Nachdem die beiden Sanitäter Markus herausgeschafft hatten, war es in dem großen Büro im fünften Stock der St.-Elisabeth-Klinik sehr still geworden. Braun hatte die Tür hinter ihnen abgeschlossen, und jetzt stand er seit gut einer Minute da und starrte den Blutfleck an, der auf dem teuren Teppich zurückgeblieben war. Bei genauerem Hinsehen hätte er entdeckt, daß der Fleck die ungefähre Form eines Engels hatte (allerdings nur mit sehr viel Fantasie), aber Braun sah nicht genau hin.
Er empfand eine tiefe, mit Wut gepaarte Verzweiflung. Vielleicht war Verzweiflung nicht das richtige Wort. Möglicherweise war es auch nur Hilflosigkeit, das allmähliche Begreifen, daß alles, wofür er die letzten fünf Jahre seines Lebens geopfert hatte, wofür er getötet, gelogen und betrogen hatte, scheitern würde.
Es war vorbei. Braun wußte es. Noch war er nicht soweit, es wirklich zuzugeben, aber tief in sich wußte er bereits, daß er verloren hatte. Er hatte alles genau geplant. Er war überpenibel gewesen, hatte jede noch so unwahrscheinliche Eventualität berücksichtigt und drei - ach was! zehnfache Sicherheitsvorkehrungen getroffen, und in weniger als vierundzwanzig Stunden hatte sich sein Lebenswerk in einen Scherbenhaufen verwandelt.
Und alles nur wegen eines kleinen, schwachsinnigen Polizeibeamten, der seine Grenzen nicht kannte, und eines größenwahnsinnigen Teenies, die sich für die weibliche Re-Inkarnation von James Bond hielt! Nicht zu vergessen dieser sabbernde Tattergreis Mecklenburg, der ihn fünf Jahre lang belogen hatte und ihm noch aus dem Grab heraus den Mittelfinger zeigte.
Wäre Braun ein bißchen weniger erregt gewesen, dann hätte er sich vielleicht gesagt, daß er selbst nicht ganz unschuldig an seiner momentanen Situation war. Aber Braun gehörte nicht zu jener Art von Männern, die einen Fehler zugaben; nicht, wenn sie keinen Nutzen daraus zogen. Und seine Situation war verzweifelt.
In seinem Büro herrschte vollkommene Stille, aber das galt wahrscheinlich mittlerweile nur noch für sein Büro. Im Rest des Gebäudes war im wahrsten Sinne des Wortes der Teufel los, und es würde schlimmer werden, mit jeder Minute, die verging. Es war nach sechs. Unten im Gebäude trafen jetzt in immer schnellerer Folge Verwaltungsangestellte, Köche, Krankenschwestern, Ärzte, Pfleger und Putzfrauen ein, die ganze Mannschaft eben, die nötig war, um eine teure Privatklinik mit fünfhundert stationären Patienten aufrechtzuerhalten. Keiner von ihnen hatte hier etwas zu suchen - nicht heute, verdammt! -, aber er hatte einfach nicht genug Leute, um diese Armee aufzuhalten. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, ein wirklich funktionierendes Krankenhaus für seine eigentlichen Aktivitäten zu benutzen.
Nun, wenn es ein Fehler gewesen war, dann nur einer in einer sehr langen Reihe von Fehlern, die sich nun allmählich als aufeinanderfolgende Kette verhängnisvoller Entscheidungen offenbarten. Es hatte wenig Sinn, über gemachte Fehler zu lamentieren. Er konnte nur noch versuchen, das Beste aus der Situation zu machen.
Was wahrscheinlich nicht viel war. Braun verfügte nach der verlorenen Schlacht vor Mecklenburgs Haus noch über zwölf Agenten - abzüglich der, die Bremer und dieses verdammte Miststück in seiner Begleitung einen nach dem anderen ausschalteten. Braun verstand einfach nicht, wieso diese beiden noch am Leben waren, geschweige denn auf freiem Fuß. Er hatte die beste Truppe des Landes, zwei Dutzend hochtrainierter, skrupelloser Killermaschinen, die auf Knopfdruck so präzise funktionierten wie Roboter und noch nie versagt hatten, und dieser Hilfspolizist drehte ihnen seit Stunden eine lange Nase!
Sein Handy meldete sich. Braun zog das Gerät aus der Tasche, klappte es auf und fragte übergangslos: »Habt ihr sie?«
»Nein«, antwortete eine kleinlaute Stimme. Braun identifizierte sie als die Malchows. Offensichtlich hatte dieser Vollidiot sich vorgenommen, heute alle schlechten Nachrichten zu überbringen. »Aber die Lage hier unten wird allmählich kritisch. Die Leute lassen sich nicht wegschicken, und...«
»Ja?« fragte Braun, als Malchow nicht weitersprach. Selbst durch das Telefon konnte Braun spüren, wie schwer es seinem künftigen Ex-Agenten fiel, fortzufahren.
