Das Meer hatte im Sturm alle Farbe verloren. Die Wellen sahen schwarz aus, als sie wieder und wieder über Kitiara hinwegklatschten. Sie kämpfte darum, den Kopf über Wasser zu halten. Ihre Arme schwammen, bis sie taub waren.
Die Stunden vergingen.
Da Kit von dem Schwert auf ihrem Rücken heruntergedrückt wurde, konnte sie kaum die Kraft aufbringen, mit den Beinen zu treten. Ihr ganzer Körper schien vom Wasser heruntergezogen zu werden. Kit hatte so viel Salzwasser geschluckt, daß sie heftig zu würgen begann, als die Wellen – nicht zum erstenmal in dieser Nacht – über ihr zusammenschlugen.
Zum Glück war es Kit gelungen, sich an einem kleinen Holzfaß festzuklammern, das im Wasser an ihr vorbeigetrieben war, und dessen Auftrieb das einzige war, was sie jetzt noch über Wasser hielt. Das und ihre Entschlossenheit, es nicht loszulassen.
Der Sturm tobte viel länger, als Kit geschätzt hatte, bevor sie von Bord gesprungen war. Das Schiff hatte sie längst aus den Augen verloren, doch sie hatte keine Ahnung, ob sie immer noch auf die Küste zuhielt und wie weit die Küste überhaupt entfernt war. Obwohl der Sturm nachgelassen hatte, zeigte sich am wolkenverhangenen Himmel noch kein Schimmer der Morgendämmerung.
Kits Gesicht ruhte am rauhen Holz des Fasses. Ihre Zunge war so geschwollen, daß sie sich doppelt so groß anfühlte wie normal, und das in einem völlig ausgedörrten Mund. Ihre Lippen waren mit Salzkrusten überzogen. Eine unwiderstehliche Müdigkeit überkam sie. Kit fielen die Augen zu. Ihr war alles egal.
Augenblicklich begannen sich Bilder vom Krystallmirsee in ihrem Kopf zu formen. Wie seine Oberfläche im Sonnenlicht glitzerte, wie die Wellen am Ufer leckten, ein schöner, friedlicher Tag…
Hundert Nadelstiche schreckten sie auf. Ihr Bein tat entsetzlich weh. Etwas griff sie an. Kit konnte kaum etwas im Wasser erkennen, doch sie biß die Zähne zusammen und trat heftig nach dem unbekannten Wesen.
Sie traf etwas Kaltes, Schleimiges. Als sie sich herumwarf, konnte sie vage eine silbrigweiße, gelatineartige Masse erkennen, die an die Oberfläche gekommen war.
Noch während sie das Ding anstarrte – es war zwei Armspannen breit und eine hoch –, kam es näher. Da sie abgelenkt war, konnten ihr weitere Nadeln über den Rücken kratzen. Sie trat wieder heftig aus und sah zwei längliche Umrisse, rotbraun mit schokoladenbraunen Tupfen, die sich unter Wasser rasch von ihr fortbewegten.
Da wurde ihr klar, daß sie es mit einer Riesenqualle zu tun hatte, die von zwei Wächteraalen begleitet wurde. Sie wollten Kit zum Frühstück verspeisen!
Entsetzt starrte sie die schwabbelige Qualle an, die ein paar Fuß entfernt lauerte. Zwei milchige, kugelige Augen auf Fühlern ragten vor dem Tier hoch. Die Fühler tasteten sich nach vorn, während der knollenförmige Körper im Wasser trieb.
Kit sah zu, wie die Aale auf beiden Seiten des schimmernden Riesentiers genau auf sie zuschossen. Lurie hatte Kit von diesen Wächteraalen erzählt, die häufig in Gesellschaft von Quallen lebten. Ihre Aufgabe bestand darin, den Quallen die Beute in ihre unzähligen Tentakel zu treiben, indem sie sie gnadenlos angriffen und mit ihren Unmengen von winzigen, rasiermesserscharfen Zähnen zubissen.
Diesmal ließ Kit bei dem Angriff vor Schmerz fast das Faß los. Die Aale hatten sich um ihr eines Bein gewickelt und zogen sie nach unten. Kit wehrte sich mit aller Macht, doch um sie herum drehte sich alles, so brannte der Schmerz. Als sie endlich wieder klar denken konnte, war die Qualle über ihr. Sie türmte sich vor ihr auf, bedeckte sie völlig, saugte sie zu ihrem weichen, tiefroten Maul hin.
Kit ließ das Faß los und tauchte, so tief sie sich traute, unter der Tentakelmasse weg. Als ihr fast die Lungen platzten, kam sie hinter ihr hoch.
Die beiden Aale griffen immer noch ihr Bein an, doch sie hatte einen Augenblick Zeit, hinzugreifen und einen von ihnen abzureißen. Er wand sich in ihrem Griff, um seine winzigen Zahnreihen in ihren Arm zu graben, doch sie hob den Aal aus dem Wasser, nahm alle Kräfte zusammen, schlang ihn zu einem Knoten und riß ihn entzwei. Die zwei Teile zuckten blutspritzend im Wasser.
Kaum hatte Kit das getan, da löste sich der andere Aal von ihrem Bein und schwamm hin, um seinen Kollegen zu fressen.
