Der Mystiker
Esmeralda lebte in einem sechsstöckigen Wohnblock an der Sechzehnten Straße nahe des Santa Monica Freeway. Der braune Klinkerbau stand allein zwischen zwei verwahrlosten leeren Grundstücken. Vor dem Gebäude spielten Kinder in einem ausgenommenen, fensterlosen Ford Mercury.
Um fünf vor acht an diesem Abend stellte Bonnie ihren Buick neben den Mercury und stieg aus. Sie überprüfte ihren Lippenstift im Rückspiegel, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Der Verkehr an dieser Straße war ohrenbetäubend, die Abgase trieben ihr die Tränen in die Augen. Sie stieg die wenigen Stufen zur angelehnten Haustür hoch. Sie war frisch gestrichen. Kastanienbraun. Der Linoleumboden dahinter war frisch gebohnert und auf Hochglanz poliert. Sie drückte auf den Klingelknopf für Apartment vier und wartete. Dann sagte eine männliche Stimme durch die Sprechanlage: »Quien?«
»Hier ist Bonnie Winter. Ich möchte bitte zu Esmeralda.«
»Ah ja, sie wartet schon. Kommen Sie bitte hoch.«
Sie ging den Flur entlang bis zum Aufzug. Eine der Apartmenttüren stand offen, und sie sah eine junge Frau vor einem Spiegel stehen und sich etwas ins Haar stecken. Aus dem Fernseher kamen spanische Stimmen. Das Mädchen lächelte sich im Spiegel an.
Der Aufzug war langsam und alt und stank nach Lysol, aber irgendjemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn mit sonnigen Postkarten aus Mexiko freundlicher zu gestalten.
Als die Aufzugtüren sich im vierten Stock öffneten, wartete Esmeralda schon davor. Sie trug ein karmesinrotes Satinkleid, das Bonnie noch nie an ihr gesehen hatte, und sogar ein karmesinrotes Band im Haar. »Juan ist schon da«, sagte sie im Flüsterton.
Sie schob Bonnie in ein kleines Wohnzimmer, das mit zu großen Möbeln aus den Fünfzigern zugestellt war: schokoladenbraunes Sofa mit Stickdeckchen auf der Rückenlehne, zwei schokoladenbraune Sessel, eine runder Tisch mit schokoladenbrauner Samttischdecke.
In der Ecke stand eine mit Porzellan und Nippes voll gestellte Vitrine. Auf dem Kaminsims standen, hingen und lagen so viele Kerzen, Rosenkränze, Ikonen, Marienbildnisse und -Statuen, dass der ganze Kamin wie der Altar in einer katholischen Kirche aussah.
Auf dem Sofa saß Esmeraldas Vater. Bonnie war ihm schon ein paarmal begegnet. Er war ein zurückhaltender Herr mit dichtem grauem Haar, Schnurrbart und stets makellosem weißem Hemd. In einem der Sessel saß ein dünner, fast schon abgemagerter Mann um die vierzig mit Aknenarben im Gesicht, scharf rasierten Koteletten, glatt zurückgegeltem Haar und tief liegenden Augen. Er war auf eine etwas wilde Art nicht unattraktiv. Unter einem schwarzen Anzug mit breitem Revers trug der Mann ein schwarzes Hemd mit silbernem Bolo-Tie.
»Bonnie, darf ich dir Juan Maderas vorstellen.«
Juan stand auf und ergriff mit beiden Händen Bonnies Rechte. Jetzt sah sie, dass er sicher an die zwei Meter maß, und sie roch sein blumiges Eau de Cologne, ein Duft, der Bonnie verunsicherte, weil sie sich plötzlich stark an die Blumen auf der Beerdigung ihres Vaters erinnert fühlte.
»Esmeralda hat mir von Ihnen erzählt«, sagte Juan mit tiefer rauer Stimme. »Sie scheinen ein ganz besonderer Mensch zu sein, bei der Tätigkeit, die Sie ausüben.«
»Ich gebe mein Bestes«, sagte Bonnie. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für mich nehmen.«
»Nein, nein, das mache ich doch gern. Außerdem hat mir Esmeralda von den Faltern erzählt und so mein Interesse geweckt.«
»Es ist nur so, dass ich diese Falter noch nie gesehen habe, und in meinem Beruf wird man so eine Art Experte für Insekten aller Art.«
»Setzen Sie sich doch«, sagte Esmeraldas Vater. »Bring etwas Wein, Esmeralda.«
»Danke, aber ich muss noch fahren«, sagte Bonnie.
