Die Bedeutung der menschlichen Tragödie


Sie kannten sich seit Schulzeiten. Damals waren sie die besten Freundinnen gewesen, beinahe wie Geschwister, und beide hatten davon geträumt, eines Tages Filmstars zu werden. Sie hatten sogar Sterne aus Alufolie gebastelt, ihre Namen darauf geschrieben und sie auf den Hollywood Boulevard gelegt.

Bonnie nannte sich auf ihrem Stern »Sabrina Go-lightly« und Susan war »Tunis Velvet«. Inzwischen sahen sie sich noch drei- oder viermal im Jahr. Bonnie wollte die Freundschaft nicht einfach beenden, obwohl sie sich eigentlich nicht mehr viel zu sagen hatten. Den Kontakt zu Susan abzubrechen wäre, als würde man endgültig den Kontakt zu seinen Jugendträumen abbrechen und sich eingestehen, dass man niemals einen Millionen-Dollar-Brillantring oder ein pinkfarbenes Haus in Bei Air besitzen würde. Außerdem war Susan die einzige Freundin, die nicht nur über Shopping, Kinder und Kochen redete.

Susan war groß, schlank und beeindruckend, mit ihrem langen schwarzen Haar, das ihr bis zu den Hüften reichte, dem schmalen Gesicht und den großen dunklen Augen. An diesem Tag trug sie ein kurzes lilafarbenes Kleid mit applizierten silbernen Sternen und einen Hut aus Fellimitat, der aussah, als hätte es sich ein haariger mittelalterlicher Zwerg auf ihrem Scheitel bequem gemacht.

Susan hatte ihre langen Beine unter einem Ecktisch gekreuzt und wartete schon auf Bonnie.

»Liebes, du siehst so geschafft aus«, war das Erste, was sie sagte.

»Danke. Bin ich auch.«

»Bitte schleif den Stuhl nicht so über den Boden, ich habe heute meine Kopfschmerzen.«

»Oh, das tut mir Leid. Vielleicht hättest du absagen sollen?«

»Absagen? Auf keinen Fall. Ich wollte dich unbedingt sehen. Ich muss mal wieder mit einem Menschen zusammen sein, der mit beiden Füßen auf dem Boden steht.«

»Tu ich das? Sollte mich freuen.«

»Ja, das tust du. Darum geht es ja eben. Du stehst auf dem Boden der Tatsachen. Das war schon immer so. Keine Ahnung, wie du das so hinkriegst.«

»Ich hab auch keine Ahnung.«

Ein chinesisch-stämmiger Amerikaner mit grüner Schürze kam an ihren Tisch und betete die Tageskarte herunter.

Susan unterbrach ihn: »Sangchi Ssam, was ist das?«

»Ein von der koreanischen Küche inspiriertes Gericht mit ziemlich scharf gewürztem Hackfleisch und Tofu auf Radicchio und Minze an einer frischen Chilisauce.«

Ein Königreich für einen Hamburger, dachte Bonnie. Aber diesmal hatte Susan das Restaurant ausgesucht.

Susan spülte ein Ibuprofen mit Evian hinunter. »Ich kann einfach kein Perrier mehr trinken«, sagte sie, »es erinnert mich einfach zu sehr an Clive.«

»Wie geht’s Clive eigentlich?«

»Ach, der ist immer noch mit diesem Teenager mit Plastiktitten zusammen. Den solltest du mal sehen. Oder vielleicht lieber doch nicht. Er hat sich das Haar blond färben lassen. Sieht aus wie ein Alien. Andererseits sah er ja schon immer so aus.«

»Duke geht’s gut«, sagte Bonnie ungefragt.

»Und Ray? Der muss doch inzwischen zwei Meter sein, oder? Will er immer noch Wrestler werden?«

Bonnie schüttelte lächelnd den Kopf. Plötzlich schien es ihr, als würde die Zeit an ihr vorbeifliegen.

