Tawsar stand dem Vorhaben zwar ablehnend gegenüber, hatte aber Mitleid, und Remrath war unnachgiebig, was bedeutete, daß der Chefkoch als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorging. Doch auch so dauerte es noch drei Stunden, bevor die Rhabwar mit Remrath an Bord zu jener Sorte von Einsatz starten konnte, für den sie eigens gebaut worden war.
Über die Umstände durfte man gar nicht nachdenken, selbst als medizinisch unversierter Tralthaner nicht. Und wie Gurronsevas befürchtete, mußte es für einen für Emotionen empfänglichen Empathen wie Prilicla einfach schrecklich sein.
Wie er sich bei dieser Sache selbst fühlte, wußte er ganz genau, und er glaubte auch Remraths Empfindungen und die der anderen auf dem Unfalldeck zu kennen. Obwohl sie sich bestimmt alle bemühten, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, mußten sie nur wenige Meter von Prilicla entfernt starke Emotionen ausstrahlen. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb der Chefarzt seit über einer Stunde niemanden mehr mit „mein Freund“ angesprochen hatte.
Bei den Wemarern war Fleisch derart knapp geworden, daß sie Gruppen von Jägern in weit entfernte Gegenden schickten, um etwas aufzutreiben. Gleichzeitig war ihr technischer Stand derart niedrig, daß sie die Beute bis zur Rückkehr zur Mine nicht lange Zeit frisch halten konnten. Deshalb bestand die einzige Möglichkeit, sie über große Entfernungen zu transportieren, darin, sie am Leben zu lassen. Wenn das gefangene Tier nicht schon tot war, versuchte es der Jäger, der es erbeutet hatte, mit Hilfe seiner Kollegen am Leben zu erhalten, damit die zarten Fleischhappen, die es später liefern sollte, beim Eintreffen noch frisch waren.
Trotz des ständigen Kummers, unter dem Remrath auf dem Flug leiden mußte, und ungeachtet der Tatsache, daß seine kannibalische Spezies wenig oder nichts von den Verfahren der Heilmedizin wußte, erzählte er dem medizinischen Team, daß Creethar bis zum letztmöglichen Augenblick versuchen werde, am Leben zu bleiben, da dies als tapferer und ehrenwerter Wemarer seine Pflicht und Schuldigkeit sei.
Im Moment stand Remrath vor dem Bildschirm auf dem Unfalldeck und ließ keine äußere Reaktion erkennen, als Fletcher nur wenige hundert Meter von der Jagdgruppe der Wemarer entfernt mit der Rhabwar zu einer vollen Notlandung ansetzte, die, wie sich Gurronsevas sicher war, kaum viel mehr als ein kontrollierter Absturz gewesen sein konnte.
Prilicla schwebte unruhig neben ihm. Um seine Besorgnis zu verbergen, sprach Gurronsevas den Cinrussker an, als ihm plötzlich bewußt wurde, daß man einem Empathen die eigenen Gefühle nicht verheimlichen konnte.
„Als ich mich Ihrer Bitte entsprechend mit Tawsar und Remrath sowohl einzeln als auch gemeinsam unterhalten habe, ist es zu Meinungsverschiedenheiten gekommen“, sagte er, wobei er den Translator so eingestellt hatte, daß er nichts ins Wemarische übersetzte. „Tawsar hat uns jede Einmischung untersagt, und Remrath ist ganz wild darauf gewesen, uns in jedweder Form entgegenzukommen. Wenn wir also versuchen, Creethar ohne Tawsars Erlaubnis zu helfen, gefährden wir dadurch womöglich unser momentan gutes Verhältnis zu den Wemarern. Doch nach dem, was ich so mitbekommen habe, mag und respektiert Tawsar den Chefkoch und Arzt und hat im Moment großes Mitleid mit ihm; darum ist das Risiko vielleicht auch nur gering.
