Gilon packte etwas Brot und Käse für unterwegs ein, während Kitiara Raistlin ein letztes Mal musterte. Hände und Gesicht – sauber. Tunika und Hosen – an den Knien und Ellbogen gestopft, aber vorzeigbar. Kit reckte sich und gähnte. Als Gilon sie heute geweckt hatte, war die vorfrühlingshafte Sonne noch nicht zu sehen gewesen.
Raistlin sah ihr zu. Wenn Raistlin so still hielt, mußte er fürchterlich aufgeregt sein, weil er heute in die Zauberschule gehen sollte, dachte Kitiara. Bei der Aussicht auf einen solchen Ausflug wäre Caramon – wie die meisten Sechsjährigen – unbändig herumgesprungen und hätte eine Million Fragen gestellt.
Nicht aber Raistlin. Immer war er ruhig und aufmerksam, und jetzt, als er seine Vorstellung beim Zaubermeister vor sich hatte, wurde er noch ruhiger.
»Ich werde nie so groß und stark sein wie Caramon, nicht wahr? Egal, mit wieviel Klebzeug du meine Beine einreibst?« hatte er Kit am Vorabend gefragt, als sie ihn für die Nacht zurechtgemacht und eine übelriechende Salbe auf seinen Armen und Beinen verteilt hatte. Seit dem letzten Besuch des Heilers Bigardus gehörte das für ihn zum Zubettgehen. Nachdem Bigardus an jenem Tag Rosamund behandelt hatte, hatte er sich die spindeldürren Arme und Beine von Klein-Raistlin angeschaut und mißbilligend das Gesicht verzogen. Dann hatte er in seiner Medizintasche herumgewühlt und eine kräftigende Baumwurzelsalbe herausgezogen, mit der Kit Raistlins Gliedmaßen jeden Abend einreiben sollte. Na gut, hatte Kitiara voller Skepsis gedacht, vielleicht war die Salbe ja einen Versuch wert.
Gestern abend, als er sich schon auf seinen Ausflug zum Zaubermeister freute, hatte Raist gegen die stinkende Gewohnheit protestiert.
»Dieses Zeug wird nichts daran ändern, wie ich bin«, erklärte er überzeugt. »Ich werde immer klein und schwach sein. Das weiß ich. Macht mir auch nichts aus. Du brauchst gar nicht glauben, daß du immer auf mich aufpassen mußt.«
Kitiara hatte sich vorgebeugt, ihren kleinen Bruder schnell in die Arme geschlossen und insgeheim über seine Beobachtungsgabe gestaunt. Es verging tatsächlich kein Tag, an dem sie nicht darüber nachdachte, wie sie es anstellen konnte, daß sie sich nicht mehr ständig um ihre jüngeren Brüder kümmern mußte – nicht nur Raistlin, sondern auch Caramon. Sie war fast vierzehn. Sie wollte endlich auf eigene Faust losziehen, etwas von der Welt sehen, vielleicht sogar ihren Vater aufspüren. Sie hatte es zutiefst satt, all das zu tun, was Rosamund hätte tun sollen, wenn die nicht ihre blöden Trancen gehabt hätte.
Raist hatte sie weggestoßen und sich mit rotem Kopf aufrecht ins Bett gesetzt. Seine Augen hatten gefunkelt.
»Wenn ich erst mal ein Zauberer bin«, schwor der kleine Junge, »dann wird sich keiner mehr um mich kümmern müssen! Ich werde es sein, der sich um Vater und Mutter und Caramon kümmert. Und ich werde auch für alle anderen sorgen, wenn ich es für nötig halte.«
»Große Reden«, sagte Kit freundlich, fuhr ihm durchs Haar und stellte den Rest der Salbe weg. »Genau wie dein Bruder.«
»Ja, großer Redner«, piepste Caramon schläfrig aus seinem Bett.
»Ihr werdet schon sehen«, sagte Raistlin.
»Schlaft jetzt, alle beide. Morgen ist ein großer Tag.«
Raist, der am Abend immer erschöpft war, war in sein Kissen zurückgesunken. Sein blasses Gesicht glänzte vor Schweiß. Seine Augenlider flatterten noch, und dann fiel er in einen unruhigen Schlaf.
Kit hatte Raist noch ein paar Minuten beobachtet, um sicherzugehen, daß er richtig schlief. Es war noch eine Gewohnheit, aus seiner Babyzeit, als sie ihn ständig beobachtet hatte und manchmal die ganze Nacht wachgeblieben war, damit sie merkte, falls seine Atmung aussetzte.
Um Caramon hingegen hatte sie sich nie sorgen müssen. Der schnarchte bereits zufrieden in dem kleinen Holzbett neben Raistlin an der Wand gegenüber von Rosamunds und Gilons Schlafkammer. Trotz all seiner Energie schlief Caramon meist noch vor seinem jüngeren Bruder.
An dem Morgen, an dem Raistlin den Zaubermeister aufsuchen sollte, lag Caramon noch im Bett. Er war so in sein Bettzeug verknäult, als hätte er im Traum mit einer Riesenschlange gekämpft. Als Gilon ihm erklärt hatte, er müsse zu Hause bleiben, hatte er protestiert, doch das hatte sich schnell gelegt, nachdem Rosamund versprochen hatte, sie würden Sonnenblumenbrötchen backen.
Rosamund ging es seit einiger Zeit etwas besser. Sie hatte angefangen, sich morgens richtig anzuziehen, sich regelmäßig die Haare zu kämmen und sie mit Perlen und Blumen zu schmücken. Ihr Gesicht, für gewöhnlich angespannt und angstgequält, wirkte in den letzten Wochen viel befreiter, ja beinahe glücklich.
Jetzt stand Kits Mutter am Küchentisch und machte Tee für die drei Ausflügler. Kit wich dem Blick ihrer Mutter aus, als sie hinging und sich eine Tasse holte. Und während Rosamund sich um das Feuer kümmerte, nahm Gilon, der gerade aus der Schlafkammer kam, Kit beiseite.
»Caramon weiß, daß er losrennen und Bigardus holen muß, falls Rosamund… falls… du weißt schon…«, brach er ab und blickte Kit ängstlich an.
