Wälzen auf dem Boden war nicht nur ein Reflex gewesen, sondern Colo hatte dadurch die Wirkung des Speichels verlangsamt. Von Ursa wußte Kit, daß das Gift eines Sligs wie ein ganzer Bienenschwarm stach, doch wenn man es schnell behandelte, konnte man die Wirkung abschwächen.
Der häßliche Slig lag verrenkt und regungslos in einer dunklen Pfütze aus fauligem Blut, dessen Gestank Kit in die Nase stieg. Als sie ihn betrachtete, fragte sie etwas außer Atem: »Was jetzt?«
»Wir schlagen ihm den Kopf ab, um zu beweisen, daß wir ihn getötet haben«, sagte Ursa.
Sie und Ursa machten sich mit ihren Schwertern an die Arbeit. Sie hatten einiges zu tun, denn die orangefarbenen Schuppen des Sligs und seine dicken Halsmuskeln waren so hart wie Stein. Nur daß aus diesem speziellen Stein eine stinkende schwarze Masse Blut und Innereien quollen.
Nachdem Ursa sich dieser grausigen Arbeit eine Weile gewidmet hatte, stand er müde auf. Der Auftrag war erfüllt. Er hatte ein Seil um den Kopf des Sligs gebunden, damit sie ihn aus der Höhle herunterlassen konnten und die schwere, triefende Trophäe nicht tragen mußten.
Kit ging zu Colo, die auf einem Stein saß. Ihre Haut war überall gerötet und hatte Blasen geworfen, und bis auf die Salbe und die Decke, die Trauerkloß ihr locker umgelegt hatte, war sie nackt.
»Danke«, sagte Kit verlegen. »Wenn du nicht gewesen wärst…«
Ursa kam ebenfalls an und grinste Colo an. »In ein paar Stunden läßt der Schmerz nach«, sagte er und fügte hinzu: »Falls Schlaukopf seine Sache versteht.«
Selbst unter diesen widrigen Umständen staunte Kit über Colos geschmeidige, sinnliche Gestalt. Die Söldnerin heuchelte keinen falschen Anstand. Colo zog die Decke unter ihren Blicken kein bißchen enger. Mißmutig sah sie zu ihnen hoch und wandte ihr verstimmtes Gesicht Ursa zu.
»Schleim und Spucke«, murmelte sie fluchend. »Das war nicht mein Tag.«Sie zimmerten einen einfachen Flaschenzug zurecht, mit dem sie den blutigen Kopf des Sligs – so groß und schwer wie ein Felsblock – auf den Boden unterhalb des Wasserfalls hinabließen. Das dauerte seine Zeit. Inzwischen war die Dämmerung vorüber, und die Nacht senkte sich rasch über sie. Ursa zerrte den Kopf des Sligs ein paar hundert Fuß weit auf eine kleine Lichtung, wo er das Seil hinwarf.
»Wir können genausogut hier lagern«, sagte der Söldner, während er sich kläglich die Wunde an seiner Schulter rieb.
»Und die Pferde?« fragte Colo, die immer noch in die Decke gehüllt war.
»Ich hole sie«, sagte Trauerkloß und brach in die Richtung auf, aus der sie gekommen waren.
»Ich helfe dir«, bot Kit an und wollte ihm folgen.
Trauerkloß winkte ab und verschwand im dunklen Wald.
»Der kommt schon zurecht«, sagte Ursa.
»Was machen wir mit, hm, dem Ding da?« fragte Kit, die mit dem Finger auf den scheußlichen Kopf des Sligs zeigte.
»Ach«, sagte Ursa, »der läuft uns nicht weg.« Mit Anstrengung hob er die blutige Trophäe hoch und steckte sie auf das Ende eines kurzen, dicken Astes, der aus einem Baum herausragte. Da baumelte sie ziemlich schief wie eine groteske Kürbismaske.
»Davon bekommen die Eulen Alpträume«, sagte Colo und schüttelte sich.
»Hält auf jeden Fall die Krähen ab«, grinste Kit.
