7. Kapitel

Bei der Prüfung der ersten Partie der neuen Lebensmittelproben waren — in absteigender Rangfolge — Chefarzt Edanelt, der die medizinische Gesamtverantwortung für die AUGL-Station trug, Pathologin Murchison, Gurronsevas selbst, Lieutenant Timmins, Oberschwester Hredlichli und die übrigen Angehörigen des Schwesternpersonals der Station zugegen. Sie alle waren in dem Personalraum derart dicht zusammengedrängt, daß kaum noch Platz für die Lebensmittel blieb, die einzeln in fünf Plastikfolien verpackt waren, um die Verschlüsse der Düsen vor einer vorzeitigen Berührung mit Wasser zu schützen. Etwa dreißig Meter vom Eingang der Station entfernt trieb Patient AUGL-Eins-Dreizehn im Wasser und rollte vor Ungeduld die streifenförmigen Tentakel langsam auf und ab.

Die normale Mahlzeit, die aus den künstlichen Eiern mit der harten Schale bestand, war serviert worden, die Essensreste hatte man entfernt, und Eins-Dreizehn hatte die Mitteilung erhalten, sich auf eine Überraschung gefaßt zu machen, womöglich sogar auf eine angenehme.

Auf Gurronsevas’ Zeichen hin näherte sich ihm Timmins, um ihm beim Abziehen der Plastikfolie behilflich zu sein. Zusätzlich zu den Stabilisierungsflossen, die fast unsichtbar waren und obendrein nicht einmal schlecht schmeckten, waren die Ober- und Unterseiten der Nahrungskapseln mit Eigenantrieb gefärbt worden, so daß sie dem grau- und braungesprenkelten Panzer eines jungen, aber voll ausgewachsenen Vertreters der echten Beutetierart aufs Haar genau glichen. Murchisons Untersuchungen der Körperzeichnung, des Verhaltens und der Drüsenabsonderungen unter Stress waren trotz der knapp bemessenen Zeit sehr gründlich gewesen.

Innerhalb weniger Sekunden löste sich der Verschluß der Hauptdüse auf, und ein dünner Strahl aus komprimierter Luft schoß sprudelnd heraus. Gurronsevas und der Lieutenant hielten die Kapsel fest und gaben ihr dann, um ihr bei der Überwindung der Massenträgheit und des anfänglichen Wasserwiderstands zu helfen, einen entschiedenen Stoß in Richtung auf Eins-Dreizehn.

Das Maul des Chalders öffnete sich weit — ob vor Überraschung oder Vorfreude konnte nicht mit Sicherheit gesagt werden —, und dann klappten seine gewaltigen Kiefer zu. Doch die Beute hatte plötzlich die Richtung geändert. Sie stieg nach oben, schwamm über Eins-Dreizehns gewaltigen Kopf hinweg und setzte ihren Weg in die lauwarmen grünen Tiefen des anderen Endes der Station fort. Schwerfällig drehte sich der Patient um und schwamm ihr nach. Durch das Wasser verfremdet drang das Krachen kräftiger Zähne, die nichts als Wasser erfassend zusammenschlugen, gefolgt von einem Klirren, das sich anhörte, als sei ein mißtönender Gong angeschlagen worden, als Eins-Dreizehn gegen das Schlafgestell eines ruhiggestellten Mitpatienten stieß, bevor es ihm schließlich gelang, die Beute zu fangen.

Als die nun folgenden regelmäßigen Kau- und Knirschgeräusche allmählich langsamer wurden, ließen Timmins und Gurronsevas die zweite Kapsel los.

Diesmal war die Jagd nur von kurzer Dauer, weil der erste zufällige Richtungswechsel Eins-Dreizehn die Mahlzeit direkt ins Maul beförderte. Der dritten Kapsel gelang es, nicht erwischt zu werden, bis ihr die komprimierte Luft ausging und sie reglos im Wasser trieb, doch da war Eins-Dreizehn schon viel zu aufgeregt, um diese merkwürdige Verhaltensanomalie zu bemerken oder sich darum zu kümmern. Nummer vier bekam er gar nicht zu fassen.