»Falls sie durchdreht, meinst du«, sagte Kit direkt, ohne auf den verletzten Ausdruck zu achten, der über Gilons Gesicht glitt. »Ja. Caramon kann vielleicht sonst nichts für Mutter tun, aber jedenfalls kann er rennen. Und«, fügte sie hinzu, als sie sah, wie Gilons Besorgnis wuchs, »er braucht nicht lange zu Bigardus und zurück, solange er unterwegs keinen seiner dämlichen Freunde trifft und – «
»Vielleicht sollten wir doch nicht gehen«, sagte Gilon. »Ich meine, wenn du glaubst, daß deiner Mutter etwas passiert, oder daß Caramon ohne uns nicht zurechtkommt…« Zweifelnd hob er die Hände.
Es war Gilons Idee gewesen, heute der Zauberschule einen Besuch abzustatten. Kits Stiefvater hatte zwei lange Abende am Küchentisch verbracht und an einem Brief an den Zaubermeister gesessen, in dem er ihn bitten wollte, Raistlin als Schüler aufzunehmen. Auf der Suche nach den richtigen Worten, dem richtigen Ton, hatte er sich den Kopf zermartert. Aber er war mit keinem seiner vielen Entwürfe zufrieden gewesen, und am Ende des zweiten Abends war er aufgestanden, hatte das Papier zerknüllt und ins Feuer geworfen.
»Briefe sind so unpersönlich«, hatte er erklärt. Er werde selbst hingehen und für sein jüngstes Kind vorsprechen. Dann konnte der Zaubermeister gleich sehen, was für ein begabter Schüler Raistlin wäre.
Die Zauberschule lag irgendwo verborgen am Rand von Solace.
Ihre genaue Lage gab Anlaß zu Gerüchten und Klatsch, und Kit kannte niemanden, der glaubhaft versichern konnte, daß er wirklich dagewesen war. Doch der geradlinige, dickköpfige Gilon war entschlossen, sie zu finden. Kit wußte, daß Gilon Raists Zukunft genauso »sichern« wollte wie sie selbst, wenn auch aus anderen Gründen.
»Nein, nein, Caramon wird schon klarkommen. Nur Rosamund schafft das vielleicht nicht. Wir müssen einfach dreimal auf Holz klopfen«, meinte sie zu Gilon – ohne ihn besonders zu trösten.
Während ihres heimlichen Geflüsters war Caramon aufgewacht und schläfrig zum Tisch geschlurft, wo Rosamund Raistlin zu ein paar Löffeln Getreidebrei zu überreden versuchte. Kit sah, wie ihre Mutter sich mit liebevollem Lächeln Caramon zuwandte und ihn umarmte, bevor sie ihm eine große Schale Brei vorsetzte. Caramon vertilgte eifrig sein Frühstück und fragte mit vollem Mund, was es sonst noch zu essen gab.
Beide Jungen betrachteten ihre Mutter hingebungsvoll, denn sie waren offensichtlich entzückt, daß sie auf war und herumlief. Rosamund sah von ihrer Arbeit auf und begegnete Kits prüfendem Blick.
»Kitiara, willst du nicht auch etwas essen, bevor ihr aufbrecht? Ihr habt heute morgen einiges vor, und wer weiß, was für Gastfreundschaft euch an eurem Ziel erwartet«, sagte Rosamund freundlich.
»Mach dir um mich keine Sorgen, Mutter.« Kit mußte eine Schärfe in dieses Wort gelegt haben, die ihre Mutter zusammenzucken ließ. »Ich habe Brot und Käse eingepackt, genug für mich und Gilon und Raistlin. Ich kann mich gut um mich selbst kümmern – das mach’ ich schließlich seit Jahren. Fang bloß nicht an, dir jetzt Gedanken um mich zu machen.«
Rosamund wurde rot und wandte sich wieder den Zwillingen zu. Caramon, der sich eifrig Brei in den Mund schaufelte, hatte nicht auf den Wortwechsel geachtet, aber der immer aufmerksame Raistlin hatte stirnrunzelnd zugehört.
Gilon kam von draußen herein und löste die Spannung. »Mach zu, Raist. Wir wollen früh da sein, damit der Zaubermeister auch Zeit hat, uns zu empfangen. Kit, bist du fertig?«
Raistlin rutschte von seinem Stuhl, ließ sich von Rosamund das Gesicht abwischen und stellte sich zu Gilon an die Tür. Kit band den Beutel mit Vorräten zu, den sie vorbereitet hatte, und warf ihn sich über die Schulter. Gilon gab Rosamund einen sanften Kuß auf die Stirn und zögerte dann.
Offensichtlich war er immer noch hin und her gerissen, ob er sie und Caramon den Tag über allein lassen sollte.
Rosamund, die wie der Inbegriff einer – wenn auch etwas ungepflegten – Hausfrau aussah, zuckte angesichts seiner Besorgnis liebevoll mit den Schultern. »Geht schon«, drängte sie. »Wir kommen schon zurecht.«
Als sie das Haus verließen, hatte Caramon bereits den Mörser aus dem Geschirrschrank geholt und kniete auf einem Stuhl am Eßtisch, wo er entschlossen Sonnenblumenkerne zerquetschte, während seine Mutter strahlend vor Stolz zusah.
Kit ging als letzte. Sie beobachtete die häusliche Idylle, bevor sie die Tür zumachte, wobei sie gleichermaßen von Neid wie von Trotz erfaßt wurde. Sie haßte es, wie Gilon und die Zwillinge Rosamund während ihrer »normalen« Zeiten anhimmelten. Wenn ihre Mutter je etwas Zeit mit Kit allein verbracht hatte, dann war das so lange her, daß sie sich nicht mehr daran erinnern konnte.
Die drei stiegen über Hängebrücken und Rampen zwischen den Vallenholzbäumen auf einen der Wege hinunter, die sich zwischen den Stämmen der riesigen Bäume zum Südrand von Solace wanden. Kit, die zu Hause nicht gefrühstückt hatte, holte Schwarzbrot und Käse aus ihrem Sack und begann, im Gehen zu essen.
Gilon wurde langsamer, ließ sich neben sie zurückfallen, und sprach mit gesenkter Stimme, damit Raist ihn nicht hörte. »Auch wenn ich noch nie da war, müßte es ein Marsch von einer guten Stunde bis zu dem Ort sein, wo der Zaubermeister angeblich seine Schule hat. Hält Raist das durch? Sollten wir auf halber Strecke rasten? Wir wollen schließlich nicht, daß er allzu erschöpft dort ankommt.«
Kit sah die kleine Gestalt, die pflichtschuldig vor ihnen her wanderte. Raistlins Augen betrachteten neugierig den Himmel, die Baumwipfel und den Wegrand und blieben immer wieder an interessanten Dingen hängen. Er achtete nicht auf Kit und Gilon, denn er stellte sich vor, er wäre der kühne Leiter ihrer kleinen Expedition.
