Das Haus der Familie Glass


Sie erreichte das Haus der Familie Glass über zwanzig Minuten zu spät um elf Uhr zweiundvierzig. Der Verkehr auf dem Santa Monica Freeway hatte sie aufgehalten. Sie stellte ihren großen alten Dodge-Pick-up direkt vor das Haus und stieg aus.

Der Versicherungsmensch wartete schon auf sie. Er saß in seinem Wagen. Der Motor lief, damit die Klimaanlage funktionierte. Bevor er ausstieg, setzte er sich die Sonnenbrille auf. Er war jung und dürr, aus seinem kurzärmeligen weißen Hemd staken Arme so weiß wie Hühnerbeine.

»Mrs Winter? Ich bin Dwight Frears von der Western Domestic.«

»Freut mich«, sagte Bonnie. »Tut mir Leid, dass Sie warten mussten.«

»Ach, wissen Sie, Ma’am«, sagte er grinsend, »warten ist sozusagen integraler Bestandteil meiner Arbeit.«

Es war ein sehr heißer Morgen, das Thermometer kratzte an der Vierzig-Grad-Marke. Der Smog färbte den Himmel bronzefarben.

Bonnie lief über den Rasen des Vorgartens auf das Haus der Familie Glass zu, blieb davor stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Dwight Frears folgte ihr und blieb neben ihr stehen. Er flitschte unablässig die Mine eines Kugelschreibers.

»Laut Sheriff Kellett ist das erst letzte Woche passiert«, sagte Bonnie.

»Ja, Ma’am.« Dwight Frears schaute in die Papiere auf seinem Klemmbrett. »Am achten Juli, um genau zu sein.«

Bonnie schützte ihre Augen mit der Hand gegen die grelle Sonne. In diesem Teil von San Bernadino gab es Hunderte solcher Häuser. Alle sahen gleich aus. Schindeldach, Veranda im Hazienda-Stil, Garage mit Basketballkorb. Doch im Unterschied zu anderen Häusern dieser Art sah dieses ziemlich heruntergekommen aus. Die Klimaanlage an der Außenwand war verrostet, das Gitter der Fliegentür hatte Löcher, die hellgrüne Farbe blätterte großflächig ab.

Bonnie näherte sich den Fenstern zur Straße und versuchte durch die Lamellen der schmierigen Jalousien ins Innere zu sehen. Sie erkannte eine verschlissene weiße Vinylcouch und ihre eigenes Spiegelbild in der Scheibe: eine rotblonde, robust gebaute 34-Jährige mit schwarzem Elvis-T-Shirt und weißer Stretch-Jeans.

Dwight schaute wieder auf sein Klemmbrett. »Also, im Bericht des Gerichtsmediziners steht, dass die Kinder im hinteren Schlafzimmer gefunden wurden. Eines auf dem Bett und eines auf dem Ausziehsofa.«

Bonnie hob eine provisorische Wäscheleine hoch, duckte sich darunter weg und begann, um das Haus herumzugehen. Auf der Rückseite lag ein kleiner Garten mit Schaukel und Klettergerüst, zwei Liegestühlen und einem verkrusteten Grill. Ein Dreirad lag umgekippt auf der Seite.

Vom Garten konnte sie in die Küche sehen. Bis auf die Fliegen, die überall herumkrabbelten, sah sie aus wie jede andere Küche. Das Fenster des hinteren Schlafzimmers sah aus, als sei es von einem schimmernden schwarzen Vorhang bedeckt. Gerade wollte Dwight etwas sagen, als ihm offenbar klar wurde, was er da sah. Erschrocken sah er Bonnie an.

Die ging nun wieder um das Haus herum zum Eingang. »Also, mal sehen… das hintere Schlafzimmer macht sicher am meisten Arbeit. Ich rechne mit mindestens sechs Stunden plus die anderen Zimmer, das macht dann zwölfhundert plus Material plus Entsorgung, sagen wir ungefähr fünfzehnhundert.«

Für einen Moment sah es so aus, als bekäme Dwight keine Luft mehr. »Fünfzehn… Klingt vernünftig.«

Im Wagen füllten sie die Versicherungsformulare aus. Gerade als sie fertig waren, hielt ein verblichener blauer Datsun mit brauner Tür neben ihnen. Eine Frau stieg aus und klopfte an das Fenster der Beifahrertür. Sie war klein und vogelartig, hatte eine große Nase und hochgesteckte Haare.

»Hi Bonnie. Entschuldige die Verspätung.«

»Hi Ruth. Das hier ist Dwight.«

»Hi Dwight.«

Dwight setzte seine Unterschrift unter den Kostenvoranschlag und zahlte gleich in bar.

Nachdem Dwight gefahren war, gingen Bonnie und Ruth zum Pick-up. Er hatte Gallonen-Kanister mit Desinfektionsmitteln, grüne Plastikplane, Industrieabfallsäcke, Insektizide und Container mit Laugen und Lösungsmitteln geladen.

