Der Sims ragte an beiden Seiten ungefähr fünfzehn Zentimeter über die Fensterbreite hinaus und endete dann abrupt. Das jeweils nächste Fenster war mehr als zwei Meter entfernt, was selbst unter normalen Umständen und auf ebenem Boden wahrscheinlich mehr war, als irgend jemand - selbst jemand mit Angelas erstaunlicher Körperbeherrschung - ansatzlos springen konnte. Von einem Fenstersims in zehn Metern Höhe und vor allem mit einem Landeplatz, der nicht breiter war als eine Hand, war es ganz und gar ausgeschlossen. Wenn sie diesen Sprung gewagt hatte, dann mußte sie abgestürzt sein und jetzt mit gebrochenem Genick zehn Meter tiefer auf dem Asphalt liegen. Bremers Herz klopfte bis zum Hals, als er sich vorbeugte und versuchte, die Dunkelheit unter sich mit Blicken zu durchdringen.
Er sah nichts. Unter ihm war nur Schwärze. Wenn Angela dort unten lag, dann hätte er sie in ihrer hellen Kleidung zumindest schemenhaft erkennen müssen, versuchte er sich einzureden. Vielleicht hatte sie es ja geschafft. Er nahm an, daß unter dem Fenster Asphalt oder Stein war, aber vielleicht waren es ja Gras und weicher Erdboden, die ihren Sturz einigermaßen gedämpft hatten. Zehn Meter waren eine gewaltige Höhe, aber zu schaffen. Er hatte gesehen, wozu Angela fähig war.
Er hörte ein Geräusch, drehte sich herum und riß ungläubig Mund und Augen auf, als er Angela hinter sich aus dem Badezimmer kommen sah. »Aber...«
»Sind sie weg?« fragte Angela mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt.
Bremer nickte automatisch, drehte noch einmal den Kopf, sah aus dem Fenster und blickte dann wieder Angela an. »Aber ... aber wo ... wo bist du gewesen?«
»Was für eine Frage!« Angela machte eine Kopfbewegung auf die Tür hinter sich. »Gehört sich so etwas für einen Kavalier alter Schule?«
»Wo warst du?!« krächzte Bremer. Was er sah, war ... vollkommen unmöglich!
»Großer Gott - wenn du es genau wissen willst, ich war für kleine Mädchen.« Angela rümpfte die Nase. »Obwohl es dort drinnen eher riecht wie für große Jungen. Unser Albert ist ein kleines Ferkel.«
»Ja, das scheint mir auch so.« Bremer warf Albert einen raschen Blick zu und sah dann wieder Angela an. Er begriff immer noch nicht, wie sie es geschafft hatte, vom Fenstersims herunter und ins Bad zu kommen, ohne daß er es auch nur gemerkt hatte. Und hatten die beiden Agenten das Badezimmer nicht kontrolliert? Er wußte es nicht genau.
Angela drehte sich zum Bett herum. »Das hast du gut gemacht, Albert«, sagte sie. »Die Männer haben uns nicht gefunden. Jetzt werden wir das Spiel vielleicht gewinnen. Vielen Dank.«
»Albert hat euch geholfen!« krähte der Mongoloide. Er hüpfte in seinem Bett auf und ab, daß Bremer sich zu fragen begann, wie lange das Möbelstück die grobe Behandlung noch aushalten würde. »Fast hätten sie ihn erwischt. Aber dann habe ich gepupst, und sie sind wieder gegangen.« Angela sah ihn irritiert an.
»Das ... ist eine lange Geschichte«, sagte Bremer ausweichend. »Ich erzähle sie dir später.«
Angela grinste. »Darauf wette ich. Los jetzt. Verschwinden wir von hier!« Sie traten auf den Flur hinaus, nachdem Angela einen sichernden Blick nach rechts und links geworfen hatte. Geduckt huschten sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Angela wollte die Tür zum Treppenhaus öffnen, aber die Klinke rührte sich nicht. Offensichtlich hatten die Agenten die Tür hinter sich abgeschlossen, nachdem sie hereingekommen waren.
Sie verschwendete keine Zeit mit einem zweiten Versuch, sondern lief weiter und steuerte das Schwesternzimmer an. Nachdem Bremer hinter ihr hereingekommen war, schloß sie die Tür, und kaum hatte sie es getan, da konnten sie hören, wie draußen auf dem Gang eine Tür geöffnet wurde und schwere Schritte über den Boden polterten. Sekunden später hörten sie das Geräusch einer weiteren Tür. Offensichtlich kontrollierten die Agenten ein Zimmer nach dem anderen.