Sie hatte keine Zeit, sich zu gratulieren. Die Riesenqualle griff erneut an. Diesmal wickelte sie ihr die Tentakel um Beine und Rücken, um sie zu vergiften. Das Schwert war nutzlos, denn im Wasser kam Kit nicht heran. Und das Gewicht der Qualle zog sie nach unten, während das Gift sie benebelte.
Einer der Fühler glitt suchend vor ihren Augen vorbei. Verzweifelt griff sie zu und konnte einen der milchigen Augäpfel des Wesens erwischen. Der Fühler zuckte wie wild. Kitiara wurde vor Schmerz durchgeschüttelt, doch es gelang ihr, die Faust um den Augapfel zuzudrücken.
Das weiche, schwammige Ding platzte in ihrer Hand, und Blut und Schleim spritzten ins Wasser. Im gleichen Moment zuckte das Tier zusammen, denn seine Kraft ließ nach. Bevor Kit wußte, wie ihr geschah, hatte sich das schleimige Wesen zurückgezogen, glitt rasch zurück und verschwand unter Wasser.
Sie war von zitternden Schleimstücken bedeckt. Der Schmerz ließ bereits nach. Doch Kit würde vor Erschöpfung bald ihr Bewußtsein verlieren.
»Verflucht sei Patrick, der sich die Kehle aufschlitzen ließ, und verflucht seien alle Himmel für diesen verdammten Sturm!« schrie Kitiara kraftlos, weil der Klang der eigenen Stimme ihr irgendwie Trost spendete.
Als sie im Westen die dünne, dunkle Linie sah, machte Kits Herz einen Sprung. Land!
Ihr Faß trieb vorbei. Mit heftigen Beinschlägen schwamm Kit los und erwischte das tanzende Holz. Mit dem letzten Restchen Kraft hielt sie sich fest, während die Strömung sie an den Strand trug.
Kitiara erwachte mit furchtbarem Durst. Die Vormittagssonne brannte auf sie herab. Sie war wie benommen und zerschlagen, aber sie lebte.
Nachdem sie den Kopf aus dem Sand gehoben hatte, stellte sie fest, daß sie an einen einsamen Strand gespült worden war. Auch gut, denn die Wellen hatten ihrer Bluse so übel mitgespielt, daß von dieser nur noch ein paar Fetzen übrig waren, die von Fäden zusammengehalten wurden. Ihre Hose hatte den Sturm nicht viel besser überstanden.
Nachdem sie sich mühsam aufgesetzt hatte, nahm Kit Bestand auf. Becks Schwert war immer noch über ihren Rücken gebunden, ein Glück. Doch der kleine Beutel mit Edelsteinen und die Ausweispapiere, die sie aus Patricks Kabine mitgenommen hatte, waren im Kampf mit der See ebenso verlorengegangen wie die Tasche mit ihren Stiefeln und den frischen Kleidern. Bei der raschen Durchsuchung ihrer Taschen tauchten nur ein paar Münzen auf, weiter nichts.
Kitiara durchstöberte das Treibgut, das der Sturm an den Strand geworfen hatte: ein Haufen Holz, eine zerbrochene Schiffslaterne, ausgefranste Seilreste, eine tote Katze, ein einzelner Stiefel und etwas, das so aussah wie der angenagte Kopf von einem der Aale, die sie angegriffen hatten. Nichts Interessantes für Kit, abgesehen von einer mitgenommenen Lederweste. Sie mußte einem Seemann gehört haben, der kaum größer war als sie, denn sie paßte ziemlich gut. Als Kit sie anzog und die Überreste ihrer Bluse zurecht zog, sah sie fast schon wieder annehmbar aus.
Ein Rumpeln oben auf einer felsenübersäten Klippe ließ sie vermuten, daß oberhalb der Küste womöglich eine Straße war. Barfuß erklomm sie die Felsen.
Sie hatte recht gehabt: eine Straße. Kit sah aus einer Richtung einen offenen Wagen nahen, den sie winkend anhielt. Der Fahrer – offenbar ein Bauer – bremste in gutnachbarlicher Manier ab, musterte sie jedoch argwöhnisch. Sie war schon ein seltsamer Anblick in ihrer zusammengestückelten Aufmachung und mit dem schwertförmigen Bündel auf dem Rücken.
Kit schenkte ihm ihr verschmitztetes Lächeln.
»Schiffbrüchig«, sagte sie. »Mein Ziel ist da, wo Ihr hinwollt.«
Nach kurzem Zögern lächelte er. »Spring rein«, entschied er mit einer Geste auf den freien Platz neben sich. »Du siehst wirklich schiffbrüchig aus, auch wenn ich mal vermute, daß da noch mehr zu erzählen wäre.«
Sie stieg prompt auf, sagte aber nichts, was seine Neugier gestillt hätte. Er schien ihr das nicht krumm zu nehmen und ließ den Wagen wieder anfahren.
Kit bemerkte eine Wasserflasche neben dem Fahrer. Da sie so durstig war, konnte sie ihre Augen nicht davon losreißen. Wortlos reichte der Fahrer sie herüber.
Während sie trank, versuchte Kit, ihren Retter einzuordnen. Die schwarze Kapuze, die er zum Schutz vor der Sonne über den Kopf geschlagen hatte, vermittelte zunächst einen düsteren Eindruck. Doch auf den zweiten Blick sahen die Augen in dem wettergegerbten Gesicht recht freundlich aus.
