Die Küche war zwar riesig, trotzdem aber ein geschlossener Raum, in dem die Schreie des Ungeheuers noch lauter und unerträglicher widerzuhallen schienen, als sie ohnehin schon waren. Die Bestie tobte. Während Bremer halb wahnsinnig vor Angst und Angela einfach hinter sich herzerrend, mit gewaltigen Sätzen auf die Tür zuraste, schien sich das Ungeheuer in einen regelrechten Tobsuchtsanfall hineinzusteigern. Seine dürren Gliedmaßen zerrissen und zerfetzten alles, was in seine Reichweite kam, und was den rasiermesserscharfen Klauen und den schnappenden Kiefern entging, das zertrümmerten seine wild schlagenden Flügel. Der Agent, der auf das Ungeheuer geschossen hatte, war längst tot, aber selbst dieses zweite Opfer schien den Blutdurst der Bestie nicht gestillt zu haben. Ihre gewaltigen Flügel schlugen, schleuderten ein zwei Meter hohes und dreimal so langes Regal voller Teller beiseite wie Papier und fegten einen Topf mit kochendem Wasser vom Herd. Einer der flüchtenden Küchenhelfer wurde von der gewaltigen Schwinge gestreift und unmittelbar vor die Füße der Kreatur geschleudert, wo er stöhnend liegenblieb. Die Bestie beachtete ihn nicht einmal. Ihr Kopf ruckte mit rasend schnellen, vogelartigen Bewegungen hin und her. Der Blick ihrer schrecklichen Augen tastete durch den Raum. Sie suchte etwas.
Bremer prallte gegen ein Hindernis, wäre um ein Haar gestürzt und fand im letzten Augenblick sein Gleichgewicht wieder. Hinter ihm erklang ein triumphierendes Brüllen, und er mußte sich nicht noch einmal herumdrehen, um zu wissen, daß das Ungeheuer sein Opfer entdeckt hatte. Er versuchte noch schneller zu laufen, aber er konnte es nicht. Angela taumelte noch immer halb benommen hinter ihm her, und immer mehr Mitglieder des Küchenpersonals stürzten in kopfloser Flucht an ihnen vorbei, so daß vor dem Ausgang ein regelrechtes Gedränge entstand. Bremer hörte das Schlagen riesiger Flügel und glaubte einen Schatten zu erkennen, der sich über Angela und ihn legte, dann begann hinter ihm eine Maschinenpistole zu hämmern, und das Schreien des Ungeheuers änderte sich erneut. Es klang jetzt nicht mehr triumphierend, sondern wütend und gequält zugleich.
Sie hatten den Ausgang erreicht, kamen aber nicht weiter, weil er noch immer von zahlreichen Flüchtenden blockiert wurde, die sich in ihrer Panik nur gegenseitig behinderten. Bremer sah sich verzweifelt um. Der nächste Ausgang war gut zwanzig Schritte entfernt, und um ihn zu erreichen, hätten sie praktisch zwischen den Beinen des Ungeheuers hindurchlaufen müssen. Sie hatten keine andere Wahl, als abzuwarten, bis die Tür frei war.
Möglicherweise blieb ihnen sogar noch genug Zeit dazu, denn das Monster war im Moment anderweitig beschäftigt: Die drei überlebenden Agenten feuerten aus drei verschiedenen Richtungen und ununterbrochen auf das Ungeheuer. Die Bestie taumelte, aber Bremer zweifelte nicht daran, daß es nur die schiere Wucht der Geschosse war, die sie wanken ließ. Ihre gewaltigen Schwingen bewegten sich, und eine der Waffen verstummte.
Bremer richtete Angela mit einiger Mühe vollends auf und schüttelte sie, bis sie wenigstens die Augen aufschlug. »Bist du in Ordnung?« Es war eine ziemlich dumme Frage, und Angelas Antwort war die schlechteste Lüge, die er je gehört hatte.
Sie deutete ein Kopfschütteln an und murmelte: »Es geht mir prächtig«, aber ihr Blick blieb verschleiert, und sie hatte kaum die Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Allmählich begann Bremer zu befürchten, daß der Agent sie ernsthaft verletzt hatte. Darüber hinaus hatte sie in den letzten Stunden schier Unvorstellbares geleistet. Auch ihre Kraftreserven mußten irgendwann einmal zu Ende gehen.