»Für den Moment sind wir hier in Sicherheit«, sagte Angela. »Aber ich weiß nicht, wie wir hier rauskommen sollen. Sie überwachen garantiert jeden Ausgang!«
»Warum verstecken wir uns nicht einfach?« fragte Bremer. »Es gibt kaum ein besseres Versteck als einen Ort, den sie schon durchsucht haben.«
»Und wie lange? Bis Braun in Rente geht?«
»Das hier ist ein Krankenhaus«, sagte Bremer. »Vielleicht auch Brauns Hauptquartier, aber trotzdem noch immer ein Krankenhaus. Sie haben Hunderte von Patienten, und in spätestens einer Stunde geht hier der normale Betrieb los. Wenn wir uns so lange verstecken, haben wir vielleicht eine größere Chance.«
Angela schnaubte. »Du hast es immer noch nicht begriffen, wie?« fragte sie. »Glaubst du wirklich, Braun hätte auch nur die geringsten Hemmungen, mit einer Maschinenpistole in eine Menschenmenge zu schießen?« Sie schwenkte die erbeutete Uzi. »Außerdem ist da noch jemand, der wahrscheinlich schon darauf brennt, uns in die Finger zu bekommen - oder was immer er hat.« Sie sprach von dem Ungeheuer.
Aber Bremer schüttelte nur den Kopf. »Ich glaube nicht, daß es uns hier aufspüren kann«, sagte er.
»Ach? Glaubst du nicht? Und wieso, wenn ich fragen darf?«
»Weil Thomas nicht weiß, daß wir hier sind.«
»Thomas? Du meinst diesen Priester, von dem du andauernd sprichst?«
»Ich spreche nicht andauernd von ihm«, verbesserte sie Bremer betont. »Aber ich bin fast sicher, daß er der Schlüssel ist. Frag mich nicht, wieso. Ich habe keine Ahnung. Aber er war immer in der Nähe, wenn etwas passiert ist. Er ist aufgetaucht, nachdem Rosen ermordet wurde, und Strelowsky hat es genau vor seiner Kirche erwischt. Und nachdem ich bei ihm war, hat die Bestie in genau der Reihenfolge zugeschlagen, die er prophezeit hat. Glaubst du wirklich, daß das Zufall ist? Ich nicht!«
»Dann sollten wir ihm vielleicht einen Besuch abstatten«, meinte Angela.
»Um was zu tun?« fragte Bremer.
Sie schwiegen einen Moment. Dann sagte Angela: »Ich verstehe. Deshalb hast du seinen Namen Braun gegenüber erwähnt. Es ist bequemer, wenn er die Drecksarbeit für dich erledigt, wie?« Sie sah ihn auf eine sonderbare, nicht sehr angenehme Weise an. »Allmählich beginne ich mich zu fragen, vor wem ich mich eigentlich fürchten soll.«
»Das ist nicht fair«, sagte Bremer.
»Und wer hat je behauptet, daß ich das bin?« fragte Angela. Sie hob die Hand. »Still!«
Bremer lauschte. Im ersten Moment hörte er nichts, dann aber identifizierte er ein gedämpftes Summen, dem ein leises, metallisches Schleifen folgte: Der Aufzug. In das abermalige Geräusch der Türen, die sich wieder schlossen, mischten sich leichte, rasch näher kommende Schritte.
Angela warf einen raschen Blick auf den Flur hinaus und fluchte dann wenig damenhaft. »Jemand kommt.«
»Wer?«
»Woher soll ich das wissen?« fragte Angela verärgert. »Irgendeine überflüssige Krankenschwester, nehme ich an, die es gar nicht erwarten kann, die Frühschicht anzutreten. Versteck dich!«
Das war leichter gesagt als getan. Soweit Bremer das bei der praktisch nicht vorhandenen Beleuchtung sagen konnte, war das Schwesternzimmer zwar recht geräumig, bot aber so gut wie kein Versteck - es sei denn, sie würden sich zu zweit in die Toilette quetschen, die die Schwester möglicherweise als erstes aufsuchen würde. Er duckte sich hinter den Tisch - ein Versteck, das geradezu lächerlich war -, während Angela hinter der Tür Aufstellung nahm, was Bremer kaum weniger lächerlich vorkam: Die Tür bestand aus Glas. Die Schritte kamen jetzt rasch näher. Eine schlanke Gestalt betrat das Schwesternzimmer und tastete im Eintreten zielsicher nach dem Lichtschalter an der Wand, und Angela sprang lautlos aus ihrem Versteck hervor und stürzte sich auf sie. Noch ehe die Krankenschwester auch nur richtig begriff, wie ihr geschah, schlang Angela den Arm um ihren Hals, riß ihren Oberkörper zurück und hielt ihr mit der Hand den Mund zu.
Trotzdem war ihr Angriff einen Sekundenbruchteil zu spät gekommen. Über Bremers Kopf erwachte eine große Zwillingsneonröhre flackernd zum Leben. Die Schwester hatte den Lichtschalter gedrückt, bevor Angela sie daran hindern konnte.
Bremer war mit einem Schritt an ihr vorbei und hob die Hand, um das Licht wieder auszuschalten, und genau in diesem Moment ging draußen auf dem Gang eine Tür auf, und sie hörten Schritte. Angela schüttelte hastig den Kopf, drehte sich halb herum und rief mit lauter Stimme: »Es ist schon in Ordnung, Albert! Ich komme gleich zu dir! Ich will mich nur eben umziehen!«
Die Schritte verstummten für einen Moment, erklangen dann erneut, und eine Sekunde später klappte eine Tür. Angela atmete hörbar auf.