Das lag daran, daß die Kapsel auf ihrem unregelmäßigen Kurs zu nah an das Schlafgestell des festgebundenen Patienten AUGL-Eins-Sechsundzwanzig geriet, der sie sich schnappte, als sie vorbeigeschwommen kam, und sie innerhalb weniger Sekunden gierig verschlang. Daran schloß sich ein hitziger Disput zwischen Eins-Dreizehn und Eins-Sechsundzwanzig an, in dem die Beschuldigung des Diebstahls mit dem Vorwurf des Egoismus beantwortet wurde und der durch den Start der fünften und letzten Nahrungskapsel ein Ende fand.

Der allmählich genesende Eins-Dreizehn mußte wohl müde sein, dachte Gurronsevas, denn diesmal dauerte die Jagd sehr lange, und den Bewegungen des AUGLs mangelte es offenbar an Koordination. Mehrmals stieß er heftig gegen die Schlafgestelle, die zu beiden Seiten an den Wänden der Station aufgestellt waren, oder riß große Mengen der duftenden Dekorationspflanzen ab, die man nur lose an den Wänden und der Decke befestigt hatte. Doch Eins-Dreizehns Mitpatienten schienen sich nichts daraus zu machen und feuerten ihn entweder an oder versuchten, einen Happen aus der Kapsel herauszubeißen, wenn sie vorbeigeschossen kam.

„Der zertrümmert mir meine ganze Station!“ rief Hredlichli entsetzt. „Halten Sie ihn auf! Halten Sie ihn sofort auf!“

„Ich glaube, die meisten Schäden sind nur oberflächlich, Oberschwester“, beruhigte Timmins die aufgebrachte Oberschwester, wenngleich er sich seiner Sache nicht besonders sicher schien. „Gleich morgen, wenn die erste Schicht beginnt, schicke ich Ihnen einen Reparaturtrupp.“

Patient Eins-Dreizehn, der die fünfte Nahrungskapsel mit Stumpf und Stiel hatte verschwinden lassen, kehrte zum Personalraum zurück. Langsam schwamm er an zwei deutlich verbogenen Schlafgestellen vorbei und zwischen umhertreibenden Knäueln aus künstlichen Pflanzen hindurch, bis er sich direkt vor dem Eingang befand. Sein riesiges, höhlenartiges rosa Maul öffnete sich weit.

„Mehr, bitte“, flehte er die Anwesenden an.

„Tut mir leid, mehr gibt es nicht“, antwortete Chefarzt Edanelt, der sich zum ersten Mal seit seinem Eintreffen auf der Station zu Wort meldete. „Sie haben an einem Versuch teilgenommen, den Chefdiätist Gurronsevas durchgeführt hat, ein Versuch, der meiner Ansicht nach noch etwas abgeändert werden muß. Vielleicht gibt es morgen oder in den nächsten Tagen mehr.“

Als sich Eins-Dreizehn abwandte, um sich zu entfernen, sagte Hredlichli schnell: „Schwestern, überprüfen Sie sofort den Zustand unserer Patienten und melden Sie mir, falls dieser. dieser Versuch zu irgendeiner Verschlechterung des Gesundheitszustands geführt hat. Danach versuchen Sie, das Durcheinander so gut wie möglich in Ordnung zu bringen.“ An den Chefarzt gewandt fuhr sie fort: „Ich finde nicht, daß man den Versuch abändern sollte, Doktor. Meiner Ansicht nach sollte man ihn ganz schnell wie einen bösen Traum vergessen. Noch so einen Versuch hält meine Station nämlich nicht.“

Die Oberschwester verstummte/ weil Edanelt ein Vorderglied erhoben hatte und die Spitzen einer seiner Zangen langsam knackend zusammenschlug. Auf diese Weise bat ein Melfaner um Aufmerksamkeit.