Er fing ihren forschenden Blick auf und lächelte wieder. »Meine Name ist Rand«, sagte er. »Komm gerade vom Markt in Vocalion. Falls das dein Ziel war, da fahre ich jetzt erst in ein paar Tagen wieder hin, aber du kannst gern solange mit zu mir kommen. Ich geb’ dir was zu essen und finde vielleicht sogar ein paar anständige Kleider für dich. Bist nicht der erste halbertrunkene Seefahrer, den ich rette.«
Rand zwinkerte ihr freundlich zu. »Als Gegenleistung wünsche ich mir ein bißchen Hilfe auf meinem Hof.«
Kit fiel es schwer, überzeugende Freude zu heucheln. Auf einem Hof zu arbeiten konnte sie kaum begeistern, auch wenn es nur für wenige Tage war. Andererseits hörten sich Essen und frische Kleider wirklich gut an.
»Vocalion ist nur eine halbe Tagesreise entfernt«, fuhr Rand unbeeindruckt fort. »Ist kleiner als Osthafen, aber dort gibt es gute Geschäfte und was man sonst so braucht. Da findest du bestimmt Arbeit, mit der du über die Runden kommst. Wenn du nicht auf mich warten willst, brauchst du zu Fuß etwa einen Tag. Es ist allerdings nicht so, daß man es mit mir nicht ganz gut ein paar Tage aushalten kann.«
Rand redete einfach immer weiter vor sich hin, so daß Kit nicht viel antworten mußte. Da er praktisch mit sich selbst redete, konnte die junge Frau darüber nachdenken, was sie als nächstes tun würde. Osthafen kam nicht in Frage; diese Stadt wollte die Silberhecht anlaufen, wie sie wußte. Also konnte sie sich genausogut nach Vocalion aufmachen.
Es stellte sich heraus, daß Rand – ein Witwer – allein auf einem abgelegenen Gehöft lebte. »Mein Schlößchen«, hatte er verkündet, als sie vor einer geduckten Bauernkate hielten, die an einen Hügel gebaut war. Nach drei Tagen in der Kate war es für Kit alles andere als ein »Schlößchen«.
Das Dach war mit Gras bewachsen, weshalb ständig Dreck herunterrieselte, besonders wenn Rands Ziegen zum Fressen hinaufkletterten. Drinnen war es dunkel, doch das sah Kit bald eher als Segen an, denn Rand war kein großer Hausmann.
Immerhin hatte er eine gut bestückte Vorratskammer. Mit ihrem Inhalt war er großzügig, und dazu gehörten nicht nur Ziegenmilch und Ziegenkäse, sondern auch alle Sorten Fleisch und frisches Obst. Neben seiner Ziegenzucht braute Rand im Schuppen neben der Scheune noch einen leckeren Honigwein, der in der Gegend so beliebt war, daß er immer etwas davon gegen andere Dinge eintauschen konnte, die er nicht selbst anbauen wollte.
»Weißt du was«, hatte er am ersten Tag erklärt, nachdem er zugesehen hatte, wie sie Brot, Käse, einen Apfel und zwei Portionen kaltes Hammelfleisch heruntergeschlungen hatte. »Wenn du hierbleibst und mir hilfst, den nächsten Schwung Met in die Fässer zu füllen, dann geb’ ich dir noch ein bißchen Geld mit auf den Weg. Es dauert nur drei Tage. Du wirst doch nicht wie ein Bettler in Vocalion auftauchen wollen.«
Kit vermutete, daß Rand in Wirklichkeit einen Zuhörer für sein Geschwätz suchte, doch sie hatte sich sowieso schon entschieden, ein paar Tage hierzubleiben, bevor sie nach Vocalion weiterzog. Also zeigte sie sich einverstanden. Bei Otik hatte sie gelernt, immer zuzuhören – oder zumindest so zu tun.
Die drei Tage vergingen wirklich schnell. Als die Zeit zum Aufbruch kam, hatte sich Kitiara wieder erholt, und obendrein war Rand mehr als großzügig mit der Handvoll Geld, die er ihr abzählte.
Sobald seine neue Fuhre Met abgefüllt war, schickte sich der Bauer an, sie – und Kitiara – nach Vocalion zu bringen.
»Du hast Glück«, erklärte ihr Rand beim Essen am Abend vor der Abfahrt. »Morgen ist der letzte Tag des berühmten Holzwaffenfestes von Vocalion. Zumindest in der Gegend hier berühmt«, grinste er. »Die Leute kommen jedes Jahr meilenweit angereist, um zuzuschauen und zu wetten.«
»Holzwaffenfest?« lachte Kit.
»Nur Waffen aus Holz«, sagte Rand und schlürfte an seinem Met. »Auf die Art kommt keiner zu Tode. Na ja, fast keiner. Der beste Mann gewinnt.«
Kit hörte mit halbem Ohr zu. Ein Turnier ohne Waffen, das machte doch keinen Spaß. Klang ganz nach einer Idee von Langweilern.
»Das Turnier dauert sieben Tage. Wer am ersten Tag gewinnt, kämpft am zweiten Tag zweimal und so weiter, bis die Woche um ist. Eine Niederlage, und man ist draußen.« Er schüttelte den Kopf. »Am siebten Tag ist nur noch der beste Kämpfer übrig – meistens dieser Camium. Am siebten Tag muß er sechs neue Herausforderer besiegen, einen nach dem anderen, ehe er den Preis bekommt. Aber er schafft es immer. Camium ist seit elf Jahren immer der Sieger.«
»Durch welches Geheimnis?« fragte Kit.