Immerhin ist Creethar Remraths jüngstes und einziges noch lebendes Kind.“
„Das haben Sie mir alles schon erzählt, und Ihren Versuch, mich zu beruhigen, weiß ich genau wie beim letzten Mal zu schätzen“, entgegnete der Cinrussker. „Aber als ranghöchster medizinischer Offizier eines Ambulanzschiffs habe ich keine Wahl. Oder beunruhigt Sie etwas anderes?“
„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Gurronsevas. „Offenbar gibt es Verständigungsschwierigkeiten. Da Remrath gegen Tawsars Wunsch mit uns losgeflogen ist, um die Jäger von unseren guten Absichten zu überzeugen, können wir Creethar schnell nach Hause bringen, damit er dort behandelt werden oder sterben kann — aber das will Remrath anscheinend gar nicht. Bevor er zusammen mit mir die Mine verlassen hat, müssen Sie ja mitgehört haben, wie er Tawsar sagte, als Vater stehe ihm das letzte Wort darüber zu, was mit dem verletzten Anführer der Jäger zu geschehen habe, und er wolle Creethar lieber von den Fremdweltlern so lange wie nötig im Schiff behandeln lassen als von sich selbst oder irgendeinem anderen Wemarer.
Direkt hat er zu mir weiter nichts gesagt, und ich besitze nicht Ihre Fähigkeit, emotionale Ausstrahlungen zu deuten“, fuhr Gurronsevas fort. „Doch warum sollte ein Vater seinen Sohn in dieser furchtbaren Situation unter so geringen Einwänden uns überlassen, wildfremden Wesen, die er erst seit so kurzer Zeit kennt? Ich bin mir sicher, daß von ihm bei weitem nicht alles gesagt worden ist, was er gedacht und auf dem Herzen gehabt hat. Und das beunruhigt mich.“
„Ich weiß über Ihre und Remraths Empfindungen Bescheid“, sagte der Empath. „In diesem Moment nehme ich bei ihm diese Mischung aus Ungewißheit und Kummer wahr, die für den erwarteten Verlust eines geliebten Wesens charakteristisch ist, von dem er ja nicht weiß, wie schwer die Verletzungen sind und wie die Überlebenschancen stehen. Zudem sind bei ihm, von diesen stärkeren Gefühlen natürlich fast verschüttet, ein kindliches Staunen und eine starke Aufregung wegen seines ersten Flugerlebnisses zu entdecken. Bei Remrath handelt es sich um eine intelligente Persönlichkeit, die trotz der gegenwärtigen halbbarbarischen Zustände auf Wemar gebildet und aufgeschlossen ist und uns vertraut. Dieses Vertrauen haben Sie gewonnen, mein Freund, und allein aus diesem Grund werden wir in der Lage sein, Creethar mit Zustimmung seines Vaters die bestmögliche Behandlung zu gewähren.
Sie haben zwar keinen Grund mehr, beunruhigt zu sein, machen sich aber trotzdem immer noch Sorgen“, schloß Prilicla.
Bevor Gurronsevas etwas entgegnen konnte, spürte er einen sanften Druck der Bodenplatten gegen die Füße, da die Schwerkraftkompensatoren die Erschütterung durch die Notlandung ausgleichen mußten. Als sich die Luftschleuse des Unfalldecks öffnete, schlug ihnen warme Außenluft entgegen. Remrath stieg mit steifen Bewegungen auf den Krankentransporter, und das medizinische Team ging mit Ausnahme von Pathologin Murchison, die alles für die Aufnahme des Verletzten nach einem vorläufigen Bericht über dessen medizinischen Zustand vorbereiten wollte, die Rampe hinunter und steuerte auf die Gruppe der Jäger zu.
In diesem Moment übernahm Remrath die Leitung, indem er das Team anwies, still zu sein, während er sich mit den Jägern unterhalten wollte. Ohne seine Anwesenheit, so hatte er beteuert, würde jeder Versuch der Fremdweltler, Creethar von der Trage zu holen, mit Gewißheit fehlschlagen und wahrscheinlich auf beiden Seiten viele Opfer fordern. Es sei unumgänglich, daß ein Wemarer mit Autorität zu den Jägern spreche. Das medizinische Team hatte sich notgedrungen damit einverstanden erklären müssen. Doch Gurronsevas versuchte, sich in die Lage einer Gruppe von Jägern zu versetzen, die zum ersten Mal in ihrem Leben einem Raumschiff und Fremdweltlern begegneten, die gleichermaßen absurd und furchterregend aussahen und die versuchten, jemanden aus ihrer Mitte zu holen.
