10. Kapitel

Da der hudlarische Assistenzarzt lediglich Magnetscheiben an den Greiforganen und einen Kommunikator in einem mit Luft gefüllten Beutel, der vollständig abdichtend rund um die Sprechmembran angebracht werden mußte, ansonsten aber keinen wie auch immer gearteten Schutz vor der Umgebung benötigte, hatte er diese Ausrüstungsgegenstände sehr schnell angelegt und war lange vor Gurronsevas fertig. Als Hudlarer verfügte er allerdings auch über keine andere Möglichkeit, als durch die an den Tag gelegte Eile seine Ungeduld zum Ausdruck zu bringen.

Als Gurronsevas etwas vom Eintreffen eines hudlarischen Frachters an Ladeplatz zwölf zu Ohren gekommen war, hatte er sich entschlossen, einige Zeit damit zu verbringen, den Entladevorgang zu beobachten. Das geschah aus beruflicher Neugier. Er wollte alle Seiten der Nahrungsversorgung, der Lagerung, der Verteilung und der Verarbeitungsanlagen des Hospitals kennenlernen und — falls nötig — in Frage stellen; selbst wenn er die dadurch erworbenen Kenntnisse nie benötigen würde, da er als Chefdiätist über ein hervorragendes Fachpersonal verfügte, das sich um die Versorgung mit Speisen und Getränken sorgte. Doch schon immer hatte er den Grundsatz befolgt, sich in jeder neuen Stellung voll einzusetzen, und er hatte keine Lust, eine lebenslange Gewohnheit zu ändern.

Wenige Minuten später tauchte Gurronsevas zusammen mit dem hudlarischen Assistenzarzt, der die Führung übernahm und sich dicht über den Bodenplatten hielt, in das zeitweilige schwerelose Vakuum im gewaltigen Entladedock ein. Dabei wurden sie von den wiederholten Mahnungen begleitet, nicht den Verladearbeitern in den Weg zu kommen oder sich zwischen die Traktorstrahlprojektoren und die ausgeladenen Container zu begeben, die in scheinbar unbekümmertem Tempo bewegt und aufeinandergestapelt wurden. Als sie in die Schleuse selbst hinein wollten, drang eine Stimme aus Gurronsevas’ Kommunikator, die einen dreiminütigen Stopp der Entladearbeiten anordnete, um es zwei Mitgliedern des Hospitalpersonals zu ermöglichen, die Schleuse zu durchschreiten. Die Stimme, aus der Gurronsevas nicht auf die Spezieszugehörigkeit des Sprechers schließen konnte, klang sowohl ungeduldig als auch gebieterisch.

Aus der Verlademannschaft löste sich ein fremder Hudlarer, der sich ihnen anschloß. Er verhielt sich höflich und freundlich, und das um so mehr, als der Assistenzarzt ihn über Gurronsevas’ Stellung am Hospital und dessen berufliches Interesse aufklärte, die Qualität des hudlarischen Nahrungspräparats in den Behältern zu verbessern. Dagegen, daß zwei Angehörige des Hospitalpersonals das Schiff besichtigen wollten, gebe es keinerlei Einwände, sagte der fremde Hudlarer, vorausgesetzt, ein Mitglied der Besatzung begleite sie. Im selben Atemzug bot er sich selbst für diese Aufgabe an und führte die beiden Besucher zu der in der Nähe befindlichen Besatzungsschleuse.

Genau wie die Chalder nannten oder gebrauchten auch die Hudlarer ihre Namen nicht in der Gegenwart von jemandem, bei dem es sich nicht um einen Familienangehörigen oder einen engen Freund handelte, und dieser FROB hier hatte nicht einmal seinen Dienstgrad, seine Aufgaben oder seine Erkennungsnummer verraten. Folglich hatte Gurronsevas keine Ahnung, mit wem er es zu tun hatte. Nach der selbstbewußten Sprechweise des Hudlarers zu urteilen, die dieser anschlug, als er die Nahrungsaufnahmemechanismen seiner Spezies erörterte, handelte es sich bei ihm möglicherweise um den Bordarzt oder medizinischen Offizier des Schiffs.

Ob es sich bei ihm oder ihr sogar um die hudlarische Freundin handelte, auf deren Ankunft der Assistenzarzt so sehnsüchtig gewartet hatte, wußte Gurronsevas ebenfalls nicht. Hudlarer standen im Ruf, äußerst zurückhaltend zu sein, zumindest in der Öffentlichkeit.

