22


Das Fenster explodierte in einem Scherbenregen in den Raum hinein, und etwas Riesiges, Flatterndes raste über Bremer und Braun hinweg und riß sie beide von den Füßen. Bremer spürte nur einen Schlag, keinen Schmerz, aber er war heftig genug, ihn von den Füßen zu heben und ihn mehr als zwei Meter weit durch das Zimmer zu schleudern.

Von dem Medikament benommen, das ihm Braun verabreicht hatte, konnte er seinen Sturz nicht auffangen und krachte mit benommen machender Wucht auf den Boden. Trotzdem registrierte er, wie der Schatten weiter durch den Raum fegte, auch noch Angela und die beiden anderen Männer von den Füßen riß und im letzten Moment versuchte, seinen Flug abzubremsen. Viel zu spät. Mit fast ungebremster Wucht und wie es schien wild schlagenden Flügeln krachte es in Mecklenburgs Bar und zertrümmerte sie. Ein schrilles, unheimliches Kreischen mischte sich in das Geräusch von zerbrechendem Glas und Holz; ein Laut wie das Schreien eines verletzten Vogels, aber lauter, zorniger. Auch Braun brüllte vor Schmerz. Als Bremer sich benommen aufrichtete, sah er, wie Braun in die Höhe sprang und mit hektischen Bewegungen nach seinem Gesicht griff.

Ein gut zwei Zentimeter langer, gezackter Glassplitter steckte in seiner Wange. Sein Gesicht war blutüberströmt. Trotzdem hob er die andere Hand und gab gleichzeitig zwei Schüsse auf die Kreatur ab. Die beiden Schüsse fielen so schnell hintereinander, daß die Geräusche zu einem einzigen, peitschenden Knall verschmolzen. Wieder erscholl dieses wütende Vogelkreischen, und das Klirren von Glas wurde lauter.

Bremer wandte mühsam den Kopf und sah wieder zu der Kreatur hin. Als die Bestie durch das Fenster hereingebrochen war, waren die meisten Lampen im Raum erloschen, so daß er kaum mehr als einen Schatten und tobende Bewegung sah.

Glas- und Holzsplitter wirbelten wie in einem Mini-Orkan davon. Der Parkettfußboden unter ihnen zitterte. Das Ungeheuer schien sich beim Aufprall verletzt zu haben und ließ seine Wut nun an dem aus, was von der Bar noch übrig war. Vielleicht hatten Brauns Schüsse auch getroffen.

Auch die beiden anderen Männer begannen jetzt zu schießen. Die peitschenden Entladungen ihrer Waffen übertönten für einen Moment sogar das Schreien des Ungeheuers, und das ununterbrochene Flackern des Mündungsfeuers tauchte das Zimmer in gespenstisches Stroboskoplicht Die Bewegungen des Monsters wirkten plötzlich abgehackt und in einzelne Phasen zerlegt; ein Tanz in einer höllischen Disco, in der der Teufel selbst am Mischpult stand.

Die Männer feuerten, bis ihre Magazine leer waren aber das Ungeheuer starb nicht. Über die kleine Distanz konnten sie gar nicht vorbeischießen; Bremer konnte sogar hören, wie die Kugeln trafen: Dumpfe, fleischige Laute, die von einem immer schriller werdenden Schreien und Kreischen beantwortet wurden, aber die Bestie weigerte sich einfach, zu sterben. Nicht einmal ihr Toben nahm sichtbar ab.

Bremer registrierte alles das mit einer Art heiterer Gelassenheit - zweifellos eine Folge der Droge, die Braun ihm verabreicht hatte. Der Schleier über seinen Sinneseindrücken war wieder weg. Es war nur die erste, schockartige Wirkung des Tranquilizers gewesen, die fast augenblicklich wieder abgeklungen war. Er sah, hörte, roch und fühlte jetzt im Gegenteil mit schon fast unnatürlicher Schärfe. Nur, daß ihn nichts von alledem irgendwie interessierte. Auf einer tieferen, zur Rolle des stummen Beobachters verdammten Ebene seines Bewußtseins begriff er sehr genau, in welcher entsetzlichen Gefahr er sich befand. Aber er war nicht in der Lage, aus diesem Begreifen irgend etwas zu machen; nicht einmal Furcht. Er kam sich vor, als betrachtete er einen Film, oder ein ganz besonders realistisches Theaterstück, in dem er zugleich Zuschauer als auch Mitwirkender war, ohne daß ihn das Ganze wirklich etwas anging.