»Nördlinger und dieser Pastor sind hier. Sie verlangen Sie zu sprechen.«
»In Ordnung«, seufzte Braun. »Halten Sie sie auf. Ich brauche fünf Minuten.«
»Aber...«
Braun klappte das Telefon zu und steckte es wieder ein. Also gut. Was vorbei war, war vorbei. Es brachte nichts, mit dem Schicksal zu hadern. Er mußte Schadensbegrenzung betreiben.
Er trat an seinen Schreibtisch, drückte einen verborgenen Knopf unter der Platte, zählte lautlos bis drei und drückte ihn noch einmal. Zwei Meter neben ihm begann sich ein Stück des Fußbodens zu heben. Darunter kam ein kleiner, aber äußerst massiv aussehender Tresor zum Vorschein. Braun ließ sich auf die Knie sinken, stellte rasch die Kombination ein und öffnete die Tür. Dahinter kam nicht das Innere des Tresors zum Vorschein, sondern eine in mattem Lindgrün schimmernde Glasplatte. Braun legte die gespreizten Finger der linken Hand darauf und wartete, daß der Scanner seine Fingerabdrücke und seine Handlinien abtastete. Es war kein normaler Fingerabdruckscanner, wie er schon in manchen Banken oder besonders sensiblen Militäreinrichtungen üblich war. Das Gerät wäre weder auf einen Kautschukabdruck seiner Hand hereingefallen noch auf irgendeinen anderen Versuch, es zu überlisten. Selbst wenn jemand seine Hand abgeschnitten und gegen das Glas gepreßt hätte, hätte der Computer festgestellt, daß diese Hand nicht mehr zu einem lebenden Körper gehörte und den Zugriff verweigert.
Die Kehrseite der Medaille war, daß er fast zwei Minuten warten mußte, bis das grüne Leuchten der Glasscheibe erlosch und der Safe endgültig aufsprang. Eine Ewigkeit. Das Fach, das dahinter zum Vorschein kam, war nur gut doppelt so groß wie eine Zigarrenkiste und enthielt nichts anderes als einen flachen, schwarzen Kunststoffkasten. Braun nahm ihn heraus und öffnete ihn. Auf dem schwarzen Samt, mit dem er ausgekleidet war, lagen drei zigarettengroße, durchsichtige Phiolen mit einer wasserklaren Flüssigkeit. Die Ausbeute von fünf Jahren Arbeit und eines Projektes, das mittlerweile eine dreistellige Millionensumme verschlungen hatte.
Und das Schöne daran war: Niemand außer ihm wußte, daß es diese drei Phiolen gab. Niemand außer ihm und Mecklenburg - was wiederum bedeutete: Niemand außer ihm.
Braun hatte sich vorgestellt, daß seine Hände zitterten, während er das kleine Kunststoffkästchen wieder zuklappte und einsteckte, aber er war vollkommen ruhig. Was er in den Händen hielt, das bedeutete die absolute Macht - viel, viel mehr, als sie sich alle hätten träumen lassen, selbst noch in der Endphase des Projekts. Azrael war nicht einfach nur eine Droge, die dem stärksten aus einer Gruppe, die sie gemeinsam nahm, Macht über alle anderen verlieh, wie sie geglaubt hatten. Das allein wäre schon ein Werkzeug unvorstellbarer Macht gewesen. Aber was es wirklich bedeutete, das war mehr.
Mehr. Unendlich viel mehr.
Braun dachte an das ... Ding zurück, das sie durch das Appartementhaus gehetzt und die Hälfte seiner Männer getötet hatte, und ein Gefühl unvorstellbarer Stärke durchströmte ihn. Es war grauenhaft gewesen, eine Kreatur, die dem tiefsten nur denkbaren Abgrund der Hölle entsprungen war, dem Unterbewußtsein eines Menschen, der seit fünf Jahren sterben wollte und es nicht konnte, aber zugleich auch ein Geschöpf von unendlicher Schönheit und Größe, denn Braun hatte in ihm nicht nur gesehen, wonach es aussah und was es tat, sondern auch das, was es war. Leben, das von der bloßen Macht menschlichen Willens erschaffen worden war.