„Sind Ihnen die Einstellungen der Schwerkraft und des Außendrucks einigermaßen angenehm?“ erkundigte sich der fremde Hudlarer, als sie das Mannschaftsquartier betraten. Er betrachtete Gurronsevas’ Schutzanzug, dessen elastische Teile fest gegen den Körper gepreßt waren. Hudlarer konnten zwar lange Zeit ohne Luft und Schwerkraft leben und arbeiten, doch wann immer es möglich war, zogen sie die von zu Hause gewohnten Bequemlichkeiten hoher Gravitation und großen atmosphärischen Drucks vor.

„Ziemlich angenehm“, antwortete Gurronsevas. „Im Grunde kommen diese Umweltbedingungen denen auf meinem Heimatplaneten viel näher als die normale terrestrische Anziehungskraft von einem Ge, die im Hospital aufrechterhalten wird. Doch meinen Anzug werde ich lieber nicht öffnen, falls es Ihnen nichts ausmacht. Zwar ist Ihre Atmosphäre sauerstoffhaltig genug, um für mich nicht tödlich zu sein, aber sie enthält auch andere Bestandteile, von denen einige vielleicht noch am Leben sind, und die könnten mir Atembeschwerden verursachen.“

„Es macht uns nichts aus, wenn Sie Ihren Anzug geschlossen lassen“, sagte der fremde Hudlarer. „Auf dem Freizeitdeck werden Sie übrigens noch mehr von diesen Bestandteilen vorfinden. Dort können Sie auch die besten Proben der ungenießbaren Stoffe entnehmen. Möchten Sie sonst noch etwas besichtigen?“

„Ja, alles“, entgegnete Gurronsevas. „Aber vor allem den Essensbereich und die Küchen.“

„Das überrascht mich nicht, Chefdiätist“, sagte der Hudlarer, wobei er einen unübersetzbaren Laut ausstieß. „Sind Sie mit dem Aufbau dieser Schiffe vertraut?“

„Nur als Passagier“, antwortete Gurronsevas.

„Als Passagier werden Sie ja bereits wissen, daß die meisten Raumschiffe der Föderation auf Nidia, auf der Erde und auf Ihrem schwerkraftträchtigen Heimatplaneten Traltha gebaut werden, weil diese drei Kulturen die zuverlässigsten Schiffe herstellen“, fuhr der Hudlarer fort. „Obwohl die Steuerungs- und Lebenserhaltungssysteme und die Mannschaftsunterkünfte an allen Produktionsorten speziell auf die Spezies der Benutzer abgestimmt werden, sind die tralthanischen Schiffe sowohl bei den kommerziellen Schiffsführern als auch beim Monitorkorps selbst am beliebtesten.“

„Das Korps behauptet sogar, daß selbst die tralthanischen Planierraupen von Uhrmachern zusammengesetzt worden sein müssen“, schloß sich Gurronsevas der Würdigung des tralthanischen Schiffsbaus voller Stolz an.

Der Hudlarer schwieg einen Moment. „Stimmt. Doch ich möchte Sie keineswegs beleidigen, indem ich Ihnen ein geringes Allgemeinwissen unterstelle. Ich will Ihnen nur sagen, daß wir uns hier auf einem robusten Schiff befinden, das nach hudlarischen Vorgaben auf Traltha gebaut worden ist. Also können Sie sich getrost entspannen und sich trotz Ihres alles anderen als unbeträchtlichen Gewichts an Bord nach Lust und Laune frei bewegen, da unsere Anlagen und Ausrüstungsgegenstände gegen versehentliche Beschädigungen unanfällig sind.“

„Das freut mich zu hören“, antwortete Gurronsevas erleichtert und stampfte anerkennend abwechselnd mit seinen sechs schweren Füßen auf, und zwar mit einer Wucht, durch die er den Boden im Orbit Hospital stark eingebeult hätte. „Danke.“

Während er den beiden Hudlarern zum Kommandodeck folgte, dachte er, daß die Beleuchtung ein wenig schwächer als auf seinem Heimatplaneten war und durch irgendeine gallertartige Suspension in der Atmosphäre noch weiter verschlechtert wurde, die sich als grauer Film auf seinem Visier niederschlug, das er alle paar Minuten sauberwischen mußte. Im Gegensatz zu ihm fühlten sich die beiden Hudlarer offensichtlich nicht durch diese Schmutzpartikel gestört.

