Die nächsten vier Tage versorgte Gurronsevas das medizinische Team je nach Bedarf mit frischen Krautern und teilte ihm auch die Gebrauchsanweisungen des Chefkochs mit, verbrachte jedoch weiterhin so viel Zeit wie möglich in der Küche der Mine.
Dafür hatte er sowohl positive als auch negative Gründe.
Wann immer er sich auf dem Unfalldeck aufhielt, lamentierten Murchison, Danalta und Naydrad darüber, welche moralischen Auswirkungen es hatte, wenn ein Laie die Methode der medizinischen Behandlung eines Patienten vorschrieb, und bei wem die Verantwortung für Creethars Behandlung in Wirklichkeit lag. Zwar machte ihm niemand direkte Vorwürfe, aber Gurronsevas wußte nicht, wie er auf die unausgesprochene Kritik reagieren sollte, und fühlte sich durch sie sehr verunsichert, wenngleich er die Meinung, die andere über ihn hatten, normalerweise nicht für wichtig hielt. Seit er die Arbeit in den Küchenräumen des Cromingan-Shesk aufgegeben hatte, in denen er über die absolute Macht verfügt hatte, war sein Selbstbewußtsein ständigen und erfolgreichen Angriffen ausgesetzt gewesen. Das war kein schönes Gefühl.
Prilicla, der Gurronsevas’ Empfindungen kannte, ihm aber nicht helfen konnte, wartete, bis die anderen Mitglieder des medizinischen Teams entweder gerade außer Dienst oder zu beschäftigt waren, um zuzuhören, bevor er den Tralthaner beiseite nahm, damit sie sich ungestört unterhalten konnten.
„Ich verstehe Ihre Verärgerung und Unsicherheit, mein Freund, und kann diese Empfindungen gut nachvollziehen“:, sagte der Empath, wobei die leisen, melodischen Triller und Schnalzlaute seiner Muttersprache durch die Übersetzung in Gurronsevas’ Kopfhörer kaum vernehmbar waren. „Aber Sie müssen auch die Gefühle der Mitglieder des medizinischen Teams verstehen. Trotz der Äußerungen, die Sie gehört haben, kritisieren Murchison, Naydrad und Danalta eigentlich nicht Sie, sondern ärgern sich vielmehr über die eigene berufliche Unzulänglichkeit und den Umstand, daß ein bloßer Koch — entschuldigen Sie den Ausdruck, mein Freund, wenn sich die drei Zeit nehmen, darüber nachzudenken, wird denen schnell klar werden, daß Sie viel mehr sind als ein bloßer Koch—, daß also ein bloßer Koch imstande ist, dem Patienten auf eine Weise zu helfen, die für sie selbst nicht möglich ist. Murchison, Naydrad und Danalta können ihre Gefühle genausowenig unterdrücken wie Sie Ihre eigenen, mein Freund, aber ich werde es den dreien mal vorsichtig nahelegen, es wenigstens zu unterlassen, sie Ihnen gegenüber zu zeigen. Üben Sie bitte Nachsicht, bis Creethars Probleme behoben sind. Von dem Chefdiätisten, der vor ein paar Monaten am Hospital angefangen hat, hätte ich das nicht verlangen können. Sie haben sich verändert, mein Freund, und zwar zum Besseren.“
Wie Gurronsevas wußte, lagen seine verwirrten Gefühle für Prilicla offen, und deshalb sagte er nichts.
„Für Sie wäre es vorerst angenehmer, so viel Zeit wie möglich mit Freund Remrath in der Mine zu verbringen“, riet ihm der Empath zum Schluß.
Im nachhinein war das gar nicht so einfach, wie es zuerst erschien. Aus einem unerfindlichen Grund verhielten sich Remrath und in geringerem Maße auch die anderen Mitarbeiter in der Küche sowie die Lehrer ihm gegenüber zunehmend unfreundlich. Und Prilicla war zu weit entfernt, um die feinen Veränderungen in der emotionalen Ausstrahlung der Wemarer wahrzunehmen und zu deuten, woraus Gurronsevas hätte Rückschlüsse ziehen können, was er Falsches gesagt oder getan hatte.
Zum Glück teilten die jungen Wemarer nicht die Gefühle ihrer Eltern und blieben weiterhin höflich, respektvoll und neugierig. Zudem wurden sie durch Spekulationen darüber, welche seltsamen kulinarischen Wunder der fremdweltlerische Koch als nächstes vorzuschlagen gedachte, in ständiger Aufregung gehalten. Selbst die inzwischen zurückgekehrten Jäger probierten seine neuen Gerichte mit immer geringerem Widerwillen, auch wenn sie als standhafte Traditionalisten hartnäckig dabei blieben, daß Fleisch die einzig geeignete Nahrung für einen Erwachsenen sei und sie auch weiterhin Fleisch essen würden.