Braun riß endlich den Glassplitter aus seiner Wange, feuerte seine letzte Kugel auf das Ungeheuer ab und ließ das Magazin aus dem Griff der Waffe fallen. »Raus hier!« brüllte er.

Einer seiner Männer sprang zu Angela und zerrte sie grob mit sich. Der zweite hatte seine Waffe nachgeladen und schoß wieder auf die Bestie. Auch wenn die Kugeln das Ungeheuer nicht zu töten vermochten, so schleuderten sie es doch immer wieder zurück, und der Mann schien das auch begriffen zu haben, denn er feuerte jetzt nicht mehr in einem raschen Stakkato, sondern ließ immer eine Sekunde verstreichen, bevor er wieder abdrückte.

Braun war mit einem Satz auf den Füßen, riß Bremer in die Höhe und zerrte ihn hinter sich her. »Schnell!« brüllte er. »Laufen Sie!« Irgendwie sah Bremer den Grund dafür nicht ein. Er mußte Braun folgen, ob er nun wollte oder nicht, aber er tat nicht das Geringste, um ihm zu helfen. Er fand die Situation ziemlich spannend, und er war sich durchaus darüber im klaren, daß sie wahrscheinlich mit seinem Tod enden würde, aber das störte ihn nicht besonders. Es war eine prima Show.

Angela und der zweite Mann hatten mittlerweile die Tür erreicht und stürzten hindurch. Eine Sekunde später stolperten Bremer und Braun hinterher, und Bremer sah, daß auch hier draußen zwei von Brauns Männern standen. Beide hatten ihre Waffen gezogen und waren schreckensbleich. Neben einem von ihnen lehnte ein großkalibriges Gewehr an der Wand.

Braun warf die Tür hinter sich ins Schloß, versetzte Bremer einen Stoß, der ihn hinter Angela und den zweiten Mann auf die Treppe zustolpern ließ, und raffte das Gewehr auf. Die beiden Posten wollten ihm folgen, aber Braun riß einen von ihnen zurück und herrschte ihn an: »Aufhalten!« Er verurteilte den Mann damit praktisch zum Tode; ganz zu schweigen von demjenigen, den sie in der Wohnung zurückgelassen hatten. Braun rechnete offensichtlich nicht damit, daß die beiden es schaffen würden, das Ungeheuer aufzuhalten. In der Wohnung hinter ihnen peitschten noch immer Schüsse.

Sie hetzten die Treppe hinunter. Bremer stolperte auf halber Strecke, kippte zur Seite und schlitterte schräg gegen die Wand gelehnt vier oder fünf Stufen weit die Treppe hinab, ehe Braun ihn wieder hochriß.

»Losmachen!« schrie Angela. »Um Gottes willen, machen Sie die Handschellen los!«

Als sie das Ende der Treppe erreicht hatten, hörte die Schießerei in der Wohnung über ihnen auf. Einen Augenblick später splitterte Holz, gefolgt von einem einzelnen Schuß und einem so gräßlichen Schrei, daß selbst Bremer erschrocken zusammenfuhr.

»Weiter!« schrie Braun. »Schnell!« Sie rasten den Korridor entlang, und Bremer registrierte mit einer Art heiterem Entsetzen, daß die Lifttüren geschlossen waren. Der Aufzug war nicht da. Sie waren tot. Auf halber Strecke vor ihnen wurde eine Wohnungstür aufgerissen, und ein verschlafenes Gesicht blickte zu ihnen heraus. Als der Mann jedoch die schwerbewaffneten Männer entdeckte, die eine gefesselte Frau und einen offensichtlich Betrunkenen vor sich herstießen, vergaß er seinen Zorn und knallte die Tür hastig wieder zu.