Und er hielt nun die gleiche Macht in den Händen. Er hatte verloren, und zugleich gewonnen. Alles, was er in den letzten Jahren geschaffen hatte, zerbrach, aber ganz plötzlich wurde ihm klar, wie unwichtig das war. Die drei Phiolen in der Innenseite seines Jacketts änderten alles. Ganz plötzlich wurde ihm klar, daß es das war, was er die ganze Zeit über gewollt hatte. Er hätte es nicht im Traum zugegeben, aber das war es:
Leben erschaffen.
Gott sein.
Wenn ein krankes, zerfressenes Gehirn wie das Haymars schon in der Lage war, so etwas zu erschaffen, wozu mußte dann ein so hochtrainierter, scharfer Intellekt wie der seine erst in der Lage sein?
Brauns Machtfantasien gingen nicht so weit, daß er davon träumte, die Welt zu beherrschen. Das wollte er nicht. Es gab nichts zu gewinnen, wenn er die ganze Welt unter seine Herrschaft zwang, aber alles zu verlieren - klügere und skrupellosere Männer als er waren schon an dieser Aufgabe gescheitert, und Braun maßte sich nicht an, die Brillanz oder das Format eines Napoleon Bonaparte zu haben, oder Adolf Hitlers. Nein. Braun wollte nicht die Welt. Nur ein kleines Stück davon. Für den Anfang.
Er schloß den Safe, richtete sich wieder auf, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen, und verließ das Büro. Die beiden Agenten, die draußen auf dem Korridor Wache hielten, traten respektvoll zur Seite, als er die Tür öffnete - fast als spürten sie die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, seit er die Tür das letztemal in umgekehrter Richtung durchschritten hatte.
Brauns Euphorie legte sich jedoch mit jedem Schritt, den er sich dem Aufzug näherte, und als er in die Kabine trat, da kam er sich nicht mehr wie ein Gott vor. Es war nur ein kurzer Anflug von Größenwahn gewesen; nicht mehr als ein vergänglicher Rausch, dem allerdings kein Kater folgte sondern nur eine logische Ernüchterung, ohne jegliches Gefühl. Und warum auch nicht? Machtfantasien an sich waren nichts Verwerfliches. Die Welt wäre nicht das, was sie war, hätte es keine Männer und Frauen mit Machtfantasien gegeben. Wichtig war, was man daraus machte.
Natürlich würde er das Mittel nicht nehmen. Es war noch nicht getestet, und Gott allein mochte wissen, was es im Körper eines Menschen anrichtete. Vielleicht platzte ihm der Schädel weg wie eine überreife Tomate in der Sonne. Vielleicht bekam er auch nur den schlimmsten Durchfall seines Lebens. Vielleicht geschah auch gar nichts - Braun verspürte jedenfalls wenig Lust, als sein eigenes Versuchskaninchen zu fungieren. Wichtig war nur, daß er die drei Phiolen hatte. Genug für einen neuen Anfang. Selbst wenn er Bremer töten mußte - was ihm mittlerweile unausweichlich erschien.
Er drückte den Knopf für die Empfangshalle. Während der Aufzug lautlos nach unten summte, zog er sein Handy aus der Tasche und rief im Labor an. Die Stunde, von der Grinner gesprochen hatte, war noch lange nicht vorbei, aber es war vielleicht besser, ihm noch einmal auf die Zehen zu treten.
Das Telefon klingelte zweimal, dreimal, fünfmal. Grinner meldete sich nicht. Braun klappte das Gerät wieder zusammen und steckte es ein. Er war nicht sonderlich beunruhigt. Vermutlich hatte Grinner getan, was er ihm befohlen hatte, und danach in voller Panik das Weite gesucht. Und wenn nicht... Vielleicht war es nicht die schlechteste aller denkbaren Lösungen, wenn er einfach abwartete, bis das Biest, das Haymar erschaffen hatte, Bremer erledigte. Danach konnte er immer noch eines der unzähligen Computerterminals der Klinik benutzen und einen ganz bestimmten Befehl eingeben, der das unterirdische Labor samt allem, was sich darin befand, mit einer Aerosolbombe zerstörte. Die Waffe war besonders wirkungsvoll: So leistungsstark wie eine vergleichbare kleine Nuklearbombe verursachte sie so gut wie keine harte Strahlung, und ihr Zerstörungsradius war auf einen Bereich von weniger als zwanzig Metern begrenzt. Innerhalb dieser zwanzig Meter jedoch war die Vernichtung total. Braun hatte keinen praktischen Test dieses neuesten Streichs aus den amerikanischen Friedenforschungswerkstätten miterlebt, aber man hatte ihm versichert, daß in ihrem Detonationsbereich Temperaturen herrschten, die denen im Inneren der Sonne um nichts nachstanden. Der Sprengkopf war unter Haymars Sarkophag im Boden der Isolierkammer angebracht. Niemand außer Braun und den zwei Bundeswehringenieuren, die ihn eingebaut hatten, wußte davon. Er konnte nichts verlieren.