»Wenn es so aussieht, als ob er müde wird, können wir ihn abwechselnd auf dem Rücken tragen«, sagte Kit, um dann flüsternd hinzuzufügen, »– wäre nicht das erste Mal.« Obwohl Raistlin seiner Schwester ähnlich sah, hatte er nichts von ihrer kräftigen Drahtigkeit.
Es war ein warmer Morgen, an dem die Lieder der Vögel, die aus ihren Winterquartieren zurück waren, von willkommenem Wind herangetragen wurden. Kit merkte, wie sich ihre Laune verbesserte, als sie auf die alte Brücke über den Solacer Bach zuhielten. Bald verließen sie den Weg. Gilon kannte eine Abkürzung durch den Wald, der sich am Krystallmirsee entlangzog.
Schon bald traten die drei aus den Schatten der Vallenholzbäume in weniger bewaldetes Hügelland. Raist trottete weiterhin vor Kitiara und Gilon her. Es war ihm nicht anzumerken, ob seine Kräfte nachließen. Er mußte wirklich sehr aufgeregt sein, dachte Kit bei sich.
Eine Dreiviertelstunde verstrich, ohne daß sie viel geredet hatten. Zu dritt hintereinander folgten sie einem engen, steinigen Pfad, der sich durch das hohe gelbe Gras und die wilden Blumen wand, die den Frühling ankündigten. Kleine Tierchen huschten vor ihnen über den Pfad, und scheinbar aus dem Nichts flogen Vögel vom Boden auf. Es war ein schönes Land, und seine natürliche Harmonie tat den Wanderern gut.
Kit träumte von ihrem Vater vor sich hin, als ein lauter Ruf von Raist sie in die Gegenwart zurückriß. Raist hüpfte zwischen Kit und Gilon auf und ab, zog sie am Ärmel und zeigte nach vorne, während er rief: »Seht doch, seht, das ist sie! Die Schule!«
Ein Felsen ragte ganz unvermittelt wie eine kleine Insel mitten im Meer aus der gleichmäßigen Landschaft auf. Eben hatten sie ihn noch nicht gesehen. Die gleißende Sonne ließ sie ihre Augen mit der Hand beschatten. Der Felsen bildete einen steilen Hügel, dessen Ausmaße im hellen Sonnenlicht schlecht zu erkennen waren. Die Farben waren verblichen, die Seiten mit Kalkstein bedeckt, die Spitze nicht zu sehen. Kitiara mußte blinzeln, damit sie glauben konnte, was sie sah.
»Das ist sie! Das ist sie! Seht ihr denn nicht?« forderte Raistlin sie mit offensichtlicher Ungeduld auf.
Beim Näherkommen erkannten Kit und Gilon, was Raistlin meinte: die helle Steinfassade eines Eingangs, der so perfekt an seine Umgebung angepaßt war, daß er für Vorbeigehende fast unsichtbar war. Durch diese Tarnung sorgte der Zauberer für das Besondere an seiner Schule und beschützte gleichzeitig seine Schüler vor möglichen böswilligen Anschlägen durch die ansässige Bevölkerung, die – wie die meisten intelligenten Wesen auf Krynn – Zauberei mit Skepsis, Mißtrauen oder offener Feindseligkeit begegneten.
Gilons staunendes Gesicht verriet, wie sehr der ungewöhnliche Ort den Holzfäller beeindruckte. Raist hingegen zeigte keinerlei Ehrfurcht. Viel eher sah das Kind zufrieden aus, als könne es an diesem Ort nichts beeindrucken.
Die Zauberschule war in den Hügel gebaut und durch Felsen und den kargen Bewuchs darauf getarnt. Zwischen dem Geröll und den Büschen hindurch konnte man aus der Nähe auch das Gebäude ausmachen. Kitiara sah hoch und entdeckte etwas, bei dem sie sich fragte, wie sie es hatte übersehen können. In regelmäßigen Abständen stiegen Enten und andere Wasservögel von der Spitze des felsigen Hügels auf, was sie auf den Gedanken brachte, daß es dort einen versteckten Teich geben mußte.
Als sie in ein paar Metern Entfernung stehenblieben, hörten sie ein leises Rumpeln, und mit erstaunlicher Leichtigkeit schwang die schwere Eingangstür auf. Jemand hatte aufgemacht, ohne daß sie irgendwie auf sich aufmerksam gemacht hatten! Während sie Raistlin nach drinnen folgte, mußte Kit Gilon einen Rippenstoß versetzen, weil dessen Mund ganz unhöflich offenstand. Die Tür fiel hinter ihnen wieder zu.
Sie standen am Anfang eines Korridors mit Wänden aus glattem Alabaster, der sich langsam im Uhrzeigersinn nach oben schraubte. Der Gang hatte keine sichtbare Lichtquelle, sondern die Helligkeit schien direkt aus dem blaßgrauen Stein hervorzudringen. Raistlin war bereits vorgelaufen. Gilon und Kit eilten ihm hinterher. Der gewundene Gang führte an zahlreichen, fest geschlossenen Eisentüren vorbei, an denen Raistlin jedoch vorbeilief, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Er wirkte sehr zielstrebig.
Zehn Minuten lang folgten sie dem spiralförmigen Gang und kamen dabei nach Kits Zählung an siebenundzwanzig Türen vorbei. Schließlich waren sie oben – oder zumindest am Ende des merkwürdigen Gangs. Vor ihnen lag eine eindrucksvolle eiserne Doppeltür, deren schwarzes Metall mit Runen und fein eingearbeiteten Zaubersprüchen verziert war.
Kit merkte, wie sie zurückblieb und sich dicht an Gilon hielt. Ihr kleiner Bruder hatte die Türen als erster erreicht, schien jedoch mit dem Anklopfen zu zögern. Er stand leicht vorgebeugt davor, als ob er herausfinden wollte, was ihn wohl dahinter erwartete. Es blieb Gilon überlassen, ein paar Sekunden später neben seinen Sohn zu treten, um einfach zu klopfen.
