Herr der Fliegen


Am Morgen wachte Bonnie fast eine Stunde an Rays Bett. Sein Gesicht war noch immer geschwollen, seine Prellungen hatten sich lila verfärbt. Weil er sich aber von der Gehirnerschütterung erholt hatte, wirkte er wesentlich lebhafter als am Tag zuvor.

Ray sah fern, während Bonnie über ihre Kontakte zur Polizei herauszufinden versuchte, wer den Einsatz an der X-Cat-Ik-Pool-Bar geleitet hatte und ob Anklage erhoben werden würde.

»Würdest du den Ton bitte leiser machen?«, sagte Bonnie und steckte sich einen Finger ins Ohr.

»Was?«

»Leiser. Den Ton. Ich versuche gerade, dir Ärger vom Hals zu halten.«

Als der Akku ihres Mobiltelefons schon beinahe den Geist aufgab, bekam sie doch noch Captain O’Hagan in die Leitung.

Außer »tja« und »mmh« und »gut, gut« sagte er nicht viel, aber am Schluss des einseitigen Gesprächs machte er doch noch ein Angebot. »Ich kann dir nichts versprechen, Bonnie, aber ich schau mir das Protokoll mal an und mach ein bisschen Origami damit, okay?«

»Ich bin dir was schuldig, Dermot.«

»Noch nicht. Aber wenn’s so weit ist, kannst du deinen süßen Hintern drauf verwetten, dass ich’s auch eintreibe.«

Sie klappte ihr Telefon zu. »Okay Ray, das wär’s. Vielleicht kommst du doch mit einem blauen Auge davon.«

»Danke Mom. Echt toll. Kommt Daddy heute vorbei?«

»Er wollte zumindest, aber heute Morgen hat er noch ein Vorstellungsgespräch. Als Barkeeper drüben im Century Plaza.«

»Ohne Witz?«

Bonnie lächelte, erhob sich vom Bett und blickte für einige Augenblicke auf Ray hinunter, der sich wieder dem Fernsehen zugewandt hatte. Kennt man seine Kinder? Oder denkt man nur, sie seien wie man selbst? In Ray steckte viel von Duke. Vielleicht mehr, als Bonnie sich je eingestanden hatte. Sie küsste ihn sanft auf die Wange und verließ den Raum. Er reagierte nicht, sagte nicht einmal auf Wiedersehen.

Sie fuhr zur Universität von Los Angeles. Weil die Morgenluft schon sehr warm war, ließ sie alle Fenster ihres Autos herunter. An der Kreuzung Wilshire und Beverly Glen musste sie vor einer roten Ampel halten, und neben ihr kam ein goldenes Mercedes Cabriolet zum Stehen, in dem ein Mann um die fünfzig mit Sonnenbrand auf der Glatze saß.

»Süße«, rief er, »du gefährdest den Straßenverkehr, ist dir das klar?«

Bonnie wandte sich ab und sah in die andere Richtung. Zugegeben, ein Teil Seitenverkleidung ihres Wagens hatte sich gelöst und flatterte im Wind, und beim Gasgeben an Ampeln erzeugte der Electra ein blaue Rauchwolke, aber abgesehen davon war er noch gut in Schuss.

Nachdem der Mann keine Antwort erhalten hatte, lehnte er sich über den Beifahrersitz. »Weil ich nämlich meine Augen nicht von dir lassen kann.«

Die Ampel schaltete auf Grün und Bonnie fuhr mit durchdrehenden Reifen und einer ohrenbetäubenden Fehlzündung an. Der Mercedes hängte sich locker an sie dran. Hin und wieder sah sie im Rückspiegel die zu einem Lächeln gebleckten unnatürlich weißen Zähne des Mannes. Kurz bevor sie den Campus erreichte, bog er in Richtung Bei Air ab und hupte noch einmal zum Abschied. Als er nicht mehr zu sehen war, betrachtete sich Bonnie im Rückspiegel. Und die Frau, die sie da sah, war ihr so fremd wie ihr eigener Sohn.

Dr. Jacobsons Labor war eine aus Zedernholz errichtete Baracke auf der Rückseite der eigentlichen Naturwissenschaftlichen Fakultät. Bonnie hielt direkt vor dem Labor. Als sie ausstieg, hörte sie das traurige Gurren einer Taube im Baum über ihr. An der Tür hing ein kleines Schild mit der Aufschrift »Entomologisches Institut – Bitte Türen immer geschlossen halten«.