Mit diesem beruhigenden Gedanken trat Braun aus dem Lift und in die Eingangshalle hinaus.
Das vollkommene Chaos empfing ihn. Die Halle war voller Menschen, Dutzenden von Männern und Frauen, die heftig gestikulierend und vor allem lautstark miteinander und besonders mit dem halben Dutzend Agenten stritt, das mit vorgehaltenen Maschinenpistolen die Treppe und die Aufzugtüren blockierte und die Belegschaft so daran hinderte, an ihre Arbeitsplätze zu gelangen. Wenigstens versuchten sie es, wenn auch nur mit mäßigem Erfolg.
Braun ließ seinen Blick durch die Halle schweifen. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er Malchow entdeckte. Der Agent stand unweit des Eingangs und war offensichtlich in einen heftigen Streit mit zwei Männern verwickelt, wie sie unterschiedlicher kaum noch sein konnten: Der eine war ein wahrer Riese, noch einen Kopf größer als Braun und breitschultrig. Seltsam: Als er Nördlinger das letztemal gesehen hatte, war er ihm nicht annähernd so groß vorgekommen; aber da hatte er auch hinter seinem Schreibtisch im Polizeipräsidium gesessen, und es war immer schwer, die Größe eines sitzenden Menschen zu schätzen. Der andere war ein gutes Stück kleiner als er, von unmöglich zu schätzendem Alter und trug die schwarze Kleidung eines Priesters. Das mußte dieser Vater Thomas sein, von dem Bremer gesprochen hatte. Braun hatte einen Mann zu seiner Kirche geschickt, bisher aber noch nichts von ihm gehört. Kein Wunder.
Nördlinger unterbrach seine wütende Debatte mit Malchow, als er Braun erblickte, und wollte ihm entgegeneilen. Braun hob nur kurz die Hand, und Malchow und ein zweiter Agent vertraten dem Kriminalrat den Weg. Nördlingers Gesicht verfinsterte sich vor Zorn, aber er war zumindest klug genug, die beiden Agenten nicht gewaltsam aus dem Weg schieben zu wollen. Braun erkannte jedoch an der Reaktion der beiden Männer hinter Nördlinger, daß er mindestens diese beiden als Verstärkung mitgebracht hatte. Er hoffte nur, daß es nicht wesentlich mehr waren. Das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine Kraftprobe mit einem dahergelaufenen Polizeitrottel.
Vor allem, weil er nicht mehr hundertprozentig davon überzeugt war, sie auch zu bestehen.
Seinem Gesicht war jedoch nichts von seinen wahren Gefühlen anzumerken, als er Nördlinger und dem Geistlichen entgegentrat. »Herr Nördlinger«, sagte er freundlich. »Was führt Sie hierher, noch dazu so früh? Sie sind doch nicht etwa krank?«
»Der einzige kranke Mistkerl hier sind Sie, Braun!« antwortete Nördlinger. »Aber das wird sich ändern. Ich bin hier, um Ihnen das Handwerk zu legen!« Brauns Lächeln erlosch wie abgeschnitten.
»Anscheinend habe ich mich gestern abend nicht deutlich genug ausgedrückt, Herr Nördlinger«, sagte er kalt.
»Gestern abend«, antwortete Nördlinger, »wußte ich noch nicht, was hier wirklich gespielt wird.«
»Was wird denn hier gespielt?« fragte Braun betont.
»Sie wissen es selbst nicht, nicht wahr?« mischte sich der Mann in der Priesterkleidung ein. »Nicht wirklich.«
»Wer sind Sie?« schnappte Braun. »Was haben Sie überhaupt hier zu suchen? Verschwinden Sie! Und Sie auch!« Er funkelte Nördlinger an. »Auf der Stelle! Schieben Sie Ihren pensionsberechtigten Beamtenarsch hier raus, bevor ich endgültig die Geduld verliere! Sie wissen ja nicht, mit wem Sie sich hier einlassen!«
»O doch«, antwortete Nördlinger. Plötzlich wurde er wieder ganz ruhig, und aus irgendeinem Grunde verunsicherte Braun das mehr als die brodelnde Wut, die noch vor ein paar Sekunden in seiner Stimme gewesen war. »Mit einem Mann, der zu weit gegangen ist. Und mit einem Verbrecher. Haben Sie Professor Mecklenburg erschossen, oder war das einer Ihrer Männer?«
»Und wenn?« fragte Braun. »Das können Sie nie beweisen!«
»Ich denke doch«, erwiderte Nördlinger. »Ich habe eine ziemlich gute Beschreibung von einem Mann, der mit einem Gewehr in der Hand aus der Wohnung des Professors gekommen ist. Und einen Zeugen, der ziemlich sicher ist, diesen Mann wiederzuerkennen - wissen Sie, daß Sie dem armen Kerl zwei Rippen gebrochen haben?« Braun glaubte einen Schrei zu hören, dann ein Geräusch, das fast wie ein Schuß klang. Es war sehr leise. Weit entfernt.