Kit wartete unruhig, nicht mehr aus Nervosität, sondern weil sie sich über denjenigen ärgerte, der diesen ganzen Hokuspokus veranstaltete. Das alles diente ganz offensichtlich dem Zweck, Besucher einzuschüchtern.
Die drei – ein schlicht gekleideter, stämmiger Holzfäller, ein kleinwüchsiger Sechsjähriger und ein schlankes, junges Mädchen mit dunklem Lockenkopf – warteten in unterschiedlicher Haltung, doch allen gemeinsam war ihre Ungeduld. Lange Zeit kam von der inneren Tür, anders als bei der äußeren, keinerlei Reaktion auf ihre Anwesenheit.
Schließlich quietschten die eisernen Angeln, und die Doppeltür schwang nach innen auf. Gilon, Raist und Kitiara betraten einen großen, kreisrunden Raum ohne Fenster oder Lampen. Jedes Stückchen Wand war mit Bücherregalen zugestellt, die sich unter ihrer Last bogen – Hunderte von geheimnisvollen, in Leder gebundenen Büchern, dazu Hunderte von einfachen, mit Zahlen versehenen Bänden, eine ganze Wand voll dünner Schriften und Hefte mit akkurat geordneten Aufsätzen, eine weitere Wand mit gelben, zerfallenden Manuskripten, die sorgfältig mit Bändern verschnürt waren, und reihenweise weitere Aufzeichnungen und Ordner.
Durch die durchscheinende, kuppelförmige Decke drang gedämpftes Licht herein. Erst als Kit beim Hochgucken draußen einen Hecht schwimmen sah, der mit der Schwanzflosse schlug, erkannte sie, daß dieses Zimmer direkt unter dem Teich auf dem getarnten Berg lag.
In der Mitte des Raums stand ein riesiger Holztisch, hinter dem eine verhüllte Gestalt wartend saß. Die Kapuze, die das Gesicht verhüllte, hatte die Farbe der ausgeblichenen Steine, die über den Berg verteilt waren. Wie jedes Kind auf Krynn wußte, war das ein Zeichen dafür, daß der Zaubermeister mit den Kräften des Guten im Bunde war.
Unvermittelt schlug der Magier seine Kapuze zurück, unter der sein kurzgeschorenes, stahlgraues Haar zum Vorschein kam. Schwarze Augen blitzten die Besucher an.
»Ich bin Morat. Ich sollte euch in meiner bescheidenen Studierstube willkommen heißen, doch ihr seid ohne Einladung aufgetaucht, und – «, hierbei seufzte Morat und machte eine müde Handbewegung, »– ich kann wenig Zeit auf ungeladene Gäste verschwenden. Also bitte ich euch, euer Anliegen vorzubringen und wieder zu gehen.«
Gilon straffte seine Schultern und trat vor.
»Wenn Ihr so gut sein wolltet, Herr, ich bin Gilon Majere, hier aus Solace. Ich möchte meinen Sohn, Raistlin Majere, in Eure Zauberschule schicken, die in dieser Gegend wohlbekannt ist. Ich weiß, daß er noch recht klein ist, aber er hat bereits Interesse und Begabung für Eure Kunst bewiesen. Als er noch nicht einmal fünf war, konnte er schon einem Wanderzauberer die Tricks abgucken und nachmachen, der auf dem Markt des Roten Mondes auftrat.«
Gilons Zuversicht war während seiner kurzen Rede gewachsen. Am Ende strahlte er richtig vor Vaterstolz.
»Schön!« Mit deutlichem Sarkasmus richtete Morat dieses Wort an Gilon, wobei er das kleine Kind neben seinem Vater überhaupt nicht beachtete. »Hat ein paar Taschenspielertricks nachgemacht, ja? Ein Wunderkind, ja? Nein, das glaub’ ich nicht. Da muß man doch wohl unterscheiden. Reine Fingerfertigkeit hat nichts mit echter Magie zu tun. Ein richtiger Schüler würde das wissen.«
Der Zaubermeister fixierte Raistlins blasses, ovales Gesicht. Raist erwiderte den Blick ungerührt. Kit bewunderte die Unerschrockenheit ihres kleinen Bruders.
Raistlin hatte das ganze letzte Jahr dauernd von Zauberei geredet und häufig Fragen gestellt, auf die Kit keine Antwort wußte. Er hatte das Thema vor jedermann aufgebracht, selbst vor seiner Mutter. Kit wußte, daß Raistlin auf die paar Illusionen stolz war, die er sich hatte abgucken können. Sie wußte, daß ihn die Möglichkeiten und die Macht stärkerer Magie faszinierten. Und sie haßte diesen Zauberer, der ihn wie ein Dummerchen behandelte.
So wie sie einst um das Leben des Neugeborenen gekämpft hatte, konzentrierte sich Kit jetzt darauf, ihren kleinen Bruder bei diesem ungleichen Willensduell geistig zu unterstützen. Sie war sich nicht sicher, aber sie glaubte, einen Hauch von Neugier in Morats strengem Gesichtsausdruck zu entdecken, als Raist nicht nachgab, sondern dem durchdringenden Blick standhielt.
»Selbst wenn das etwas zu sagen hätte«, fuhr Morat wie nebensächlich fort, »nehme ich Schüler erst frühestens ab acht an, und sie müssen dazu fähig sein, schwierige und unverständliche Lektüre leicht zu lesen. Meine Schule ist nicht für Grundlagen da. Der Junge hier ist zu klein. Zu jung. Er würde hinter den anderen herhinken, die bereits in vielerlei Hinsicht junge Männer sind.«
Gilon wollte gerade antworten, als Raistlin seine Verteidigung selbst übernahm. »Ich kann lesen«, sagte er einfach. »Ich kann alles lesen.«
Morat wirkte erzürnt. Er stand von seinem Stuhl auf, ging zu einem nahen Bücherregal und zog dort nach kurzem Überlegen einen der dickeren, geheimnisvolleren Bände heraus, um ihn dann Raistlin zu geben, der unter dem Gewicht kurz ins Taumeln geriet. Der Sechsjährige setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, das Buch auf dem Schoß. Dann sah er fragend den Zaubermeister an.
»Schlag das dritte Kapitel auf«, befahl Morat, »und fang an, den vierten Absatz vorzulesen. Richtige Betonung, bitte.«
Mit gewissen Schwierigkeiten öffnete Raistlin das verstaubte Buch und überflog das lange Inhaltsverzeichnis. Ganz in seine Aufgabe versunken, fuhr sein Finger durch das Verzeichnis, suchte die Seitenzahl des Kapitels und schlug es auf. Wieder nahm er den Finger, um den richtigen Absatz zu finden, den er dann mit belegter Stimme vorlas.
