Erstaunlicherweise gelang es seinem Körper relativ schnell, das Mittel abzubauen, das Braun ihm gespritzt hatte. Bremer war nie beim Drogendezernat gewesen und hatte sogar - als hätte etwas in ihm mit einer Art erstaunlicher präkognitiver Fähigkeit vorausgeahnt, was geschehen würde - stets einen Bogen um alles gemacht, was mit Drogen zu tun hatte. Trotzdem wußte er, daß diese Art von Vorschlaghammer-Betablockern, mit der Braun ihn behandelt hatte, manchmal viele Stunden brauchte, um seine Wirkung zu verlieren; wenn nicht Tage.
Bremer fühle sich nach kaum einer Stunde wieder topfit. Jedenfalls nahm er an, daß es eine Stunde gewesen war. Mit Ausnahme der Waffe, die er Cremer abgenommen hatte, hatten sie ihm alles gelassen, auch seine Uhr, aber Bremer hatte während ihrer verzweifelten Flucht und auch danach natürlich nicht auf die Uhr gesehen. Als er das erstemal auf die Idee kam, war es nach fünf. Es konnte also nicht allzu viel Zeit verstrichen sein.
Das Mittel schien noch eine andere, höchst erfreuliche Nebenwirkung zu haben: Im gleichen Maße, in dem seine Benommenheit und der dumpfe Druck hinter seiner Stirn verschwanden, löste sich auch seine Müdigkeit auf. Seine Gedanken schienen ganz im Gegenteil mit einer seltenen Schärfe und Präzision zu funktionieren - was nun allerdings wieder eine andere, weniger wünschenswerte Nebenwirkung hatte: Er begann unruhig zu werden und tigerte wie ein gefangenes Raubtier in seiner Zelle auf und ab. Das Zimmer sah nicht aus wie eine Zelle, sondern gab sich ganz im Gegenteil alle Mühe, einen behaglichen Eindruck zu erwecken. Das Mobiliar war zwar spärlich, aber erlesen, wie in einem Hotelzimmer der gehobenen Mittelklasse. Es gab einen Fernseher und eine kleine, allerdings mit ausschließlich nichtalkoholischen Getränken bestückte Minibar. Das Bett war breit genug für zwei, und das Fenster war nicht vergittert.
Trotzdem war es eine Zelle. Das so einladend erscheinende Fenster bestand aus unzerbrechlichem Panzerglas und ließ sich nicht öffnen, und die Tür hatte keinen Griff an der Innenseite. Als er das Zimmer etwas eingehender betrachtete, entdeckte er eine Anzahl verräterischer, daumennagelgroßer Linien, die dezent in Winkeln und Dach angebracht waren: Videokameras, die das Zimmer so überblickten, daß auch nicht der kleinste tote Winkel blieb. Am Bettgestell befand sich eine dezente Vorrichtung, die anscheinend dem Zweck diente, jemanden darauf festzuschnallen Die Wände bestanden aus Kunststoff in freundlichen Pastellfarben, waren aber so hart wie Beton.
Nachdem er eine gute Viertelstunde in seiner Zelle auf und ab gelaufen war und damit begonnen hatte, vor lauter Frust gegen das Mobiliar zu treten, ging die Tür auf und zwei von Brauns Männern kamen, um ihn abzuholen. Bremer hatte - neben etlichen anderen Ideen - auch den Plan erwogen, sich sofort und kompromißlos auf den ersten zu stürzen, der die Tür aufmachte, vergaß die Idee aber augenblicklich wieder, als er die beiden Männer sah: Breitschultrige, an die zwei Meter große Kleiderschränke, die vermutlich nicht einmal gezuckt hätten, wenn er sie mit einem Totschläger attackierte. Er würde fliehen, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit. Aber das hier war keine. Wortlos folgte er den beiden Agenten.
Sie gingen einen langen, nur schwach erhellten Korridor entlang und betraten einen Aufzug, mit dem sie nach oben fuhren. Bremer versäumte es, auf die Anzeige zu sehen, um festzustellen, in welcher Etage sie sich befanden, aber es mußte wohl das Keller- oder Erdgeschoß sein, denn sie fuhren ziemlich lange. Er hatte ein ungutes Gefühl. Zwei- oder dreimal ertappte er sich dabei, einen nervösen Blick zur Decke hinauf zu werfen, als rechne er jeden Moment damit, das Metall zerreißen und ... etwas hindurchbrechen zu sehen. Natürlich geschah das nicht. Wenn das Ungeheuer noch lebte, dann hockte es in irgendeiner finsteren Ecke des Universums und leckte seine Wunden. Trotzdem atmete er hörbar auf, als der Lift endlich anhielt und sie die Kabine verließen.