Er fragte sich ernsthaft, ob sein Freund Remrath womöglich altersbedingt an übersteigertem Selbstvertrauen litt.
Doch Remrath redete mit den Jägern, als ob sie immer noch seine Schüler wären: in bestimmtem und beruhigendem Ton und mit Autorität. Zuerst sagte er ihnen, daß sie nichts zu befürchten hätten, und erklärte ihnen dann den Grund dafür. Er begann mit einer kurzen und sehr einfachen Lektion in Astronomie, die die Zusammensetzung der Sternsysteme, die intelligenten Lebensformen, die in einigen davon wohnen mußten, und die gewaltigen Entfernungen zwischen diesen Systemen behandelte. Daraufhin ging er zu einer gleichermaßen knappen Erörterung der viele Jahrhunderte währenden friedlichen Zusammenarbeit über, die auf den entsprechenden Planeten erforderlich gewesen war, um jenen technologischen Stand zu erreichen, der Raumfahrt erst möglich gemacht hatte.
Danalta hatte die Gestalt eines Vierfüßers ohne natürliche Waffen angenommen, um keinen der Jäger zu beunruhigen. Der Verwandlungskünstler kam näher an Gurronsevas heran und murmelte: „Als uns Ihr Freund seine Hilfe angeboten hat, habe ich nicht mit etwas Derartigem gerechnet.“
„Obwohl wir über ein gemeinsames Interessengebiet verfügen, haben wir uns über andere Themen als nur übers Kochen unterhalten“, entgegnete Gurronsevas.
„Ganz offensichtlich“, stellte Danalta fest.
Unterdessen hatte man sich Creethar und der Trage bis auf zwanzig Meter genähert, und die Jäger machten keine Anstalten, den Weg freizugeben.
„Die seltsamen Wesen rund um mich herum sind in Frieden gekommen“, verkündete Remrath gerade. „Sie wollen uns nichts tun und sind begierig, uns zu helfen. Einer von ihnen“ — er deutete auf Gurronsevas — „hat uns bereits in der Mine dadurch geholfen, daß er uns in seltsamer und außergewöhnlicher Weise, die ich jetzt aus Zeitmangel nicht beschreiben kann, mit neuen Gerichten versorgt hat. Bei den anderen handelt es sich um Ärzte mit weitreichenden Erfahrungen, die ebenfalls bereit sind, uns zu helfen. Ich habe mich entschlossen, wie es mein Recht als Vater ist, ihnen zu erlauben, ihre fortschrittliche Heilkunst an uns auszuüben. Setzt die Trage ab und nehmt die Decken herunter.“
Mit leiser, weniger autoritärer Stimme stammelte er: „Ist. ist Creethar noch am Leben?“
Ein langes Schweigen antwortete ihm.
Prilicla flog voran und schwebte dann direkt über der Trage. Zwei der Jäger hoben die Speere und ein weiterer legte einen Pfeil in den Bogen und zielte auf den Empathen, ohne jedoch die Sehne vollständig zu spannen. Prilicla war sich der Gefühle von allen bewußt, beruhigte sich Gurronsevas, und würde sofort merken, falls ihn wirklich jemand anzugreifen beabsichtigte — hoffentlich noch rechtzeitig genug, um dem Geschoß
ausweichen zu können. Doch Priliclas Schwebeflug war unruhig, deshalb konnte es gut sein, daß er um seine Sicherheit genauso besorgt war wie Gurronsevas.