An den Anlagen und Displays auf dem Kommandodeck zeigte Gurronsevas nur höfliches Interesse, am Bildschirm, auf dem die Entladearbeiten aus dem Blickwinkel des Frachters zu sehen waren, blieb er jedoch länger stehen. Wie ihm das hudlarische Besatzungsmitglied erklärte, wurde die Nährstoffsubstanz für die Synthesizer im Abschnitt der warmblütigen Sauerstoffarmer als erstes entladen, da sie unanfällig gegen Schäden oder chemische Veränderungen durch grobe Handhabung war. Die Substanz für Illensaner und die Behälter mit dem komprimierten Nahrungspräparat für Hudlarer mußten dagegen sanfter behandelt werden. Darum wurden sie nicht von den Traktorstrahltechnikern herumgeworfen, sondern von spezialisierten Verladeteams per Hand oder auf G-Schlitten zum jeweiligen Lagerraum transportiert. Sobald im Laderaum des Frachters und auf dem luftleeren Ladeplatz der normale atmosphärische Druck wiederhergestellt war, würden die internen Transporttrupps, die ohne Raumanzüge arbeiteten, zu den übrigen Verladearbeitern stoßen. Diesen Vorgang konnten Gurronsevas und die beiden Hudlarer schließlich auf dem Bildschirm verfolgen, doch angesichts des Volumens, über das das Entladedock und der Laderaum des Frachters zusammengenommen verfügten, stieg der atmosphärische Druck nur langsam an, so daß gerade genug Zeit bleiben würde, um die weniger zerbrechlichen Frachtstücke zu löschen.

„Das Schiff hat von allen drei Nahrungssorten genügend geladen, um die Versorgung des Hospitals für ein viertel Einheitsjahr zu sichern“, erklärte der fremde Hudlarer weiter. „Für die Nahrungsversorgung der ausgefalleneren Lebensformen, wie diesen TLTU-Diagnostiker hier am Hospital, der heißen Dampf atmet und wer weiß was ißt, oder die VTXMs von Telfi, die von direkter Strahlenumwandlung leben, sind wir nicht verantwortlich. Und Sie, hoffe ich, auch nicht.“

„Nein“, antwortete Gurronsevas. „Wenigstens bis jetzt noch nicht.“

Nach seinem ersten Eindruck ähnelte der Essensbereich auf dem Schiff noch am ehesten dem gemeinschaftlichen Duschraum einer fremden Spezies, falls man ihn überhaupt mit etwas vergleichen konnte. Der kleine Speisesaal bot bis zu zwanzig Hudlarern gleichzeitig Platz, wenngleich der Raum gerade von nur fünf Besatzungsmitgliedern betreten wurde, als Gurronsevas und seine beiden Begleiter eintrafen. Anstatt sich der Unannehmlichkeit auszusetzen, sich seinen Schutzanzug und Helm von einer Schicht aus hudlarischem Nahrungspräparat verschmutzen zu lassen, riet man ihm, lieber draußen zu bleiben und die Vorgänge vom Gang aus durch ein Sichtfenster zu verfolgen. Seine beiden Begleiter, deren gut bedeckte Absorptionsorgane bewiesen, daß sie erst vor kurzem gegessen hatten, leisteten ihm Gesellschaft. Die übrigen Hudlarer eilten in den Raum, und der letzte schaltete die Anlage an.

Sofort begannen die Sprühköpfe, die in engen Abständen an den Wänden und der Decke angebracht waren, mit hohem Druck Nahrungspräparat in den Raum zu pumpen, bis dieser mit dichtem Nebel gefüllt war. Gleich darauf sprangen in den Wänden verborgene Gebläse an, peitschten die dichte Atmosphäre im Raum zu einem Sturm auf und hielten die Nahrungspartikel auf diese Weise in der Schwebe.