»Albert?« fragte Bremer.
Angela hob die Schultern. »Es hat doch funktioniert, oder?« Sie wich schnell zwei, drei weitere Schritte in den Raum zurück, dann wandte sie sich an die Krankenschwester, die sie noch immer in einem eisigen Klammergriff hielt. Wahrscheinlich wäre es nicht einmal nötig gewesen Die junge Frau starrte aus weit aufgerissenen Augen um sich, machte aber nicht einmal den Versuch, sich zu wehren. Sie schien buchstäblich starr vor Schreck.
»Hören Sie mir zu!« begann Angela. Sie stockte noch einmal, beugte sich vor und öffnete mit der linken Hand den Mantel der jungen Frau, bis sie das Namensschildchen auf der weißen Schwesterntracht entziffern konnte, die sie darunter trug.
»Hören Sie mir zu, Schwester Marion«, begann sie von neuem. »Sie verstehen mich doch, oder?« Marion nickte. Die Bewegung war kaum zu sehen.
»Gut«, fuhr Angela fort. »Wir wollen Ihnen nicht weh tun. Sie haben nichts zu befürchten. Ich habe Ihnen nur den Mund zugehalten, damit Sie nicht schreien. Versprechen Sie mir, vernünftig zu sein, wenn ich die Hand herunternehme?« Marion nickte, wenn auch erst nach zwei endlosen Sekunden und fast noch weniger deutlich als beim ersten Mal. Angela zögerte noch einen Moment, aber dann nahm sie die Hand herunter. Schwester Marion nahm einen hörbaren, tiefen Atemzug.
»Sie haben nichts zu befürchten«, sagte Angela leise. »Wir wollen nichts von Ihnen oder Ihren Patienten. Aber wir brauchen Ihre Hilfe.«
»Wer ... sind Sie?« stammelte Marion. Ihr Blick flackerte unsicher von einem zum andern. »Was wollt ihr?«
»Wir wollen nur hier raus«, sagte Bremer. »Gibt es noch einen anderen Weg - außer der Treppe und dem Aufzug?«
Marion schüttelte den Kopf und nickte im nächsten Sekundenbruchteil. Sie begann am ganzen Leib zu zittern. »Nur den ... Personalaufzug. Er führt in den Keller hinunter. In die Küche.«
»Na, das klingt ja prima«, sagte Bremer. »Zeigen Sie uns, wo er ist.« Marions Blick flackerte immer heftiger. Ihr Atem beschleunigte sich zusehends, und Bremer begriff plötzlich, daß sie kurz davor stand, in Hysterie auszubrechen. Um sie zu beruhigen, griff er in die Tasche und zog seinen Dienstausweis hervor.
»Es ist nicht so, wie Sie vielleicht glauben«, sagte er. »Ich habe jetzt keine Zeit für Erklärungen, aber wir beide sind Polizisten. Hier, sehen Sie?« Sie blickte den grünen Dienstausweis unsicher an. Draußen auf dem Flur öffnete sich wieder eine Tür, und Marion stieß einen gellenden Hilferuf aus.
Angela fluchte und riß die Hand wieder hoch; wie Bremer glaubte, um Marion erneut den Mund zuzuhalten. Statt dessen berührte sie einen bestimmten Punkt am Hals der Krankenschwester, und Marion seufzte noch einmal und erschlaffte in ihren Armen. Draußen polterten Schritte heran. Angela bewegte sich plötzlich unglaublich schnell. Sie ließ Marion einfach fallen, so daß Bremer instinktiv zugreifen mußte, um sie aufzufangen, wirbelte herum und riß den erstbesten Spind auf. Noch während sie erneut herumfuhr, zerrte sie einen weißen Kittel heraus und schlüpfte hinein. Der billige Kunststoffkleiderbügel polterte erst zu Boden, als sie bereits die Tür öffnete und hindurchtrat. Und plötzlich waren ihre Bewegungen wieder sehr ruhig. Auf ihrem Gesicht erschien das überzeugendste Lächeln, daß Bremer sich nur vorstellen konnte.
»Es ist alles in Ordnung«, rief sie. »Da war eine eklige Spinne. Ich habe mich nur erschrocken, und...« Etwas knallte. In dem Teppichboden fünf Zentimeter vor Angelas linkem Fuß erschien ein ausgefranstes qualmendes Loch, und praktisch gleichzeitig spritzten Putz und Farbe aus der Wand hinter ihr, und eine Stimme schrie: »Das ist sie!«
Angela verwandelte sich von einer von Spinnenphobie geplagten Krankenschwester wieder in das, was sie wirklich war (auch wenn Bremer noch keine Ahnung hatte, was): Sie sprang in eine geduckte Haltung. Ihre rechte Hand, die sie bisher hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte, kam nach vorne, und Bremer sah erst jetzt, daß sie darin wieder die erbeutete Uzi hielt.
Die Maschinenpistole stieß einen kurzen, unerwartet leisen Feuerstoß aus. Glas klirrte, und Bremer konnte hören wie sich die Geschosse in Putz und Holz bohrten, und ein erschrockener Schrei erklang. Aber die Männer feuerten auch gleichzeitig zurück. In der Wand hinter Angela erschien ein asymmetrisches Muster faustgroßer Löcher, und die Glasscheibe des Schwesternzimmers zerbarst mit einem gewaltigen Knall und fiel in einem Scherbenregen in sich zusammen.