»Und das Geschäft?«, fragte Susan mit einer Grimasse des Ekels.

»Gut. Läuft wirklich gut. Morgen haben wir einen natürlichen Tod und am Freitag zwei Selbstmorde. Das ist ein Ding, mit dem natürlichen. Der Typ ist in der Badewanne gestorben und sie haben ihn erst gefunden, als sein Körperfett die Wasserleitung verstopft hat. Das war nach beinahe acht Wochen.«

»Mein Gott, Bonnie. Ich verstehe nicht, wie du so was machen kannst. Wirklich nicht. Ich an deiner Stelle würde wahrscheinlich… würde wahrscheinlich kotzen. Und in Ohnmacht fallen. Erst kotzen und dann in Ohnmacht fallen.«

»Irgendjemand muss das ja erledigen. Die Polizei kümmert sich nicht darum, die Gerichtsmedizin auch nicht und die Stadt oder das County erst recht nicht. Das ist eine Dienstleistung, sonst nichts.«

»Ich darf nicht einmal daran denken«, sagte Susan.

»Allein schon der Geruch! Bei uns ist mal ein Koyote in der Garage verreckt.«

Bonnie zuckte nur mit den Achseln. »Ein bisschen Wick auf die Oberlippe, dann geht’s schon.«

Susan erschauderte.

Beim Essen klingelte Bonnies Mobiltelefon. Dean Willits war dran. Weil er gerade auf dem Ventura Freeway fuhr, war die Verbindung schlecht. »Ich habe mit Mrs Goodmans Versicherungsagenten gesprochen und der sagt, Sie sollen loslegen. Der Typ hat Frears angerufen und gemeint, er kennt Sie.«

»Na wunderbar, Mr Willits. Morgen Nachmittag sollte ich es einplanen können.«

»Frears hat die Schlüssel, okay?«

Bonnie wollte sich wieder ihrem Beefsteak widmen. Sie steckte ein Stück Fleisch und eine Gabel mit Mais in den Mund und begann zu kauen. Es schmeckte zäh und fettig, der Mais war nicht durch, sie musste plötzlich an die Betten der Kinder denken, die blutigen, zerfetzten Decken, und sie konnte einfach nicht schlucken, sondern spuckte, was sie im Mund hatte, in ihre Serviette.

»Was ist los«, fragte Susan. »Du bist plötzlich so – blass.«

»Ich musste nur an etwas denken, was ich heute Morgen gesehen habe. Aber du isst noch, ich werde also nichts davon erzählen.«

»Ich bitte dich, Susan. Dafür sind Freundinnen doch da. Du kannst mir alles erzählen.«

Also beschrieb Bonnie, was sie im Haus der Goodmans gesehen hatte, und Susan saß da und schaute und nickte.

»Das ist alles«, sagte Bonnie zum Schluss. »Ich weiß nicht, warum mich das mehr mitnimmt als andere Orte, die ich gesehen habe. Vielleicht ging es mir irgendwie wie Mrs Goodman. Die Kinder waren so… präsent, weißt du. Als ob man ihre Seelen noch spüren konnte.«

»Du konntest wirklich ihre Seelen spüren?«

»Ich weiß nicht… Irgendetwas habe ich gespürt. Als ob jemand da war, der eben eigentlich nicht da war, verstehst du? Es war beängstigend. Und bedrückend.«

»Du hast wirklich ihre Seelen gespürt. Das ist toll. Verstehst du, was das bedeutet?«

»Entschuldige, aber was meinst du?«

»Das ist Seelenwanderung. Und dass du das spüren kannst, zeigt nur, wie sensibel und empfänglich du bist. Du solltest wirklich mal zu meinem Kabbala-Lehrer mitkommen. Er heißt Eitan Yardani. Der Mann hat mich erleuchtet. Er kann deinem Leben so viel Sinn geben, weißt du.«