»Ein Zauberer verwandelt seinen Körper in einen Kanal für Energieströme und Wirbel von allen Existenzebenen. Durch die richtigen Gesänge kann er bestimmte Kräfte oder bestimmte Kombinationen von Kräften anziehen und dann umformen und so lenken, wie er es wünscht…«
Morat starrte Raistlin durchdringend an. Kit kam es so vor, als wollte der Zaubermeister seine Reaktion verbergen. In jenen Tagen waren Zauberkundige selten; sie konnte sich vorstellen, daß er es sich kaum leisten konnte, Schüler abzuweisen. Doch Magier waren meist sehr eingebildet und handelten weder logisch noch aus Notwendigkeit. Morats Bedingungen mußten erfüllt werden. Entschlossen las Raist weiter.
»Das reicht«, meinte Morat kurz angebunden, riß dem Jungen das Buch aus den Händen und stellte es ins Regal zurück.
Raist, der mitten im Satz unterbrochen wurde, sah überrascht auf. Seine Augen brannten vor Zorn, das sah Kit. Sie wußte, daß in ihren Augen, die seinen so ähnlich waren, der gleiche Ausdruck stand. Gilon wartete an der Seite. Seine großen Hände hingen ungelenk herab. Er schwieg, denn er wußte nicht, wie er sich verhalten sollte.
Morat lief verärgert im Kreis herum. Er faßte ein paar Bücher an, als er ein paar Regale streifte. Vor lauter Konzentration ignorierte er die drei Besucher praktisch völlig, die gespannt seine nächste Reaktion erwarteten. Kit und Gilon sahen sich verunsichert an.
Das Sonnenlicht, das von oben hereinfiel, verlieh dem Zaubermeister eine goldene Aura, als er an Kit vorbeikam. In dem Moment, bevor seine strengen Züge wieder im Schatten lagen, bekam Kit einen weniger einschüchternden Eindruck von Morat.
»Antworte mir«, sagte der Zaubermeister plötzlich zu Raistlin, der immer noch im Schneidersitz auf dem Boden saß. Erwartungsvoll stand der Junge auf. »Was glaubst du, welchen Spitznamen dieser Ort hat, ein Name, den ich nicht kennen sollte, der aber hinter meinem Rücken allen Zauberlehrlingen geläufig ist?« Die Andeutung eines – nicht ganz unfreundlichen – Lächelns umspielte Morats Lippen, als er sich zu Raistlin herunterbeugte.
»Nun, es ist die Zauberschule, was sonst?« platzte Gilon heraus.
Kitiara warf ihrem Stiefvater einen vernichtenden Blick zu. Gilon setzte eine selbstbewußte Miene auf, als er merkte, daß er einen Bock geschossen hatte.
»Nein, nein«, sagte Morat verächtlich. »Laß den Jungen antworten.«
Es folgte ein kurzes Schweigen, in dem Morats und Raistlins Blicke sich trafen. Wieder zuckte der kleine Junge nicht mit der Wimper, sondern widerstand den Augen des Zaubermeisters.
»Du brauchst dich nicht zu zieren, es ist kein Geheimnis«, meinte Morat mit spöttischer Jovialität. »Aber nur die, die das Privileg genießen, hier zu lernen, erfahren davon. Konzentrier dich, Junge. Rate mal. Oder gibst du auf?« Alte Bergspitze, riet Kitiara für sich.
Raistlin ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Bergspitze wäre die offensichtliche Antwort«, sagte er schließlich langsam, »und – «
»Falsch! Falsch!« fauchte Morat und richtete sich wieder auf. Sein Triumph war etwas zu offenkundig.
»Ihr habt mich nicht ausreden lassen!« schimpfte Raistlin, der höchst respektlos die Stimme erhob. Gilon zuckte zusammen. Kitiara mußte ein Lächeln unterdrücken.
»Und deshalb, wollte ich sagen, haben sie wahrscheinlich einen Namen wie Teichgrund oder Trockensee erfunden. Ich weiß nicht, was daran wichtig ist oder wieso das ein Test sein soll«, endete Raistlin mürrisch.
»Es ist auch nicht wichtig!« erregte sich Morat seinerseits mit erhobener Stimme und zusammengebissenen Zähnen. »Ich habe nicht behauptet, daß es wichtig ist!«
Der Zaubermeister schlug seine Robe um sich und kehrte mit offenbarem Zorn zu der eisernen Doppeltür zurück. »Ihr könnt jetzt gehen«, befahl er.
Mit enttäuschter Miene liefen die drei zum Ausgang zurück, doch Morat verstellte Raist, der als letzter kam, den Weg.
»Du nicht«, sagte er nachdrücklich. Als die anderen ihn erklärungsheischend ansahen, meinte Morat etwas pikiert: »Es ist wirklich Teichgrund. Teichgrund! Blöder Name. Wenn sogar ein Sechsjähriger darauf kommt, könnte die Schule genausogut Misthaufen heißen!«
Achselzuckend riß der Zaubermeister an einer Schnur, die neben der Tür herunterhing. Eines der schweren Bücherregale schwang wie ein Schleusentor auf und enthüllte dahinter ein rechteckiges, karg möbliertes Nebenzimmer mit einem einfachen Tisch und zwei schlichten Stühlen. Auf dem Tisch lagen Papier und Schreibzeug und dazu ein paar Bücher.
Morat drehte Raistlin um und schubste ihn in den kleinen Raum. Dann redete er wieder mit Gilon und Kitiara, welche staunend die Augen aufrissen.
»Ich muß eine genauere Prüfung durchführen«, erklärte Morat in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. »Kommt heute abend wieder.« Ohne weitere Umschweife schlug ihnen der Zaubermeister die Doppeltür vor der Nase zu.
Kit schäumte. »Was glaubt dieser Gossenzwerg von Zauberer eigentlich, wer er ist? Ich finde nicht, daß wir Raistlin hierlassen sollten.«
Aber das meiste davon war nur hilfloses Gestammel, denn Gilon hatte seine Stieftochter fest am Arm gepackt und schob sie rasch den Wendelgang hinunter und aus der Schule namens Teichgrund hinaus.