Bremer kam endlich auf die Idee, die bewußtlose Krankenschwester in seinen Armen vorsichtig zu Boden sinken zu lassen und seine eigene Waffe zu ziehen. Draußen fielen noch immer Schüsse. Angelas Maschinenpistole ratterte erneut, und das Pistolenfeuer hörte für einen Moment auf. Dann konnte er hören, wie mindestens zwei oder drei Türen geöffnet wurden, wenn nicht mehr.
Bremer spurtete los, sprang mit eingezogenem Kopf durch die zerborstene Glasscheibe des Schwesternzimmers und spürte, wie etwas durch seine Jacke und tief in seine rechte Schulter biß. Er kam ungeschickt auf, kippte nach vorne und schaffte es zumindest, seinen Sturz in eine etwas verunglückte Rolle umzuwandeln. Während der Flur einen ruckenden Purzelbaum vor seinen Augen aufführte, sah er, daß Angela sich vor der gegenüberliegenden Wand zusammengekauert hatte und die Waffe nunmehr in beiden Händen hatte. Sie schoß aber nicht.
Als Bremer herumrollte und sich auf die Knie hinaufstemmte, erkannte er auch den Grund dafür. Nahezu jede Tür auf dem Gang war aufgeflogen, und die Bewohner der Zimmer dahinter waren herausgekommen, um nach der Ursache des Lärms zu sehen, der sie so unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte: Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, die größtenteils gar nicht zu begreifen schienen, was los war. Zwei oder drei zogen sich hastig wieder in ihre Zimmer zurück, aber die meisten standen einfach nur da und glotzten. Einige klatschten Beifall. Einer davon war Albert.
»Haut ab!« schrie Bremer. Er hob seine Waffe und feuerte eine Kugel in die Decke, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, erreichte aber praktisch nichts. Dafür hob einer der Agenten, die nebeneinander am anderen Ende des Korridors knieten, seine Waffe und legte auf ihn an. Als er abdrückte, schlug der andere seinen Arm beiseite. Die Kugel stanzte ein Loch in eine Tür, nur eine Handbreit neben dem Gesicht eines alten Mannes, und der Patient zog eine beleidigte Schnute, warf den Kopf in den Nacken und ging stolz erhobenen Hauptes in sein Zimmer zurück.
Der Agent schoß erneut. Diesmal hinderte ihn der andere nicht daran, und die Kugel riß eine meterlange Furche in die Wand zwei Zentimeter über Angelas Kopf. Sie duckte sich, hob ihre eigene Waffe, wagte es aber immer noch nicht, zu schießen. In dem Flur, in dem sich plötzlich mehr als ein Dutzend Menschen aufhielten, hätte eine einzige Salve aus ihrer MP ein Blutbad angerichtet. Dafür schoß der Agent zurück. Angela entging dem Tod nur, indem sie sich blitzschnell zur Seite warf und über den Teppich rollte, und die Kugel bohrte sich genau dort in die Wand, wo gerade noch ihr Gesicht gewesen war. Die nächste, spätestens übernächste Kugel würde treffen, begriff Bremer. Die Männer schossen sich allmählich ein.
Er sprang auf die Füße, spurtete los und riß Angela in die Höhe und so herum, daß er sich zwischen ihr und den Agenten befand. Wenn er sich täuschte, dann waren sie beide tot, aber das spielte jetzt wahrscheinlich auch keine Rolle mehr.
Bremer versetzte Angela einen Stoß, der sie haltlos lostaumeln ließ, und warf im Rennen einen Blick zurück. Auch die beiden Agenten waren aufgesprungen. Ihre Waffen wiesen in seine Richtung, aber sie wagten es nicht, abzudrücken.
Dafür rannten sie praktisch im gleichen Moment los, in dem Angela und er den Lift erreichten und Angelas Hand auf den Knopf hämmerte. Die Kabine war nicht da, aber Bremer konnte hören, wie sie sich nur eine Etage unter ihnen in Bewegung setzte. Nur ein paar Sekunden.
Die sie nicht hatten. Ihre Verfolger stürmten mit Riesenschritten heran und hatten sie praktisch schon erreicht. Bremer zielte mit seiner Waffe auf sie, aber plötzlich erging es ihm wie den Agenten gerade: Er wagte es nicht, abzudrücken. Indem die beiden Männer darauf verzichtet hatten ihre Waffen zu benutzen, wäre er sich wie ein Mörder vorgekommen, auf sie zu schießen. Er mußte die Kerle ein paar Sekunden aufhalten, egal wie.
Sein Blick irrte hilflos durch den Flur. Die Schüsse hatten einige weitere Patienten in ihre Zimmer zurückgetrieben, aber längst nicht alle. Albert zum Beispiel stand vor seiner Tür, hüpfte vor Aufregung auf und ab und klatschte begeistert in die Hände. Offenbar genoß er die Show in vollen Zügen.