Während Ruth in ihren grellgelben Plastik-Schutzanzug stieg, fragte sie: »Und? Hast du mit Duke geredet?«

»So ähnlich. Aber ob’s was genützt hat? Duke ist in letzter Zeit so seltsam. Als ob irgendwelche Körperfresser von ihm Besitz ergriffen hätten. Wenn ich nicht genau wüsste, was für ein träger Sack er ist, würde ich denken, er hat eine andere.«

Auch Bonnie schlüpfte in ihren Schutzanzug. Im besten Falle war er klebrig, aber in der Hitze dieses Tages hatte man darin schon Schweißausbrüche, wenn man nur den Reißverschluss zuzog. Um besser in die Gummistiefel zu kommen, setzte sie sich auf die Stoßstange.

»Weißt du, was hier passiert ist?«, fragte Ruth.

»So ungefähr. Jack Kellett sagt, sie hätten sich über das Sorgerecht gestritten, und die Frau wollte um jeden Preis verhindern, dass der Mann die Kinder bekommt. Tja, und danach haben die Nachbarn irgendwann den Geruch gemeldet und man fand die toten Kinder.

Sie reichte Ruth den Mundschutz und setzte sich dann ihren auf. Mit einem Insektizid-Kanister und Müllsäcken bewaffnet schritten sie auf das Haus zu.

Bis kurz zuvor hatte die Straße verlassen gewirkt, doch nun begann der Nachbar gegenüber sein Auto zu waschen und ein anderes Ehepaar trat vor sein Haus, um übertrieben aufmerksam den Rasensprenger zu überwachen. Drei Teenager mit Skateboards tauchten plötzlich auf und zogen immer engere Kreise um das Haus.

Bonnies Schenkel rieben mit einem quietschenden Geräusch aneinander, ihr Atem unter der Maske hörte sich an, als wäre ihr ein Asthmatiker auf den Fersen.

An der Tür blieb sie stehen und zückte den Schlüssel, den ihr die Immobilienfirma ausgehändigt hatte. Der Messingknauf hatte die Form eines Käfers. Sie öffnete die Tür, und sie traten ein.

Es war ein schäbiges, gewöhnliches kleines Haus. Schmaler Korridor mit einer Tür zur Linken, die ins Wohnzimmer führte, und einer Tür zur Rechten, hinter der das Schlafzimmer lag. Die Küchentür am Ende des Korridors stand einen Spalt offen.

Im Haus waren Schwärme von Fliegen. Sie waren einfach überall: auf den Wänden, den Möbeln, den Fenstern. Bonnie stieß Ruth an und staubsaugte pantomimisch. Ruth hob einen Daumen und machte sich auf die Suche nach der Besenkammer.

In der Diele hing ein Gipsjesus an einem Holzkreuz, auf dem stand: »Gott segne meine Kinder«. Bonnie betrat das Wohnzimmer mit der weißen Kunstledercouch und dem Fernseher von der Größe einer Garage. Trotz ihrer Atemmaske merkte Bonnie, dass der Geruch hier am intensivsten war. Bevor sie mit dieser Art Arbeit angefangen hatte, war ihr nie klar gewesen, wie streng menschliche Körper nach ihrem Ableben riechen konnten. Sogar simples getrocknetes Blut verbreitete den Gestank von verdorbenem Hühnchen.

Nachts lag sie manchmal wach und fragte sich, wie die Menschen sich trotz ihrer Vergänglichkeit lieben konnten. Wussten sie, wie ihr Inneres wirklich aussah?

Sie stand auf dem plüschig-beigen Teppich im Wohnzimmer. Braune Fußspuren führten quer darüber, als habe jemand Instruktionen für einen Tanzkurs geben wollen. Auf dem Weg zur Küche verjagte sie fuchtelnd Fliegen vor ihrem Gesicht. Auf dem Abtropfgitter fürs Geschirr lag ein schleimiger gelber Klumpen, der einmal ein Eisbergsalat gewesen war. Das Messer, mit dem er geschnitten werden sollte, lag bereit daneben.

Auf dem Boden des hinteren Schlafzimmers lag das Spielzeug der Kinder. Ein Telefon von Fisher-Price mit Schnur zum Hinterherziehen. Ein hellblauer Laster war mit Bauklötzen beladen.

An der Wand stand ein einzelnes Bett, im rechten Winkel dazu ein Schlafsofa. Das Fenster wurde durch so viele Fliegen verdunkelt, dass Bonnie das Deckenlicht anschalten musste, um etwas zu sehen. Die glänzenden braunen Flecken auf Bett und Sofa sahen aus wie poliertes Holz.

Bonnie nahm sich einen der Müllsäcke. Sie streckte sich und zog die Vorhänge herunter, die sie zusammen mit einem Haufen glänzender Fliegen in den Sack stopfte. Ruth kam mit dem Staubsauger herein. Sie fand eine Steckdose und begann, die Fliegen am Bettsofa einzusaugen. Sie wirkte so nüchtern, als mache sie nur den üblichen Hausputz.

Sie rissen alle Vorhänge und Jalousien herunter. »Kann ich das behalten?«, fragte Ruth. Auf dem Arm hatte sie einen Vorhang aus Goldvelour.