Angesichts der erbärmlich geringen Menge, die sie von der Jagd mitgebracht hatten — bei sorgfältiger Rationierung würde kaum genügend vorhanden sein, um dem üblichen Gemüseeintopf der Wemarer ein paar Wochen lang auch nur einen leichten Fleischgeschmack zu verleihen — mußte das persönliche Schamgefühl der Jäger genauso groß wie ihr Hunger sein. Gurronsevas brach keinen offenen Streit mit ihnen vom Zaun und zog es lieber vor, deren ungebildete Gaumen zu schulen und dazu zu verlocken, neue Geschmackserlebnisse auszuprobieren, und er bemühte sich ganz allgemein, die Herzen der Wemarer mit einem Angriff von der Seite auf ihre Mägen zu erobern. Die scheinbare Niederlage in einer einzelnen Schlacht wog nicht schwer, da Gurronsevas wußte, daß er den Krieg gewinnen würde.
Doch schließlich zeigten auch die Jäger Anzeichen dafür, daß sie sich aus Gründen, die für Gurronsevas nicht ersichtlich waren, gegen ihn wandten. Im Gegensatz zu Remrath und den Lehrern waren sie in seiner Gegenwart zwar nie freundlich oder entspannt gewesen, doch sie hatten sich überraschend gut auf die Anwesenheit eines Fremdweltlers in ihrer Mitte eingestellt. In den letzten Tagen war ihr Verhalten gegenüber Gurronsevas allerdings fast in Feindseligkeit umgeschlagen. In seiner Nähe zog sich das Schweigen der erwachsenen Wemarer derart in die Länge, daß der Versuch des Tralthaners, mit einer einfachen Frage ein Gespräch anzuknüpfen, nur zu einer äußerst knappen und widerwilligen Antwort führte, und das in einem Ton, bei dem das fließende Wasser in der Küche eigentlich zu Eis hätte gefrieren müssen. Den Grund für ihre Verhaltensänderung konnte er nicht einmal erahnen, und langsam ärgerte er sich darüber. Unter den gegenwärtigen Umständen hielt er es für besser, die in Erstkontaktsituationen üblichen Höflichkeiten zu vergessen und eine einfache, direkte Frage zu stellen.
„Remrath, warum sind Sie auf mich böse?“ erkundigte er sich deshalb ohne Umschweife.
Nach etlichen Minuten ohne Antwort kam Gurronsevas zu dem Schluß,
daß Remrath die Frage ignorierte. Er wandte sich wieder der Vorbereitung der alternativen Hauptmahlzeit des Tages zu, die zu den von ihm ersonnenen Gerichten gehörte, die ausschließlich aus Wurzeln und Blattgemüse von Wemar bestanden. Diese Gerichte verfeinerte er mit einer Soße, die eine winzige Spur des einheimischen Gewürzkrauts Shushlish enthielt, das ein leichtes Brennen auf der Zunge verursachte und über den Geruchssinn eine freudige Erwartung weiterer Genüsse hervorrief. Wie er aus Erfahrung wußte, würden sich die meisten Erwachsenen und alle Kinder für dieses Gericht entscheiden und nur einige wenige hartnäckige Jäger den heimischen Gemüseeintopf mit dem extrem schwachen Fleischgeschmack vorziehen. Doch wie ihm Remrath mitgeteilt hatte, war das nur gut so, denn der Rest der Jagdbeute, der im kalten, fließenden Gebirgswasser frisch gehalten wurde, wog weniger als zwei Pfund und reichte um so länger, je weniger davon verlangt wurde.
Als Gurronsevas das Gericht fertig zubereitet hatte, trat er beiseite, um den vier anzulernenden Jungköchen, die in dieser Schicht arbeiteten, Platz zu machen. Schnell kamen sie heran, um das Essen aus dem Topf auf Teller zu füllen und nach Gurronsevas’ Vorbild anzurichten. Dann stellten sie die Portionen in die von dem Tralthaner neu eingeführten Warmhaltefächer, wo sie bis zum Servieren stehenblieben. Einer der vier, ein Jugendlicher namens Evemth, wie Gurronsevas glaubte, obwohl er immer noch Schwierigkeiten hatte, die fast geschlechtsreifen Wemarer auseinanderzuhalten, hatte das Essen ein wenig anders angerichtet, indem er ein paar kleine Zweige Driss auf die Shushlishsoße gestreut hatte. Für den Gesamtgeschmack hatte das alles andere als katastrophale Auswirkungen, und es verlieh dem Gericht einen zusätzlichen optischen Reiz. Die Abwandlung hatte Evemth nur an einer Portion vorgenommen, vermutlich seiner eigenen.