Der Flur, in den sie hinaustraten, schien eher zu einem modernen Bürogebäude zu gehören als in ein Krankenhaus. Sie gingen wieder bis zu seinem jenseitigen Ende und jagten in ein typisches Direktorenvorzimmer, das allerdings ein untypisches Accessoire hatte: Einen Mann in einem dunkelblauen Anzug, der vor der gegenüberliegenden Tür stand und eine Uzi in der rechten Hand hielt. Bremer fragte sich spöttisch, warum es nicht gleich ein Flammenwerfer war. Der Zwischenfall in Mecklenburgs Haus schien Braun wirklich einen gehörigen Schrecken eingejagt zu haben.
Der Gorilla trat zur Seite, als sie näher kamen, und öffnete gleichzeitig mit der linken Hand die Tür. Dahinter lag ein großzügiges, modern eingerichtetes Büro, das sich ganz um einen überdimensionalen Schreibtisch gruppierte. Auf der einen Seite des Schreibtisches saß Braun, in einem frischen Anzug und mit einem gewaltigen Pflaster im Gesicht. Auf der anderen Seite saß Angela. Braun hatte offensichtlich noch immer keine Ahnung, mit wem er es wirklich zu tun hatte, denn sie trug keine Handschellen mehr, und er war vollkommen allein mit ihr im Zimmer. Als sie hereinkamen, drehte sie den Kopf in seine Richtung und lächelte ihm zu. Bremer reagierte nur mit einem knappen Nicken darauf. Mit einem Gefühl leiser Verwirrung stellte er fest, daß Angelas Gesicht vollkommen unversehrt war. Die Schwellung ihrer Unterlippe war zurückgegangen. Selbst die Rißwunde war nicht mehr zu sehen.
»Setzen Sie sich, Herr Bremer«, sagte Braun. Gleichzeitig deutete er auf die beiden Männer, die zusammen mit ihm hereingekommen waren. »Brauchen wir die, oder habe ich Ihr Ehrenwort, daß Sie keine Dummheiten machen?«
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich Sie nicht sofort umbringe«, knurrte Bremer. »Das wäre zu leicht.« Braun zuckte die Achseln und gab den beiden Männern einen Wink. Bremer konnte hören, daß sie hinter Angela und ihm Aufstellung nahmen, während er sich setzte. Angela blickte ein wenig verärgert. Vielleicht hatte sie vorgehabt, gleich hier einen Fluchtversuch zu unternehmen. Bremer seinerseits war trotz seiner Verwirrung vor allem erleichtert, sie unversehrt zu sehen. Ein in diesem Moment schon fast absurd erscheinendes, warmes Gefühl von Zuneigung durchströmte ihn. Er mußte sich beherrschen, um nicht die Hand auszustrecken und nach ihr zu greifen.
Offensichtlich hatte er sein Gesicht nicht so gut unter Kontrolle, wie er geglaubt hatte, denn Braun sagte spöttisch: »Keine Angst. Wir haben Ihrem kleinen Engel kein Haar gekrümmt.«
»Fragt sich nur, wie lange das so bleibt«, sagte Angela.
Braun seufzte, schüttelte abermals den Kopf und verzog das Gesicht. Danach war sein Lächeln verschwunden. »Ganz wie Sie wollen«, sagte er. »Dann fangen wir mit Ihnen an. Wer sind Sie?«
»Wie?« fragte Angela. »Aber das wissen Sie doch.«
»Nein«, sagte Braun. »Ich weiß, wer Sie nicht sind. Und vor allem, was Sie nicht sind. Sie kommen nicht frisch von der Polizeischule, und ich nehme auch an, Ihr Name lautet nicht Angela West.« Bremer sah zuerst Braun, dann Angela verwirrt an. Angela hielt Brauns Blick gelassen stand, wirkte aber plötzlich ein kleines bißchen angespannt.