»Von mir aus. Den Rest bringe ich auf den Müll.«

Gemeinsam trugen sie die Betten zu Bonnies Pick-up und legten sie wie ein Sandwich mit den fleckigen Seiten aufeinander, damit die Nachbarn nichts sehen konnten. Sie rissen die Teppichböden von den Dielen und rollten sie zusammen.

Der Teppich im Kinderzimmer sah am schlimmsten aus. Bonnie begann mit dem Abreißen in einer Ecke des Zimmers und sah gleich die Maden darunter. Ruth kehrte sie mit Schaufel und Besen auf.

Bücher, Kontoauszüge, Familienbilder, Zeitungen, Kleidung, Geburtstagskarten, die Wachsmalstiftzeichnung von zwei Jungen unter einer stacheligen gelben Sonne mit den Worten »für die übe mami«: alles landete in Müllsäcken. Nur gut, dachte Bonnie, dass diesmal keine trauernden Verwandten bei der Arbeit im Weg standen. Die Spuren eines Gewaltverbrechens zu beseitigen war schwer genug, da musste man nicht auch noch ständig gefragt werden, wie Gott das zulassen konnte.

Ruth kam mit einer Spritze in der Hand aus dem Bad ins Kinderzimmer. Bonnie nahm den Mundschutz ab und hielt Ruth den Müllsack auf. »Schmeiß sie einfach hier rein. Ich sage Dan dann Bescheid.«

Auch Ruth lüftete die Maske. »War zwischen der Schmutzwäsche. Wer weiß, vielleicht ist es wichtig.«

Bonnie antwortete nicht. Beim Aufräumen fand sie hin und wieder Beweismittel, die von der Polizei übersehen worden waren, aber sie hatte trotzdem keinen kriminalistischen Ehrgeiz. Sie war Putzfrau, keine Polizistin. Als Putzfrau gab man besser nicht damit an, mehr zu wissen, als man wissen sollte. Zweimal war sie schon von ihren Auftraggebern bedroht worden. Als sie in einem Kamin angekokelte Briefe fand. Und als sie bei der Arbeit in einem Haus in Topanga Canyon das Telefon abnahm und eine panische Stimme »Ist sie schon tot?« sagen hörte.

Zweieinhalb Stunden später hatten sie das Gröbste geschafft. Sie machten im Garten vor dem Haus eine Pause und tranken starken Kaffee aus Ruths Thermoskanne. Inzwischen tarnten die Nachbarn ihre Neugierde nicht mehr mit Heckenschneiden oder Rasensprengen. Sie starrten unverhohlen zu Bonnie und Ruth herüber, aber keiner traute sich, näher zu kommen.

Ruth deutete auf die Betten, Vorhänge und Teppiche auf dem Pick-up. »Wo bringst du das Zeug hin?«

»Ich bring’s zur Riverside. Ist schließlich kein Sondermüll.«

»Ich dachte, die mögen da keine Maden und so.«

»Maden mag ich auch nicht. Ich werde mein schönstes Lächeln für Mr Hatzopolous aufsetzen.«

Nachdem sie den Rest ihres Kaffees in den Rinnstein geschüttet hatte, ging sie zurück ins Haus. Sie musste sich noch um das Schlafzimmer kümmern.

Auf einem schmalen Schminktisch in der Ecke standen Cremetuben, Schminktöpfchen, Parfümflaschen und eine Primaballerina aus Porzellan, der ein Fuß fehlte. In der Mitte des Schminktisches stand einer dieser Totenköpfe aus Zucker, mit denen man in Mexiko den Tag der Toten begeht. Jemand hatte ein Stück aus dem Schädel herausgebissen.

Bonnie packte einen Zipfel der zerwühlten Tagesdecke und zog sie herunter. Nachdem sie sie in einen Müllsack gestopft hatte, langte sie nach den Kissen. Etwas Schwarzes hing an einem Zipfel. Das sah sie zuerst. Dann noch eins. Und noch eins. Angewidert schüttelte sie das Kissen und sieben weitere schwarze Dinger fielen aufs Bett. Die kleinen, harten schwarzen Körper glänzten, sie hatten spitze Enden wie Muscheln. Bei näherer Betrachtung waren sie eher dunkelbraun als schwarz und dabei fast durchscheinend. Man glaubte ihren Kern zu sehen. Erst als sie einen der Körper aufhob, sah sie, dass es sich um den Kokon eines Falters handelte. Eine Art Schmetterling oder Motte, jedenfalls ein Insekt.

Dass so etwas an diesem Ort auftauchte, musste am Wetter liegen. Erst eine Woche zuvor hatte sie in einem Apartment in der Franklin Avenue einen ganzen Haufen riesiger Schmeißfliegenlarven gefunden. Noch nie hatte sie so große Larven gesehen. Ruth hatte damals an ein Omen geglaubt. Wofür wusste sie allerdings nicht. Für jemanden, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, das Blut von Selbstmördern von Polstern zu schrubben, war sie ziemlich abergläubisch.


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