»Dann vielleicht eine Cola?«
»Außerdem muss ich auf meine Figur achten. Wasser reicht mir, danke.«
Sie setzte sich neben Esmeraldas Vater auf das Sofa. Auch Juan Maderas setzte sich wieder und legte die langen, dünnen Finger aneinander. An seinem rechten Mittelfinger prangte ein silberner Ring mit Totenkopf.
»Esmeralda hat mir erzählt, Sie hätten einen Falter ins Universitätslabor gebracht?«, fragte Juan.
»Zu Professor Howard Jacobson, ja. Er ist der Beste auf seinem Gebiet. Er hat einige Bücher über Insekten und ihre Bedeutung für die Gerichtsmedizin geschrieben. Oft kann man bei einer Leiche erst anhand von Insektenbefall unter Berücksichtigung von Temperatur und Feuchtigkeit den genauen Zeitpunkt des Todes feststellen.«
»Und dieser Professor Jacobson war sicher, dass es sich bei dem Falter um einen Apollo handelt?«
»Ja. Und er hat mir von der Legende erzählt. Diese Dämonengöttin, deren Name ich nicht richtig aussprechen kann.«
»Itzpapalotl«, sagte Juan Maderas. Übersetzt heißt das Schmetterling aus Obsidian<. Man nennt sie so, weil die Ränder ihrer Flügel mit Messern aus Obsidian gespickt sind.«
»Das hat Howard erzählt. Und auch, dass ihre Zunge ein Messer ist.«
»Stimmt. Itzpapalotl fiel vom Himmel zusammen mit den Tzitzimime, die viele Gestalten annehmen konnten. Manchmal waren sie Skorpione, manchmal Kröten und sogar Stabheuschrecken. All diese Tiere sind für uns der Tod. Ein Tzitzimime nahm die Gestalt eines Affenschädels an. Er tauchte mitten in der Nacht an Straßenkreuzungen auf, und wenn ein Unglücklicher ihn sah, verfolgte der schreiende Schädel den Armen bis nach Hause.«
Juan Maderas nahm einen Schluck Wein, bevor er weitersprach. »Manchmal trug Itzpapalotl einen unsichtbaren Mantel, sodass Menschen sie nicht sehen konnten. Dann wieder war sie fein gekleidet wie eine Lady am Hofe eines Königs, eine Lady mit Fingern wie Jaguarkrallen und Zehen wie Adlerklauen.
»An bestimmten Tagen des aztekischen Kalenders flog sie als Schmetterling durch die Städte und Dörfer und führte einen Schwärm von toten Hexen an, die ebenfalls die Gestalt von Schmetterlingen angenommen hatten. Sie drangen in Häuser ein, flüsterten den Menschen böse Worte ins Ohr und brachten sie dazu, ihre Frauen und Kinder zu töten. Itzpapalotl vergrößerte so ihre Gefolgschaft, denn die treuesten Hexen waren die, die ihre Familien am meisten geliebt hatten und sie trotzdem töteten.