»Das ist seltsam«, sagte sie. »Als ich das letztemal in meinen Dienstausweis gesehen habe, stand dieser Name darin.«
»Der ist gefälscht«, antwortete Braun. »Perfekt, wie ich gestehen muß. Wir können die Fälschung nicht einmal jetzt nachweisen, wo wir wissen, daß er falsch ist. Aber er ist es - genauso wie die Dienstanweisung an Nördlinger Sie Herrn Bremer zuzuteilen und Ihre Abgangspapiere von der Polizeihochschule. Ich muß Ihnen mein Kompliment aussprechen: Ihre Legende ist perfekt, bis hin zur letzten Computerdatei: Zeugnisse, Zwischenbewertungen, sogar die obligatorischen Krankmeldungen und Atteste ... besser hätte ich es auch nicht hingekriegt. Nur, daß niemand auf der Schule, auf der Sie angeblich waren, sich an Sie erinnern kann. Weder die Lehrer, noch das Sekretariat, noch einer Ihrer Mitschüler. Es scheint, das Angela West nur im Computer existiert.«
»Und das haben Sie alles in einer Stunde herausbekommen?« Angela lachte. »Sie bluffen.«
»Ich habe ein bißchen herumtelefoniert«, antwortete Braun, »und ein paar Leute aus dem Bett geworfen. Verschwenden Sie nicht unsere Zeit, Angela - oder wie immer Sie heißen. Ich weiß, daß Sie lügen. Wer sind Sie wirklich? CIA? KGB? Secret Service?«
»Sie schmeicheln mir«, sagte Angela. »Aber ich bin einfach nur jemand, der in Bremers Nähe kommen wollte. Sie würden sich wundern, was man alles anstellen kann, wenn man sich ein bißchen mit Computern auskennt.«
»Blödsinn!« Braun hob die Hand, als wolle er mit der Faust auf den Tisch schlagen, ohne es aber dann zu tun. »Ich kenne mich mit so etwas aus. Ich tue es selbst oft genug, vergessen Sie das nicht! Man muß schon mehr sein als ein talentierter Hacker, um sich eine komplett falsche Identität aufzubauen - jedenfalls, wenn sie so perfekt sein soll wie Ihre! Jemand hat Ihnen geholfen! Für wen arbeiten Sie? Die Amerikaner? Die Russen?«
»Wenn Sie so gut sind, warum finden Sie es dann nicht heraus?« fragte Angela.
»Weil ich keine Zeit dafür habe«, antwortete Braun. »Also? Und versuchen Sie erst gar nicht, mir eine neue verrückte Geschichte aufzutischen. Ich finde heraus, ob sie stimmt.«
»Und Sie würden mir auch nicht glauben, wenn ich die Wahrheit sage«, vermutete Angela. »Warum sollte ich Ihnen also überhaupt antworten? Außerdem ist es doch sowieso egal, oder? Oder wollen Sie mir etwa erzählen, daß Sie vorhaben, mich noch einmal lebend hier herauszulassen?«
»Sie glauben, ich hätte vor, Sie umzubringen?« Braun wirkte ehrlich überrascht - und ein bißchen verletzt. »Ich bitte Sie! Wofür halten Sie mich?«
»Hätten Sie mich das vor zwei Stunden gefragt, wäre die Antwort anders ausgefallen«, sagte Angela. »Vielleicht sollte man die Frage auch besser an Dr. Mecklenburg richten - auch, wenn er sie nicht mehr beantworten kann.«
»Mecklenburg.« Braun seufzte. »Ich gestehe, das war ein Fehler. Ich habe vielleicht etwas zu ... impulsiv reagiert. Aber das wird nicht noch einmal vorkommen. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß niemand hier vorhat, Sie umzubringen.«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Angela höhnisch. »Das ist auch gar nicht nötig. Wir sind hier in einer Nervenklinik nicht wahr? Sie werden mich ein paar Monate hierbehalten, und wenn Sie mich entlassen, dann werde ich den Intelligenzquotienten einer Kartoffel haben und Fliegen essen!«
»Das kommt ganz auf Sie an«, sagte Braun ernst. »Wenn Sie ein wenig kooperieren, wird sich das bestimmt positiv auf Ihr weiteres Schicksal auswirken.«
»Sie können mich«, sagte Angela.