Sie erreichten den Aufzug. Braun hämmerte die flache Hand auf die Taste, wirbelte herum und ließ sich auf die Knie herabfallen. Sein Gewehr zielte auf die Tür am Ende des Flures. Bremer konnte hören, wie sich der Aufzug tief unter ihnen in Bewegung setzte und mit quälender Langsamkeit seinen Aufstieg begann. Er fand es ein bißchen schade, daß niemand da war, mit dem er wetten konnte, wer eher ankam: das Ungeheuer oder der Lift. Das Ungeheuer gewann.

Die Tür am jenseitigen Ende des Ganges wurde aus den Angeln gerissen und flog wie ein Stück zerfetzter Pappe davon. Sie zerbrach, als sie gegen die Wand prallte, und durch den leeren Rahmen quetschte sich eine Kreatur, die aus dem schlimmsten aller Alpträume entsprungen zu sein schien.

Bremer sah den Todesengel jetzt zum erstenmal deutlich, und er war plötzlich sehr froh, daß er noch immer unter dem Einfluß des Tranquilizers stand und gar nicht in der Lage war, wirklichen Schrecken zu empfinden. Angela wimmerte. Die beiden Agenten neben ihm stießen ein erschrockenes Keuchen aus. Nur Braun reagierte gar nicht, sondern hob kaltblütig sein Gewehr und visierte die Kreatur an.

Was Bremer schon einmal zu sehen geglaubt hatte, bewahrheitete sich: Es war kein Engel. Wäre er es gewesen, dann müßte die Bibel neu geschrieben werden.

Die Kreatur war weit über zwei Meter groß, dabei aber so dürr, daß sie schon fast lächerlich wirkte. Ihre Flügel, die wie die einer Fledermaus von einem dünnen Knochengerüst durchzogen waren, waren halb ausgebreitet und zerfetzt wie ein alter Mantel. Sein Körper war nicht wirklich der eines Insekts, aber ganz eindeutig auch nicht der eines Menschen, sondern wirkte irgendwie ... fledermausartig; als hätte sich eine Ameise mit einer Ratte gekreuzt. Der Kopf schließlich war der schiere Alptraum, ein riesiger, dreieckiger Insektenschädel mit schimmernden Facettenaugen und grauenerregenden Mandibeln, der von drahtigem, rotbraunem Fell bedeckt war.

Das Wesen war verletzt. Die meisten Risse in seinen Flügeln schienen neu zu sein; in einigen steckten noch Glassplitter. Aus dem metallisch schimmernden Fell, das seinen dreigeteilten Körper und seine Glieder bedeckte, tropfte hellrotes Blut. Es machte einen einzelnen, eckigen Schritt, blieb wieder stehen und sah sich um, als wäre es unschlüssig. Benommen.

»Was ... was ist das?« stammelte einer der Männer. »So etwas gibt es doch gar nicht! Was ist das für ein Ding?«

»Keine Ahnung«, antwortete Braun grimmig. »Aber es blutet. Was blutet, das kann auch sterben. Sorgen wir dafür, daß es noch ein bißchen mehr blutet!« Er hob sein Gewehr, zielte sorgfältig und schoß. In dem langen, marmorverkleideten Korridor hallte die Explosion wie ein Kanonenschuß wider, und der Rückstoß war so gewaltig, daß Braun fast von den Füßen gerissen worden wäre.

Die Wirkung war verheerend. Aus der Brust des Ungeheuers explodierte ein Schwall aus zerberstendem Chitin und Blut, faustgroße Marmorbrocken stoben aus der Wand hinter ihm, und die ganze gewaltige Kreatur wurde fast einen Meter weit zurückgeschleudert und fand nur im letzten Moment ihr Gleichgewicht wieder. Sie schrie in hohen quälend spitzen Tönen.

Braun feuerte erneut. Diesmal fetzte die Kugel ein Stück aus der Schulter der Bestie. Der riesige Flügel, der daran befestigt war, hätte eigentlich heruntersinken müssen, tat es aber nicht. Ebensowenig, wie die Kreatur an den beiden fürchterlichen Verletzungen starb, die selbst einen Elefanten niedergeworfen hätten. Ganz im Gegenteil: Sie richtete sich auf, schüttelte sich wie ein Boxer, der einen unerwartet heftigen Schlag abbekommen hatte, und kam mit steifen Schritten wieder auf sie zu.