Die Flügel des Ungeheuers rauschten erneut, und eine zweite Waffe verstummte. Bremer sah nicht einmal hin, sondern zog Angela hinter sich her zur Tür. Es vergingen noch einmal Sekunden, bis sie endlich hindurchstürmen konnten. Die Panik hatte gottlob keine Opfer gefordert, wie es sonst so oft der Fall war; die Menschen vergaßen nur zu oft die dünne Tünche von fünftausend Jahren Zivilisation, wenn ihr Leben in Gefahr war. Sie mußten jedoch Gott sei Dank weder über Verletzte hinwegsteigen, noch sahen sie Menschen, die um den Ausgang kämpften. Hinter der Tür begann eine zwei Meter breite, steil in die Höhe führende Treppe, auf der noch immer ein ziemliches Gedränge herrschte, aber niemand versuchte, sich mit Gewalt oder gar über die Körper von Gestürzten hinweg nach oben durchzukämpfen. Bremer schoß der Gedanke durch den Kopf, daß sie sich nunmehr genau in die entgegengesetzte Richtung zu der bewegten, die sie eigentlich angestrebt hatten - statt die Klinik durch irgendeinen Lieferanteneingang, eine Laderampe oder eine Kellertür zu verlassen, stürmten sie wieder nach oben, und damit mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit den Männern entgegen, vor denen sie eigentlich geflohen waren.
Plötzlich bemerkte er, daß hinter ihnen keine Schüsse mehr fielen. Hastig sah er im Laufen zurück und wurde mit einem Anblick belohnt, der sein Herz abrupt schneller schlagen ließ: Der Dämon richtete sich genau in dieser Sekunde über seinem letzten Opfer auf, fuhr mit einer rasend schnellen Bewegung herum und stieß sich ab. Seine Flügel spreizten sich. Für einen Moment sah er fast aus wie ein grotesker, ins Absurde vergrößerter Kinderdrachen, der von unsichtbaren Fäden gezogen direkt auf die Tür zufegte, schnell, entsetzlich schnell.
Was Bremer schon einmal beobachtet hatte, wiederholte sich: Die Kreatur war unvorstellbar stark und fast ebenso schnell, aber alles andere als klug: Sie steuerte, getrieben von einer unstillbaren Blutgier, auf die offenstehende Tür zu und kam anscheinend nicht einmal auf die Idee, daß die Öffnung möglicherweise breit genug für ihren Körper war aber ganz bestimmt nicht für ihre Schwingen. Die weit gespreizten Flügel prallten mit so ungeheurer Wucht gegen die Wand, daß das gesamte Gebäude zu erbeben schien. Putz und Staub rieselten von der Decke, und in der Wand neben der Tür erschien ein meterlanger, gezackter Riß. Die Erschütterung riß nicht nur Angela und Bremer von den Füßen, sondern schleuderte den Koloß auch meterweit zurück, ehe er zu Boden fiel. Für einen Moment verwandelte er sich scheinbar in ein einziges tobendes Chaos aus Schwärze und flatternder Wut, dann richtete er sich wieder auf und stürmte kreischend vor Zorn hinter ihnen her. Angela und Bremer waren vor ihm wieder auf den Füßen und hetzten die Treppe hinauf. Zu Fuß war das Ungeheuer nicht annähernd so schnell wie in der Luft - aber trotzdem immer noch schneller als ein rennender Mensch! Seine grotesk dürren Beine katapultierten es regelrecht die Stufen empor. Ihr Vorsprung schmolz rasend schnell dahin. Als Bremer und Angela die Tür am oberen Ende der Treppe erreichten, hatte das Ungeheuer sie fast eingeholt. Bremer warf sich mit verzweifelter Kraft nach vorne, hechtete regelrecht durch die Tür und zerrte Angela einfach mit sich. Wie durch ein Wunder stürzten sie nicht, sondern blieben irgendwie auf den Beinen. Wenigstens so lange, bis der Dämon ihnen folgte.