„Creethar ist am Leben“, berichtete der Empath, dessen Stimme in der Stille recht laut klang, „aber seine Lebenszeichen sind nur noch sehr schwach. Freund Remrath, wir müssen ihn sofort untersuchen und dann schnell aufs Schiff bringen. Danalta, lassen Sie uns einen Blick auf unseren Patienten werfen.“
Weitere Speere und Bogen wurden gehoben, und diesmal waren sie nicht mehr auf den äußerst zerbrechlich wirkenden Körper von Prilicla, sondern ausschließlich auf die praktisch undurchdringliche Haut des Gestaltwandlers gerichtet. Während Danalta vorsichtig die Tierhäute entfernte, die locker über die auf dem Boden liegende Trage geworfen waren, startete Remrath ein weiteres Ablenkungsmanöver, indem er vom Transporter stieg und seine Forderung wiederholte, Creethar den Fremdweltlern zu übergeben. Die Jäger drängten sich um den Chefkoch und redeten und schrien derart auf ihn ein, daß sie offenbar nichts von dem, was Prilicla, Danalta und Naydrad sagten und taten, mitbekamen.
Gurronsevas strengte sich nach besten Kräften an, jedem einzelnen zuzuhören, doch die Jäger wurden immer lauter und aufgeregter, und ihre Einwände waren bald so verworren, daß er schließlich überhaupt nicht mehr folgen konnte. Seine Versuche, aus dem, was sie sagten, schlau zu werden, wurden zusätzlich durch die Fähigkeit der Wemarer erschwert, in atemberaubender Geschwindigkeit aufeinander einzureden und sich gleichzeitig zuzuhören. Kurz schaltete er auf die Schiffsfreqüenz um, damit er das Gespräch des medizinischen Teams ohne Störung durch die Wemarer verfolgen konnte.
Prilicla sagte gerade: „Der Patient hat mehrfache Brüche und Fleischwunden an den Armen und in der Brust- und Bauchgegend davongetragen und weist ausgedehnte Quetsch- und Schürfwunden an beiden Seiten auf, die darauf schließen lassen, daß er im Drehen auf eine harte, unebene Oberfläche gestürzt ist, wahrscheinlich auf Steine. Wie Sie sehen können, haftet an den unverletzten Stellen noch etwas, das getrocknetem Sand oder Gesteinsstaub ähnelt, was darauf hindeutet, daß das zum Spülen der Wunden verwendete Wasser knapp war. Dem Scanner zufolge liegen außer einer Schädigung des Brustkorbs keine anderen inneren Verletzungen vor. Durch den Transport ist es zu einer weiteren Splitterung und Komplikation der Frakturen gekommen. Zudem ist ein ausgedehnter Gewebeabbau zu erkennen, aus dem sich schließen läßt, daß der Patient lange Zeit nichts getrunken und gegessen hat. Verglichen mit den normalen Lebenszeichen, die wir bei Tawsar gemessen haben, sehen die von Freund Creethar nicht gut aus. Er ist stark geschwächt und kaum bei Bewußtsein, und seine emotionale Ausstrahlung ist typisch für ein Lebewesen, das kurz vorm Tod steht. Sie sehen dasselbe wie wir, Freundin Murchison. Uns bleibt keine Zeit, um mit Creethars Freunden zu diskutieren, und vorläufig müssen wir es riskieren, ohne ihre Erlaubnis zu handeln.
Danalta, Naydrad!“ fuhr er mit forscher Stimme fort. „Dehnen Sie das Schwerkraftkompensationsfeld aus, heben Sie Creethar sanft auf den Krankentransporter und erschüttern Sie seine Gliedmaßen dabei so wenig wie möglich. Wir wollen diese Frakturen ja nicht noch komplizierter machen. Sachte, ja, so ist’s gut. Jetzt schließen Sie das Kabinendach, erhöhen Sie die Innentemperatur um zehn Grad, und schalten Sie die Atmosphäre auf reinen Sauerstoff um. In fünf Minuten müßten wir wieder auf der Rhabwar sein.“
„In Ordnung“, bestätigte Murchison. „Die Instrumente für die orthopädische Behandlung und die innere Untersuchung sind bereit. Aber. aber dieser Patient ist ja völlig ausgemergelt und total ausgetrocknet. Zusätzlich zum Trauma steht er auch noch kurz davor, schlicht und ergreifend zu verhungern. Verdammt noch mal, die Behandlungsart der Wemarer ist gefühllos, ja, sogar grausam. Haben die noch nie was davon gehört, einen Bruch mit Schienen ruhigzustellen? Kümmern sich diese Leute überhaupt um ihre Verletzten?“
Gurronsevas wußte zwar, daß er kein Recht hatte, sich in eine medizinische Besprechung einzumischen, doch die Äußerungen der Pathologin hatten ihn erzürnt. Es war, als wäre er gezwungen, dabei zuzuhören, wie man einen Freund zu Unrecht kritisierte. Diese Empfindung überraschte ihn, aber sie war vorhanden, und zwar in aller Stärke.