Ursa lachte lauthals. Nach dem erfolgreichen Kampf waren sie alle aufgedreht. Ursa pfiff ein Lied, während er seine Schulter verband. Danach machte er Feuer. Colo ging es schon besser. Sie bestand darauf, sich etwas anzuziehen und die Umgebung nach etwas Eßbarem zu durchforsten. Die wilden Beeren, die sie dabei fand, ergänzten die Fleischstreifen, die Ursa mitgebracht hatte.
Nach dem Essen begannen sie, ihre Schwerter zu putzen. Colo suchte mehr Salbe, wozu sie im Gepäck von Trauerkloß herumkramte, das dieser zurückgelassen hatte. Kitiara hatte ihr Schwert gerade fertig poliert und war dabei, es in ein paar große, trockene Blätter einzuwickeln, als Ursa leise bemerkte: »Ich frage mich, wo Schlaukopf bleibt. Er ist schon ziemlich lange fort.«
Bevor einer von ihnen etwas entgegnen konnte, erklang eine Stimme aus dem Wald, und sie hörten um sich herum verstohlene Geräusche.
»Bleibt, wo ihr seid«, sagte die Stimme.
Kit merkte, daß von den Rändern her ein naßkalter Nebel in die Lichtung eingedrungen war, der sich aufblähte und zunahm. Aus diesem Nebel trat ein Dutzend Männer, zwei oder drei in gewöhnlichen Tunikas, die anderen von Kopf bis Fuß bestens gerüstet. Die Männer sagten nichts, sondern standen nur da und verlagerten hin und wieder ihr Gewicht. Die Rüstungen bestanden aus flachen Helmen mit kleinen Augenschlitzen und Luftlöchern. Die Kämpfer waren mit einem ganzen Arsenal von Waffen beladen, einschließlich verzierten Streitkolben und Streitäxten, dazu einfache Armbrüste, Schilde, Dolche und Schwerter.
Ursa versuchte, zu seinem Schwert zu gelangen, das an einem Felsen lehnte, doch daraufhin kamen mehrere Netze aus dem Nebel geflogen, die ihn einwickelten. Sie fielen so engmaschig über ihn, daß er das Gleichgewicht verlor und hinfiel.
Zwei der Männer in Rüstung traten klirrend vor und nahmen Ursa in die Mitte. Er konnte sich kaum bewegen, geschweige denn einen Kampf anzetteln. Kit kämpfte heftig gegen den Drang an, ihm irgendwie zu helfen. Bevor man ihn mit einem Lederriemen knebelte, gelang Ursa der Ausruf: »Vergeßt mich! Bringt euch in Sicherheit!« Sein Gesicht war angespannt und weiß vor Angst.
Zwei von den übrigen Männern marschierten los, griffen sich Kitiara und Colo und fesselten sie Rücken an Rücken aneinander. Colo wehrte sich und trat um sich, doch das brachte ihr nur einen kräftigen Schlag in die Seite ein. Kits Gedanken überschlugen sich, während sie versuchte, ihren Kopf klar zu bekommen – wer waren diese neuen Gegner? Was konnte sie tun, um sich zu befreien?
Die Wache, die Kit am nächsten stand, war so vollständig in Metall gehüllt, daß sie nicht feststellen konnte, ob unter der Rüstung ein Mensch oder ein Geist steckte. Der, der Colo bewachte, hatte keine Rüstung. Er sah ganz gewöhnlich aus – ein kräftiger, bärtiger Bauer mit vernarbtem Gesicht und finsteren Augen.
Jetzt sah Kit, daß drei weitere Männer aus dem Nebel getreten waren, um sich der ersten Gruppe anzuschließen. Sie erkannte, daß es sich um die Anführer dieses Überfalls handelte. Zwei waren Elfen – oder Halbelfen, wie Kit aus ihrer Körperhaltung schloß –, der dritte war ein Magier in schwarzer Robe, der abseits stand. Seine Augen glänzten vor Konzentration, seine Lippen bewegten sich, die Hände flatterten.
»Nein. Bindet die Schwarzhaarige los. Die kommt mit uns«, sagte einer von den Elfen, wobei er auf Kitiara zeigte. »Bringt die andere um.«
»Aus welchem Grund?« fragte der andere Elf.