Das Ungeheuer machte sich nicht die Mühe, die Tür zu öffnen. Es stürzte einfach hindurch, zerschmetterte sie dabei und breitete mit einem befreienden Kreischen die Schwingen aus, kaum daß es aus der Enge des Treppenschachtes heraus war. Bremer versuchte sich noch zu ducken, aber es war zu spät. Eine gigantische Schwinge traf seine Schulter und schleuderte ihn gute zwei Meter weit durch die Luft, ehe er auf dem gefliesten Boden aufschlug und noch einmal um gut die doppelte Distanz weiterschlitterte. Angela wurde in die entgegengesetzte Richtung geschleudert und blieb benommen liegen, gute fünf, sechs Meter entfernt. Vielleicht weit genug, daß das Ungeheuer sie nicht bemerkte, wenn es sich auf ihn stürzte, was ohne Zweifel im nächsten Augenblick der Fall sein würde. Bremer hatte nicht mehr die Kraft, noch einmal aufzustehen und davonzulaufen. Es war sinnlos. Es gab keinen Platz auf dieser Welt, an dem er sich vor diesem Dämon verstecken konnte. Das Ungeheuer würde ihn weiter jagen und seinen Weg durch die Welt der Menschen mit einer Spur von Blut markieren, ganz gleich, wie weit er vor ihm davonlief, und ganz gleich, wo auch immer er sich vor ihm zu verstecken versuchte. Vielleicht starben ein paar Unschuldige weniger, wenn er endlich aufgab und sein sinnloses Davonrennen beendete.
Seltsamerweise griff das Ungeheuer jedoch nicht an. Es stand nur wenige Schritte von ihm entfernt, mit halb ausgebreiteten Flügeln, die mörderischen Klauen erhoben. Eine einzige, ungelenke Bewegung seiner dürren Beine hätte gereicht, um Bremer zu erreichen und endlich zu Ende zu bringen, was es vor so langer Zeit begonnen hatte. Aber der Blick seiner riesigen irisierenden Insektenaugen suchte nicht Bremer. Er tastete durch die große Halle hinter ihm und fixierte schließlich einen bestimmten Punkt.
Mühsam stemmte sich Bremer in die Höhe und drehte den Kopf.
Die Halle war voller Menschen, und natürlich hatte das Auftauchen des geflügelten Dämons auch hier augenblicklich für Panik gesorgt. Männer und Frauen rannten schreiend und kopflos davon - ganz gleich in welche Richtung, nur weg von diesem lebendig gewordenem Alptraum, der so plötzlich unter ihnen aufgetaucht war! - und natürlich entstand auch hier vor dem Ausgang ein regelrechter Tumult. Die Glastüren waren breit genug, um ein Dutzend Menschen zugleich durchzulassen, aber Bremer hatte den Eindruck, als ob draußen andere Männer standen, die sie daran hinderten, das Gebäude zu verlassen, obwohl er sich einfach nicht vorstellen konnte, warum.
Dann sah er, worauf sich der Blick des Ungeheuers gerichtet hatte.
Unweit des Ausganges befand sich eine kleine Gruppe von Männern, die nicht in Panik geraten waren. Bremer erkannte Braun als einen von ihnen, Vater Thomas und zu seiner maßlosen Überraschung auch Nördlingers Sumoringer-Gestalt, Vürfels und zwei oder drei weitere Männer, die ihrem Aufzug nach zu Brauns Schlägertrupp gehören mußten. Nördlinger hatte fassungslos die Augen aufgerissen und sah so aus, als würde er in der nächsten Sekunde in Ohnmacht fallen, während auf Brauns Gesicht plötzlich ein triumphierendes, böses Lächeln erschien. Vater Thomas schließlich bot einen fast grotesken Anblick: Er hatte sich eine violette Schärpe umgehängt und trug ein wuchtiges, dreißig Zentimeter hohes Silberkreuz in der linken Hand. In der Rechten hielt er eine jener absurden Metallkugeln an einem Stiel, mit denen man Weihwasser verspritzen konnte und die Bremer stets an altmodische Babyrasseln erinnerten, und um das absurde Bild komplett zu machen, hatte er sich noch eine gewaltige, in geprägtes Leder gebundene Bibel unter den Arm geklemmt, die aussah, als wöge sie mindestens einen halben Zentner. Seine Augen waren weit aufgerissen und starr vor Entsetzen, und seine Lippen bewegten sich ununterbrochen. Wahrscheinlich murmelte er ein Gebet.