»Albert!« Bremer deutete auf die beiden Agenten, die in diesem Moment an Albert vorbeistürmten. »Das sind sie!« Der Mongoloide quietschte vor Vergnügen, streckte blitzschnell das Bein aus, so daß einer der Agenten darüber stolperte und der Länge nach hinschlug, und klatschte noch einmal in die Hände - nur, daß sich diesmal das Gesicht des zweiten Agenten dazwischen befand.
Der Mann keuchte vor Schmerz, fuhr wütend herum und schlug Albert die flache Hand ins Gesicht, und das war ein Fehler.
Offenbar glaubte er, daß die Sache damit erledigt sei, denn er wollte unverzüglich weiterstürmen, aber Albert packte ihn mit erstaunlicher Schnelligkeit an der Schulter, riß ihn herum und schlug ihm die geballte Faust mit solcher Kraft auf den Mund, daß der Mann mit hilflos rudernden Armen bis an die gegenüberliegende Wand taumelte und benommen daran zu Boden sank.
Der Aufzug kam. Die Türen glitten auf, und Bremer blieb keine Zeit mehr, zuzusehen, was weiter geschah, als sich Albert schnaubend in Bewegung setzte und sich auf den Mann warf, der auf so gemeine Weise aus dem Spiel Ernst gemacht hatte. Außerdem hatte sich der zweite Agent inzwischen wieder erhoben und war nur noch zwei oder drei Meter entfernt.
Bremer versetzte Angela einen Stoß, der sie in den Aufzug hineinstolpern ließ, drehte sich gleichzeitig zu dem Agenten herum und schoß ihm in den Fuß.
Er wollte es gar nicht. Die Kugel war als Warnschuß vor seine Füße gemeint, aber der Mann bewegte sich einfach zu schnell, und Bremer war noch nie ein sonderlich guter Schütze gewesen, und außerdem im Moment ziemlich aufgeregt. Die Kugel stanzte ein sauberes rundes Loch in den Schuh des Agenten und bohrte sich in den Holzfußboden darunter, und der Mann stürzte auf die Seite, umklammerte sein Bein und wälzte sich brüllend über den Teppich. Bremer wich mit einem Satz in den Aufzug zurück. Die Türen schlossen sich, und Angela schlug mit der Faust auf den Knopf für das Kellergeschoß.
»Was war das gerade?« keuchte sie. »Wolltest du dich umbringen, oder hältst du dich für kugelfest?«
»Sie schießen nicht auf mich«, behauptete Bremer. »Ich bin viel zu wertvoll. Braun braucht mich lebend.«
»Mich anscheinend nicht.« Angela kontrollierte das Magazin ihrer Waffe und verzog das Gesicht. Ihr Blick irrte über die Kontrolleuchten des Aufzugs. Sie hatten den ersten Stock passiert und glitten tiefer.
»Kaum noch Munition«, murmelte sie. »Wenn sie unten auf uns warten, haben wir ein Problem.«
»Glaubst du, daß sie das tun?«
»Du kannst dich darauf verlassen, daß sie es tun«, sagte Angela. »Ich würde es, und ich erwarte von meinem Gegner nie, daß er dümmer ist als ich.« Sie warteten praktisch mit angehaltenem Atem, daß die Kabine am Erdgeschoß vorbeiglitt. Und Bremer war für einen Moment felsenfest davon überzeugt, daß der Aufzug anhalten und die Türen aufgehen mußten, um einem Dutzend von Brauns Agenten Einlaß zu gewähren. Die Kabine sank jedoch weiter in die Tiefe. Als das leuchtende EG über der Tür erlosch, stemmte Angela den Fuß gegen die Wand, preßte sich mit dem Rücken gegen die gegenüberliegende Wand und begann wie ein Bergsteiger in einem Kamin in die Höhe zu steigen.
»Was tust du?« fragte Bremer. »Da oben geht es nicht weiter.«
»Runter!« befahl Angela knapp.
Bremer ließ sich gehorsam auf die Knie herabsinken, und eine Sekunde später hatte der Lift sein Ziel erreicht und ging auf, und Bremer begriff plötzlich zweierlei: Angelas Befürchtungen waren nur zu berechtigt gewesen, und er hatte den Mann oben nur durch schieres Glück erledigt. Er hatte die Waffe auf die Tür gerichtet und den Finger am Abzug. Bremer hatte nicht vor, wirklich zu schießen, aber es wäre ihm vermutlich nicht einmal gelungen, wenn er es gewollt hätte. Der Mann, der draußen vor dem Aufzug gewartet hatte, war so blitzartig über ihm, daß Bremer die Bewegung nicht einmal sah, mit der er seine Waffe zur Seite schleuderte. Zugleich riß der Agent den anderen Arm in die Höhe, um ihm einen fürchterlichen Schlag ins Gesicht zu versetzen.
Angelas Fuß sauste wie ein Fallbeil auf ihn herab, streifte seine Schläfe und ließ ihn halb bewußtlos zurück - und gegen die beiden anderen Agenten stolpern, die hinter ihm standen. Bremer sah, daß er einen davon mit sich zu Boden riß. Der andere steppte blitzschnell zur Seite, und Bremer katapultierte sich aus dem Lift und sprang ihn an.