Es hatte Zeiten gegeben, in denen Gurronsevas einem Untergebenen, der es gewagt hätte, dergleichen ohne Erlaubnis zu tun, aufs Dach gestiegen wäre, und sei es nur, um dem Übeltäter zu zeigen, daß der Meister so wachsam war, selbst die kleinste Veränderung an einer seiner Kreationen auf der Stelle zu bemerken. Doch dieser junge Wemarer bewies in bezug aufs Essen Eigeninitiative und Phantasie und fing an, sich selbst Gedanken zu machen und herumzuexperimentieren. Evemth — falls es wirklich Evemth war — berechtigte zu den besten Hoffnungen.
„Ich bin Ihnen nicht böse“, antwortete Remrath völlig unverhofft.
Und zwei mal zwei ist neuerdings fiinf, dachte Gurronsevas. Doch jetzt war nicht der Moment, um einen Streit anzufangen. Er spürte, daß Remrath noch mehr zu sagen hatte und schwieg.
„Trotz Ihres grauenerregenden Aussehens fühlen wir uns in Ihrer Nähe allmählich wohl — und das ist in für uns überraschend kurzer Zeit so gekommen“, fuhr Remrath fort. „Sie haben sich unseren Respekt erworben, aus dem — zumindest bei einem von uns — sogar Freundschaft geworden ist. Doch über die Bewahrer Creethars auf dem Schiff sind wir sehr verärgert und enttäuscht, und da Sie zu den Fremdweltlern gehören, fällt ein Teil unserer Wut auch auf Sie.“
„Ich verstehe“, sagte Gurronsevas.
Wie er wußte, wurden zwar sämtliche Gespräche, die er in der Mine führte, auf der Rhabwar und der Tremaar verfolgt, doch seit vielen Tagen war ihm das große Kompliment widerfahren, ihm nicht ständig die Fragen und Antworten vorzuschreiben. Allerdings gab es Momente — so wie diesen—, in denen Gurronsevas mit Vergnügen sowohl auf dieses Kompliment als auch auf die Verantwortung verzichtet hätte.
„Aber die Bewahrer Creethars wollen den Wemarern genau wie ich bloß helfen. Das müssen Sie alle wissen und mir glauben. Weshalb sind Sie jetzt so wütend auf die? Und was muß ich tun, um Ihre Freundschaft wiederzugewinnen?“
Mit der ärgerlichen, ungeduldigen Stimme von jemandem, der zu einem unwissenden Kind spricht, antwortete Remrath: „Die lassen Creethar immer noch nicht zu uns zurückkehren.“
Gurronsevas war erleichtert. Offenbar gab es für beide Probleme eine einzige Lösung, nämlich die schleunige Rückkehr des schwer verwundeten Anführers der Jäger. „Ihr Sohn wird so bald wie möglich zu Ihnen zurückkehren“, versicherte Gurronsevas dem Chefkoch mit sorgfältig gewählten Worten. „Da ich selbst kein Arzt und Bewahrer bin, kann ich Ihnen nicht genau sagen, wie lange Sie warten müssen. Ich werde die Ärzte um eine möglichst genaue Schätzung bitten. Oder Sie gehen aufs Schiff und sehen sich selbst an, was dort mit Creethar geschieht. Fragen Sie die Ärzte, was Sie wollen.“
„Nein!“ lehnte Remrath den Vorschlag, Creethar zu besuchen, in ebenso scharfem Ton ab wie schon zuvor. Zornig fuhr er fort: „Sie sind sehr gefühllos, Gurronsevas. Es schmerzt mich, das zu sagen, aber allmählich habe ich den Verdacht, daß Sie und auch die anderen Fremd weltler aus purem Eigennutz zutiefst unehrlich sind. Ich möchte, daß Sie mich vom Gegenteil überzeugen, und bis dahin werden wir nicht mehr miteinander sprechen. Kehren Sie auf Ihr Schiff zurück, und richten Sie Ihren Freunden aus, sie sollen uns auf der Stelle Creethar übergeben!“
Mit der Erinnerung an das letzte Gespräch mit Pricicla machte sich Gurronsevas zur Rhabwar auf und fragte sich, ob es überhaupt noch irgendwo jemanden gab, der mit ihm Zusammensein wollte. Falls Creethar noch lebte, würde er sich hoffentlich mit ihm unterhalten können, um ihm das merkwürdige Verhalten Remraths und der anderen zu erklären. Rätsel und unbeantwortete Fragen waren wie Abfallhaufen, die unordentlich im Kopf herumlagen, und Gurronsevas hatte im Kopf gerne dieselbe Ordnung wie in der Küche. Sobald er wieder an Bord war, bat er Prilicla, ihm zu erlauben, mit Creethar zu sprechen.
