Anruf bei Ralph


»Ralph, es tut mir so Leid, dass ich das mit Phil Cafagna versaut habe.«

»Schon gut. Vergiss es einfach.«

»Ich will es aber nicht vergessen. Und diese Nacht mit dir war etwas ganz Besonderes.«

»Ich weiß. Für mich auch. Aber Glamorex bricht gerade zusammen, und ich kann mich um nichts anderes kümmern.«

»Duke hat mich verlassen, Ralph.«

»Was?«

»Er hat mich verlassen. Ich weiß nicht, wo er hin ist, aber er ist weg und hat Ray mitgenommen.«

»Das tut mir Leid, Bonnie, aber das ändert nichts. Und wenn Vanessa tot umfällt, ändert das auch nichts. Manchmal laufen die Dinge so, wie man sich das wünscht, manchmal eben nicht. Das ist Schicksal, wenn du so willst.«

»Ralph, bitte, ich… ich flehe dich an. Du hast mir so viel gegeben, du hast mich wieder daran erinnert, wie es ist, eine Frau zu sein. Was ich bei dir gefühlt habe, habe ich nie zuvor gefühlt. Nie. Und sag mir nicht, dir hätte es nicht auch gefallen.«

Zwanzig Herzschläge lang schwieg Ralph. Dann sagte er: »Ich liebe dich, Bonnie. Ich will dir nicht wehtun, aber wir müssen beide akzeptieren, dass wir die Chance verpasst haben.«

»Nein, Ralph, hör mir bitte zu…«

Aber dann hielt sie inne, weil sie plötzlich wusste, dass es keinen Zweck hatte. Dass ihr das Glück nicht vergönnt war. Sie stand in der Telefonzelle gegenüber dem Glamorex-Gebäude, sah Ralphs Silhouette hinter seinem Bürofenster und ließ langsam den Hörer auf die Gabel sinken. Sie sah, wie auch er auflegte, die Arme um seinen Körper schlang und den Kopf auf die Brust drückte, als leide er unter großen Schmerzen.

Falter

Sie rief alle Freunde von Ray an, die in dem Adressbuch standen. Keiner hatte ihn gesehen. Sie rief sogar Dukes Mutter an, die in einem Altenheim in Anaheim wohnte. Mrs Winter hustete, murmelte unverständliches Zeug und fragte ständig »Bonnie wer?«.

Sie rief auch ihre eigene Mutter an, die beinahe hörbar mit den Achseln zuckte. »Pah, so sind die Männer. Verdrücken sich einfach. Ich habe nie verstanden, warum du ihn geheiratet hast.«

Sie suchte im ganzen Haus nach Hinweisen, die das Verschwinden von Duke und Ray erklären könnten. Hinter dem Wasserkocher lag ein altes, feuchtes Hustler-Magazin. Unter Rays Schlafanzügen entdeckte sie ein Springmesser, und Alufolie mit Marihuana-Krümeln. Nichts von dem erklärte das Geschehen.

Ruth rief an. »Und? Haben die Landstreicher sich schon gemeldet?«

»Nein. Ich weiß immer noch nicht, was passiert ist.«

»Sie haben nichts gesagt?«

»Ich weiß es nicht mehr.«

»Das war erst gestern, und du weißt es nicht mehr?«

»Nein. Wir haben uns gestritten. Vielleicht war das der Anlass.«

»Du brauchst Tapentenwechsel. Komm doch rüber, wir lackieren uns die Nägel, quatschen und trinken ein bisschen.«

»Ich habe Angst, Ruth.«

Und da nahm sie plötzlich eine Bewegung an der Topfpflanze auf dem Fensterbrett wahr. Eine langsame, fließende Bewegung wie von einer Raupe.

»Moment Ruth, bleib mal eben dran.«

Langsam legte sie den Hörer auf den Tisch und ging zum Fenster. Mit der Spitze eines Kugelschreibers hob sie vorsichtig Blatt für Blatt an und schaute darunter. Unter dem dritten Blatt fand sie die dunkel gefleckte Raupe, Parnassius mnemonsyne, der Apollofalter, Itzpapalotl.

Bonnie starrte es regungslos an. Sie hörte die gepresste Stimme von Ruth aus dem Hörer: »Bonnie? Bonnie, was ist los? Bist du noch dran?«

Sie zog den Kugelschreiber vom Blatt weg und ging zum Hörer zurück. »Ruth, ich habe ein ungutes Gefühl.«

»Hör auf, Bonnie. Du kennst doch Duke. Der kommt wieder.«

»Ich muss mit Dan Munoz sprechen, ich glaube, etwas Schreckliches ist passiert.«

Dan kam anderthalb Stunden später. Er trug einen hellen Blazer und dazu ein schwarzes Seidenhemd.