»Es wird Raistlin guttun, diese alte Kunst zu lernen«, sagte Gilon freundlich, als er sie draußen losließ. »Es bedeutet ihm viel. Aus diesem Grunde können wir Morats Ungastlichkeit ruhig ignorieren. Nutzen wir den Tag für den Jahrmarkt von Solace.«
Kit sah sich grimmig, aber ziellos um, bevor sie mit den Schultern zuckte. Im Grunde war es eine einmalige Gelegenheit, mal einen halben Tag allein zu verbringen. Und auf dem Weg nach Solace zum diesjährigen Markt des Roten Mondes hob sich sofort ihre Stimmung.
Auf einer kleinen Anhöhe blieb sie stehen und drehte sich noch einmal nach der Zauberschule um. Es überraschte sie nicht, daß sie den Umriß des weißen, felsigen Hügels kaum ausmachen konnte, der im grellen Schein der späten Morgensonne fast unsichtbar war.
Kit sah Gilon an, der schweigend neben ihr stand. Er war ganz anders als ihr richtiger Vater. Trotzdem und trotz der Tatsache, daß Holzfällen ihr wenig imponierte und sie das eintönige Leben von Gilon nicht mochte, gefiel es Kit, wie sich ihr Stiefvater um die Zwillinge kümmerte. Und es gefiel ihr, daß er nie versucht hatte, sie herumzukommandieren. Gilon war alles in allem nicht völlig blöd.
Nach einem tiefen Seufzer sagte Kit mit gezierter Stimme, indem sie die des Magiers nachahmte: »Teichgrund! Könnte auch gleich Misthaufen heißen!«
Kit grinste Gilon verschmitzt an, und beide lachten los.
Es war ein herrlicher Tag. Die Umrisse der Bäume, die der Winterwind kahlgeblasen hatte, waren bereits mit einem zarten, reinen Grün belaubt. Kitiara und Gilon schwiegen einträchtig, während sie auf den Marktplatz am Nordrand von Solace zusteuerten. Zuerst hörten sie nur den Lärm, dann kamen sie über einen kleinen Berg und sahen die strahlend bunten Fahnen und Zelte.
Der Festplatz fing etwa eine Meile unterhalb des Hügels an, auf dem sie jetzt standen, gleich an der Straße. Von dort aus erstreckte er sich wie eine kleine Stadt. Es gab grasbewachsene Promenaden, an denen Zelte und Stände anstelle von Häusern standen. Dazwischen lagen immer wieder kleine, freie Plätze, auf denen zahlreiche Vorstellungen stattfanden.
Als Kitiara und Gilon die Straße hinuntergingen, musterte Kit die Menschen, die zum Markt kamen, denn sie hoffte immer noch, einen Mann mit dunklen Locken zu sehen, der die meisten anderen um einen Kopf überragte, und der beim Anblick seiner Tochter nach all diesen Jahren vor väterlichem Stolz strahlen würde.
Statt dessen entdeckte sie einen Magier in schwarzer Robe, der durch die Menge glitt und leicht auszumachen war, weil die Leute ihm so schnell auswichen. Sie sah eine Kenderfamilie, deren Vater über einer Karte grübelte, während die Mutter stolz ihr kleines Mädchen betrachtete. Kit lächelte in sich hinein, als sie die Kleine beobachtete, die auf und ab hüpfte, bei jeder neuen Entdeckung in die Hände klatschte und Steine und Papierfetzen einsteckte – und hier und da ein paar glänzende Nippsachen, ob sie nun jemandem gehörten oder nicht.
Von zahlreichen Ständen wehten Düfte herüber, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Es war noch nicht Mittagszeit, aber die morgendliche Wanderung hatte Kit einen nagenden Hunger beschert. Ihr knurrender Magen lenkte sie von dem ab, was sie sah und hörte. Sie blieb stehen und sah in ihrem Sack nach, ob sich noch etwas Brot oder Käse darin befand, und dabei merkte Kit, daß Gilon nicht mehr neben ihr war. Eine Minute später tauchte er wieder auf. Er trug zwei dampfende Schalen Ziegenfleischsuppe.
»Ich dachte, du bist vielleicht hungrig«, sagte Gilon einfach, während er ihr eine Schale reichte. Kit lächelte ihn dankbar an. Dann drängelten sie sich durch den Strom der Menschen zu einer Bank im Schatten einer Eiche.
»Ich dachte mir schon, daß ich dich auf dem Markt finden würde, aber ich hatte dich bei der Schwertkampfausstellung erwartet, nicht faul im Schatten eines alten Baums.«
Die Stimme verriet gutmütigen Spott. Kit blickte über die Schulter und entdeckte die wie üblich herausgeputzte Aurelie in einem fließenden, zartbunten Kleid. Im letzten Jahr war ihr Körper aufgeblüht, und sie war kein Mädchen mehr, sondern schon fast eine junge Dame. So verschieden sie auch voneinander waren, Kit freute sich immer, die Freundin zu sehen.
»Hallo, Meister Majere«, sagte Aurelie mit niedlichem Lächeln zu Gilon.
Kit sah zu, wie ihr Stiefvater etwas verlegen aufstand, weil er offensichtlich von Aurelie bezaubert war, sich aber auch fehl am Platze vorkam.
»Ähm, schön dich zu sehen, Aurelie«, sagte Gilon. »Soll ich dir eine Schale Suppe holen?«
»Ach, nein, ich habe keinen Hunger«, sagte Aurelie, die dabei ihre rotblonden Locken schüttelte. »Ich weiß nicht, wo Kit das viele Essen hinsteckt, das sie vertilgt.«
»An dieselbe Stelle, wo du die Krapfen hinsteckst, die du dir jeden Tag beim Bäcker holst«, murmelte Kit so leise, daß es nur Aurelie hören konnte. Die beiden Mädchen fingen an zu kichern, und Gilon schloß sich dem an; er hatte zwar den Witz nicht richtig verstanden, aber er genoß die gute Laune.
Kit war mit ihrer Ziegensuppe fertig und stand auf.
»Aurelie und ich schauen uns mal nach ein paar, äh, Gauklern um«, sagte Kit ohne Überleitung zu Gilon. Ein verschwörerischer Ausdruck glitt über das Gesicht ihrer Freundin. »Wir treffen uns in vier Stunden an der Kreuzung hinter dem Markt und gehen dann zurück, um Raist abzuholen. In Ordnung?«
Gilon, der den Mund voll Suppe hatte, konnte nur nicken und sie mit einer Handbewegung verabschieden.