„Denselben Vorschlag wollte ich Ihnen auch gerade machen“, antwortete der Empath zu Gurronsevas’ Überraschung. „Aus irgendeinem unersichtlichen Grund verschlechtert sich das Verhältnis zu den Wemarern schneller, als Ihnen klar ist. Wußten Sie, daß die Wemarer den Kontakt zu uns ganz eingestellt und die zurückgelassenen Kommunikatoren ausgeschaltet haben, nachdem sie uns gesagt hatten, Fremdweltler seien in der Mine nicht mehr willkommen? Die einzige Verbindung, die für uns jetzt noch zu den Wemarern besteht, stellt Creethar dar, doch auch er hat wiederholt betont, daß er sich nicht mit Fremdweltlern unterhalten will.“
Prilicla deutete auf Creethars Bett und flog langsam darauf zu. Wie Gurronsevas feststellte, waren keine weiteren Mitglieder des medizinischen Teams anwesend, wahrscheinlich weil Creethar nicht mehr in Lebensgefahr schwebte, oder weil er strikt gegen ihre Anwesenheit war. Für Gurronsevas war es schön, seine Vermutung bewiesen zu sehen.
„Medizinisch betrachtet macht Freund Creethar sehr gute Fortschritte“, fuhr Prilicla fort. „Seit wir ihn mit den heimischen Medikamenten versorgen, die wir Ihnen verdanken, hat er den kritischen Zustand überwunden und steht vor der Genesung. Seine emotionale Ausstrahlung ist jedoch alles andere als gut. Ich spüre ständig eine tiefe Besorgnis bei ihm, eine Angst, die er zu verbergen und zu unterdrücken versucht. Trotz meiner ständigen Bemühungen, ihn zu beruhigen.“
Wie sich Gurronsevas in Erinnerung rief, war Prilicla nicht nur für Emotionen empfänglich, sondern konnte mit seinen Gefühlen auch auf andere einwirken. Hielt man sich in einem überfüllten Raum auf und war man seelisch nicht stark angespannt, fühlte man sich schon besser, wenn der Empath bloß hereingeflogen kam.
„…weigert er sich, das Problem mit uns zu besprechen“, erklärte Prilicla weiter. „In unserem letzten, sehr kurzen Gespräch hat sich Creethar nach seinem Vater Remrath, nach den Jägern und nach den neuesten Ereignissen in der Mine erkundigt. Das war vor zwei Tagen. Seitdem will er nicht mehr mit uns sprechen oder uns auch nur zuhören, und es hat ihn immer sehr bekümmert, wenn wir versucht haben, seinen Fall in seiner Gegenwart zu besprechen. Dieser Kummer ist so schlimm gewesen, daß ich seinen Translator jedes Mal ausgeschaltet habe, wenn wir mit der Erörterung begonnen haben. Außerdem weigert er sich zu essen. Wir ernähren ihn weiterhin ohne sein Wissen intravenös, doch uns beiden ist klar, daß die schnelle Genesung eines Patienten, der sich auf dem Weg der Besserung befindet, durch die Einnahme fester Nahrung sowohl psychologisch als auch medizinisch vorangetrieben wird. Im vorliegenden Fall ist der Patient durch die Unterernährung so stark geschwächt, daß wir seinen Tod ohne die Aufnahme fester Nahrung nicht mehr lange hinauszögern können.