Durch drei dieser hermetischen Stahltüren, die alle krachend hinter ihr ins Schloss fielen, musste Bonnie durch, bevor sie das Labor erreichte. Drinnen war es schwül und der erstickende Dunst verrottender Pflanzen lag in der Luft. An den Wänden standen Reihen von Terrarien mit allen möglichen Insekten: Stab- und Wanderheuschrecken, Gottesanbeterinnen, fette Maden. In anderen Vitrinen sah sie tote Schmetterlinge und Falter, Diagramme und Fotos an den Wänden erläuterten Arten und Familien und zeigten Details von Fliegen und Larven.

An einem Tisch in der Mitte des Raums saß eine junge Frau mit langen dunklen Haaren und einer runden Brille. Offenbar konzentrierte sie sich darauf, etwas mit einer Pipette in Kartons zu füllen. Bonnie ging ein paar Schritte auf den Tisch zu, bis sie auf den Boden des Kartons sehen konnte. Dort saß die größte und haarigste Spinne, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Sie bebte, als würde sie zum tödlichen Sprung ansetzen. »Wie heißt die?«, fragte Bonnie und rümpfte die Nase.

»Chelsea«, sagte die junge Frau, ohne aufzublicken.

»Ungewöhnlicher Name für eine Spinne, oder?«

»Na ja, ist persönlicher als Aponopelma.«

»Ist Dr. Jacobson da? Wir hatten uns um halb elf verabredet, aber ich bin ein bisschen spät dran.«

»Er ist da hinten. Gehen Sie einfach durch.«

Dr. Howard Jacobson saß in einem sonnendurchfluteten Büro vor seinem Computerbildschirm und hackte auf die Tastatur ein. Er war ein großer, hagerer Mann mit hervorspringenden blauen Augen und buschigem schwarzem Haar, und als er Bonnie erblickte, hüpfte er von seinem Stuhl wie ein Springteufel. »Bonnie! Komm rein! Das ist ja eine Freude! Wie wär’s mit Kaffee?«

»Gern. Ich könnte jetzt einen brauchen.«

»Wie geht’s denn meiner Lieblingsreinemachefrau so? Ich glaube, wir haben uns seit dieser Axtmordgeschichte nicht mehr gesehen. Mein Gott, all das Blut! Und die Eingeweide! Uuähh! Du kannst so was einfach aufwischen, aber mir dreht’s schon den Magen um, wenn ich nur daran denke.«

Bonnie räumte einen Stuhl von Papier frei, setzte sich und legte die Hand an die Stirn.

»Geht’s dir auch gut?«, fragte Howard.

»Bis auf ein paar Probleme zu Hause ist alles okay. Mein Sohn liegt gerade im Krankenhaus. Nichts Lebensbedrohliches, aber mir reicht’s trotzdem.«

»Schnupfen?«

»Schlägerei.«

»Zu blöd. Aber so sind Jungs nun mal, oder? Ich hab mich zu meiner Zeit immer mit irgend)emandem geprügelt. Für die anderen Kinder war ich nur >Käfer-Kid<, und am liebsten haben die sich auf meinen Kopf gesetzt und mir ins Ohr gefurzt. Ein Wunder, dass ich überhaupt noch was höre.«

»Außerdem hab ich gerade meinen Job bei Glamorex verloren. Glaube ich jedenfalls. Na, mal sehen.«

Howard reichte ihr einen Kaffeebecher, auf dem stand: Frag dich nichts, was du nicht schon weisst.

»Ich störe dich doch nicht bei der Arbeit, oder?«, fragte sie.

»Nein, du störst doch nie. Ich überarbeite nur gerade meinen neuesten Artikel. >Wie das Eindringen der Sarcophagidae-Larve zur Feststellung des Todeszeitpunkts herangezogen werden kann.< Erst lesen, dann essen. Außer man will sowieso abnehmen. Viel zu tun?«

»Ziemlich. Menschen bringen sich gegenseitig um und jemand muss die Sauerei ja wegmachen.«

»Am Telefon hast du gesagt, es gäbe da etwas Interessantes, das du mir zeigen wolltest.«

»Tja, ich weiß nicht. Vielleicht ist es gar nichts. Ich hab so was nur noch nie gesehen.«

Damit übergab sie Howard eine braune Papiertüte.

Er schob die Tastatur seines Computers zur Seite und schüttete den Inhalt vorsichtig auf die Schreibtischplatte: Feigenblätterreste und eine schwarze Raupe. Die rollte einmal um die eigene Achse und schob sich dann langsam über ein Blatt Millimeterpapier.

Howard ging mit dem Gesicht bis auf wenige Zentimeter an die Raupe heran, nahm dann eine Lesebrille aus der Schublade, setzte sie sich auf die Nasenspitze und betrachtete das Insekt aus noch kürzerer Distanz.