»Sieht so aus, als hätten Sie sich geirrt«, sagte Angela. »Man kann sie nicht töten. Man kann sie nur wütend machen.«

Braun feuerte ein drittes Mal, und als das Donnern des Schusses in Bremers Ohren verhallte, hörte er hinter sich ein leises ›Ping.‹ Der Aufzug war da. Angela und die beiden Agenten zwängten sich in die Kabine, noch bevor sich die Türen zur Gänze geöffnet hatten. Braun verpaßte dem Ungeheuer eine vierte Kugel, die es diesmal tatsächlich von den Beinen riß, stieß Bremer in den Aufzug und sprang als letzter hinterher. Jemand hatte bereits den Knopf für das Erdgeschoß gedrückt. Die Türen glitten zu, und die Kabine setzte sich summend in Bewegung.

»Ist es tot?« keuchte Angela. »Haben Sie es erwischt?«

»Ich weiß nicht«, gestand Braun. Sein Blick schien sich an der Anzeige über der Tür festzusaugen. »Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht habe ich es so schwer verletzt, daß wir eine Chance haben.«

Der Aufzug erreichte die dritte Etage und glitt weiter. Sie mußten den langsamsten Fahrstuhl der Welt erwischt haben, oder irgend etwas stimmte mit der Zeit nicht.

»Na wunderbar«, sagte Angela. »Dann machen Sie endlich diese verdammten Handschellen los, damit ich mich wenigstens wehren kann!«

»Wenn dieses Ding hier hereinkommt, macht das keinen Unterschied mehr«, sagte Braun. Er rührte keinen Finger, um Angela zu befreien. Der Aufzug glitt weiter, erreichte die zweite Etage...

...und hielt an. Die Türen glitten auf, und sie blickten in das Gesicht eines erbosten Hausbewohners, der wahrscheinlich gekommen war, um sich nach der Ursache des Lärms zu erkundigen.

Braun gab ihm allerdings keine Gelegenheit dazu, sondern stieß ihm den Gewehrlauf mit solcher Wucht in den Leib, daß er keuchend zurücktaumelte und an der gegenüberliegenden Wand zu Boden sank; gleichzeitig schlug er mit der Faust erneut auf den Schalter. Die Türen begannen sich quälend langsam zu schließen.

Als sich die Kabine in Bewegung setzte, erklang im Liftschacht über ihnen das Geräusch von reißendem Metall. Alle Köpfe flogen entsetzt in den Nacken.

Eine Sekunde lang herrschte ein fast unheimliches Schweigen, in dem selbst das Summen des Liftmotors kaum noch zu hören war. Dann traf etwas mit so fürchterlicher Wucht das Kabinendach, daß das Metall deutlich eingebeult wurde und sie alle gegeneinander stürzten. Der gesamte Lift schwankte, schien für einen gräßlichen, endlosen Moment stillzustehen und bewegte sich dann ruckelnd und ungleichmäßig weiter. Ein schrilles, in den Ohren schmerzendes Kreischen erklang, und das Kabinendach beulte sich weiter ein. Dann krachte etwas durch das Metall, das wie eine rostige, dreißig Zentimeter lange Sichel aussah, und riß es im Zurückziehen noch weiter auf. Braun tat etwas vollkommen Wahnsinniges: Er hob sein Gewehr und schoß durch das Dach.

In der Enge der Kabine war der Knall im buchstäblichen Sinne des Wortes ohrenbetäubend. Die beiden Agenten schrien auf und schlugen die Hände vor die Ohren, und Angela krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht und riß vergeblich an ihren Handschellen. Bremer sah das alles nur. Er hörte nichts. Seine Ohren waren taub. Alles was er wahrnahm, war ein dumpfes Dröhnen, wie das ferne Echo des Gewehrschusses, das einfach nicht aufhören wollte.