»Wovon redest du da, Susan?«

»Von der Kabbala, natürlich. Einfach jeder beschäftigt sich damit. Madonna, Elizabeth Taylor. Die Kabbala hat alle Antworten zu deinem inneren Selbst. Da ist ein Gott, En Sof, der ist so hoch über dem menschlichen Geist, dass manche Kabbalisten ihn Ayin, Den-Der-Nicht-Ist, nennen.«

»Aber die Kabbala, die ist doch jüdisch, oder? Ich bin katholisch.«

»Na und? Ist Madonna jüdisch? Bin ich jüdisch? Was spielt es für eine Rolle, welcher Religion du angehörst, wenn du die allumfassende Wahrheit finden kannst? Die Kabbala lehrt uns, dass alles im Leben Bedeutung hat, und sei es noch so versteckt. Dass diese Kinder gestorben sind, hatte einen Sinn, Bonnie. Und du könntest diesen Sinn in den Schriften finden.«

»Ich glaube nicht, dass ich den Sinn darin finden will.«

»Aber du hast ihre Seelen gespürt, Bonnie. Du hast die Kinder gespürt. Das ist kabbalistisch. Vielleicht willst du es nicht wissen, aber was ist, wenn die Kinder es dir sagen wollen?«

Bonnie wusste nicht, was sie sagen sollte. Susan war eine alte Freundin und nur das hielt sie davon ab, einfach die Gabel fallen zu lassen und zu gehen. Sie kannte Susans ständige Flirts mit dem Übersinnlichen. Bei ihrem letzten Treffen hatte sie nicht aufgehört, vom Dalai Lama zu schwärmen, und im Frühling war Sufi das Höchste gewesen. Aber Benjamin, Rachel und Naomi waren vor kaum vierundzwanzig Stunden ermordet worden. Weder die Kabbala noch Tarot oder irgendetwas anderes konnte ihren Tod erklären, es gab nur eine Erklärung, und die war so klar wie abstoßend: Der Vater der Kinder hatte den Verstand verloren und sie erschossen. Das war alles.

»Weißt du was, Susan?«, fragte Bonnie. »Du solltest mal mitkommen an den Tatort eines Mordes oder eines Selbstmordes. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Blut so ein menschlicher Körper enthält.«

»Ich sagte ja, ich müsste kotzen.«

»Vielleicht. Und du würdest der Ewigkeit direkt in die Augen sehen ganz ohne Kabbala.«

»Machst du dich jetzt lustig über mich?«

»Überhaupt nicht«, sagte Bonnie und schob ihren Teller von sich. »Tut mir Leid. Ich hätte gar nicht davon anfangen sollen. Es war unfair.«

Susan hackte in ihrem Thunfischsalat herum. »Du hast dich verändert, weißt du das? Früher warst du nicht so zynisch.«

»Ich habe doch gesagt, dass es mir Leid tut.«

»Dabei wollte ich dir nur helfen, Bonnie. Ich wollte dir nur zeigen, dass man das Leben auch bejahen kann, weißt du. Ich meine, du siehst alles immer so negativ.«

»Was?«

»Ich kann einfach nicht… Ich weiß nicht, wie… Du bist wie eine Fremde für mich.«

»Wovon redest du? Was meinst du damit, dass ich wie eine Fremde bin?«

»Früher hast du gelacht. Du hast eigentlich immer gelacht. Du warst wie ein Sonnenschein.«

Bonnie kratzte sich verunsichert am Arm. »Ich lache doch jetzt auch noch.« Aber bei sich dachte sie: Wann? Wann habe ich das letzte Mal richtig gelacht?