Der Agent empfing ihn mit einem Fausthieb, der ihm die Luft aus den Lungen trieb und ihn hilflos zur Seite torkeln ließ, aber die wenige Ablenkung hatte Angela gereicht. Sie sprang wie eine Furie aus dem Lift heraus, deckte den Mann mit einem Hagel von Schlägen und Tritten ein, die ihn zu einem hastigen Rückzug zwangen, und fällte ihn schließlich, indem sie ihm wuchtig die Uzi gegen das Kinn schlug.
Noch bevor er zu Boden stürzte, packte sie Bremer am Arm und wirbelte ihn herum. »Los!!« Bremer fand erst jetzt Gelegenheit, sich in ihrer neuen Umgebung umzusehen. Sie befanden sich in einer Großküche die diesen Namen wirklich verdiente. Der Raum mußte mindestens fünfzig, wenn nicht mehr Meter lang sein und war vollgestopft mit Öfen, Arbeitsplatten, riesigen Kesseln und Regalen voller Geschirr. Wie Bremer erwartet hatte, hatte das normale Tagesgeschäft hier schon begonnen: Überall brutzelte und brodelte es, aus den meisten Kesseln quoll Dampf, und die Küchenbelegschaft war bereits in voller Stärke angetreten. Die Männer und Frauen in ihrer unmittelbaren Umgebung ließen erschrocken ihre Werkzeuge fallen oder starrten sie einfach nur verständnislos an, aber die Panik, mit der Bremer eigentlich gerechnet hatte, war noch nicht ausgebrochen. Die meisten hier unten hatten noch nicht einmal gemerkt, was vorging. Obwohl es Bremer vielleicht länger vorkam, waren erst zwei oder drei Sekunden verstrichen, seit sie aus dem Lift gekommen waren.
Hinter ihnen krachte ein Schuß. Angela keuchte vor Schmerz, und Bremer drehte erschrocken im Laufen den Kopf und sah, daß sich der rechte Ärmel ihres weißen Schwesternkittels rot färbte. Der Schußwinkel ließ einen Streifschuß vermuten, aber er wußte aus eigener leidvoller Erfahrung, wie sehr eine solche Wunde schmerzen konnte.
Ohne im Rennen innezuhalten, packte er Angelas unverletzten Arm, zerrte sie an sich vorbei und lief nun hinter ihr her, um einen lebenden Schutzschild zu bilden.
Wieder krachte ein Schuß. Die Kugel zertrümmerte eine komplette, drei Meter lange Regalreihe voller Teller rechts neben ihm und überschüttete Bremer und Angela mit einem Hagel scharfkantiger weißer Splitter, und jetzt brach in der Krankenhausküche Panik aus.
Vielleicht verschaffte ihnen gerade das die Frist, die sie brauchten. Bremer hatte den Ausgang entdeckt, aber er lag unglücklicherweise nahezu am anderen Ende des Raumes.
Ihre Verfolger kamen jedoch kaum voran, wie ihm ein neuerlicher rascher Blick über die Schulter zurück bewies. Nach den beiden Schüssen hatte sich die Küche in ein einziges Chaos verwandelt. Dutzende von Männern und Frauen in weißen Kitteln versuchten den Ausgang zu erreichen, liefen einfach kopflos durcheinander, und sie behinderten dabei nicht nur sich gegenseitig, sondern vor allem die drei Agenten, die hinter Angela und Bremer her waren. Selbst wenn sie rücksichtslos genug gewesen wären, ihre Waffen trotzdem abzufeuern, hätten sie es in diesem Moment wahrscheinlich gar nicht gekonnt.
Die große Schwingtür flog auf, und zwei weitere Agenten stürmten herein. Einen davon erkannte Bremer wieder: Es war einer der beiden Männer, die Angela und er vorhin an die Heizung in Brauns Büro gekettet hatten. Ihre Flucht schien wirklich nicht sehr lange unbemerkt geblieben zu sein.
Der Mann blieb breitbeinig stehen, richtete seine Waffe mit beiden Händen auf sie, und sein Kollege schlug einen Haken, um ihm nicht in die Schußbahn zu rennen, und jagte weiter auf sie zu. Angela fluchte und sprang so plötzlich nach rechts, daß Bremer beinahe einfach weitergestürmt wäre und erst im allerletzten Moment in die gleiche Richtung schwenkte. Hinter ihnen fiel ein einzelner Schuß. Glas zerbarst, und ein gellender Schrei antwortete.
Sie rannten geduckt durch den schmalen Zwischenraum zwischen einem gewaltigen Herd, auf dessen Platten Dutzende von Spiegeleiern verbrannten, und einer fünf Meter langen Anrichte aus spiegelndem Metall hindurch. Die Hitze war fast unerträglich. Angela rannte trotz ihrer Verletzung schneller vor ihm her, als er es jemals gekonnt hätte, und plötzlich hörte er trappelnde, harte Schritte hinter sich. Bremer warf einen gehetzten Blick über die Schulter zurück, sah eine Gestalt in einem dunkelblauen Anzug keine zwei Meter hinter sich und schoß, ohne zu zielen. Die Kugel tötete nicht mehr als ein Spiegelei, aber der Rückstoß brachte Bremer aus der Balance. Er stolperte, drehte sich ungeschickt halb um seine Achse und prallte (natürlich! Wie auch sonst!) mit den Nieren gegen die Metallkante der Anrichte.