»Kein Geheimnis«, sagte Rand. »Ist einfach ein Schläger. Der beste Mann zwölf Jahre nacheinander.«
»Warum sagst du immer ›bester Mann‹?« fragte Kit leicht gereizt.
»Nur so eine Redensart«, antwortete Rand, der ihren Ärger nicht bemerkte. »Außerdem sind Frauen bei dem Kampf natürlich nicht zugelassen. Zum Glück für sie«, er schlürfte etwas Met, »denn Camium ist kein Kavalier.«
Kits Interesse war geweckt. »Was gibt es als Preis?«
»Oh, hab’ ich das nicht gesagt?« erwiderte Rand. »Eine Tasche Gold vom Veranstalter und dazu ein Zehntel von den Wetteinsätzen.«
»Und morgen ist der siebte Tag, sagst du?« fragte sie mit gerunzelter Stirn.
»Joh. Du solltest hingehen. Wetten dürfen Frauen immerhin.«Sie hatten für das Beladen des Wagens länger gebraucht, als Kit erwartet hätte, denn Rand war mit seinen Vorbereitungen äußerst sorgfältig. Als sie den Hof verließen, stand die Sonne hoch am Himmel, und bis die Stadt in Sicht kam, war Spätnachmittag. Rands Zugpferd stemmte sich ins Geschirr, um den Wagen auf eine Anhöhe zu ziehen, von der aus man auf eine türkisblaue Bucht sah. Kit hielt den Atem an. Sie wußte nicht viel über diesen Teil von Krynn, doch es überraschte sie, einen so malerischen Außenposten zu entdecken.
Die meisten Häuser von Vocalion schienen aus weißem Stein zu bestehen, der das Licht hell zurückwarf. Zum Land hin schützte eine Mauer mit Wachtürmen und Toren die Stadt. In dem niedlichen Hafen dümpelten zahlreiche Schiffe.
Als sie näher kamen, geriet ihr Wagen in eine Reihe Karren und Fußvolk, die alle auf Vocalion zuhielten. Kits Finger trommelten ungeduldig auf die Wagenbank. »So, ich spring’ einfach ab«, sagte Kit unvermittelt, während sie den Sack hochnahm, in dem ihr Schwert, ein paar Kleidungsstücke von Rand und ein paar Lebensmittel steckten.
»Danke für alles, Rand«, fügte Kit hinzu.
Rand hatte kaum noch Zeit, sich zu wundern, da rannte sie schon vor ihm die Straße hinunter. »Viel Glück, Kitiara«, rief er ihr nach.
Nachdem sie ein paar Minuten gelaufen war, betrat Kitiara die Stadt und schlüpfte hinter zwei breitschultrige Kerle, die sie für Mitglieder der Stadtwache hielt, denn beide hatten die gleichen Insignien auf Helmen und Brustpanzern. Die Menge machte diesen beiden etwas Platz, so daß Kit hinter ihnen rasch vorwärts kam.
Sie fing Gesprächsfetzen auf.
»Hast du was gehört? Wie Camium sich heute schlägt?« fragte ein Dicker. »Das Turnier müßte fast vorbei sein.«
»Wo ist das Problem?« gab sein Begleiter zurück. »Camium hat seit Jahren keinen Kampf verloren.«
»Was für ein Kämpfer! Hast du den Kampf gegen Minotaurus gesehen? Nach einer halben Stunde hatte Camium das Untier auf den Knien, doch der Minotaurus hat immer noch nicht aufgegeben – du weißt ja, wie stolz diese Rasse ist –, darum mußte Camium ihn mit seiner Keule bewußtlos schlagen. Danach war es keine Frage mehr, wer gewonnen hatte.«
Die Wachen bogen in eine Seitenstraße ab, womit Kit sich selbst überlassen war. Jetzt war sie noch entschlossener, zum Turnier zu gelangen, bevor es vorbei war, und wenn auch nur, um einen Blick auf diesen Camium zu erhaschen, dessen Ruf sie faszinierte. Plakate für das Holzwaffenfest hingen in den Straßen nach Norden. Eilig lief sie zwischen den Leuten hindurch in diese Richtung.
Das Kolosseum von Vocalion war klein, aber eindrucksvoll, ein rundes Bauwerk mit Arkaden, das die geduckten Häuschen und Schenken drumherum überragte. Draußen standen scharenweise Menschen in Trauben zusammen, die redeten und lachten. Aber von drinnen hörte Kitiara Hunderte brüllen, klatschen und fluchen.
Kit drängelte sich zu einem Wettstand durch.
»Wer von Camiums Gegnern hat die besten Chancen?« fragte sie einen schmierigen Kerl mit roter Knollennase.
»Wo kommst du denn her, Kleine?« erwiderte der Mann mit einem Seufzer. »Das ist der letzte Kampf, und keiner setzt gegen Camium. Camium ist noch nicht einmal erschöpft. In ein paar Minuten ist alles vorbei. Spar dir dein Geld.«
Das hatte sie nicht erwartet. Sie trat vom Wettstand zurück und sah sich enttäuscht um, wobei sie den Eingang zum Kolosseum entdeckte.
Der Lärm von drinnen schwoll an. Na schön, jetzt war sie so weit vorgedrungen, da konnte sie genausogut die letzten paar Minuten vom Kampf mitansehen. Kitiara wollte gerade zum Eingang gehen, als sie eine offene Seitentür bemerkte.