»Erst wollte ich es gar nicht herbringen, weißt du. Es erschien mir nicht mehr wichtig, nachdem Ray ins Krankenhaus gekommen ist und so. Aber dann dachte ich, bevor es stirbt…«

»Natürlich, klar. Ich bin froh, dass du’s doch geschafft hast. Wo hast du sie doch gleich gefunden?«

»An einem Feigenbaum. Es waren so sechs bis sieben. Wahrscheinlich hast du im Fernsehen was über die Geschichte gesehen. Der Typ auf der De Longpre, der seine drei Kinder und sich selbst erschossen hat. Der Feigenbaum stand auf einem Fensterbrett im Kinderzimmer.«

Howard stupste die Raupe mit der Fingerspitze an, damit sie nicht unter den Computer kroch. »Na, du bist ja ein außergewöhnlicher kleiner Kerl.«

»Vor ein paar Tagen hab ich so was schwarzes Falterartiges auch an einem anderen Tatort gefunden. Und als ich das da sah, dachte ich, das ist irgendwie seltsam. Keine Ahnung, ob das was mit den Fällen zu tun hat.«

»Du hast mir nicht zufällig auch das schwarze Falterartige mitgebracht?«

Bonnie schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nicht einmal sagen, ob es so ähnlich aussah wie das hier. Es kam mir eben nur irgendwie seltsam vor.«

»Es ist in der Tat seltsam, Bonnie. Sogar sehr seltsam. Der kleine Kerl sieht aus wie Parnassius mnemonsyne, der Apollofalter. Ein großer Schmetterling. Er hat weiße Flügel mit schwarzen Punkten. Das dunkle Exemplar hier auf dem Tisch ist ein Weibchen. Bei den Männchen werden die Flügel im Laufe des Lebens fast durchsichtig.

Das eigentlich Seltsame ist, dass Parnassius mnemonsyne nur an zwei Orten auf der Welt vorkommt: In den europäischen Alpen und in der Region Chichimec im Norden Mexikos. Warum diese Art ausgerechnet nur in diesen weit voneinander entfernten Gebieten lebt, weiß kein Mensch. Aber es ist die gleiche Art, daran besteht kein Zweifel. Ich hab ein paar Exemplare im Labor. Willst du sie dir anschauen?«

»Nein danke«, sagte Bonnie. »Ich will nur wissen, warum die Viecher an den Tatorten herumkrabbeln.«

»Ich weiß auch nicht. Allerdings ranken sich in der alten Kultur der Azteken ein paar gruselige Legenden um den Apollofalter. Natürlich purer Aberglaube.«

»Was für Legenden?«

Howard Jacobson sah ihr in die Augen. »Du glaubst doch nicht an solchen Quatsch, oder? Du glaubst doch wohl nicht, dass diese Raupen etwas mit den Morden zu tun haben?«

»Keine Ahnung. Nein, eigentlich nicht. Ich bin nur so betroffen und kann einfach nicht begreifen, wie ein Vater seinen Kindern so etwas antun kann?«

»Tja, ich bin auch kein Psychiater. Ich bin nur Käfer-Kid, wie du weißt.«

»Was für Legenden?«

»Bonnie. Das ist finsterster Aberglaube. Vergiss es.«

»Was für Legenden?«

»Na gut: Dieser Legende nach nimmt die Dämonin Itzpapalotl am Tage die Gestalt eines weißen Schmetterlings an, eben dieses Apollofalters. Unter den Azteken war Itzpapalotl der gefürchtetste aller Dämonen, eine Kreuzung aus Insekt und Monster. Die Ränder ihres Flügels bestanden aus Obsidianklingen und ihre Zunge war ein Opfermesser.

»Die Dämonin konnte sich verkleiden, dann trug sie ein Gewand, ein naualli, das sie wie einen normalen Schmetterling aussehen ließ.

»Itzpapalotl war die Herrin der Hexen und sie wachte über die schrecklichen Menschenopfer. Im aztekischen Kalender gab es dreizehn Unglückstage, die ihr zugeschrieben wurden. Sie war die Anführerin einer riesigen Schmetterlingsarmee, allesamt aus dem Totenreich auferstandene Hexen, die sie im Flug über Wälder und Städte führte.«

»Und was… was hat sie getan?«

»Sie trieb die Menschen in den Wahnsinn, sodass sie ihre Liebsten töteten.«

Bonnie starrte in ihre Teetasse, als wüsste sie nicht, was sie in den Händen hielt.

»Vielleicht einen Keks?«, fragte Howard. »Ich hab da eine hervorragende Sorte mit Pekannüssen…«


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