Der Schmerz war so gräßlich, daß er ihm fast das Bewußtsein geraubt hätte. Seine Beine gaben unter ihm nach. Hilflos brach er in die Knie, sah wie durch einen dichten Nebelvorhang eine Faust auf sich zukommen und hatte nicht mehr die Kraft, dem Schlag auszuweichen. Der Hieb schleuderte ihn zurück, knallte seinen Kopf gegen die gleiche Metallkante, mit der gerade schon seine Nieren Bekanntschaft gemacht hatten, und prügelte ihn endgültig an den Rand der Bewußtlosigkeit.
Offensichtlich nur für wenige Sekunden, denn das nächste, was er wieder wahrnahm, waren eine Folge dumpfer, klatschender Laute und ein gepreßtes Stöhnen. Mühsam öffnete er die Augen, versuchte dem tanzenden Durcheinander von Schatten vor sich irgendeinen Sinn abzugewinnen und erkannte schließlich, daß es Angela war, die sich einen verzweifelten Kampf mit dem Agenten lieferte.
Eigentlich war es eher umgekehrt, denn der breitschultrige Koloß hatte kaum eine Chance gegen die Frau in der weißen Schwesterntracht. Angela deckte ihn mit einem Hagel von Schlägen ein, die fast alle ihr Ziel trafen. Sie hatte nicht genug Bewegungsfreiheit, um ihre Beine einzusetzen, was wahrscheinlich der einzige Grund war, aus dem ihr Gegner überhaupt noch stand, aber auch so dauerte es nur noch Sekunden. Angela deutete einen Schlag gegen seinen Magen an, riß im allerletzten Moment die linke Hand hoch und traf den Adamsapfel ihres Gegners mit den versteiften Fingerspitzen. Der Mann keuchte, schlug beide Hände gegen den Hals und brach verzweifelt nach Luft ringend zusammen. Angela fing ihn auf, als er mit dem Oberkörper auf eine glühende Herdplatte zu stürzen drohte, ließ ihn dann aber achtlos zu Boden fallen. Hastig ließ sie sich vor Bremer in die Hocke sinken.
»Alles in Ordnung?« fragte sie. Als Bremer nicht sofort antwortete, schlug sie ihm leicht ein paarmal mit der flachen Hand ins Gesicht und fragte noch einmal: »Alles okay?«
»Nein.« Bremer versuchte schwächlich, ihre Hand zur Seite zu schieben. »Nichts ist in Ordnung. Ich ... kann nicht weiter. Hau ab. Bring dich in Sicherheit. Sie ... wollen nur mich.«
»Du spinnst«, antwortete Angela. »Dich wollen sie lebend, mich tot. Du bist meine Lebensversicherung. Also komm hoch, alter Mann.« Sie zerrte ihn auf die Füße, wie sie meinte, wahrscheinlich behutsam, nach Bremers Empfinden aber mehr als grob. Trotzdem konnte er sich besser bewegen, als er erwartet hatte. In seinem Körper mußten sich doch noch mehr Kraftreserven befinden, als er glaubte Aber irgendwann würden sie aufgebraucht sein. Und er spürte, daß es nicht mehr sehr lange dauern konnte. Vor ihnen tauchten plötzlich zwei Agenten auf. Angela ließ ihre Uzi Kugeln spucken, und die Männer brachten sich mit hastigen Sätzen in Sicherheit. Bremer glaubte nicht, daß sie einen von ihnen getroffen hatte.
Sie hetzten weiter. Rings um sie herum herrschte noch immer ein unvorstellbares Chaos, und Bremer führte sich vor Augen, daß sie trotz allem noch nicht sehr viel länger als eine Minute hier unten sein konnten. Wie weit war es noch bis zu diesem verdammten Ausgang? Hundert Millionen Lichtjahre?
Wieder fielen Schüsse. Aus dem Metall neben ihm stoben Funken, und Angela stieß ihn hastig in Deckung und feuerte zurück. Ihre MP stieß einen ratternden, viel zu kurzen Feuerstoß aus, und Bremer sah, daß sich der Mann, auf den sie geschossen hatte, hastig hinter einem überdimensionalen Herd mit zwei dampfenden Suppentöpfen in Deckung brachte. Dann schlug der Hammer der Miniaturmaschinenpistole klickend ins Leere. Das Geräusch hallte wie metallenes Hohngelächter in Bremers Ohren wider.
Der Agent mußte es wohl auch gehört haben, denn er richtete sich vorsichtig hinter seiner Deckung auf und spähte über den Rand des Suppentopfes. Als niemand auf ihn schoß, rief er: »Geben Sie auf, Bremer. Noch haben Sie eine Chance, lebend hier herauszukommen. Und Ihre Freundin auch!«
»Bleib unten«, flüsterte Angela. Sie hob die Hände, wobei sie die MP am ausgestreckten Zeigefinger der Rechten baumeln ließ, und richtete sich ganz langsam auf.