»Mmmm, Gaukler. Na schön, dann machen wir uns mal auf die Suche nach diesen aufregenden Wesen«, neckte Aurelie, die Gilon noch über die Schulter anlächelte, während die zwei Mädchen Arm in Arm abzogen.
Sie waren noch nicht sehr weit lachend durch die Menge gebummelt, als eine andere bekannte Stimme sie aufhielt.
»Aurelie! Wir wollten uns doch schon vor einer Stunde am Stand des Kleiderhändlers treffen.« Vor den beiden Freundinnen stand Aurelies Mutter, die Hände in die Hüften gestemmt.
Sie war eine einfache Frau mit braunem, welligem Haar und hängenden Mundwinkeln. Die Tochter trug Spitzen, die Mutter hingegen gewöhnlich schlichte Kittel.
Wie so oft, wenn sie Aurelies Mutter traf, dachte Kit, daß ihre beste Freundin ihr Aussehen bestimmt vom Vater geerbt hatte. Ihr Vater arbeitete hart, hatte ein faltenreiches, aber schönes Gesicht und immer strahlende Augen.
»Ach, hallo, Kitiara.«
Kit entging der kühle Ton nicht. Aurelies Mutter hatte die Freundschaft ihrer Tochter mit Kit noch nie gutheißen können, der Tochter »dieses verantwortungslosen Kriegers und seiner armen, verrückten Frau – die er sitzengelassen hat.«
Aurelie zuckte mit den Achseln und zwinkerte Kit fast unwahrnehmbar zu, bevor sie daran ging, ihre Mutter zu besänftigen. Sie nahm die Frau am Ellenbogen und begann, sie durch die Marktbesucher zum Stand des Kleiderhändlers zu schieben. »Ich war gerade auf dem Weg zu dir, Mutter, aber da haben Kit und ich Minna getroffen. Du weißt ja, was das für eine Tratschtante ist, aber du hast mir schließlich beigebracht, niemals unhöflich zu Erwachsenen zu sein. Jedenfalls… «
Als sie außer Hörweite von Kit waren, drehte sich Aurelie um und winkte Kit entschuldigend zu.
Jetzt war diese für den Rest des Tages allein. Auch gut. Kit hatte so selten Zeit für sich.
Kit ließ den Lärm und die Massen auf dem Markt hinter sich und trieb auf das große Lager zu, wo Hunderte von Besuchern, die extra für dieses Ereignis nach Solace gekommen waren, ihre Unterkunft hatten. Der grasbewachsene Platz war mit Zelten, Vorzelten, Wohnwagen, Schlafdecken und Hängematten übersät. Gruppenweise standen die Leute zusammen, redeten und lachten laut und teilten Essen und Trinken – Trödler und Kaufleute, Barden auf Wanderschaft, ehrliche wie unehrliche Händler, Illusionisten, Schwätzer und gelegentlich ein Krieger, der nur der dicksten Geldbörse treu war.
Kit wich einem hageren Kleriker aus, der auf einem Baumstumpf stand und jedem, der ihm zuhörte, lautstark von der Allmacht der neuen Götter erzählte. Es hörten kaum Leute zu, und Kitiara machte um Kleriker immer einen großen Bogen.
Ziellos streifte sie in dem großen Lager herum, wobei sie die Gesichter und Kleidung der Leute nach Hinweisen darauf absuchte, wo sie wohl herkamen und wohin sie wollten.
Die Menschen hier waren für Kit interessanter als die Waren und Vergnügungen auf dem Jahrmarkt. Sie merkte, daß sie in einem Teil des Lagers gelandet war, wo mehr getrunken als gegessen wurde, und wo die Besucher auf ihr Geld und ihr Leben zu achten hatten – damit sie sich nicht mit gespaltenem Schädel und leeren Taschen im Graben wiederfanden. Aber Kit hatte selber leere Taschen und vertraute darauf, daß sie auch mit schwierigen Situationen umgehen konnte. Notfalls konnte sie immer noch davonrennen.
Kitiara wollte gerade umkehren, als ihr rauhes Lachen und leises Streiten an die Ohren drang. Rechts von ihr entdeckte sie zwischen zwei Vorratszelten vier eng beieinandersitzende Männer, die hitzig redeten. Ihr sechster Sinn sagte ihr, sie solle diese Unterhaltung unbedingt belauschen.
Um dichter heranzukommen, schlich sich Kit in das Nachbarzelt, bis sie nur noch durch eine dünne Stoffplane von der Gruppe getrennt war. Durch einen kleinen Riß konnte sie erkennen, daß es vier Männer waren; dem Aussehen ihrer Kleidung und ihrer Waffen nach handelte es sich um Söldner. Einer von ihnen, den sie nur von der Seite sehen konnte, kam ihr irgendwie bekannt vor.
»Ich sage, wir töten ihn nicht. Wir entführen ihn und lassen ihn später gegen Lösegeld frei. Damit können wir doppelt absahnen.«
»Nein! Vergiß das Lösegeld. Wir sollen ihn nicht umbringen, und wir sollen ihn nicht entführen. Ich sage euch, wir werden wirklich gut bezahlt. Jeder von uns, und wir haben nichts zu bereuen.«
Die erste Stimme klang weinerlich. Die zweite – Kit wußte, daß sie diese Stimme schon mal gehört hatte, aber wo? Sie suchte sich eine bessere Position, konnte jedoch keines der Gesichter erkennen, weil alle die Köpfe eng zusammensteckten. Und sie konnte auch nicht alles verstehen, weil die Männer leise redeten.
»Wie weit ist es?« fragte ein dritter Mann mit tiefer, einschmeichelnder Stimme.
»Ungefähr sechs Tagesreisen nach Norden«, erwiderte die bekannte Stimme. »Ich kenne den Weg, aber wir müssen die Straßen meiden. Ich schätze, mindestens sechs Tage. Damit haben wir noch Zeit, die Falle aufzubauen. Unserem Informanten zufolge – «
Ein Auflachen des Weinerlichen ließ alle stocken.
»Unserem Informanten zufolge muß Gwatmeys Sohn die Lieferung persönlich, pünktlich und vertragsgemäß durchführen. Also wird er weder vom Zeitplan noch vom Weg abweichen.«
»Ich finde immer noch, wenn wir Lösegeld fordern, verdoppeln wir – «, fing die weinerliche Stimme wieder an.