„Die Wemarer sind weder grausam noch gleichgültig“, protestierte er. „Über diesen Punkt habe ich mich mit Remrath oft unterhalten. Wie er mir erklärt hat, besteht der medizinische Beruf auf Wemar lediglich aus praktischen Ärzten, sogenannten Kochheilern und Naturheilkundigen, und das war’s. Chirurgen, wie wir sie kennen, gibt es hier nicht. Remrath glaubt zwar, daß es diesen Beruf in längst vergangenen Zeiten einmal gegeben hat, aber das Fachwissen ist längst verlorengegangen. Heutzutage kann selbst eine einfache Verletzung zum Tod oder zum langen, schmerzerfüllten Leben eines Krüppels führen, das sowohl für den Invaliden und diejenigen, die ihn pflegen müssen, eine Last ist, als auch eine ständige Belastung für die Versorgung der entsprechenden Bevölkerungsgruppe mit Nahrung darstellt. Da das so ist, verschwenden die Jäger kein Essen an einen Freund, der bald sterben wird, und das würde Creethar auch gar nicht wollen.
Grausam ist nur der Planet Wemar, nicht die Wemarer selbst.“
Bis auf ein leises Seufzen, das Gurronsevas als das Geräusch erkannte, das Terrestrier von sich geben, wenn sie ruckartig ausatmen, herrschte einen Moment lang Schweigen. Dann meldete sich erneut Murchison zu Wort: „Entschuldigung, Gurronsevas, ich habe viele Ihrer Gespräche mit Remrath verfolgt, aber das, was Sie gerade gesagt haben, muß ich verpaßt haben. Sie haben recht. Doch es ärgert mich einfach, wenn einem Verletzten lange Zeit starke Beschwerden bereitet werden.“
„Creethars Beschwerden werden wir bald gelindert haben, meine Freundin“, meinte Prilicla. „Halten Sie sich bitte bereit.“
Plötzlich erhob sich der kleine Empath hoch in die Luft, wobei er von seinem G-Gürtel unterstützt wurde, den er auf die cinrusskische Anziehungskraft von einem Achtel Ge eingestellt hatte. Seine langsam schlagenden schillernden Flügel brachen und reflektierten die Sonnenstrahlen wie ein großes, bewegliches Prisma. Schlagartig verstummten die Streitgespräche rings um Remrath, als die Jäger nach oben blickten, um diesen merkwürdigen Fremdweltler zu beobachten, der sie mit seiner Schönheit buchstäblich blendete, und sich die Augen mit den freien Händen beschatteten, da sich Prilicla langsam auf einer Bahn zwischen ihnen und der Sonne bewegte. Wie Gurronsevas vermutete, hatte der Cinrussker seine Höhe und Position so gewählt, um einen gezielten Einsatz der Waffen zu erschweren. Als den Zuschauern endlich klar wurde, was dort vor sich ging, war es für sie bereits zu spät, um etwas dagegen zu unternehmen. Danalta, Naydrad und der Transporter mit Creethar befanden sich schon auf halbem Weg zum Schiff.