Der Agent zielte mit seiner Pistole auf sie. »Ganz ruhig«, sagte er. »Wirf die Waffe herüber!«
»Gern«, antwortete Angela und schleuderte die Uzi. Sie beschrieb eine perfekte Parabel und landete zielsicher im Suppentopf vor dem Agenten. Der Mann brüllte vor Schmerz, als ihm kochendheiße Hühnerbrühe ins Gesicht spritzte, taumelte zurück und ließ seine Waffe fallen, und Angela riß ihre Pistole unter dem Gürtel hervor und schoß ihm in den linken Oberarm.
»Puh«, murmelte Bremer. »Dich möchte ich auch nicht zum Feind haben.«
»Wer will das schon?« grinste Angela. »Komm! Wir müssen...«
»Paß auf!!« Bremers Schrei kam zu spät. Der Agent sprang warnungslos hinter einem Regal hervor, rammte Angela das Knie in den Leib und schlug ihr den Lauf seiner Waffe in den Nacken, als sie sich krümmte. Angela brach in die Knie, ließ ihre Pistole fallen und versuchte ihren Sturz mit ausgestreckten Armen aufzufangen, schaffte es aber nicht ganz. Während sie schwer auf das Gesicht schlug, schwenkte der Agent seine Pistole herum und richtete sie auf Bremer, der seine Waffe halb erhoben hatte, nun aber mitten in der Bewegung zögerte.
»Tu mir den Gefallen und versuch es«, sagte der Agent. Bremer erkannte ihn. Es war einer der beiden Männer aus Brauns Büro.
»Sie schießen nicht auf mich«, sagte er. »Braun braucht mich lebend.«
»Er nimmt dich auch mit einem zerschossenen Knie«, sagte der Agent.
Bremer zögerte noch eine einzelne Sekunde, aber dann ließ er seine Pistole fallen. Der Mann meinte seine Worte bitter ernst - und wahrscheinlich hatte er sogar recht. Ein Bremer mit einem steifen Bein war Braun möglicherweise lieber, weil er nicht mehr so gut davonlaufen konnte. Es war vorbei. Sie hatten es versucht und verloren. Eine zweite Chance würden sie nicht bekommen. Jetzt konnte sie nur noch ein Wunder retten. Aber er fürchtete, daß der Vorrat an Wundern, die das Schicksal für sie bereithielt, allmählich aufgebraucht war.
Er deutete auf Angela. »Laß sie laufen«, sagte er. »Sie hat nichts damit zu tun.«
»Keine Chance«, antwortete der Agent.
Hinter ihm krachten wieder Schüsse. Ein Chor gellender, entsetzter Schreie klang auf, und irgend etwas zerbarst mit einem ungeheuren Knall. Wieder Schüsse. Bremer fragte sich betäubt, wer da schoß, und auf wen. Es war doch vorbei.
Auch der Agent wandte irritiert den Blick und wich rasch zwei, drei Schritte vor ihnen zurück. »Rührt euch nicht!« drohte er.
Im nächsten Moment verschwanden seine Beine nach oben aus Bremers Gesichtsfeld. Ein gellender Schrei erklang, gefolgt von einem einzelnen, ungeheuer lauten Schuß, dann polterte seine Waffe unmittelbar vor Bremers Füßen zu Boden, gefolgt von einem plätschernden, roten Strom, der Bremers Beine bis über die Knie hinauf besudelte. Aus dem Schrei wurde ein Gurgeln, dann ein Wimmern.
Ganz langsam hob Bremer den Kopf. Er wußte, was er sehen würde, und er wollte es um nichts auf der Welt sehen. Er wäre lieber gestorben, als das Ding auch nur noch ein einziges Mal anzublicken. Aber er konnte nicht anders. Etwas zwang ihn mit unwiderstehlicher Macht dazu. Der Dämon stand mit weit gespreizten Flügeln über ihm. Er war unversehrt. Von den schrecklichen Wunden, die er bei dem Kampf vor dem Haus davongetragen hatte, war nichts mehr geblieben, und das Blut, das von seinen Klauen und den grauenhaften Kieferzangen troff, war nicht seines. Der Blick seiner riesigen, schillernden Insektenaugen bohrte sich in den Bremers, und es war etwas darin, etwas Fremdes und Uraltes und trotzdem auf unerträgliche Weise Vertrautes, das Bremer innerlich in Agonie aufstöhnen ließ.
Ein einzelner Schuß fiel. Der Dämon fuhr mit einem wütenden Vogelkreischen herum, schleuderte den Körper des toten Agenten davon wie ein Kind eine Stoffpuppe, an der es urplötzlich das Interesse verloren hatte, und stürzte sich mit einem zweiten kreischenden Schrei auf den unsichtbaren Schützen.
Und Bremer fuhr herum, riß Angela mit verzweifelter Kraft auf die Füße und stürzte davon.