»Vergiß es, Radisson«, sagte der Verschwörer mit der tiefen Stimme nachdrücklich. »Ursa hat recht. Wir machen es so, wie er sagt.«
Kitiara blieb fast das Herz stehen. Natürlich! Das war der Mann, den sie an jenem Tag vor langer Zeit getroffen hatte, als Rosamund die Zwillinge bekommen hatte. Ursa Il Kinth. Was mochte er wohl vorhaben? Die dritte Stimme hatte offenbar die Entscheidung besiegelt.
»Dann sind wir uns einig«, hörte Kit Ursa sagen. »Wir treffen uns in drei Tagen um Mitternacht jenseits des Eichenwäldchens im Norden der Stadt. Wir reiten ein, zwei Stunden im Mondlicht, bis wir Stadt und Höfe sicher hinter uns haben. Dort können wir lagern.«
Es folgte wieder eine Pause, bis Ursa abschloß: »Jetzt trennen wir uns, halten uns voneinander fern und gehen bis dahin auch allem Ärger aus dem Weg.«
Der mit der weinerlichen Stimme – Radisson – meuterte noch leise, doch die Gruppe ging auseinander. Kit kroch hinter eine Kiste, um ihnen Zeit zu lassen. Dann flitzte sie aus dem Zelt und sah sich hektisch um. Die anderen waren in der Menge zwischen den Zelten untergetaucht, aber zu ihrem Glück entdeckte sie Ursas breiten Rücken und seine große Gestalt in einiger Entfernung.
Nachdem sie ihm nachgerannt war, folgte Kit Ursa ein paar Minuten lang, während er durchs Lager schlenderte, ohne mit irgendwem ein Wort zu wechseln. Sie mußte sichergehen, daß Ursa allein war. Schließlich schloß sie mit ihm auf und lief neben ihm her.
Nach etwa dreißig Schritten fiel Ursa schließlich die kleine, weibliche Gestalt in der grünen Tunika mit den braunen Hosen auf, die neben ihm lief. Nachdem er ihr kurz zugenickt hatte, ging Ursa schneller. Wegen seiner langen Beine mußte Kit in Trab fallen, um mit ihm Schritt zu halten. Eine Minute später hatten sie den Südrand des Lagers erreicht, wo ein Stall eingerichtet worden war. Hier hielten sich kaum Leute auf.
Nachdem sie beschlossen hatte, daß das Risiko äußerst gering war, rief Kit ihn etwas außer Atem beim Namen: »Ursa Il Kinth.«
Langsam drehte er sich um und stellte sich breitbeinig, mit der Hand am Griff seines Dolches im Gürtel, diesem fremden Mädchen.
»Du mußt dich irren«, sagte er warnend. »Ich kenne dich nicht.«
»Heute kann ich dir keinen Apfel anbieten, aber ich habe etwas Besseres«, köderte Kit ihn mit einem Grinsen.
Ursa starrte sie ungläubig an, als würde er jemanden erkennen, den er nicht erwartet hatte. Rasch fing er sich wieder und stieß ein bellendes Gelächter aus. »Du!« Er streckte die Hand aus und verpaßte Kit einen »freundschaftlichen« Knuff aufs Ohr. »Na, du bist aber gewachsen – zumindest ein bißchen!«
»Ich bin gewaltig gewachsen«, sagte sie und warf beleidigt den Kopf zurück.
Lachend musterte er sie. »Allerdings«, meinte er. »Aber was könnte Gregor Uth Matars Tochter haben, was mich interessieren sollte?« fragte er. Sein Tonfall war abwertend, obwohl seine Augen freundlich blickten.
»Schlaue Hilfe.«
»Ich bin wirklich schlau genug. Vielen Dank, junge Dame.« Ursa zog das Wort spöttisch in die Länge.
»Du vielleicht schon, aber was ist mit deinen drei Kumpanen? Raub und Entführung sind eine ernste Sache, und vielleicht ist es ganz praktisch, jemanden dabei zu haben, der nicht nur kämpfen, sondern auch denken kann.«
Ursa packte sie am Arm. Aus seinem Gesicht war jede Spur von Humor verschwunden. »Meine drei Freunde sind schlau genug, ihre Pläne nicht mitten auf einem Lagerplatz herauszuposaunen«, fauchte er sie an, wobei er sich nervös umsah, ob jemand etwas mitbekommen hatte.
Er zerrte sie näher an die Seile der Pferdekoppel, um sich dann drohend zu ihr herunterzubeugen. »Was weißt du?« wollte Ursa wissen, der sie weiter festhielt.
»Nicht viel, und das ist die Wahrheit«, sagte sie wütend, starrte ihn genauso drohend an und versuchte, ihn abzuschütteln.
»Aber ich weiß, daß ihr dumm wäret, mich abzuweisen. Ich kann mit einem Schwert umgehen, und ich bin kein Narr wie, wie… Radisson!«
Zornig schweigend funkelte er sie an.
»Nimm mich bei euch auf«, beharrte sie.
Ursa schnaubte. »Meine Partner sind gierig. Sie würden den Topf nur ungern mit noch einer Person teilen, besonders« – er stieß das Wort verächtlich heraus – »nicht mit einem Mädchen. Vergiß Radisson. Und ich vergesse freundlicherweise unsere kleine Unterhaltung.« Seine Augen wurden etwas weicher. »Vielleicht kann ich dich gebrauchen, wenn wir uns mal wieder begegnen«, sagte Ursa, der von ihr zurücktrat. »Es heißt doch, ›aller guten Dinge sind drei‹. Bis dahin, leb wohl, Kitiara.«
Ursa rief laut. Sein Pferd, dasselbe kräftige, graue Tier, an das sich Kit noch erinnern konnte, löste sich aus einem Grüppchen auf der Koppel, sprang mit Leichtigkeit über das Seil, das als Zaun diente, und trottete zu dem Söldner hin. Ursa schwang sich geschickt auf den ungesattelten Rücken seines Pferdes – genau wie damals – und verschwand.
Kit sah ihm eine Minute lang nach, während sie sich betreten den Arm rieb. Im Gegensatz zum letzten Mal, wo sie sich begegnet waren, wußte sie, wo und wann sie Ursa jetzt finden konnte. Sie ballte die Fäuste entschlossen und machte sich zu der Kreuzung auf, wo sie sich mit Gilon treffen würde.