Auch Braun war zurückgetaumelt und hatte das Gesicht verzerrt, hob seine Waffe aber bereits wieder zu einem zweiten Schuß. Im Dach der Liftkabine prangte jetzt ein faustgroßes Loch mit brandgeschwärzten Rändern, aber Braun schien nicht getroffen zu haben: Diesmal hackten gleich drei rostige Sicheln durch das Metall und schälten es auf wie den Deckel einer Sardinendose.

Einer von Brauns Agenten hob seine Pistole und feuerte wieder in schneller Folge das gesamte Magazin durch das Dach, gleichzeitig machte Braun selbst Anstalten, noch einmal zu schießen - womit er ihnen allen vermutlich endgültig die Trommelfelle zerrissen hätte. Bevor er es jedoch tun konnte, hielt der Aufzug an und die Türen glitten auf; Braun, der sich mit der Schulter dagegen gelehnt hatte, um festeren Stand zu haben, verlor das Gleichgewicht und stürzte rücklings aus der Kabine. Angela und die beiden Agenten flankten über ihn hinweg, wobei Angela trotz aller Eile der Versuchung nicht widerstehen konnte, ihm kräftig auf die Hand zu treten.

Bremer verließ die Kabine als letzter, schnell, aber nicht annähernd so hastig wie die anderen. Braun sprang auf und schrie ihm etwas zu, was ebenso wie alle anderen Geräusche in dem anhaltenden Rauschen in seinen Ohren unterging. Als er nicht schnell genug reagierte, packte Braun ihn an der Schulter und schleuderte ihn grob an sich vorbei. Gleichzeitig feuerte er sein Gewehr in die Liftkabine ab.

Bremer hörte den Schuß. Sehr leise und falsch: Er klang eher wie das Knallen eines Sektkorkens als ein Gewehrschuß. Aber er konnte hören. Wenigstens war er nicht taub. Weitere Männer stürmten auf ihn zu. Braun schien eine ganze Armee mitgebracht zu haben. Bremer und Angela wurden gepackt und hastig durch den Flur geschleift, während Braun hinter ihnen offenbar ausprobieren wollte, wie viele Schrotladungen die Decke der Liftkabine aushielt. Er gab sieben oder acht Schüsse ab, wirbelte dann herum und raste hinter ihnen her. Bremer sah, wie sich seine Lippen bewegten, hörte aber nur ein heiseres, unverständliches Flüstern. Hinter ihm, im Inneren der Liftkabine, bewegte sjch ein Schatten.

Angela, Braun und er erreichten den Ausgang nahezu gleichzeitig und stolperten ins Freie. Braun hatte sein Gewehr weggeworfen, aber drei oder vier seiner Leute feuerten gleichzeitig auf den Schatten, der aus dem Aufzug herausdrängen wollte.

Draußen vor dem Haus parkten drei große Limousinen. Die Motoren liefen, Scheinwerfer und Scheibenwischer waren eingeschaltet, aber Bremer konnte durch die offenstehenden Türen erkennen, daß niemand darin saß. Hinter ihnen stürmten die Agenten aus dem Haus. Der letzte Mann zog einen kleinen, dunklen Gegenstand aus der Tasche und schleuderte ihn im hohen Bogen in die Aufzugkabine. Bremer wußte genau, was es war, aber er war immer noch zu benommen, um irgendwie zu reagieren.

Drei Sekunden später verwandelten sich die offenstehenden Lifttüren in den Schlund eines feuerspeienden Vulkans.

Die Druckwelle ließ sämtliche Scheiben im Erdgeschoß des Hauses zerbersten und fegte sie alle von den Füßen. Flammen und Trümmer explodierten aus dem Lift, und rings um sie herum regneten gefährliche Glassplitter zu Boden. Die Wagen hinter ihnen schwankten wie kleine Boote in der Brandung, und Bremer bekam für einen Moment keine Luft mehr. Eine Welle intensiver Hitze strich über sein Gesicht und ließ ihn aufstöhnen. Neben ihm schrie einer der Agenten und umklammerte sein linkes Handgelenk. Aus seinem Unterarm ragte eine gebogene Glasscherbe, von der Blut tropfte.