Doch Sie, mein Freund, haben uns gegenüber viele entscheidende Vorteile“, setzte der Empath seine Ausführungen fort. „Bei Begegnungen mit Ihnen ist Creethar immer bewußtlos gewesen. Sie sind kein Arzt und werden deshalb nicht die Versuchung verspüren, den medizinischen Zustand des Patienten in dessen Gegenwart zu erörtern. Vielmehr handelt es sich bei Ihnen um einen Meisterkoch, der vielleicht Creethars Essensvorlieben herausfinden kann, und zu guter Letzt wissen Sie aus erster Hand, was in letzter Zeit in der Mine passiert ist. Darum wäre es mir lieb, wenn Sie so bald wie möglich mit ihm sprechen könnten.“
Mit langsamen Schlägen der schillernden Flügel ging der Cinrussker über Creethars Bett in den Schwebeflug über, bevor er fortfuhr: „Sie sind von diesen Wesen weit mehr als Freund akzeptiert worden als irgend jemand vom medizinischen Team. Aber gehen Sie trotzdem nicht davon aus, daß die Wemarer einer anderen Spezies gleichen. Die Wemarer sind anders, ob Sie sie nun an Terrestriern, Cinrusskern oder Tralthanern messen: es sind und bleiben Wemarer. Dieser Unterschied, der sich durch etwas Falsches, das wir gesagt oder getan haben, noch vergrößert hat, ist der Grund, weshalb wir nicht mehr ihre Freunde sind.“
„Ich werde vorsichtig sein“, versicherte Gurronsevas.
„Das weiß ich“, sagte Prilicla. Er streckte eins der zierlichen vorderen Greiforgane aus und berührte damit kurz einen Knopf auf dem Bedienungsfeld am Bett. „Ich werde die emotionalen Reaktionen des Patienten überwachen und Ihnen auf einer abhörsicheren Frequenz darüber berichten. Den Translator habe ich eben eingeschaltet. Freund Creethar hat zwar die Augen geschlossen, ist aber wach und hört uns zu. Es ist besser, wenn ich mich jetzt zurückziehe.“
Creethar lag so im Behandlungsbett, daß die in Gipsverbänden steckenden verletzten Gliedmaßen bequem in einem System aus Kreuzschlingen hängen konnten, die Gurronsevas an das Tauwerk eines alten Segelschiffs erinnerten. Der übrige Körper und der Schwanz waren durch Haltegurte ruhiggestellt, doch Gurronsevas hatte keine Ahnung, ob sie den Patienten vor Eigenverletzungen oder die Krankenpfleger vor Angriffen schützen sollten. Die Gipsverbände waren durchsichtig, und da keine Bandagen, Binden oder Umschläge nach Art der Wemarer vorhanden waren, konnte Gurronsevas sehen, daß die vielen infizierten Wunden, die Creethars Körper bedeckt hatten, inzwischen verheilten oder bereits verheilt waren. Plötzlich schlug der Anführer der Jäger die Augen auf.
„Großer Shavrah!“ rief Creethar aus und kämpfte mit dem ganzen Körper gegen die Haltegurte an. „Was für ein scheußliches, stupides Ungetüm sind Sie denn?“
Gurronsevas überhörte die Beleidigung einfach und beantwortete lediglich die Frage.
„Ich bin ein Tralthaner“, antwortete er in beruhigendem Ton. „Das heißt, ich gehöre einer Spezies an, die größer und optisch vielleicht auch fürchteinflößender ist als diejenigen, die Sie schon auf dem Schiff gesehen haben. Aber ich will Ihnen genau wie die anderen nichts tun. Im Gegensatz zu denen bin ich jedoch Koch und kein Arzt. Allerdings möchte ich Ihnen ebenfalls nur helfen, wieder ganz.“
„Ein Koch, der kein Arzt ist?“ unterbrach ihn Creethar. Seine Stimme war jetzt ruhiger, und er begann, sich unter den Haltegurten wieder zu entspannen. „Das ist ja merkwürdig, Fremdweltler. Sind Sie nicht fähig gewesen, Ihre Ausbildung zu beenden?“
„Ich heiße Gurronsevas“, fuhr der Tralthaner fort, der diese erneute Beleidigung nicht einfach überhören konnte, obwohl Priliclas Stimme im Kopfhörer anmerkte, daß auf dem Weg der Besserung befindliche Patienten für ihre Streitsucht bekannt seien. „Seit meiner frühzeitigen Ausbildung habe ich mein Leben dem Erreichen der Meisterschaft in der Kochkunst gewidmet, und andere Interessen habe ich nicht. Darum bin ich heute ein guter Koch, und das ist auch der Grund, weshalb man mich gebeten hat, Ihnen zu helfen. Creethar, Sie müssen etwas essen, bevor man Sie in die Mine zurückkehren läßt, aber Sie lehnen die Verpflegung auf dem Schiff ab. Falls sie Ihnen nicht schmeckt, erklären Sie mir bitte, aus welchem Grund, und ich werde Ihnen etwas anderes beschaffen.“ Creethar bewegte sich zwar unruhig hin und her, sagte aber nichts.