»Genau«, rief Bonnie und nickte. »Sie brachten die Menschen um, die sie am meisten liebten. Genau das ist in all den Fällen passiert, bei denen ich die Schmetterlinge gefunden habe.«
Juan Maderas starrte Bonnie an. Seine tiefliegenden Augen glänzten wie schwarze Käfer: »Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Glauben Sie wirklich, dass diese Leute von einem alten aztekischen Dämon getötet wurden?«
»Keine Ahnung. Klingt schon verrückt, oder? Wirklich völlig irre. Andererseits fehlte all diesen Leuten ein Motiv… jedenfalls für die Morde an den Kindern. Gut, die einen Eltern stritten sich ums Sorgerecht, die anderen hatten Drogenprobleme, aber da gab es eine Familie… da konnten alle bezeugen, dass der Vater geradezu vernarrt war in seine Kinder, trotzdem hat er sie ohne irgendeinen erkennbaren Grund erschossen.«
»Manchmal tun Menschen diese schrecklichen Dinge. Gerade Sie sollten das wissen. Das bedeutet aber nicht, dass sie von Itzpapalotl zu ihren Taten ermutigt werden.«
»Und doch war alles, was diese Fälle gemeinsam hatten, dieser seltene Falter und eine Verbindung zu Mexiko. Ich käme sonst nie auf die Idee, dass das was zu bedeuten hat, aber Howard Jacobson hat gesagt, dieser Apollofalter kommt in Kalifornien nicht vor. Ausgeschlossen.«
Juan Maderas schwieg. Dann nahm er einen Schluck Wein, zog ein schwarzes Samttaschentuch aus seiner Tasche und tupfte sich den Mund ab. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Noch immer glauben viele an Itzpapalotl und Micantecutli, den Herrn der Hölle, und an die Tzitzimime. Ich habe alte Männer Blut aus ihren Nasen und Ohren abzapfen und auf ihre Krückstöcke reiben sehen, weil sie glaubten, so die bösen Geister darin bannen zu können. Aber ich habe meine Zweifel.«
»Wie haben die Menschen Itzpapalotl zu bannen versucht?«
»Menschenopfer. Man schnitt ihr Herz heraus und sang dabei ein schmeichelhaftes Lied für die Göttin, die Mutter, die Beschützerin.«
»Hat es funktioniert?«
»Offensichtlich, jedenfalls sagen das die überlieferten Darstellungen der Azteken. Sie haben alles in Bildern festgehalten, jede Art der Opferung.«
Bonnie dachte nach. Dann sagte sie: »Ich bin ein praktisch denkender Mensch, Mister Maderas. Ich habe schon viele Leichen gesehen, und ich glaube nicht an Gespenster. Aber es geschieht gerade etwas sehr Seltsames, und dafür muss es einen Grund geben.«
»Vielleicht haben Sie Recht. Mexikaner haben es nicht leicht in Los Angeles. Es gibt viele Vorurteile und Ungerechtigkeiten. Vielleicht ist Itzpapalotl aus der Hölle aufgestiegen, um sie zu rächen.
In diesem Moment räusperte sich Esmeraldas Vater. »Als ich noch ein Kind war, gab es einen Ladenbesitzer, der eines Tages meine Mutter beleidigte. Später wurde seine Leiche im Griffith Park gefunden. Man hatte seine Zunge herausgeschnitten, so wie Xipe Totec, der die Nacht trinkt, seine Opfer tötet. Er schneidet ihnen die Zunge heraus, damit sie ihr eigenes Blut trinken, während sie verbluten.«
»Hat man den Täter je gefasst?«, fragte Bonnie.
»Wie sollte man. Es war Xipe Totec.«
Obwohl Bonnie zutiefst beunruhigt war, blieb sie noch eine Weile. Glaubte Juan Maderas an Itzpapalotl, oder machte er sich nur über sie lustig? Seine Stimme blieb stets nüchtern und gleichförmig, so als würden sie die Preise für Kartoffeln diskutieren, und doch hatte er auch etwas Verschlagenes. Hin und wieder warf Esmeraldas Vater rätselhafte Weisheiten ein wie »In der Hölle findest du keinen Schlaf« oder »Wenn der Tag der Rache kommt, musst du wach sein.«
Verwirrt und niedergeschlagen verließ Bonnie die Wohnung. Sie überlegte kurz, Ralph anzurufen, befürchtete aber, das könnte ihn noch wütender machen, als er ohnehin schon war. Nach der Nacht mit ihm in Pasadena war sie in Hochstimmung gewesen, vergessen die Demütigung auf Kyle Lennox’ Party. Sie hatte wirklich gedacht, ihr Leben könnte eine andere Wendung nehmen. Zwar hatte sie noch nicht gewagt, an eine Trennung von Duke zu denken, aber eigentlich hatte kaum mehr als ein Schritt zu dieser Entscheidung gefehlt.
Auf der Rückfahrt lief »Evergreen« im Radio und sie sang aus vollem Halse mit, während Tränen ihre Wange herunterliefen und auf ihre neue Jeans tropften. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Ralph sie nie mehr lieben würde.
Die Ampellichter verschwammen vor ihren Augen, Rot und Gelb und Grün tanzten wie Laternen bei einem mexikanischen Volksfest.