Nachdem sie hindurchgeschlüpft war, befand sich Kit in einem engen, unbeleuchteten Gang, der zu dem Warteraum führte, in dem sich die Gegner auf ihre Kämpfe vorbereiteten. Als sie den Raum betrat, stieß sie auf einen kleinen Jungen mit Besen, Bürste und einem riesigen Holzeimer. Er schrubbte an etwas herum, das wie getrocknete Blutflecken aussah.
Am gegenüberliegenden Ende des Raums führte ein zweiter, kürzerer und engerer Gang zu einem kleinen Ausgang, der von hellem Sonnenlicht erleuchtet war. Durch die Tür konnte Kitiara im Gegenlicht unscharf zwei Gestalten erkennen, die einander draußen in der Arena umkreisten. Die Menge brüllte und johlte.
»Wer ist das?« Der Junge hatte aufgeschaut und blinzelte zu ihr herüber. Er war ein mageres Bürschchen von vielleicht acht Jahren, wahrscheinlich ein Waisenkind, das während des Turniers hier arbeiten mußte.
»Man hat mich geschickt, ähm, zum Helfen«, sagte Kitiara schnell.
»Oh«, sagte der Junge gleichgültig. »Hier.« Er warf ihr eine Bürste zu. »Fang einfach irgendwo an. Blut und Dreck gibt’s reichlich.«
Kit fing die Bürste geschickt auf, während sie auf dem Weg zur Tür war, um hindurchzuspähen. Ein kleiner, vierschrötiger Kerl tat sein Bestes, um die windmühlenartig niederprasselnden Schläge eines großen, gutgebauten Mannes abzuwehren. Beide schwangen dicke, schwere Keulen. Hah, dachte Kitiara, das sieht doch so aus, als wäre Camium klar unterlegen.
Als sie sich umsah, bemerkte sie in dem Raum Holzwaffen aller Art herumhängen. Keulen, Dreschflegel, feste Stangen, Holzhammer, sogar Hupaks – die Lieblingswaffe aller Kender von Krynn – standen für die Kämpfer zur Wahl. Kit schob ihre Tasche hinter eine Bank und tat so, als würde sie an einer Wand herumschrubben.
Die Borsten waren so starr, daß sie Kitiaras Meinung nach sogar auf Stahl Spuren hinterlassen hätten. Durch den Gang schielte sie zum Kampf hin. Kitiara fragte sich, wie der kleine Kerl noch länger Camiums Schlägen standhalten sollte.
Scheinbar hielt sie sich direkt unter der Zuschauermenge auf, das verriet ihr der donnernde Lärm über ihr.
»Das ist doch Camiums letztes Opfer?« fragte Kit.
Der Junge blickte achselzuckend auf. »Wenn sich nicht noch jemand zusammenschlagen lassen will«, sagte er tonlos. »Das ist heute der fünfte. Weil Camium inzwischen einen so schlechten Ruf hat, konnten sie nur fünf dazu überreden. Was soll’s, letztes Jahr waren es bloß vier, also kann man sich wohl kaum beschweren.« Er ging wieder an die Arbeit.
Einige von den Zuschauern buhten, und als Kit durch die Tür sah, konnte sie sehen, wie die beiden Männer miteinander ringend auf dem Boden rollten. Der Kampf ging offenbar dem Ende zu.
Kits Gedanken überschlugen sich. Das war eine Chance – und wenn es die Chance war, sich den Schädel einschlagen zu lassen –, die sie sich nicht entgehen lassen konnte.
Sie fand einen kleinen Lederhelm, den sie sich fest um den Kopf band, und in den sie die paar Löckchen stopfte, die er nicht bedeckte. Dann ging sie zur Wand, wo sie einen langen, abgerundeten Stock abnahm, den sie mehrmals auf den Boden schlug, um sicher zu sein, daß er hielt.
Kit war schon früher als Mann durchgegangen. Mit der Lederweste, die sie am Strand gefunden hatte, der rauhen Tunika, der Hose und den schweren Stiefeln, die sie von Rand erhalten hatte, mochte ihr das jetzt wieder gelingen. Kit rieb sich etwas Staub ins Gesicht und auf die Hände.
Der Junge hatte seine Bürste beiseite gelegt und schaute ihr mit wiedererwachter Neugier zu. »Was machst du da eigentlich?« fragte er. »Du hast doch keine Chance. Du bist ein – «
Auf der Stelle stand sie neben ihm und fummelte in ihrer Tasche herum. »Hier«, sagte sie und gab ihm ein paar von ihren Münzen. »Geh schon und setz auf den letzten Herausforderer. Auf mich. Und vergiß, was du gesehen hast.«
»Aber – «
Kit erhob ihren Stock und schlug damit vielsagend auf den Boden. »Verschwinde!« schrie sie. »Und danke deinen Göttern, daß ich nichts Schlimmeres mache!«
Als der Junge davongerannt war, hörte Kit draußen kurze Stille, der ein einstimmiges Gebrüll folgte. Der Zweikampf war entschieden. Kitiara drehte sich um und eilte ins Licht.
Die Menge schreckte kurz hoch, um den Neuankömmling dann jubelnd willkommen zu heißen.