Bremer wälzte sich stöhnend auf den Bauch, stemmte die Handflächen gegen den Boden und drückte seinen Oberkörper in die Höhe. Sein Hörvermögen kehrte immer schneller zurück, aber er registrierte trotzdem nichts außer Schreien, Lärm, dem Klirren von Glas und dem Geräusch prasselnder Flammen. Irgendwo heulte eine Sirene.

Eine Hand packte ihn an der Schulter, riß ihn grob in die Höhe und stieß ihn auf einen der wartenden Wagen zu. Bremer prallte mit der Stirn gegen die Dachkante, sank halb benommen auf den Rücksitz und bekam einen zweiten derben Stoß in die Seite, der ihn weiter in den Wagen hineinschleuderte. Nur eine Sekunde später folgte ihm Angela auf die gleiche Weise, und die Tür wurde zugeschlagen. Einen Augenblick später warf sich Braun vor ihnen auf den Beifahrersitz.

Bremer rappelte sich hoch und sah über Angela hinweg nach draußen. Vor dem Haus herrschte ein einziges Chaos. Kaum einer der Männer war ohne Schnittwunden oder andere Verletzungen davongekommen. Einige feuerten blindlings ins Haus hinein, andere hetzten auf die Wagen zu. Im Haus waren mittlerweile sämtliche Lichter angegangen, und auch die benachbarten Häuser erwachten in rascher Folge zum Leben. Hinter den zerborstenen Scheiben des Hauseinganges brodelte schwarzer, von roten und gelben Flammen durchzogener Qualm. Dahinter schien sich noch etwas zu bewegen. Etwas Riesiges, Mißgestaltetes. Aber das war unmöglich, dachte Bremer. Das Ungeheuer konnte die Explosion nicht überlebt haben. Er täuschte sich.

Ein Agent mit einer häßlichen Schnittwunde auf der Stirn raste auf den Wagen zu und warf sich hinter das Steuer, und aus dem Rauch taumelte das Ungeheuer hervor. Es bot einen grauenerregenden Anblick. Sein Körper blutete aus buchstäblich zahllosen Wunden. Das braunrote Fell war zum Großteil versengt oder abgerissen, und eines der riesigen, schillernden Facettenaugen war erloschen; an seiner Stelle gähnte ein faustgroßer Krater in dem dreieckigen Insektenschädel. Einer seiner Flügel brannte. Es bewegte sich langsam, torkelnd, wie ein Mensch, der sich nur noch mit allerletzter Kraft auf den Beinen hielt.

Trotzdem löste sein Anblick unter den Agenten augenblicklich Panik aus.

Mit Ausnahme der beiden, die mit ihnen im Aufzug gewesen waren, hatte keiner der Männer die Bestie bisher gesehen. Sie hatten nur geschossen, weil sie gesehen hatten, daß irgend etwas nicht stimmte, und Braun die anderen in kopfloser Panik aus dem Aufzug stürzen sahen. Jetzt erblickten sie das Monster, und die Wirkung war verheerend. Zwei oder drei von ihnen warfen einfach ihre Waffen weg und stürzten davon, die anderen begannen zu schießen, aber wahrscheinlich nur aus einem blinden Reflex heraus, nicht, weil sie wirklich wußten, was sie taten.

»Worauf warten Sie?!« brüllte Braun. »Fahren Sie los!« Der Mann hinter dem Steuer legte den ersten Gang ein und warf gleichzeitig die Tür hinter sich zu, war aber so nervös, daß er den Motor auf der Stelle wieder abwürgte. Der Wagen machte einen anderthalb Meter weiten Satz und blieb wieder stehen.

Im gleichen Moment ruckte der Kopf der Bestie herum, und Bremer konnte den Blick ihres einzelnen verbliebenen Auges fast wie eine körperliche Berührung spüren. Sie machte einen einzelnen Schritt, blieb wieder stehen und spreizte die Flügel.