»Ich will dir nicht wehtun, aber es ist so de-pri-mie-rend mit dir.«

»Ich deprimiere dich?«

Susan presste ihre Hände flach auf die Tischdecke und sah Bonnie direkt an. Sie atmete kurz und stoßweise. »Ich sage dir jetzt etwas, Bonnie. Ich stehe dem Leben positiv gegenüber. Es hat Jahre gedauert, bis ich das Positive im Leben erkannt habe. Und mit Leben meine ich die Schöpfung, die Erfüllung, die Transzendenz.«

»Klar. Verstehe. Geht mir auch so. Aber was willst du mir damit sagen?«

Susan öffnete den Mund wie für eine große Verkündung, schloss ihn aber wieder. Sie war so erregt, dass sie beinahe zu hyperventilieren schien. »Du… du bist vom Tod umgeben. Ich konnte es spüren, als du das Restaurant betreten hast. Der Tod umgibt und begleitet dich wie… wie ein Kleidungsstück. Wie ein schwarzer Schleier. Und das ertrage ich einfach nicht mehr. Es tut mir Leid, aber ich muss dir einfach sagen, was ich empfinde. Du machst mir Angst und du deprimierst mich, Bonnie.«

»Und? Bist du deshalb der Meinung, wir sollten uns in Zukunft nicht mehr treffen?«

Susan löste sich langsam in Tränen auf. Mit einer schwachen Bewegung winkte sie ab, ehe sie die Faust an ihre Lippen presste.

»Hör mal, Susan. Wenn wir uns nicht mehr treffen sollen, brauchst du es nur zu sagen. Ich will nicht als wandelnder Tod einen Schatten auf deine spirituelle Lebensbejahung werfen, wirklich nicht. Gott bewahre. Oder En Sof bewahre. Oder wer auch immer.«

Der Kellner trat an den Tisch und starrte irritiert auf die praktisch unberührten Teller. »Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«

Susan fischte ein winziges Taschentuch aus ihrer winzigen Handtasche und putzte sich die Nase. »Ich übernehme das«, sagte sie, ohne Bonnie anzusehen, und legte ihre Platin American Express auf den Tisch.

»Der Tod. Ich bin der Tod«, sagte Bonnie, während sie auf die Rechnung warteten. »Denkst du das wirklich?«

»Tut mir Leid, Bonnie«, sagte Susan. »Ich habe Kopfschmerzen. Wahrscheinlich hattest du Recht, ich hätte einfach absagen sollen.«

Sie stand auf und Bonnie hielt sie am Ärmel fest. »Sehen wir uns wieder?«

»Bestimmt«, flüsterte Susan, aber Bonnie wusste, dass das eine Lüge war. Sie blieb sitzen, während Susan das Lokal verließ. Als sie den Sunset Boulevard im Laufschritt überquerte und ihr Haar zurückwarf, sah Bonnie sie zum letzten Mal. Ein Moment, eingefroren wie auf einem Polaroid. Sie musste an all die Tage und Nächte denken, die Parties und Bus-Trips, den Spaß und die Verzweiflung des Teenagerlebens. Am Venice Beach hatten sie sich sogar einmal geküsst. Sonnenuntergang. Die Schreie der Möwen. Sie liebten sich. Love, ageless, seldom seen by two.

»Kann ich noch etwas für Sie tun?«, fragte der Kellner.

»Nein, danke«, sagte Bonnie. »Ich fürchte, dass, was ich brauche, haben Sie hier nicht.«

Auf dem Hollywood Boulevard parkte sie in zweiter Reihe vor dem Super Star Grill. In dem mit Kacheln und Chrom dekorierten Raum dröhnte Meatloafs »Bat Out Of Hell« aus den Lautsprechern. Bonnie kaufte sich einen Mega-Chili-Hotdog mit extra Zwiebeln und Kraut und machte ein schöne Sauerei in ihrem Auto. Während sie aß, betrachtete sie sich im Rückspiegel.

Das ist also der Tod, dachte sie. Eine 34-Jährige mit Chilisoße im Gesicht. Sie stopfte den letzten Bissen in den Mund und fuhr mit klebrigen Händen los. Schon an der Vine Street konnte sie vor Tränen kaum noch die Straße sehen.


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