Dann schrie das Ungeheuer erneut, und in die scheinbar mitten in der Bewegung erstarrte Gruppe kam wieder Leben. Nördlinger riß eine Pistole aus der Manteltasche und legte auf den Dämon an, zwei von Brauns Agenten schwenkten ihre Maschinenpistolen herum und zielten ebenfalls in seine Richtung, aber Braun hielt sie mit einer hastigen Geste zurück. Vater Thomas hob das Kreuz und die Babyrassel und streckte sie der Bestie entgegen, und Vürfels zog seine Pistole aus dem Schulterhalfter und fiel in Ohnmacht.
Bremer hörte, wie das Ungeheuer hinter ihm erneut diesen krächzenden Vogelschrei ausstieß und sich dann in Bewegung setzte. Blitzschnell warf er sich auf die Seite, und Nördlinger schoß. Er hatte zu hastig gezielt: Die Kugel hätte um ein Haar Bremer getroffen statt des Ungeheuers, und die Bestie stürzte unbeeindruckt weiter. Bremer sprang hastig auf die Füße, duckte sich im buchstäblich allerletzten Moment unter einem gewaltigen schwarzen Flügel hindurch und lief zu Angela hinüber, und Nördlinger feuerte erneut.
Er war wirklich ein miserabler Schütze. Seine nächste Kugel verfehlte Bremer buchstäblich nur um Haaresbreite. Bremer duckte sich erschrocken, zerrte Angela auf die Füße und drehte sich erst dann herum, um Nördlinger zuzuschreien, daß er auf das falsche Ziel schoß.
Mittlerweile hatte die Kreatur die Gruppe um Braun fast erreicht. Braun und seine Agenten brachten sich mit verzweifelten Sprüngen in Sicherheit, während Vater Thomas offenbar närrisch genug war, sich auf den Schutz seines Silberkreuzes und der wassergefüllten Kinderrasseln zu verlassen. Der Tumult vor der Tür explodierte regelrecht, als zuerst eine und dann eine zweite der großen Scheiben unter dem Druck der Menge zerbarst und sich gellende Schmerzensschreie in den ohnehin schon ohrenbetäubenden Chor der Menschenmenge mischten. Trotzdem drängte der Mob sofort nach draußen, und nun sah Bremer genau die Szenen, die er vorhin befürchtet hatte: Männer und Frauen kämpften rücksichtslos darum, die Tür zu erreichen, nahmen Arme, Beine, Ellbogen und Knie zu Hilfe, um die vor ihnen Stehenden beiseite zu stoßen oder trampelten rücksichtslos über Gestürzte hinweg. Die verzweifelte Schlacht um die Tür forderte vermutlich mehr Opfer, als es ein Angriff der Bestie getan hätte.
Dann sah Bremer etwas, das ihm schier das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Der Dämon hatte Nördlinger und Vater Thomas fast erreicht und breitete die Flügel aus, um die restliche Distanz mit einem einzigen Satz zurückzulegen. Vater Thomas riß sein Kreuz in die Höhe und begann das Vaterunser oder irgendeinen anderen Unsinn zu schreien, und Nördlinger ergriff die Pistole mit beiden Händen, spreizte die Beine, um festen Stand zu haben, und zielte sorgfältig.
Aber nicht auf das Ungeheuer. Er zielte auf ihn. Für den Bruchteil einer Sekunde kreuzten sich Nördlingers und Bremers Blicke, und was Bremer in diesem unendlich kurzen Moment in den Augen seines Vorgesetzten erkannte, das beseitigte jeden Zweifel. Es war ein Ausdruck unendlicher Qual und gewaltiger Verzweiflung, aber auch wilder Entschlossenheit: Nördlinger würde ihn töten.