„Die Demonstration ist interessant und alles in allem erfolgreich gewesen, auch wenn die momentane Verwüstung der Station auf etwas anderes schließen läßt“, sagte er. „Wie wir wissen, hat die unnötig langsame Genesung bei den Patienten von Chalderescol einen psychologischen Grund. Nach der Operation werden die AUGLs gewöhnlich lustlos, gelangweilt und faul, und sie verlieren jegliches Interesse an der eigenen Zukunft. Diese neuartigen Nahrungskapseln, die übrigens nur bewegungsfähigen Patienten auf dem Weg der Besserung verabreicht werden sollten, versprechen, das zu ändern. Nach der Reaktion von Eins-Dreizehn und zukünftigen genesenden Patienten zu urteilen, wird diese ständige Erinnerung an das Vergnügen, die echten Beutetiere, von denen die Chalder auf ihrem Heimatplaneten erwartet werden, zu jagen und zu essen, die langweiligen Mahlzeiten beträchtlich beleben. Und die aus medizinischen Gründen ruhiggestellten Patienten, die ihre bewegungsfähigen Artgenossen beobachten, werden sich bemühen, ihre Genesung so schnell wie möglich voranzutreiben.

Ich muß Ihnen allen ein großes Kompliment machen“, lobte Edanelt die vier Anwesenden, wobei er sie der Reihe nach ansah, „doch insbesondere dem Chefdiätisten für seine einfallsreiche Lösung eines Problems, das bei der Wiederherstellung der Chalder bis jetzt ein ernsthaftes Hindernis gewesen ist. Dennoch habe ich zwei Vorschläge zu machen.“

Edanelt legte eine Pause ein, und die anderen vier schwiegen und warteten. In Anbetracht seines hohen medizinischen Dienstgrads war der Melfaner ungewöhnlich höflich, doch für eine bloße Pathologin, einen Lieutenant des Wartungsdiensts, eine Oberschwester und selbst einen Chefdiätisten waren die Vorschläge eines Chefarztes, der Gerüchten zufolge bald zum Diagnostiker befördert werden sollte, von Anweisungen nicht zu unterscheiden.

„Gurronsevas“, fuhr Edanelt fort, „mir wäre es lieb, wenn Sie und Timmins die bewegungsfähige Chalder-Mahlzeit so modifizieren könnten, daß sie nicht mehr so schnell und wendig ist. Die körperliche Anstrengung bei der Jagd auf die Beute, wie erfreulich sie für den Jäger und wie aufregend sie für die Zuschauer auch sein mag, könnte den Patienten in Gefahr bringen, einen Rückfall zu erleiden. Außerdem würde eine weniger flinke Nahrüngskapsel das Risiko struktureller Schäden an der Ausrüstung und Dekoration der Station stark verringern.“

An Hredlichli gewandt, sagte er: „Dieses Risiko könnte durch den richtigen psychologischen Ansatz von Ihnen und den Schwestern noch weiter gesenkt werden. Wissen Sie, Sie sollten nicht zu autoritär vorgehen, weil es sich bei den Chaldern trotz der furchteinflößenden körperlichen Erscheinung um eine sehr sensible Spezies handelt. Erinnern Sie die AUGLs hin und wieder durch eine beiläufige Bemerkung daran, daß wir Freunde sind, die sich bemühen, sie so schnell wie möglich zu heilen, damit sie nach Hause können. Und geben Sie den Patienten zu verstehen, daß sie in der Wohnung eines Freundes auf ihrem Heimatplaneten auch keine derart ausgelassenen Tischmanieren an den Tag legen würden. Ich bin mir sicher, dieser Ansatz wird das Risiko struktureller Schäden auf Null reduzieren. Zudem dürften Sie sich dadurch auch persönlich gleich ein ganzes Stück glücklicher fühlen, Oberschwester.“

„Ja, Doktor“, bestätigte Hredlichli mit sehr unglücklich klingender Stimme.

„Auf jeden Fall macht es die Wartungsabteilung glücklicher“, warf Timmins ein. „Wir werden sofort mit den Änderungsarbeiten beginnen.“

„Vielen Dank“, sagte Edanelt und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Gurronsevas zu. „Aber ich kann nicht umhin, mich zu fragen, welchem Problem unser höchst unberechenbarer Chefdiätist als nächstes zu Leibe rücken wird.“

Einen Augenblick lang schwieg Gurronsevas. Über den Stationskommunikator berichteten die Schwestern von dem Zustand der Patienten, die, wie sie sagten, zwar aufgeregt waren, aber keine weiteren Symptome zeigten, die Grund zu medizinischer Besorgnis gegeben hätten. Wie Gurronsevas klar wurde, hatte es sich bei dem letzten Satz des Chefarztes um keine bloße Höflichkeitsfloskel gehandelt; Edanelt war wirklich neugierig und erwartete von ihm eine ehrliche Antwort.