Als sich Prilicla in der Luft drehte, um hinter ihnen herzufliegen, sagte er in beruhigendem Ton: „Die emotionale Ausstrahlung der Jäger verrät allgemeine Verwirrung, Wut und Verstimmung, die von äußerst starken Verlustgefühlen begleitet werden, aber, wie ich glaube, nicht so stark sind, daß es zu körperlicher Gewalt kommt. Es besteht kaum Gefahr, daß man Sie angreift, Freund Gurronsevas, es sei denn, Sie provozieren die Jäger. Fragen Sie Remrath, ob er bei seinen Freunden bleiben oder gemeinsam mit Creethar aufs Schiff zurückkehren will, und ziehen Sie sich dann so schnell wie möglich zurück.“
Der Versuch, genau das zu tun, kostete Gurronsevas die nervenaufreibendsten fünfzehn Minuten seines Lebens. Zwar hatten die Jäger nichts dagegen, daß Remrath aufs Schiff zurückkehrte, da der Chefkoch zu alt und gebrechlich war, um zu Fuß zur Mine zurückzugehen, doch was Gurronsevas betraf, waren sie anderer Meinung. Der Fremdweltler, verlangten sie lautstark, während sie sich um ihn scharten, um ihm den Fluchtweg abzuschneiden, müsse bleiben und zusammen mit ihnen zur Mine zurückkehren. Das sei notwendig, weil die Wesen auf dem Schiff ihren Anführer entführt hätten und Gurronsevas bis zum Austausch gegen Creethar eine Geisel sei. Sofern er nicht zu fliehen versuche, würde man ihm nichts tun, es sei denn, Creethar werde nicht wieder herausgegeben.
Als sich die Jäger daran machten zu besprechen, wie man den riesigen Fremdweltler mit der dicken Haut überwältigen könnte, nahmen ihre Stimmen einen leiseren und beinahe sachlichen Ton an. Speere und Pfeile würden ihn möglicherweise nicht schlagartig außer Gefecht setzen, überlegten sie, so daß es vielleicht am besten wäre, ihm mit dem Schwanz einen heftigen Schlag gegen die drei Beine auf der einen Seite zu versetzen. Diese Beine seien kurz und der Schwerpunkt des Körpers liege offenbar weit oben, und wenn man den Fremdweltler auf die Seite werfe, werde er Schwierigkeiten haben, wieder aufzustehen. Die Haut auf der Unterseite scheine viel dünner zu sein als auf dem Rücken und an den Seiten, so daß ein gezielter Speerwurf in diesen Bereich wahrscheinlich tödlich sei.
Da haben sie ganz recht, dachte Gurronsevas, doch das werde ich denen ganz bestimmt nicht auf die Nase binden. Er überlegte noch, was er sagen sollte, als ihm Remrath zu Hilfe kam.
„Hört mir zu!“ rief der Chefkoch mit lauter Stimme. „Als ihr Kinder wart, hattet ihr noch mehr Verstand. Strengt doch mal euren Grips an! Wollt ihr es riskieren, wie Creethar zu enden, und es darauf ankommen lassen, daß zu viele von euch verwundet und getötet werden, um alle nach Hause zu tragen? Denkt an die geradezu kriminelle Verschwendung von Fleisch, an euch selbst und an eure fast erwachsenen Kinder, die auf eure Rückkehr warten! Wir haben Gurronsevas niemals kämpfen sehen, weil er sich uns gegenüber immer hilfsbereit verhalten hat. Dieses Lebewesen zu jagen geht völlig über eure bisherigen Erfahrungen hinaus. Gurronsevas wiegt doppelt soviel wie jeweils zwei von euch, so dürr und halb verhungert, wie ihr seid, und ich möchte nicht wissen, was er mit euch anstellen könnte.“
Da Gurronsevas das ebenfalls nicht wissen wollte, überließ er weiterhin Remrath das Reden.
„Ihr braucht keine Geisel, denn ihr habt bereits eine“, fuhr der Chefkoch rasch fort. „Gurronsevas verbringt die ganze Zeit, in der wir wach sind, in der Mine, wo er uns beim Kochen hilft. Er bringt dem Küchenpersonal und den jungen Lehrlingen die Methoden der Fremdweltler bei, genießbare Pflanzen zu erkennen und zuzubereiten. Darüber hinaus gibt er ihnen Ratschläge und macht sich auf viele andere Arten nützlich. Bei den Kindern ist er beliebt, bei den Lehrern geachtet, und mögen tun wir ihn alle. Wir wollen nicht, daß er umgebracht oder verletzt oder auch nur in irgendeiner Weise beleidigt wird.