Eine halbe Sekunde, bevor er abdrücken konnte, war der Dämon heran. Seine Kiefer schnappten mit einem gräßlichen Laut zu, und die Waffe polterte zu Boden.
Nördlinger erstarrte. Für die Dauer eines schweren Herzschlages stand er einfach da, blickte aus aufgerissenen Augen die Stümpfe seiner Arme und den sprudelnden, roten Strom an, in dem das Leben aus ihm herauslief, dann stieß er einen seltsamen, fast überrascht klingenden Laut aus und brach in die Knie.
Das Ungeheuer fegte ihn mit einem einzigen Flügelschlag zu Boden und wandte sich Vater Thomas zu.
Der Geistliche hatte seine Bibel fallen lassen und bedrohte den Koloß jetzt mit seinen verbliebenen, lächerlichen Waffen. Seine Züge waren vor Angst verzerrt, Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht, und seine Lippen formten die Worte, die im Geschrei der Menschenmenge untergingen, so schnell, daß wahrscheinlich nur noch ein unverständliches Gestammel herauskam... Der Dämon näherte sich dem Geistlichen mit einem staksenden Schritt, richtete sich zu seiner ganzen Größe von weit über zwei Metern auf und blickte mit schräg gehaltenem Kopf auf ihn herab; Vater Thomas zitterte am ganzen Leib. Bremer konnte sehen, wie alles in ihm danach schrie, herumzufahren und davonzurennen, aber er wich nicht, sondern blieb stehen, jeden Muskel in seinem Körper zum Zerreißen angespannt, und schleuderte der Bestie seine heiligen Bannsprüche entgegen. Selbst in diesem Moment, in dem er es sah, kam es Bremer einfach unglaublich vor - aber es schien tatsächlich zu funktionieren. Das Ungeheuer stand auf weniger als Armeslänge vor Thomas. Er hätte ihn mit einer einzigen, flüchtigen Bewegung packen und töten können, aber irgend etwas ... hinderte es daran. Vielleicht war ja alles, woran er zeit seines Lebens geglaubt - beziehungsweise gerade nicht geglaubt - hatte, falsch. Vielleicht war das alberne Spielzeug in Thomas' Händen doch mehr als eine Kinderrassel, und vielleicht waren seine Worte doch mehr als abergläubisches Gestammel, sondern enthielten einen uralten Zauber, der das Ungeheuer bannte und es in die Welt zurückschicken würde, aus der es gekommen war.
Der Dämon starrte den Geistlichen sekundenlang aus seinen faustgroßen Augen an, dann drehte er sich mit einer auf beunruhigende Weise an ein menschliches Achselzucken erinnernden Bewegung herum und schlug Vater Thomas fast beiläufig den Kopf von den Schultern. Der enthauptete Torso des Geistlichen blieb noch eine geschlagene Sekunde lang stehen, ließ erst den Weihwasserspender und dann das schwere Silberkreuz fallen und brach erst dann zusammen.
Bremer war vollkommen schockiert. Was ihn für Sekunden regelrecht lähmte, das war nicht einmal der Tod des Geistlichen - er hatte gesehen, wie die Bestie mehr Menschen umgebracht hatte, und auf ungleich schrecklichere Weise.
Es war die Beiläufigkeit, mit der es geschehen war; fast, als hätte sich das Ungeheuer ganz genau überlegt, auf welche Weise es Vater Thomas töten würde, um Bremer ein möglichst beeindruckendes Schauspiel zu bieten. Als sich die Kreatur wieder zu ihm herumdrehte, war ihr Gesicht vollkommen starr, und anders konnte es ja auch nicht sein, aber Bremer glaubte ein böses, höhnisches Glühen in seinen Augen zu sehen.
»Er hat auf dich gezielt«, stammelte Angela. »Nördlinger! Er ... mein Gott, er ... er wollte dich erschießen!«
»Ich weiß«, murmelte Bremer. Seine Gedanken hatten sich in einen klebrigen Sumpf verwandelt, in dem jeder Versuch, eine logische Erklärung zu finden, hoffnungslos versank. Er starrte die Bestie an, und das Ungeheuer starrte ihn an, und etwas außerhalb von Bremers Begreifen schien in diesem Moment miteinander zu kommunizieren.