„Zwar ist das Präparat mit dem, das am Hospital und auf allen hudlarischen Schiffen und Raumunterkünften verwandt wird, identisch“, erklärte der fremde Hudlarer, „aber die heftige Luftbewegung im Speiseraum weist eine große Ähnlichkeit mit den ständigen Stürmen auf unserem Heimatplaneten auf, wodurch man sich beim Essen fast wie zu Hause fühlt und es einem vielleicht sogar ein wenig besser schmeckt. Wie Sie gleich sehen werden, erinnert das Freizeitdeck noch stärker an die Heimat, da dort jedoch keine Nahrungspartikel herumschwirren, können Sie sich dort auch ohne Probleme bewegen.“

Weil sich die übrigen Besatzungsmitglieder entweder im Speiseraum aufhielten oder die Fracht löschten, wurde das Freizeitdeck momentan nicht genutzt. Durch das Licht, das hier noch gedämpfter als auf dem Gang war, konnte Gurronsevas gerade noch die Einzelheiten von Trainingsgeräten, abgeschalteten Bildschirmen zum Lesen und zur Unterhaltung und Gebilde mit harten, unregelmäßigen Formen ausmachen, bei denen es sich womöglich um Skulpturen handelte. Da die Hudlarer wegen ihrer zähen Haut keine weichen Sitzgelegenheiten zum Entspannen brauchten, waren keine gepolsterten Liegen vorhanden. Aus einer straff gespannten, runden Membran, die in die Decke eingelassen war, drang ein Pfeifen und Jammern, das, wie man Gurronsevas erklärte, hudlarische Musik zur Entspannung darstellte, die jedoch einen fast aussichtslosen Kampf gegen das laute Heulen und Zischen des künstlichen Winds führte, der durch den Raum fegte.

Einige der Böen waren gelegentlich derartig heftig, daß sie Gurronsevas von den sechs weit gespreizten tralthanischen Beinen zu blasen drohten.

„Gegen meinen Anzug und das Visier klatschen dauernd irgendwelche kleinen Gegenstände, von denen sogar einige zu leben scheinen“, rief er über den Lärm hinweg.

„Das sind vom Wind getragene Insekten mit Stacheln, die auf unserem Planeten heimisch sind und normalerweise im Boden leben“, klärte ihn der fremde Hudlarer auf. „Die geringen Mengen Giftstoffe, die die Stacheln absondern, reizen kurz unsere Absorptionsorgane, ansonsten sind sie wirkungslos. Für eine Spezies wie die Ihre, die über einen gut entwickelten Geruchssinn verfügt, entspricht die von den Insekten erfüllte Funktion der von scharf riechenden Duftpflanzen oder Gewürzen. Wie viele Tiere brauchen Sie?“

„Ein paar von jeder Art, falls es mehr als jeweils eins gibt“, antwortete Gurronsevas. „Am liebsten wären mir Insekten mit unversehrten Stacheln und Giftdrüsen. Ist das möglich?“

„Selbstverständlich“, bestätigte der Hudlarer. „Öffnen Sie einfach Ihre Probenflasche, und verschließen Sie sie wieder, wenn genügend Insekten hineingeblasen worden sind.“

Gurronsevas hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, in der Hauptkantine des Hospitals einen Bereich für die ausschließliche Nutzung durch Hudlarer abzuteilen und dort Windmaschinen aufzustellen und einen kleinen Schwärm einheimischer Insekten auszusetzen, um den FROBs die Umgebung, in der sie ihre Mahlzeit einnahmen, angenehmer zu gestalten, doch diese Idee mußte er fallenlassen. Die Insekten, die gegen seinen Anzug geblasen wurden, versuchten mit großer Hartnäckigkeit, ihn durch den Anzugstoff zu beißen und zu stechen, und der Gedanke an das Chaos, das sie unter den ungeschützten Kantinenbesuchern anrichten könnten, falls sie aus dem abgeschlossenen Bereich der Hudlarer entkamen, war zu schrecklich, um die Sache ernsthaft ins Auge zu fassen. Gurronsevas kam zu dem Schluß, daß es sich bei dem Einsprühen mit dem Nahrungspräparat aus den Behältern um eine einfache und sehr bewährte Methode der Nahrungsaufnahme handelte, auch wenn das Präparat selbst vom Geschmack her an nichts erinnerte, was es auf Hudlar gab.

Während die beiden FROBs weiterhin die Empfindungen beschrieben, die die Insekten verursachten, wenn sie über die äußeren Schichten der Absorptionsorgane herfielen, bemerkte Gurronsevas, daß ihre Gliedmaßen von einem leichten, periodischen Zittern ergriffen wurden. Wie er wußte, war dieser Zustand nicht auf Nahrungsmangel zurückzuführen, da sich die beiden erst vor kurzem eingesprüht hatten, und falls es sich um ein medizinisches Problem handelte, hätte es der Assistenzarzt erwähnt. Doch gab es nicht noch eine andere Möglichkeit?