»Sie hat das Schwert«, sagte der erste Elf. »Darüber soll sie Rede und Antwort stehen.«
Er trat vor und suchte mit den Augen die Lichtung ab. Becks Schwert, das sie gerade in frische Blätter gewickelt hatte, lag Kit zu Füßen. In der Dunkelheit war es gut getarnt. Der Elf kam stirnrunzelnd einen Schritt näher, sah es jedoch nicht.
Kit konnte ihn genauer ansehen. Es war der Dunkelelf, der sie an Bord der Silberhecht beobachtet hatte. Irgendwie hatte er ihre Spur aufgenommen und war ihr gefolgt. Aber weshalb?
»Wir müssen es finden«, sagte der Dunkelelf nervös.
Der Nebel, der sie umgab, war jetzt so dick, daß Kit kaum weiter als ein Dutzend Schritte sehen konnte. Sie konnte Ursas Stöhnen hören, als dieser hochgezerrt wurde. Colo flüsterte hinter ihr:
»Mach dich bereit!«
Bereit wozu?
Der Bauer, der Colo bewachte, zog seinen gebogenen Dolch.
Der Nebel war beinahe erstickend. Aber zusätzlich begann er zu pulsieren und immer schneller zu wirbeln, wodurch ein Wind entstand, der in atemberaubendem Tempo blies. Ein tiefer, fast heulender Ton wurde zu Getöse und dann zu ohrenbetäubendem Brüllen. Ein so fürchterliches Brüllen, daß Kits einziger Gedanke nicht der Flucht galt, sondern dem Wunsch, ihre Hände zu befreien, damit sie sich die Ohren zuhalten konnte. Blätter und Äste rissen ab und flogen an ihr vorbei. Staub und Steinchen schlugen ihr ins Gesicht.
Dennoch vernahm sie merkwürdigerweise noch das gedämpfte Murmeln des Zauberers.
Kit merkte, wie die Gewalt eines starken Sogs ihre Füße vom Boden hob. Irgendwer stöhnte auf, dann hörte sie einen Körper auf den Boden fallen. »Jetzt!« schrie Colo ihr ins Ohr.
Ganz plötzlich war Kit frei. Sie bückte sich, um nach ihrem Schwert zu tasten, fand es und wollte dorthin, wo Ursa zuletzt gewesen war, den Kit nicht mehr sehen konnte. Der Wirbelsturm riß ihr die Füße fort, und sie kam flach auf dem Boden zu liegen. Colo packte Kit von hinten und hielt sie unten, als diese wieder aufstehen wollte.
»Sei nicht blöd!« schrie Colo ihr ins Ohr, um das Brüllen zu übertönen. »Bleib unten. Wälz dich so schnell wie möglich hier lang!«
Kitiara konnte die Söldnerin vor sich kaum erkennen, die sich wälzend, kriechend und schlängelnd nach rechts schob.
Auf einmal explodierte der Mahlstrom zu voller Kraft und sog alles in sich hinein. Obwohl Kit versuchte, Colo zu folgen, wurde sie auf die Lichtung zurück und – noch schlimmer – nach oben gezogen. Ihre Finger krallten sich in die Erde. Vergeblich. Alles mögliche fegte an ihr vorbei nach oben – Waffen und Pferde und um sich schlagende Körper.
Der Kopf des Sligs.
»Halt dich fest!« gellte Colos Stimme in ihren Ohren.
Die zierliche Kriegerin hatte sich in einen schmalen Graben geworfen, wo sie sich mit einem Arm an einer dicken Wurzel festhielt. Mit der anderen Hand ergriff sie Kits Knöchel. Die Macht des Orkans war so gewaltig, daß die Körper der beiden Frauen zu einer geraden Linie auseinandergezogen wurden.
Kit hörte überall um sich herum Männer schreien. Sie mußte die Augen schließen, weil so viel Dreck und Staub herumwirbelte. Nur unter schmerzhaftem Keuchen gelang es ihr, überhaupt Atem zu holen. Aber die ganze Zeit fühlte sie Colos festen Griff um ihren Knöchel.
Ein Stein wirbelte hoch und traf Kitiara genau an der Schläfe. Sie wurde ohnmächtig. Das letzte, was sie hörte – oder zu hören glaubte –, war eine gewaltige Explosion.