Ein Schuß fiel. Chitinsplitter und Blut eruptierten aus dem Schädel des Dämonen. Der Koloß wankte, drehte sich mit einer blitzartigen Bewegung herum und stieß ein zorniges Kreischen aus, auf das zwei oder drei weitere Schüsse antworteten. In den weit gespreizten Schwingen des Titanen prangten plötzlich zwei gewaltige Löcher.
Die flüchtenden Menschen hatten mittlerweile die Halle verlassen, aber in der zerborstenen Glastür waren andere Männer aufgetaucht, Männer in Kleidung und mit Waffen, die Bremer sofort erkannte: Nördlinger war nicht allein gekommen, sondern hatte eine komplette Abteilung des SEK mitgebracht. Für ihn selbst kam diese Hilfe zu spät, aber Angela und ihm rettete es vielleicht noch einmal das Leben. Nur zwei oder drei der Männer schossen auf das Ungeheuer. Einige weitere waren damit beschäftigt, Verwundete aus dem Haus zu zerren, aber die meisten waren einfach wie vom Donner gerührt stehengeblieben und starrten die Alptraumkreatur an. Selbst für die hartgesottenen Burschen war der Anblick des Dämonen offensichtlich zu viel, um ihn so einfach wegzustecken.
Angela riß sich los - und tat etwas, was Bremer vor Entsetzen aufstöhnen ließ. Sie rannte nicht davon und nutzte die Chance, die ihnen das Schicksal noch einmal geschenkt hatte, sondern lief auf den Dämon zu, schlug im letzten Moment einen Haken und näherte sich Nördlinger! In vollem Lauf fiel sie auf die Knie, schlitterte die letzten zwei Meter wie eine Eiskunstläuferin am Ende eines Kunstsprunges auf den Knien über den Boden und prallte gegen den Kriminalrat. Sie nutzte den Schwung ihrer eigenen Bewegung, um Nördlinger auf den Rücken zu drehen, und begann sich mit fliegenden Fingern an seinen Armstümpfen zu schaffen zu machen. Bremer konnte nicht genau erkennen, was sie tat, aber es dauerte nur wenige Sekunden, dann sprang sie wieder in die Höhe und rannte zu ihm zurück. Ihre ehemals weiße Schwesterntracht glänzte jetzt in einem dunklen, nassen Rot. Sie war quer durch die gewaltige Blutlache geschlittert, die sich dort gebildet hatte, wo Nördlinger und Vater Thomas lagen.
»Braun!« schrie sie. »Er entkommt!« Bremer sah in die Richtung, in die ihr ausgestreckter Arm wies. Braun und die Handvoll Männer, die ihm geblieben waren, verschwanden in diesem Moment in einer Tür am anderen Ende der Halle.
Aber auch der Dämon hatte auf Angelas Worte reagiert. Die Männer des SEK schossen noch immer auf ihn. Er wankte unter den Kugeln, die ihn in immer rascherer Folge trafen, aber Bremer wußte, daß sie ihn nicht wirklich verletzen konnten. Sein Kopf drehte sich unablässig, und sein Blick irrte zwischen Angela und den Männern an der Tür hin und her, als überlege er, ob sie es überhaupt wert waren, sie anzugreifen. Dann drehte er sich behäbig herum und machte einen schwerfälligen Schritt in Angelas Richtung.
Zwei Geschosse gleichzeitig trafen seinen Schädel und rissen die Hälfte davon weg. Diesmal konnte Bremer sehen, wie sich die grauenhafte Wunde schloß. Die Bestie wankte, drehte sich erneut zu den Männern unter der Tür herum - und stieß sich mit einem wütenden Kreischen ab. Mit weit gespannten Flügeln landete sie inmitten der Männer. Ihre Krallen und Kiefer schnappten zu. Die riesigen Schwingen schleuderten die Männer gleich Spielzeugen durch die Luft und zertrümmerten auch noch das, was von der Glastür bisher übriggeblieben war. Trotzdem hatte Bremer den Eindruck, daß die Kreatur längst nicht mit der gnadenlosen Wildheit kämpfte, die er bisher beobachtet hatte. Es war, als wolle sie die Männer nicht töten, sondern begnügte sich damit, sie zurückzutreiben.