»Hey, Bonnie, wie geht’s?«

Sie führte ihn ins Wohnzimmer. »Möchtest du einen Kaffee oder etwas anderes?«

»Nein, danke. Ich sollte eigentlich seit einer Viertelstunde drüben in La Brea sein. Ein Jugendlicher hat seinen besten Freund mit dem spitzen Ende eines Strandsonnenschirms niedergestochen.«

»Ich hätte dich gar nicht belästigt, aber ich hatte solche Angst.«

»Kein Problem. Dafür hat man doch Freunde.«

Sie reichte ihm ein leeres Marmeladenglas. »Das hab ich in meiner Pflanze gefunden.«

Dan hielt das Glas gegen das Licht und betrachtete die Raupe. »Hübsch hässlich, der Kleine, was?«

»Es ist dieselbe Schmetterlingsart, von der ich dir erzählt habe… ein Apollofalter.«

»Okay. Und?«

»Und Ray und Duke sind spurlos verschwunden und ich glaube, etwas Schreckliches muss geschehen sein.«

Dan schaute sich im Raum um. »Aha, etwas Schreckliches, sagst du. Was denn?«

»Also nehmen wir an, dass dieses Ding eine Art mexikanische Todesgöttin ist, dass sie tagsüber wie ein harmloser Falter aussieht und nachts zum Monster mit Messern an den Flügeln wird.«

Dan hatte den Mund offen und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Naaa gut, nehmen wir das mal an…«

»Sie könnte Duke und Ray getötet… und die Leichen weggebracht haben.«

»Okay, aber ich seh hier kein Blut. Sie hat doch Messer an den Flügeln, stimmt’s? Und auch noch eine Messerzunge. Also da wäre doch alles voller Blut, aber hier sieht’s aus wie in einer Ausgabe von Schöner Wohnen.«

»Dann hat sie sie vielleicht nur verschleppt.«

»Keine Spuren eines Kampfes. Und du hättest nichts davon mitgekriegt? Na hör mal, Bonnie.«

»Ich weiß es doch auch nicht. Es ist, als fehlt ein Stück meiner Erinnerung. Es ist wie ausgelöscht.«

»Du warst einfach übermüdet. Ich vergesse auch Dinge, wenn ich nicht genug Schlaf bekomme. Am besten, du gehst den gestrigen Tag noch mal chronologisch Schritt für Schritt im Kopf durch.«

»Das hab ich doch schon versucht.«

»Also, noch mal. Wo warst du überall? Am Morgen hast du in George Keighleys Haus geputzt… Wann warst du da fertig?«

»Um zwölf, vielleicht kurz nach zwölf.«

»Und dann? Hast du die Matratzen zur Riverside-Deponie gebracht?«

»Genau. Dann bin ich nach Hause gefahren und da waren Ray und Duke. Ich dachte nämlich, Duke hätte seinen ersten Arbeitstag im Century Plaza Hotel, aber das war eine Lüge, und darum haben wir uns gestritten.«

»Und ist er da schon weggegangen?«

»Nein… Ich habe Esmeralda so ungefähr um drei angerufen. Ich weiß noch, dass ich während des Telefonats aus dem Fenster gesehen habe, und da waren beide noch im Garten. Dann hab ich geduscht, was anderes angezogen und kurz nach sieben bin ich dann zu Esmeralda gefahren, um bei ihr diesen Juan Maderas zu treffen, der alles über mexikanische Mythologie und Volksglaube und so was weiß. Esmeraldas Vater war auch da.«

»Danach bist du gleich nach Hause gefahren?«

»Ja.«

»Um wie viel Uhr warst du zu Hause?«

»Keine Ahnung. Es war noch nicht sehr spät. Gegen halb zehn, würde ich sagen.«

»Und Ray und Duke waren da?«

Bonnie zog die Stirn kraus. Sie erinnerte sich daran, den Buick geparkt zu haben und ausgestiegen zu sein. Sie sah sich die Haustür öffnen, hörte sich »Gute Nacht, Duke, träum was Schönes«, sagen. Wenn sie zu ihm gesprochen hatte, musste er da gewesen sein.

»Duke war da«, sagte sie und nickte erst langsam, dann entschlossen. »Er war bestimmt da. Bestimmt hatte er ein paar Bier zu viel und ist früh ins Bett gegangen.«

»Und Ray?«

Sie hatte an seine Tür geklopft und »Gute Nacht, hör nicht mehr so lang Musik« gerufen. Also musste auch Ray da gewesen sein.

»Ja… Ray war auch da.«

Dan verzog das Gesicht. »Du weißt, was das bedeutet? Irgendwann in der Nacht sind Ray und Duke aufgestanden, haben sich angezogen und sind aus dem Haus, nicht ohne zuvor auf wundersame Weise die Tür von innen wieder zu verschließen.«

»Genau darum glaube ich ja, dass etwas Schreckliches passiert sein muss!«

»Also sind wir jetzt im Bereich des Übernatürlichen? Akte X, oder was? Das glaubst du doch selber nicht, oder?«

»Dann frag doch Howard Jacobson. Oder diesen Juan Maderas. Oder Esmeraldas Vater. Die scheinen alle zu glauben, dass dieses Insektenmonster wirklich existiert.«

Dan schlug sein Notizbuch auf. »Pass auf. Wenn ich in La Brea fertig bin, werde ich dir ein paar Jungs von der Spurensicherung schicken, damit die sich mal schnell hier umsehen, wenn du nichts dagegen hast.«

»Natürlich nicht. Wenn wir so herausfinden, was passiert ist.«

»Ich kann nichts versprechen, aber man weiß ja nie. In der Zwischenzeit telefonierst du weiter herum. Klapper Dukes Stammkneipen ab, sprich mit seinen Freunden.«

»Er hat keine Freunde.«


Загрузка...