„Ich bin mir noch nicht schlüssig, Doktor Edanelt, weil mir bisher in vielen Bereichen die Erfahrung mit der Krankenkost fehlt“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Aus diesem Grund habe ich mit diesem relativ geringfügigen Einzelproblem angefangen, das nur wenige Chalder betrifft. Hätte ich gleich zu Anfang die Mahlzeiten einer im Hospital zahlreicher vertretenen Spezies verändert, wäre es womöglich zu massiven Protesten gekommen, wenn die neuen Rezepte keinen Anklang gefunden hätten. Darum habe ich vor, mich zunächst auf die Ernährungsbedürfnisse von einzelnen Wesen zu konzentrieren. Die ersten Tests werde ich mit Freiwilligen durchführen, doch später könnte es notwendig werden, sie heimlich ohne Wissen der jeweiligen Zielgruppe umzusetzen. Bei den zahlreicher vertretenen Spezies möchte ich mich eigentlich nicht an tiefgreifendere Änderungen der Kost wagen, bis ich mehr über die damit verbundenen medizinischen und technischen Schwierigkeiten weiß.“

„Ghu-Burbi sei Dank!“ warf Hredlichli erleichtert ein.

„Das scheint mir ein vernünftiges Vorgehen zu sein“, meinte Edanelt. „Wer soll Ihre nächste Versuchsperson sein?“

„Diesmal handelt es sich um einen Mitarbeiter“, antwortete Gurronsevas. „Ich hatte zwar an verschiedene Personalangehörige gedacht, aber unter den gegebenen Umständen und als kleine Anerkennung für die gute Zusammenarbeit, zu der es gekommen ist, indem sie mir die Möglichkeit für den heutigen Versuch gegeben hat, und auch als eine wohlverdiente Gefälligkeit für die schweren Seelenqualen, die ihr durch die Beschädigung ihrer Station zugefügt worden sind, kommt dafür meines Erachtens niemand anders als Oberschwester Hredlichli in Frage.“

„Aber ich. aber Sie sind ja nicht mal ein Chloratmer!“ platzte Hredlichli los. „Sie werden mich vergiften!“

Edanelts krabbenähnlicher melfanischer Körper begann sich leicht zu schütteln, und dabei stieß der Chefarzt Laute aus, die vom Translator nicht übersetzt wurden. „Stimmt“, bestätigte Gurronsevas, „aber ich trage die Verantwortung für die Ernährungsbedürfnisse von jedem Lebewesen im Hospital, egal, welcher Spezies es angehört, und ich würde meine Pflicht vernachlässigen, wenn ich meine beruflichen Aktivitäten auf warmblütige Sauerstoffatmer beschränkte. Übrigens verfügt Pathologin Murchison nicht nur über umfangreiche Erfahrungen mit PVSJs, sondern ihrer Abteilung ist auch ein illensanischer Chloratmer zugeteilt, und beide haben zugesagt, mir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Die beiden würden mir nie erlauben, irgendwelche neuen Gerichte aufzutischen, die für Sie riskant sein könnten. Falls Sie bereit sind, sich freiwillig zur Verfügung zu stellen, kann ich Ihnen versichern, daß es für Sie nicht gefährlich wird, Oberschwester.“

„Die Oberschwester wird sich bestimmt mit Vergnügen freiwillig melden“, warf Edanelt, dessen Körper immer noch leicht zitterte, rasch ein. „Hredlichli, auf dem Gebiet der Kochkunst genießt Gurronsevas in der gesamten Föderation einen derart guten Ruf, daß Sie sich höchst geehrt fühlen sollten.“

„Ich fühle nur, daß ich mir gerade eine lebensbedrohliche Krankheit zugezogen habe“, antwortete Hredlichli hilflos.

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