Abgesehen von Gurronsevas’ Anwesenheit, der einer anderen Spezies angehörte und folglich in sexueller Hinsicht keine Rolle spielte, waren die beiden FROBs jetzt seit fast zwei Stunden allein auf dem Freizeitdeck. Ob ihre Spezies für das, was die beiden womöglich vorhatten, ungestört sein mußte, wußte er zwar nicht, doch hegte er keinerlei Absicht, das herauszufinden.

„Ich danke Ihnen beiden“, sagte er deshalb schnell. „Ihre Auskünfte sind sehr interessant gewesen und werden sich bei der Lösung Ihres Problems vielleicht als nützlich erweisen, obwohl ich im Moment noch nicht weiß, wie. Doch ich darf Ihre Freundlichkeit nicht länger mißbrauchen und werde Sie deshalb jetzt gleich verlassen.

Danke, das schaffe ich schon alleine“, sagte er, als der fremde Hudlarer zum Ausgang gehen wollte. „Ich verfüge über einen sehr guten Orientierungssinn, darum ist es nicht nötig, daß Sie mich begleiten.“

Als er sich zum Gehen wandte, herrschte einen Augenblick lang Schweigen; dann sagte der Assistenzarzt: „Danke.“

„Das ist sehr rücksichtsvoll von Ihnen“, fügte seine Freundin hinzu.

Seit Gurronsevas’ erstem Arbeitstag am Orbit Hospital war für ihn die Betätigung der in der Föderation einheitlichen Bedienungselemente der Luftschleusen reine Routine geworden, genauso wie die Überprüfung des Schutzanzugs vor dem Überwechseln in eine andere Umweltbedingung. Als sich die Außenluke öffnete, befand sich nach den Anzeigen in seinem Helm nur noch Luft für eine halbe Stunde in den Sauerstoffflaschen. Auch der Treibstoff für die Anzugdüsen wurde allmählich knapp, doch das war unwichtig, weil Gurronsevas wegen der Schwerelosigkeit mit einem Satz bis zur Frachtschleuse springen konnte und die Düsen nur für eventuelle geringfügige Kurskorrekturen zünden mußte.

Während der Schiffsbesichtigung hatte sich der gewaltige Laderaum des Frachters fast vollständig geleert, doch als Gurronsevas den Kommunikator anschaltete, hörte er immer noch denselben ununterbrochenen Schwall von Anweisungen an die Verladearbeiter und Traktorstrahltechniker. Die Fracht, die wie ein nicht abreißender Strom durch die Schleuse floß, bestand mittlerweile aus Paketen mit zwei Lagen zu je hundert hudlarischen Sprühdosen, zwischen denen hie und da Reihen der leuchtend gelben und grünen, unter hohem Druck stehenden Behälter dahinflogen, in denen sich der giftige, auf Chlor basierende Brei befand, den man für die illensanischen Nahrungssynthesizer benötigte. Als sich die Außenluke der Besatzungsschleuse hinter ihm schloß, setzte Gurronsevas die sechs Füße vorsichtig auf die Wand des Schiffsladeraums, wartete, bis in der schnell dahinziehenden Kette aus Ladungsstücken, die an ihm vorbeibrausten, eine Lücke entstand, und sprang auf die Frachtschleuse zu.

Sofort war ihm klar, daß er zwei äußerst schwerwiegende Fehler gemacht hatte.

In den vergangenen zwei Stunden hatten sich Gurronsevas und seine Beinmuskeln von der Schwerelosigkeit auf dem Ladeplatz im Hospital auf die fünf G umgestellt, die auf dem hudlarischen Schiff herrschten. Deshalb war er eben mit viel zu viel Kraft von der Wand abgesprungen. Er flog in die falsche Richtung, drehte sich langsam um die eigene Achse und war dabei viel zu schnell.

„Verdammt noch mal, was machen Sie da?!“ rief eine wütende Stimme aus seinem Kopfhörer. „Kehren Sie sofort auf den Boden zurück!“

… und er hatte vergessen, die Traktorstrahltechniker, die ihn beim Absprung wegen der eingeschränkten Sicht durch die Frachtschleuse hindurch nicht hatten sehen können, über seine Absicht zu unterrichten, ins Hospital zurückzukehren. Schnell zündete er die Anzugdüsen, verschätzte sich aber wieder und sah sich auf einen der illensanischen Behälter zuschlingern.