»Idiot!« brüllte Braun. »Fahren Sie schon los!« Der Agent drehte den Zündschlüssel. Der Anlasser wimmerte, aber der Motor sprang nicht an. Das Ungeheuer knickte seine Beine ein und spreizte die Flügel weiter. Die Agenten feuerten immer noch, und Bremer konnte genau sehen, daß sie trafen. Die Bestie wankte, zeigte sich aber nicht weiter beeindruckt. Mit einem ungeheuer kraftvollen Satz stieß sie sich ab, breitete die Schwingen noch weiter aus und raste auf den Wagen zu. Sie flog nicht wirklich, sondern segelte eher, wie ein bizarrer prähistorischer Pterodaktylus mit brennenden Flügeln, landete aber trotzdem nach einer Sekunde zielsicher auf der Motorhaube des BMW.

Braun schrie auf und riß instinktiv schützend die Hände vors Gesicht, als die Windschutzscheibe zerbarst. Der Wagen schwankte unter dem Aufprall des geflügelten Dämons.

Endlich sprang der Motor an. Der Fahrer hatte offenbar gar nicht mehr damit gerechnet, denn das Geräusch des Anlassers wurde plötzlich zum ratternden Mahlen überlasteter Zahnräder. Es dauerte fast eine Sekunde, bis er den Zündschlüssel endlich losließ und den Gang hineinhämmerte.

Der BMW raste mit durchdrehenden Reifen los. Das Ungeheuer auf seiner Motorhaube kreischte, flatterte wild mit den Flügeln und grub die Krallen in das Metall. Im nächsten Moment warf es sich vor. Eine sichelförmige Klaue hackte durch das Wagendach und verfehlte den Fahrer um Haaresbreite. Der Mann schrie auf, trat so hart auf die Bremse, daß sich der Wagen querstellte, und die Bestie rutschte mit einem zornigen Pfeifen von der Motorhaube. Seine Klaue riß das Dach dabei auf gut vierzig Zentimeter auf wie dünnes Papier.

Der Fahrer hämmerte den Rückwärtsgang hinein, gab Gas und ließ den Wagen zurückschießen. Dann brachte er ihn mit einem harten Tritt auf die Bremse wieder zum Stehen, schaltete und beschleunigte erneut.

Der BMW rammte das Ungeheuer, noch bevor es sich ganz aufgerichtet hatte.

Metall barst. Beide Scheinwerfer zerbrachen, und die Insassen des Wagens wurden nach vorne geschleudert, als wären sie gegen eine Wand aus massivem Beton geprallt, nicht gegen ein Wesen von der Größe eines Menschen. Der Dämon wurde im hohen Bogen weg geschleudert und landete mit hilflos schlagenden Flügeln auf dem Asphalt, und der Motor erstarb. Diesmal konnte Bremer hören, daß es endgültig war.

»Raus!« befahl Braun. Gleichzeitig stieß er die Tür auf und ließ sich aus dem Wagen fallen. Bremer krabbelte ungeschickt hinterher, humpelte um den Wagen herum und wollte die Tür auf Angelas Seite öffnen, da sie mit ihren gefesselten Händen dazu wohl kaum in der Lage war. Er kam jedoch nicht dazu, denn Braun packte ihn grob an der Schulter, stieß ihn herum und winkte gleichzeitig einen der beiden anderen Wagen heran. Der BMW hielt mit quietschenden Reifen vor ihm an. Die Türen flogen auf, und drei der vier Insassen sprangen heraus, als Braun ihnen mit hastigen Gesten den Befehl dazu gab. Bremer hörte das näherkommende Heulen einer Sirene, dann wieder Schüsse. Er kam nicht einmal dazu, sich zu dem Ungeheuer herumzudrehen, denn Braun stieß ihn grob auf den Rücksitz. Einen Augenblick später wurde Angela zu ihm hereingeschubst, und sie fuhren los.

Der Fahrer legte die ersten zwanzig oder dreißig Meter im Rückwärtsgang zurück, so daß Bremer genau erkennen konnte, daß sich das Ungeheuer bereits wieder aufrichtete. Seine Flügel brannten noch immer, und allein der Aufprall des Wagens mußte ihm alle Knochen im Leib gebrochen haben - oder was immer es auch statt dessen besitzen mochte -, aber Bremer zweifelte mittlerweile ohnehin daran, daß man dieses Ding wirklich töten konnte. Wahrscheinlich war es so, wie Angela gesagt hatte: Man konnte ihm weh tun und es wütend machen, aber man konnte es nicht umbringen. Wie sollte man etwas töten, dessen ureigenstes Element der Tod war?