„Ich spüre eine negative emotionale Reaktion“, meldete Prilicla. „Die Angst und das persönliche Verlustgefühl haben sich wieder eingestellt. Ich weiß zwar nicht, woran das liegt, aber als Sie die Rückkehr zur Mine erwähnt haben, sind diese Empfindungen besonders stark gewesen. Wechseln Sie bitte das Thema.“
Aber es geht doch ums Essen und die Notwendigkeit, Creethar zu bewegen, etwas zu sich zu nehmen, dachte Gurronsevas wütend. Als er sich ins Gedächtnis rief, daß der Empath seine Wut spürte, beruhigte er sich und fuhr fort: „Was haben Sie am Schiffsproviant auszusetzen? Sagt Ihnen der Geschmack nicht zu?“
„Doch!“ antwortete Creethar überraschend heftig. „Einige Sachen haben wie Fleisch geschmeckt, besseres Fleisch, als ich jemals gegessen habe.“
„Dann verstehe ich nicht, warum Sie sich geweigert.“, begann Gurronsevas.
„Aber es ist ja kein Fleisch gewesen!“ fiel ihm der Patient ins Wort. „Es hat zwar wie Fleisch ausgesehen und geschmeckt, doch in Wirklichkeit hat es sich um irgendeinen seltsamen, fremdweltlerischen Mischmasch aus einer Maschine gehandelt, die dieses absurde Wesen mit den Flügeln als „Synthesizer“ bezeichnet hat. Es ist keine Nahrung von und für Wemarer. Ich darf es nicht essen, damit ich nicht meinen Körper vergifte. Als Koch müssen Sie doch verstehen, wie wichtig Fleisch für die erwachsenen Mitglieder einer Spezies, ja, jeder Spezies ist. Ohne Fleisch kann niemand leben.“
„Als tralthanischer Koch weiß ich davon nichts“, widersprach Gurronsevas mit ruhiger Stimme. „Von meiner Spezies wird seit vielen Jahrhunderten zumeist kein Fleisch mehr gegessen. Das machen wir, weil es uns so lieber ist, und nicht, weil wir die Mägen von Grasfressern haben. Mein Heimatplanet Traltha und die vielen anderen von Tralthanern besiedelten Planeten sind sehr dicht bevölkert und stehen in voller Blüte. Sie sind da einem Irrtum verfallen, Creethar.“
Der Anführer der Jäger schwieg einen Moment und sagte dann langsam: „Das haben mir Ihre Freunde, meine Bewahrer, auch schon oft gesagt. Nach Ihren Maßstäben sind wir Wemarer rückständig und erbärmlich ungebildet, aber wir sind nicht dumm. Und kleine Kinder, die den wundersamen Geschichten lauschen, die ihnen die Eltern erzählen, um ihnen angenehme Träume zu verschaffen, sind wir auch nicht. Erwarten Sie von einem erwachsenen Wemarer, eine offenkundige Unwahrheit zu glauben, bloß weil sie ihm von Fremdweltlern aufgetischt wird?“
Von einem so stark geschwächten und noch nicht ganz von seinen schweren Verletzungen genesenen Patienten hatte Gurronsevas eine derartige Reaktion nicht erwartet. Er überlegte kurz und antwortete dann: „Der Unterschied zwischen Intelligenz und Bildung ist mir sehr wohl bewußt, und ich weiß auch, daß von beidem der Intelligenz eine wesentlich größere Bedeutung zukommt, weil sie den Erwerb von Bildung voraussetzt. Doch in der Mine gibt es erwachsene Wemarer, die unsere Geschichten allmählich glauben.“
„Der Verstand der Alten hat allzuoft Ähnlichkeit mit dem von Kleinkindern“, stellte Creethar fest. „Ich weiß nicht, warum Sie mich dazu bringen wollen, das merkwürdige, wenngleich wohlschmeckende Fleisch aus Ihrer Maschine zu essen. Sie sind nicht mein Freund, kein Familienangehöriger von mir und nicht einmal ein Wemarer. Sie haben keine Ahnung oder es kümmert sie nicht, welchen Schaden das meinem Körper bereitet, und Sie verfügen nicht über mein Verantwortungsbewußtsein gegenüber meinem Volk. Was Sie mir auch erzählen, ich werde Ihre fremdweltlerische Nahrung nicht zu mir nehmen.“
Ganz offensichtlich hatte Creethar zu diesem Thema ganz feste Überzeugungen, die zu festgefahren waren, um sie durch logische Argumente zu ändern, und damit stimmte auch Priliclas Deutung der emotionalen Ausstrahlung überein. Es war an der Zeit, anders an die Sache heranzugehen.