„Traktorstrahltechniker drei!“ meldete sich die Stimme erneut. „Ziehen Sie den verdammten Tralthaner da raus!“

Plötzlich spürte Gurronsevas den heftigen Ruck des unsichtbaren Traktorstrahls, der ihn jedoch nicht in der Mitte traf, sondern nur am Oberkörper zog und seine Drehbewegung dadurch stark beschleunigte.

„Geht nicht“, ertönte eine andere Stimme. „Er benutzt immer noch die Anzugdüsen. Halten Sie doch an, verdammt noch mal, damit ich Sie mit dem Strahl erfassen kann!“

Aber Gurronsevas hatte keineswegs die Absicht anzuhalten. Von hinten rauschte ein illensanischer Nahrungsbehälter auf ihn zu, der kurz vom Traktorstrahl berührt wurde. Gurronsevas ließ die Düsen mit voller Leistung brennen, ohne sich darum zu kümmern, in welche Richtung er flog, solange er einen Zusammenstoß mit dieser dahinrasenden Chlorbombe vermied. Einen Sekundenbruchteil später krachte er in ein Paket mit zweihundert hudlarischen Sprühdosen.

Trotz der Schwerelosigkeit im Laderaum waren Masse und Trägheit eines sich drehenden tralthanischen Körpers beträchtlich. Gleiches galt für die Sprühdosen, von denen mehrere aufplatzten, so daß sich mit einer sanften Explosion ein riesiger Schwall von Nahrungspräparat ergoß, durch den die übrigen Dosen auseinanderstoben und dem illensanischen Behälter in den Weg trieben. Die schartige Kante einer aufgebrochenen Sprühdose mußte ihn aufgeschlitzt haben, denn es kam zu einer weiteren, heftigeren Druckentladung, und als die Bestandteile der hudlarischen und der illensanischen Nahrung chemisch miteinander reagierten, entstand eine sich rasch ausdehnende Wolke aus gelbbraunem, zischendem, heißem Gas, die auf die geöffnete Frachtschleuse zuzutreiben begann.

„Alle Traktorstrahlen zum Schiff unterbrechen!“ rief die Stimme in eindringlichem Ton. „Durch dieses Zeug können wir nicht das Geringste sehen.!“

Noch immer flogen die Frachtstücke in ununterbrochener Reihe an Gurronsevas vorbei in die undurchsichtige Wolke rund um die Frachtschleuse hinein und durch sie hindurch, allerdings nicht alle. Einige stießen gegen die Kante der Schleuse und platzten mit derartiger Wucht auf, daß sie nachfolgende Pakete aus der Bahn warfen. Der Lärm, den die Zusammenstöße und Druckentladungen verursachten, riß nicht ab, und die Giftwolke schwoll rapide an, wobei dicke, längliche, gelbbraune Klumpen aus ihr herausschössen und sie innerhalb weniger Minuten die gesamte Frachtschleuse zu verschlingen drohte.

Zwar konnten Hudlarer sowohl in den Umweltbedingungen der meisten Planeten der Föderation als auch im Vakuum überleben, doch der Kontakt mit Chlor bedeutete für sie den augenblicklichen Tod.

Irgendwo heulte plötzlich eine Sirene los, deren kurze, eindringliche Signale die ständig wiederholten Worte einer neuen Stimme bekräftigten: „Giftalarm! Schwere Chlor-Sauerstoff-Reaktion auf Ladeplatz zwölf! Entgiftungstrupps zwei bis fünf sofort zu Ladeplatz zwölf…“

„Dringender Aufruf an alle hudlarischen Verladearbeiter!“ ertönte wieder die erste, gebieterische Stimme. „Räumen Sie unverzüglich den Schiffsladeraum, und suchen Sie Schutz im.“

„Hier diensthabender Offizier der Trivennleth“, fiel ihm eine neue Stimme ins Wort. „Wir können nicht alle rechtzeitig hereinholen. Nicht mal ein Viertel der Arbeiter wird sich in Sicherheit bringen können. Schlage vor, die Luftschleusen zum Laderaum zu öffnen und das Schiff loszureißen. Dazu sollte man jedoch nicht den Hauptantrieb zünden, sondern mit den Bugtriebwerken an Backbord maximalen Seitenschub geben, um das Schiff um neunzig Grad zu drehen und die strukturellen Schäden am Hospital so gering wie möglich zu halten.“