Der Wagen machte eine jähe Hundertachtzig-Grad-Drehung und beschleunigte dann wieder. Bremer wurde zum wiederholten Male an diesem Abend gegen etwas Hartes geschleudert und sah für einen Moment Sterne.

Als er sich wieder hochrappelte, sah er zwei Polizeiwagen mit flackerndem Blaulicht auf sie zurasen. Hastig drehte er sich herum und sah ihnen nach. Das Haus und das apokalyptische Schlachtfeld, in das sich die Straße davor verwandelt hatte, waren schon fast außer Sicht geraten. Er erkannte die Männer nur noch als schwarze Scherenschnittgestalten, die mit hektischen abgehackten Bewegungen wie Darsteller in einem uralten Stummfilm vor einem absurden Koloß mit brennenden Flügeln flohen. Auch der zweite, noch fahrbereite Wagen raste in diesem Moment los. Bremer glaubte nicht, daß die Zurückgebliebenen eine große Chance hätten. Sie alle hatten gesehen, wozu diese Ungeheuer fähig war. Die Bremslichter der beiden Polizeiwagen leuchteten plötzlich grell auf, und die Fahrzeuge kamen mit kreischenden Reifen zum Stehen. Bremer versuchte erst gar nicht, sich vorzustellen, was jetzt in den Männern darin vorging.

Ein weiterer Streifenwagen kam ihnen entgegen, gefolgt von einem Löschzug mit heulender Sirene, den irgendeiner der Hausbewohner oder Nachbarn alarmiert haben mußte, dann hatten sie die Kreuzzug erreicht, und der Fahrer ließ den Wagen mit quietschenden Reifen um die Kurve schlittern.

»Fahren Sie langsamer«, befahl Braun. »Sonst kriegen wir am Ende noch ein Protokoll.« Plötzlich packte Bremer eine rasende, fast unbezwingbare Wut, die nicht einmal das Medikament in seinem Kopf dämpfen konnte. Er zog die Knie an und versetzte dem Sitz vor sich einen Tritt, der Braun nach vorne schleuderte und gegen das Armaturenbrett geschleudert hätte, hätte er sich nicht im letzten Moment mit beiden Händen abgestützt. »He!« brüllte Braun. »Was soll das?! Sind Sie wahnsinnig geworden?«

»Sie Mistkerl!« fauchte Bremer. »Sie verdammtes, gewissenloses Schwein! Sie haben die Männer zum Tode verurteilt! Das Biest hat sie umgebracht, damit Sie Ihr kostbares Leben retten konnten!«

»Und Ihres«, fügte Braun hinzu. »Wenn ich Sie daran erinnern darf.«

Bremer machte eine Bewegung, als wollte er Brauns Antwort wie etwas Materielles beiseite fegen. »Ich habe Sie nicht darum gebeten, Sie Arschloch!«

»Ich bin zu wertvoll, um zu sterben«, sagte Braun. Seltsamerweise klang es kein bißchen überheblich oder gar arrogant, sondern einfach wie etwas, wovon er fest überzeugt war.

»Wenn das wirklich so ist, dann hätten Sie vielleicht erst gar nicht kommen sollen«, sagte Angela.

»Wie meinen Sie das?«

»Das war ganz allein Ihre Schuld!« behauptete Angela aufgebracht. »Denken Sie wirklich, dieses ... Ding wäre Ihretwegen gekommen? Wenn ja, dann leiden Sie an einer gehörigen Selbstüberschätzung! Es wollte uns.« Sie verbesserte sich und deutete mit einer Kopfbewegung auf Bremer. »Ihn.«

Braun schwieg einen Moment. Dann nickte er zu Bremers maßloser Überraschung und sagte: »Das glaube ich auch. Aber Sie täuschen sich, meine Liebe. Es war nicht umsonst. Ihr Freund Bremer ist nämlich noch viel wertvoller als ich.«

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