Er verschwendete allerdings keine Sekunde darauf, sich von dieser aberwitzigen Theorie zu überzeugen, sondern wirbelte herum und rannte los, als Angela ihn erreicht hatte. »Was sollte das gerade?« schrie er. »Wolltest du dich umbringen?!«
»Ich konnte ihn nicht einfach so sterben lassen!« schrie Angela zurück. Ihr Atem ging schnell und pfeifend.
Bremer hatte Mühe, die Worte überhaupt zu verstehen. Er sah ihr an, daß sie ihre unwiderruflich letzten Kraftreserven brauchte, um überhaupt noch mit ihm Schritt zu halten.
»Lauf!« keuchte sie. »Wir müssen ... Braun ... einholen.«
»Wozu denn, um Gottes willen?«
»Weil er der einzige ist, der uns zu Haymar führen kann!« keuchte Angela.
Sie hatten die Halle fast durchquert. Die Männer an der Tür hatten aufgehört zu schießen und krochen in verzweifelter Hast vor dem Ungeheuer davon, das seine Flügel wie Dreschflegel einsetzte und alles von den Füßen riß, was in seine Reichweite kam. Bremer sah, daß seine erste Beobachtung richtig gewesen war, so unglaublich es ihm auch immer noch erschien. Es würde reichlich Knochenbrüche und Prellungen geben, aber keine Toten. Warum auch immer: Die Kreatur schonte die Männer.
Sie hatten das Ende der Halle erreicht. Angela riß im vollen Lauf die Tür auf, stürzte hindurch, und Bremer begriff zu spät, daß sie einem verhängnisvollen Irrtum erlegen waren.
Braun stand auf der anderen Seite der Tür, hielt seine Pistole in der Hand und schoß Angela aus allernächster Nähe ins Gesicht.
Der Knall war ohrenbetäubend. Angela wurde wie von einem Faustschlag zurückgerissen, drehte sich halb um ihre Achse und prallte wuchtig gegen Bremer. Die zweite Kugel, die Braun auf Bremers Kopf abfeuerte, verfehlte ihr Ziel und durchbohrte statt dessen seine Schulter.
Die schiere Wucht des Treffers schleuderte ihn gegen die Wand. Sein Hinterkopf prallte mit solcher Gewalt gegen Stein oder Metall, daß seine Beine unter ihm nachgaben und er benommen zu Boden glitt. Seine Schulter war taub. Er spürte nicht den geringsten Schmerz, aber er konnte fühlen, daß die Wunde heftig blutete.
Als sich das dumpfe Hämmern in seinem Schädel so weit gelegt hatte, daß er wieder sehen konnte, lag Angela ausgestreckt auf dem Boden vor ihm. Sie lag auf dem Bauch, so daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte, aber das kurzgeschnittene Haar auf ihrem Hinterkopf begann sich rasch dunkel zu färben, und unter ihrem Gesicht bildete sich eine große, dunkelrote Lache.
Bremer stemmte sich halb in die Höhe, ließ sich dann wieder nach vorne und auf die Knie sinken und streckte die Hände nach ihr aus. Aber er führte die Bewegung nicht zu Ende. Er wagte es nicht, sie herumzudrehen. Er wußte, was die Kugel ihrem Gesicht angetan hatte, und er wollte sie so in Erinnerung behalten, wie sie gewesen war.
Angela war tot. Braun hatte sie umgebracht.
Bremer fühlte keinen Schmerz, keine Verzweiflung, nicht einmal Trauer. Wahrscheinlich war der Schmerz zu gewaltig, um ihn ertragen zu können. Er fühlte sich einfach nur leer.
Angela war tot. Braun hatte sie kaltblütig erschossen. Und dafür würde er ihn töten.
Bremer stand auf, drehte sich langsam in die Richtung, in der Braun und seine Agenten verschwunden waren, und ging los.
Hinter ihm begann die Bestie zu toben.