„Machen Sie das, Trivennleth!“ rief die erste Stimme. „An alle Arbeiter im Laderaum! Verschließen Sie wieder die Anzüge und halten Sie sich an etwas Stabilem fest. Es wird gleich zu einer massiven Druckverminderung kommen.“

Als die seitlichen Bugtriebwerke des Frachters Schub gaben, um ihn von der Schleuse loszureißen, konnte Gurronsevas über das Kreischen der Sirene hinweg rings um die Frachtschleuse ein starkes metallisches Knirschen und Ächzen hören. Plötzlich entwich durch den nun entstehenden Spalt zwischen Frachtschleuse und Schiffsladeraum unter hohem Pfeifen Luft, die man durch die Besatzungsschleusen in den Laderaum gelassen hatte und die die Gasschwaden, von denen die Sicht getrübt wurde, mit sich fortriß. Dadurch wurde auf der rechten Seite, wo die Dichtungen zwischen Laderaum und Frachtschleuse auseinandergezogen worden waren, ein dunkler, sich weitender halbmondförmiger Spalt sichtbar. Kurz darauf spürte Gurronsevas, wie er zusammen mit den anderen losen Frachtstücken von diesem Spalt angesogen wurde.

Für einen Sekundenbruchteil kam es ihm so vor, als würden sämtliche Behälter und Sprühdosen in der Nähe gegen ihn prallen und ihm den Anzug von oben bis unten mit Nahrungsmitteln bespritzen. Dann befand er sich plötzlich außerhalb des Laderaums, und die Frachtstücke trieben von ihm weg.

Wie Gurronsevas wußte, hätte er den Vorfall nicht überlebt, wenn er einen schweren Anzug getragen hätte. Doch dank der Elastizität war der leichte Schutzanzug unversehrt geblieben, obwohl man von seinem Träger nicht das gleiche behaupten konnte. Gurronsevas’ linke Seite und das mittlere und hintere linke Bein fühlten sich an, als ob er sich dort furchtbare Prellungen zugezogen hätte.

Um sich von den Schmerzen abzulenken, richtete er die Augen auf die wenigen Stellen des durchsichtigen Helms, die nicht vom Nahrungspräparat verschmiert waren, damit er die Vorgänge verfolgen konnte, während er auf Hilfe wartete.

Als der Frachter zur Seite geschwenkt war und sich auf diese Weise losgerissen hatte, waren die vorspringenden Teile der Frachtschleuse von Ladeplatz zwölf ein wenig verbogen worden, doch die Schleuse selbst stand noch immer offen, und ein Dunstkegel aus entwichener Luft — gemischt mit ungesicherten Frachtstücken, die gegeneinander stießen und platzten — ragte aus ihr hervor. Die Trivennleth hatte sich um neunzig Grad nach Steuerbord gedreht und lag jetzt parallel zur Außenhaut des Hospitals. Der Schiffsladeraum wies nur einen Bruchteil des Volumens vom Ladeplatz auf und mußte inzwischen luftleer sein, denn an seiner Schleuse waren weder Spuren von Nebel noch von herausfliegender Fracht zu sehen.

Der diensthabende Offizier an Bord hatte entschlossen und geschickt gehandelt, dachte Gurronsevas und fragte sich, warum während des Notfalls nicht der Captain das Kommando übernommen hatte. Er zog gerade die Möglichkeit in Betracht, daß es sich beim kommandierenden Offizier um den FROB handelte, den er zusammen mit dem hudlarischen Assistenzarzt auf dem Freizeitdeck zurückgelassen hatte, als er sich einer Stimme im Kopfhörer bewußt wurde, die über ihn sprach.

„…und wo ist dieser dämliche Tralthaner?“ fragte sie wütend. „Die Besatzung der Trivennleth befindet sich wohlbehalten im Vakuum im Laderaum, keine Verletzten. Das gleiche gilt für die sauerstoffatmenden Verladearbeiter. Chefdiätist Gurronsevas, bitte melden Sie sich! Falls Sie noch leben, antworten Sie, verdammt noch mal.“

Erst in diesem Moment stellte Gurronsevas fest, daß sein Anzug doch nicht ganz ohne Schaden davongekommen war. Das Sendelämpchen des Kommunikators wollte nicht aufleuchten.

Allmählich wurde nicht nur der Luftvorrat gefährlich knapp, auch seine Hilferufe konnten von niemandem gehört werden.

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