Auch Nördlinger schien etwas gehört zu haben, denn er legte für einen Moment den Kopf schräg und lauschte, schien sich seiner Sache aber ebenso wenig sicher zu sein.
»Schieben Sie sich Ihren Zeugen sonstwohin, Nördlinger«, sagte Braun. »Selbst wenn Sie eine Videoaufnahme von mir hätten, wie ich Mecklenburg eine Kugel in den Kopf schieße, würde Ihnen das nicht nutzen. Begreifen Sie endlich, daß mich Ihre kleinkarierten Gesetze nicht interessieren!« Wieder hörte er etwas wie einen Schuß, Schreie. Diesmal hörte es nicht auf. Der Lärm wurde nicht lauter, nahm aber zu und hielt an.
»Sie sind wahnsinnig«, sagte Nördlinger. »Vürfels, nehmen Sie ihn fest.« Er deutete in die Richtung, aus der der Lärm kam. »Was geht da vor?« Einer der beiden Männer war tatsächlich verrückt genug, einen Schritt in Brauns Richtung zu machen, blieb aber dann sofort wieder stehen, als der Agent neben Malchow seine MP hob.
»Verschwinden Sie, Nördlinger«, sagte Braun. Seine Stimme zitterte. Er stand ganz kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, zumal der Lärm und das Geräusch von Schüssen immer lauter wurden. Seine Leute hatten Bremer offenbar endlich gestellt - aber natürlich im unpassendsten aller Momente. Außerdem bemerkte er aus den Augenwinkeln noch etwas, was ihm nicht nur ein wenig seltsam vorkam: Vater Thomas hatte seine Jacke abgestreift und war gerade dabei, sich eine violette Schärpe mit einem verschlungenen goldenen Kreuzsymbol umzuhängen. Was hatte dieser Narr vor? Wollte er hier etwa einen Exorzismus abhalten?
»Nein, ich werde nicht verschwinden«, sagte Nördlinger. »Ich nehme Sie fest, ob Ihnen das paßt oder nicht.«
»Sind Sie verrückt?« fragte Braun. »Wie wollen Sie das bewerkstelligen, wenn ich fragen darf?«
»Sehen Sie nach draußen«, sagte Nördlinger ruhig.
Braun starrte ihn an, trat mit zwei raschen Schritten an ihm vorbei, warf einen Blick durch die großen Glastüren nach draußen - und keuchte vor Überraschung.
Vor dem Eingang war ein halbes Dutzend Kleinbusse aufgefahren, aus denen zahlreiche Männer in schwarzen Panzerwesten sprangen. Sie trugen klobige Helme mit Nackenschützern und große Brillen, deren Glas nicht splittern konnte, und waren mit Präzisionsgewehren bewaffnet.
»Sie ... Sie wahnsinniger Spinner!« keuchte er. »Sie haben ein SEK gerufen?«
»Zwei«, korrigierte ihn Nördlinger. »Das andere steht auf der Rückseite und wartet darauf, daß ich den Angriffsbefehl gebe. Ich räuchere den Laden aus, Braun! Ich nehme Sie und Ihre ganze verdammte Bande hoch!«
»Das kostet Sie den Kopf«, sagte Braun. »Sie haben gerade Ihre Karriere das Klo runtergespült, Sie Arschloch!«
»Das glaube ich nicht«, antwortete Nördlinger. »Sie sind zu weit gegangen. Niemand kommt in diesem Land mit dem durch, was Sie getan haben. Sie gehen für den Rest Ihres Lebens in den Bau, ganz egal, was für einflußreiche Freunde Sie auch haben!«
»Das werden wir sehen«, sagte Braun.
Nördlinger wollte antworten, aber in diesem Moment flog eine Tür im hinteren Teil der Halle auf, und ein halbes Dutzend Männer und Frauen in weißen Kitteln und Kochmützen stürmte schreiend herein.
Eine Sekunde später folgten ihnen Bremer und die Kleine. Und sie kamen nicht allein.