Vorsichtig sagte Gurronsevas: „Als Sie das letztemal mit Doktor Prilicla gesprochen haben — das ist derjenige, der fliegen kann—, haben Sie sich nach Ihren Freunden in der Mine erkundigt. Bei meiner Arbeit in der Küche habe ich mich mit Remrath und vielen der fast erwachsenen Wemarer unterhalten. Was möchten Sie wissen?“
Selbst in der Übersetzung durch den Translator klang Creethars Stimme ungläubig. „Mein Vater hat Sie in die Küche gelassen?“
„Sicher, schließlich sind wir Kollegen“, antwortete Gurronsevas knapp.
Das war zweifellos die größte Untertreibung seines langen und bemerkenswerten Berufslebens, aber das wußte Creethar ja nicht.
Als der Anführer der Jäger nicht reagierte, beschrieb Gurronsevas seine Eindrücke vom Leben und den Wemarern in der Mine. Kurz erzählte er von den ersten Kontakten der Fremdweltler mit den alten Lehrerinnen und den jungen Wemarern, von seiner eigenen Entscheidung, den Großteil seiner Zeit in der Mine zu verbringen, und davon, wie Remrath seine Ratschläge nach einigen Tagen des Zögerns immer mehr annahm.
Daß eine Küche und das Bedienungspersonal den Dreh- und Angelpunkt für den ganzen Klatsch, all die Skandale und aktuellen Ereignisse einer Einrichtung darstellten, wußte Gurronsevas nur zu gut. Ein Kellner fiel nur dann auf, wenn er etwas falsch machte — zu anderen Zeiten blieb er ein unauffälliger Teil der Umgebung, und das bedeutete, daß die Gäste es nur selten als notwendig erachteten, die Zunge im Zaum zu halten. Da Gurronsevas prinzipiell nichts davon hielt, ungeschickte Kellner auszubilden, waren die in der Küche eingehenden Nachrichten sowohl zutreffend als auch immer auf dem neuesten Stand.
Zwar durchschaute er nicht immer die genaue Bedeutung und das Ausmaß des Skandals oder Humors in den Gesprächen, die er jetzt erzählt bekam, doch Creethar gab mehrmals unübersetzbare Laute von sich und zuckte unter den Haltegurten mit dem Körper, und allmählich lenkte Gurronsevas die Unterhaltung wieder auf das Thema Essen. Schließlich bestand der Zweck des Gesprächs darin, den Patienten zum Essen zu bewegen.
„Remrath ist so freundlich gewesen, viele meiner Vorschläge zu übernehmen“, fuhr er elegant fort, „und die haben nicht nur bei den Lehrern und Kindern, sondern auch bei einigen von den zurückgekehrten Jägern Anklang gefunden, die inzwischen zugeben, daß sie.“
„Nie und nimmer!“ protestierte Creethar. „Haben Sie denen etwa das giftige fremdweltlerische Essen aus Ihrer Maschine vorgesetzt?“
„Das habe ich nicht“, beruhigte ihn Gurronsevas. „Der Essensspender des Schiffs ist ausschließlich für die Versorgung der Besatzung vorgesehen und verfügt gar nicht über die Leistungsfähigkeit, eine ganze Bevölkerungsgruppe zu ernähren. Deshalb haben wir den Bewohnern der Mine unser außerplanetarisches Essen gar nicht erst angeboten. Bloß Ihnen haben wir es vorgesetzt, weil Sie stark geschwächt und unterernährt sind, und Sie haben es zurückgewiesen.
Ihre Freunde in der Mine essen — und genießen, wie mir die meisten versichert haben — die einheimischen Gemüsesorten, die man bisher nur als für Kinder geeignet betrachtet hat“, fuhr er schnell fort. „Diese Gemüsesorten werden gegessen, weil ich Remrath viele neue Möglichkeiten gezeigt habe, den Geschmack der hiesigen Gemüsegerichte zu variieren, sie auf reizvollere Weise anzurichten und sie durch Soßen aus Krautern und Gewürzen, die hier überall im Tal wachsen, mit Geschmacksgegensätzen anzureichern.