Außerdem wäre Gurronsevas nach meiner fachlich fundierten Meinung als euer Chefkoch und Versorger völlig ungenießbar“, schloß Remrath.
Die Überraschung und Freude über die schmeichelhaften Dinge, die Remrath gerade über ihn gesagt hatte, verschlugen Gurronsevas für einen Moment die Sprache. Sowohl die jungen als auch die alten Wemarer in der Mine waren zwar sehr gesprächig gewesen, hatten aber mit freundlichen Worten stets gespart, so daß er geglaubt hatte, man würde seine Anwesenheit lediglich dulden, aber nicht mehr. Er hätte gern ein Wort des Dankes an den Chefkoch gerichtet, doch noch war er nicht aus den Schwierigkeiten heraus, und außerdem gab es noch einiges anderes, was er zuerst zu sagen hatte.
„Remrath hat recht“, sagte er mit lauter Stimme zu den Jägern. „Ich bin ungenießbar. Und für die Fremdweltler auf dem Schiff ist Creethar ebenfalls ungenießbar, denn wir essen kein Fleisch. Remrath weiß das und hat seinen Sohn in unsere Obhut gegeben, weil wir auf diesem Gebiet über ein größeres Wissen und mehr Erfahrung verfügen. Sowohl Remrath als auch Sie haben unser Wort, daß wir Ihnen Creethar bei der Mine sobald wie möglich zurückgeben.“
Ich spreche die Wahrheit, sagte sich Gurronsevas, nur nicht die ganze. Die Besatzung der Rhabwar und die Hälfte des medizinischen Teams aß sehr wohl Fleisch, allerdings waren die Mahlzeiten, die man an Bord und im Orbit Hospital verzehrte, ein Produkt der Nahrungssynthesizer, so vollkommen sie in Färbung, Struktur und Geschmack auch waren, und bestanden nicht aus Körperteilen irgendeines unglücklichen Tiers — und von einem intelligenten Lebewesen würde man auf der Rhabwar auch nicht den kleinsten Happen essen. Auch davon, daß Creethar bei der Übergabe lebendig oder tot sein könnte, sagte Gurronsevas nichts. Er glaubte zwar zu wissen, welche von den beiden Möglichkeiten eintreffen würde, doch das Überbringen dieser Art von schlechten Nachrichten überließ man besser den Ärzten.
Schlagartig fiel ihm ein, daß das medizinische Team über den Patienten nicht mehr wußte, als es mit Hilfe der Scanner sehen konnte. Deshalb könnten Informationen darüber, wie sich Creethar die Verletzungen zugezogen hatte, vielleicht nicht nur für das medizinische Team nützlich sein, sondern Gurronsevas auch die Möglichkeit verschaffen, ein weniger heikles Thema anzusprechen. Die Wemarer unterhielten sich jetzt lebhaft, aber leise miteinander, und nach den wenigen Worten, die Gurronsevas’ Translator aufschnappte, schienen sie inzwischen weniger feindselig gegen ihn eingestellt zu sein. Er war entschlossen, eine Frage zu riskieren.
„Könnten Sie mir, falls es nicht allzu schmerzhaft für Sie ist, erzählen, wie Creethar sich seine Verletzungen zugezogen hat?“
Ganz offensichtlich bereitete die Frage keinen Kummer, denn aus der Gruppe der Jäger begann eine Wemarerin namens Druuth, die Creethars Platz als Anführer eingenommen hatte, den Vorfall zu beschreiben. Sie erzählte die Geschichte in sämtlichen Einzelheiten, die sich hin und wieder recht grausam anhörten. Dazu gehörten auch die Ereignisse und Gespräche vor und nach dem Zwischenfall sowie Creethars eigener Bericht und seine letzten Anweisungen, bevor er das Bewußtsein verloren hatte.
Gurronsevas gewann den Eindruck, daß die Wemarerin ihm möglicherweise nur deshalb alles so ausführlich berichtete, um irgend etwas zu entschuldigen oder vielleicht auch zu rechtfertigen, das die Gruppe der Jäger getan oder unterlassen hatte.