Als sie aus der Dunkelheit in die Sonne des Spätnachmittags trat, brauchten Kits Augen ein paar Sekunden, bis sie sich an das helle Licht gewöhnt hatten. Sie stand in der Sandarena, an deren Seiten fünfzig Reihen Bänke anstiegen, und die Leute, die darauf dicht an dicht saßen, starrten sie an. Sie schrien und gestikulierten, waren aber eindeutig erfreut über die Aussicht auf einen weiteren Kampf.
In der Mitte der Arena lag zu Kits großem Schrecken der verprügelte Körper eines großen Mannes mit kräftigem Oberkörper. Ein vergleichsweise kurzer Kerl thronte auf der reglosen Brust.
Der kleine Mann war nicht mehr der Jüngste. Sein Haupt wurde bereits kahl, und er hatte einen langen, lockigen graumelierten Bart. Der Kerl hatte O-Beine und reichte ihr höchstens bis zur Brust. Seine Nase war so platt, als wäre sie schon dutzendmal gebrochen gewesen.
Der Kämpfer war ein Zwerg. Er strahlte triumphierend und leerte gerade einen Krug Bier. Als er Kitiara sah, warf er den Krug beiseite und sprang von der Brust seines fünften Opfers. Dann stand Camium Eisenbieger, zwölffacher, ungeschlagener Sieger des Holzwaffenfestes, wie ein echter Profi auf und verbeugte sich sehr formell vor Kitiara.
Nachdem sie fünf Minuten mit Camium Eisenbieger gekämpft hatte, verstand Kit, warum er elf Jahre lang das Holzwaffenfest gewonnen hatte. Nach zehn Minuten hatte sie von dem Kampf genug, doch das Problem war, Kit hätte aufgeben müssen, und Aufgeben war gegen ihre Ehre. Der Kampf konnte anscheinend nur auf zwei Arten zu Ende gehen – mit Kits Bewußtlosigkeit oder mit ihrem Tod.
So unnachgiebig, wie er kämpfte, war klar, daß Camium Eisenbieger beide Alternativen gleich recht waren.
Nach einer halben Stunde konnte Kitiara kaum noch auf ihren wackligen Beinen stehen, kaum noch aus ihren blutunterlaufenen Augen sehen, kaum noch ihren Stock heben, um nach dem graubärtigen Zwerg zu schlagen.
Der Zwerg bewegte sich nicht viel. Er war durchaus bereit, Kitiaras Schläge einzustecken, so viele und so schnell sie austeilen konnte. Es sah fast so aus, als wäre es für Camium Eisenbieger eine Frage des Stolzes, einen Kinnhaken oder eine Kopfnuß zu bekommen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Kitiara versuchte ein paarmal, nach seinen Knien zu schlagen, doch seine Beine erwiesen sich als ebenso stabil wie sein Schädel.
Die ganze Zeit ließ er sich von ihr umkreisen, wich kaum von der Stelle zurück, wo er sich aufgebaut hatte, und beobachtete sie genau. Kit konnte Camium leicht erreichen und fast nach Belieben zuschlagen. Sie schwang ihren dicken Stock – anderthalbmal so lang wie sie – fast wie ein Schwert, doch er nahm auch ihre besten Treffer mit einem Grinsen hin, das die Begeisterung der Menge noch anstachelte.
Was Camium anging, so trug dieser eine häßliche, knorrige Keule voller Löcher und Kerben. Diese ruhte fast schwerelos auf seiner Schulter, obwohl sie so lang war wie er und vermutlich halb so schwer. Wenn Kitiara fünf- oder zehnmal zugeschlagen hatte, holte er einmal aus, und auch das nur sehr zurückhaltend, als hätte er es damit nicht eilig.
Doch seine Trefferquote war hoch, und seine Schläge landeten mit viel Kraft auf ihren Beinen, auf der Brust, auf den Schultern und auf dem Gesicht. Er war wahrscheinlich mehr als zehnmal so alt wie sie und nicht größer als Caramon, doch der kleine Dickwanst konnte wirklich kämpfen. Kurz bevor sie umfiel, dachte Kit noch, daß es doch irgendeinen Weg geben mußte, ihn zu erledigen.
Die Menge buhte wild, als sie mit dem Gesicht nach unten im Sand zusammenbrach. Camium ging zu einem großen Hahn, der für ihn an der Wand der Arena angebracht war, und zapfte sich einen Krug Bier. Während er gedankenverloren die drei Schiedsrichter ansah, nahm er einen langen, tiefen Zug.
Drei Bürger in gleichen Roben saßen auf einer Tribüne, von wo aus sie Kits ausgestreckten, reglosen Körper beobachteten. Sie hatten nicht vor, das Spektakel vorzeitig abzubrechen. Die Menge buhte weiter.
Gutmütig ging Camium zu Kit und kippte ihr einen Krug Bier über den Kopf. Sie sprang auf, sah sich verwirrt um und zog sich schnell aus der Arena in den engen Gang zum Waffenraum zurück.
Die Menge teilte sich etwa zu gleichen Teilen auf in Buhrufer und Lacher. Camium schüttelte grinsend den Kopf und kehrte an seinen Bierhahn zurück.
Deshalb sah er Kitiara nicht, als sie wild in die Arena zurück und geradewegs auf ihn zustürmte. Die überraschte Reaktion der Menge warnte den Zwerg, doch Camium wußte nicht, was er von einem Gegner zu halten hatte, der einen riesengroßen, eisenbeschlagenen Eimer und eine Schrubberbürste schwang. Sein Unterkiefer fiel herunter, und seine knorrige Keule ebenfalls.