Zum Beispiel habe ich.“
Creethar lauschte schweigend und reglos, während Gurronsevas mit wachsender Begeisterung zur Beschreibung der vielen Änderungen überging, die er in den Eßgewohnheiten der Minenbewohner herbeigeführt hatte. Die neuen Möglichkeiten, die er entwickelt hatte, indem er den groben Grundteig der Wemarer mit Gewürzen oder saftigen Beeren verfeinert hatte, waren mit allgemeinem Beifall aufgenommen worden. Wie er weiterhin ausführte, reichten seine Worte und Creethars Vorstellungskraft auch nicht annähernd aus, um die Geschmackserlebnisse nachzuempfinden, die er beschrieb. Als er die Komplimente wiederholte, die Remrath und selbst die erzkonservative Tawsar seiner Kochkunst gemacht hatten, erfolgte von Creethar immer noch keine Reaktion. Im Eiltempo gingen Gurronsevas nun die Gesprächsthemen aus.
Während er sich angestrengt bemühte, seine Ungeduld zu zügeln, fragte er: „Creethar, haben Sie Hunger?“
„Ja, habe ich“, antwortete Creethar, ohne zu zögern.
„Mit jedem Wort, das Sie sagen, bekommt er größeren Hunger“, merkte Prilicla an.
„Dann lassen Sie mich Ihnen etwas zu essen geben“, schlug Gurronsevas vor. „Und zwar Wemarer Essen, keins aus der Maschine der Fremdweltler. Daran haben Sie doch bestimmt nichts auszusetzen, oder?“
Creethar zögerte und antwortete dann: „Ich bin mir nicht sicher. An das Essen, das man hier den Kindern vorsetzt, erinnere ich mich nur zu gut, und das ist keine angenehme Erinnerung. Falls Sie tatsächlich irgendwie den Geschmack verbessert haben, liegt das vielleicht daran, daß Sie fremdweltlerische Substanzen ins Essen gemischt haben. Das Risiko kann ich nicht eingehen.“
In der Vergangenheit hatte Gurronsevas schon reichlich mit schwer zu befriedigenden Essern zu tun gehabt, und die Diät- und Naturkostfanatiker hatten immer besondere Schwierigkeiten bereitet, doch deren Forderungen waren im Vergleich zu denen von Creethar direkt einfach gewesen.
„Creethar, Sie müssen etwas essen“, forderte er den Wemarer in sehr ernstem Ton auf. „Zwar gehöre ich selbst nicht zu den Bewahrern und kann keine genaue Schätzung geben, aber wenn Sie jetzt anfangen, regelmäßig zu essen, werden wir Sie schon bald Ihren Freunden übergeben können. Falls Sie lieber etwas Einheimisches als die Verpflegung aus unserer Maschine zu sich nehmen, kann ich Ihnen den einfachen Gemüseeintopf kochen, an den Sie sich aus der Kindheit erinnern, und dann werde ich Remrath um ein wenig von dem Fleisch bitten, das die Jäger mitgebracht haben. Ihre Freunde wollen Sie unbedingt zurückhaben, und ich bin mir sicher, daß es denen nichts ausmachen würde.“
„Nein!“ widersprach Creethar in scharfem Ton, wobei er sich kraftlos mit dem Körper gegen die Haltegurte stemmte. „Sie dürfen auf keinen Fall
meine Freunde um Fleisch bitten oder mit Remrath über mich reden. Das müssen Sie mir versprechen.“
„Der Patient ist zunehmend angespannt“, meldete Prilicla.
Das kann ich selbst sehen, dachte Gurronsevas. Aber warum ist er angespannt? Hat er unerkannte Kopfverletzungen erlitten und ist nicht mehr bei klarem Verstand? Oder verhält er sich einfach wie ein Wemarer?
„Also gut, Creethar, ich verspreche es Ihnen“, versicherte er ihm schnell. „Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit. Mal angenommen, ich würde das Gemüse hier im Tal sammeln und es Ihnen vor und während jeder Phase der Zubereitung und des Kochens zeigen. Ich werde Ihnen nicht versprechen, Ihnen den Eintopf so vorzusetzen, wie Sie ihn in Erinnerung haben, aber ich bin mir sicher, daß Ihnen das Ergebnis gefallen wird. Zum Kochen werde ich nicht mal die Vorrichtung des Essensspenders zum Erhitzen benutzen, weil Sie möglicherweise eine Verunreinigung des Essens befürchten, sondern ich werde persönlich das hiesige natürliche Brennmaterial sammeln und auf dem Boden neben Ihnen ein Feuer zum Kochen entfachen, wo Sie mir bei der Arbeit zusehen können. Was sagen Sie nun, Creethar? Ich sehe keine Probleme mehr, all Ihre Bedenken zu zerstreuen.“
„Ich habe einen Riesenhunger“, wiederholte Creethar.
„Und Sie, Freund Gurronsevas, sind ganz schön optimistisch“, merkte Prilicla in warnendem Ton an.