Ehe Camium eine Bewegung machen konnte, war ihm Kitiara auf die Schultern gesprungen und hatte ihm den Eimer über den Kopf gestülpt, wobei sie den Boden herausschlug und das Ding herunterdrückte, bis es um seine Brust lag und seine Arme festhielt. Der Schwung ihres Angriffs warf den Zwerg zunächst um, und Kit nahm die grobe Bürste und fuhr ihm damit über das Gesicht, wobei sie die rechte Hälfte seines Barts größtenteils herausriß, bevor sie in den Zotteln hängenblieb.
So ein Jaulen hatten die Zuschauer noch nie gehört. Und vor allem nicht aus dem Mund von Camium Eisenbieger. Schweigen griff um sich, als Camium mühsam hochkam, obwohl er immer noch in dem Eimer steckte. Sein Gesicht war schamrot.
Er versuchte, den Eimer zu sprengen, doch die Eisenbänder hielten.
Kitiara hatte seine Keule fortgerissen, mit der sie ihm jetzt, so fest sie konnte, wieder und wieder auf den Kopf schlug, ein halbes dutzendmal. Der Zwerg taumelte, drehte sich, taumelte noch mehr, kippte aber nicht um.
Kitiara holte mit aller Kraft aus und schlug ihm die Keule ins Gesicht. Camium fiel nach rechts, tänzelte ein paar Schritte herum, taumelte wieder. Doch er kippte nicht um.
Camiums Augen waren zugeschwollen. Er konnte seine Arme nicht bewegen. Die Bürste baumelte von seinem Bart herunter. Blut tropfte unter dem Eimer heraus, denn Kitiara hatte mit ihren Schlägen die Haut aufgerissen.
Doch noch immer kippte Camium Eisenbieger, elffacher Held des Holzwaffenfestes, nicht um.
Kit bezweifelte, daß er überhaupt noch bei Bewußtsein war. Sie hatte Respekt vor dem alten Zwerg und wollte ihn nicht noch schwerer verletzen oder noch schlimmer beschämen. Mit einem müden Augenaufschlag sah sie in stummem Flehen die Richter an.
Nach hastiger Beratung hoben die drei Schiedsrichter ihre Arme, um ein Unentschieden zu verkünden. Der Preis sollte gerecht geteilt werden.
Die Menge explodierte.
Camium wankte.
Kit brach zusammen.
Ein paar Stunden später, Stunden voller Heiler und Gratulanten, saß Kit schließlich allein auf einer Steinbank im Waffenraum und bewegte voller Schmerzen ihren Kiefer hin und her.
Allein bis auf einen großen Fremden voller Heimlichtuerei, der gewartet hatte, bis die anderen fort waren. Er machte ihr keine Angst. Wenn sie Camium Eisenbieger bis zum Patt bekämpfen konnte, würde sie auch mit jedem anderen fertig werden.
Dennoch überraschte sie die Stimme des Mannes. »Du gibst dich wohl immer für einen Mann aus«, bemerkte der Fremde, der sich vor sie gestellt hatte.
»Ursa!« Voller Bitterkeit spie sie den Namen aus und sprang auf. Sie sah sich um, welche Waffe sie nehmen sollte.
»Hoi!« sagte Ursa Il Kinth, der sich wachsam umschaute. »Nicht so laut.«
Sie machte einen Schritt. Er packte ihren Arm, allerdings freundlich. »Für heute hast du genug gekämpft«, drängte Ursa leise.
Dann ließ er ihren Arm los. Kitiara hielt mit blitzenden Augen die Stellung. All ihre Müdigkeit war verflogen, neue Kraft war plötzlich in ihr aufgestiegen. »Ich schulde dir noch eine Tracht Prügel von damals!« sagte Kit wütend.
Er setzte sich und zog seine Kapuze herunter, um seine langen braunen Haare zu schütteln. Kit hatte Zeit, eine Waffe zu ziehen – und das tat sie. Ihre Tasche mit dem Schwert war auf der anderen Seite des Raums. Der dicke Knüppel, den sie sich schnappte, würde reichen müssen.
Sie wartete auf Ursas Reaktion, doch der saß nur da und starrte sie mit seinen dunklen, glitzernden Augen an.
»Ja«, meinte er zuletzt mit nüchterner Stimme. »Das war schon ein schlechtes Geschäft. Du schuldest mir eine Tracht Prügel, und ich schulde dir deinen Anteil an… an der Sache.«
»Und wo ist der? Glaub bloß nicht, daß du diesmal davonkommst, ohne ihn mir zu geben!« Sie stieß ihm mit dem Knüppel gegen die Brust.
Halbherzig schob er die Waffe beiseite. »Sei doch nicht blöd«, sagte er. »Du bist jetzt besser dran als ich.« Sie tätschelte den halbvollen Beutel Gold in ihrer Tasche. Ursas Augen beobachteten sie etwas nachdenklich.
»Ich schulde dir etwas«, fuhr er fort. »Das bestreite ich gar nicht. Aber ich freue mich, dich zu sehen. Merkst du das nicht? Auch wenn du mich einiges von dem bißchen Geld gekostet hast, das ich noch hatte.« Er grinste einfältig. »Wie jeder andere habe ich auf Camium gesetzt.«
Sie schnaubte ohne viel Mitleid.
»Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich dich erkannt habe. Aber schließlich mußte ich ja die armselige Verkleidung der Frau durchschauen, die mich schon als Mädchen den Wert einer Holzwaffe gelehrt hat«, sagte er spöttisch. »Schon damals warst du keine schlechte Kämpferin, aber inzwischen bist du verdammt eindrucksvoll, gebe ich zu. Was machst du überhaupt hier in der Gegend?«
Kit runzelte besänftigt die Stirn. Eigentlich war sie sogar froh, den dreist grinsenden Ursa wiederzusehen. Er meinte es offensichtlich ehrlich, wenn er auch etwas bedrückt wirkte. »Erst du«, sagte sie, nachdem sie ihren Knüppel heruntergenommen hatte. »Was machst denn du hier?«
»Ich habe einen Auftrag«, sagte er, wobei sich sein Gesicht aufhellte. »Ich und Schlaukopf – ja, der ist immer noch dabei. Die anderen nicht.« Ursas Gesicht wurde wieder finsterer. »Von den anderen erzähle ich dir später. Und was ist mit dir?«
Sie sah keinen Grund, etwas zu verschweigen. Kit erzählte ihm kurz die Geschichte ihrer vorgetäuschten Verlobung mit Patrick, der Seereise, dem ungeklärten Mord und ihrer Flucht über Bord. Das alles schien schon Jahre her zu sein.
»Die Silberhecht!« rief Ursa aus. »Alle Zuschauer haben von diesem Schiff geredet. Es ist heute nachmittag zur Reparatur in Vocalion eingelaufen. Liegt zur Zeit im Hafen. Es heißt, der Kapitän wäre vollkommen aufgelöst, weil er mit der Leiche seines Herrn an Bord zum Heimathafen segeln muß.«
Diese Nachricht überraschte Kit. »Wenn die Silberhecht hier ist«, unterbrach sie ihn aufgeregt, »dann könnte ich womöglich Cinnamon zurückbekommen.«
»Wenn es wahr ist, was du mir erzählt hast«, sagte Ursa, »dann solltest du lieber vorsichtig sein.«
»Stimmt…«
»Weißt du was«, sagte Ursa. »Schließ dich mir an, dann hol ich dir Cinnamon irgendwie zurück.«
Kit wollte schon Einwände erheben, als er die Hand hob. »Und sobald es geht, werde ich dir zurückzahlen, was ich dir schulde«, versprach der Söldner. »Darauf kannst du dich verlassen.«
Ursas großer, gebeugter Gefährte wartete auf einem schmutzigen Stück Hafenmauer auf sie. Trauerkloß – sie konnte ihn in Gedanken nicht anders nennen – zeigte keinerlei Überraschung und auch keine sonstige Reaktion, daß Kit nach zwei Jahren wieder bei ihnen war. Sie hingegen hätte dem Verräter am liebsten das Schwert – oder etwas anderes – an den Hals gesetzt, doch Ursa hielt sie davon ab.
Eins mußte sie stillschweigend eingestehen: Die Vorstellung, wieder mit den beiden zusammenzuarbeiten, gefiel ihr.
»Da ist sie! Ich sehe sie!« rief Kit. Die Silberhecht hatte an einem Pier abseits von der offenen See angedockt. Ein Fallreep führte hinauf. Sie glaubte, La Cava an Deck zu sehen, und zog ihre Begleiter in die Schatten einer Seitengasse.
»Das ist der Kapitän. Ich rate dir, ihm nicht über den Weg zu laufen, egal was du vorhast. Ich glaube, er ist dir gewachsen oder sogar überlegen«, weihte Kit Ursa ein.
Die junge Frau spähte wieder um die Ecke; mehrere Passagiere kehrten über das Fallreep zurück. Keine Spur von Cinnamon, die wahrscheinlich unten versorgt wurde.
»Unsere Pferde stehen in einem Stall am Stadtrand. Du holst sie mit Schlaukopf zusammen und bringst sie an den Rand der Marsch östlich von hier. Schlaukopf weiß schon, wo ich meine.«
Trauerkloß nickte schweigend.
»Dort wartet ihr auf mich«, fuhr Ursa fort. »Ich komme, sobald ich kann. Wenn man Cinnamon überhaupt entführen kann, dann bin ich der Mann dafür.« Ein Teil seiner alten Großspurigkeit war zurück.
Trauerkloß drehte sich um, und Kit stand auf und folgte ihm. Ursa legte ihr die Hand auf den Arm. »Warte, Kit«, sagte er. »Was ist mit dem Gold?«
Sie machte den Mund auf und wollte protestieren.
»Für Bestechungen«, grinste er, »und sonstige Auslagen.«
Seufzend griff sie in die Tasche und gab ihm den Beutel. Ursa hatte recht. Sie konnte ihm auch gleich ganz vertrauen. Und sie hatte sich sowieso nicht eingebildet, ihr Gold besonders lange zu behalten.
Die drei traten aus dem Gäßchen zwischen zwei Gebäuden heraus. Kit und Trauerkloß verschwanden in die eine Richtung; Ursa tauchte auf der anderen in der Menge unter. Nachdem sie sich getrennt hatten, tauchte in einem Eingang in der Nähe eine vermummte Gestalt auf, die ihnen hinterherstarrte. Hätte Kit sich umgesehen, so hätte sie den Dunkelelfen von der Silberhecht erkannt.