»Ein verlockendes Angebot«, grinste Braun. »Leider ist jetzt wirklich nicht der richtige Moment für so etwas.« Er winkte einem der Männer hinter Bremer zu. »Bringt sie weg.«
»Warten Sie«, sagte Bremer.
Braun hielt die Agenten mit einer entsprechenden Handbewegung zurück. »Ja?«
Bremer warf einen raschen Blick in Angelas Gesicht. Es wirkte vollkommen verschlossen, beinahe kalt, und er drehte sich rasch wieder zu Braun um. »Tun Sie ihr nichts«, sagte er. »Ich ... werde mit Ihnen zusammenarbeiten. Ich werde Ihnen alles sagen und alles tun, was Sie wollen. Aber lassen Sie sie in Ruhe.«
»Interessant«, sagte Braun. »Sie haben also doch eine schwache Stelle. Und ich dachte schon, Sie wären wirklich so knallhart. Sie lieben sie, nicht wahr?« Er lachte. »Was genau sind es? Vatergefühle? Oder sitzen sie ein wenig tiefer?«
»Sind Sie an meinem Angebot interessiert?« fragte Bremer.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Braun. »Es klingt verlockend. Andererseits ... so wie es aussieht, habe ich im Moment alle Trümpfe in der Hand. Erklären Sie mir, warum ich um etwas feilschen sollte, was mir bereits gehört?«
»Du traust ihm doch nicht etwa?« fragte Angela.
Bremer ignorierte sie. Über die genaue Bedeutung des Wortes Vertrauen würden sie sich später noch einmal unterhalten müssen, unter vier Augen. »Wenn Sie sich da so sicher wären, würden wir jetzt nicht hier sitzen und reden«, sagte er. »Das, was vor einer Stunde passiert ist, könnte sich wiederholen.«
»Kaum«, antwortete Braun. »Ich habe Sorge dafür getragen, daß es nicht geschieht.«
Er log. Bremer spürte genau, daß er über etwas sprach, was er hoffte, nicht von etwas, wovon er überzeugt war. »Es ist Haymar, nicht wahr?« sagte er. »Er reagiert allmählich etwas gereizt auf das, was Sie mit ihm anstellen, habe ich recht?«
Brauns Blick verdüsterte sich. »Ich hatte recht damit, ihn zu erschießen. Der Alte hat zuviel geredet.«
»War er es?« beharrte Bremer stur.
Braun schwieg fast zehn Sekunden. Dann öffnete er eine Schublade in seinem Schreibtisch, zog einen Computerausdruck hervor und warf ihn schwungvoll vor sich auf den Tisch.
»Mecklenburg war ein gerissener alter Hund«, begann er. »Er hat mich in den letzten fünf Jahren nach allen Regeln der Kunst belogen.«
»Haben Sie ihn deshalb erschossen?« fragte Bremer.
»Sie übrigens auch«, fuhr Braun ungerührt fort. Er legte die flache Hand auf den Ausdruck vor sich. »Sie sogar ganz besonders, Herr Bremer. Was wir vorhin erlebt haben, das mußte früher oder später passieren. Seien Sie froh, daß es heute passiert ist.«
»Morgen hätte es auch schlecht in meinen Terminkalender gepaßt«, knurrte Bremer.
Braun ignorierte ihn weiter. »Heute war ich mit meinen Männern dabei«, sagte er. »Und auch, wenn Sie im Moment noch zu stur sind, um es zuzugeben: Das Ding war hinter ihnen her.«
»Woher wollen Sie das so genau wissen?« fragte Bremer.
Braun blickte auf die Liste vor sich. »Kurz vor Mitternacht«, sagte er. »Das war ungefähr die Zeit, zu der es das erstemal aufgetaucht ist, nicht wahr? Ich weiß es. Es hat zwei von meinen Männern getötet.« Bremer schwieg. Brauns Finger rutschte eine Zeile tiefer. »Cremer und Reinhold hat es gegen drei erwischt. Und der letzte Ausbruch war vor einer Stunde. Was passiert ist, wissen wir alle.«
»Ausbruch?« Bremer versuchte einen verstohlenen Blick auf Brauns Liste zu werfen, aber es gelang ihm nicht.
»Mecklenburg nannte es zerebrale Aktivitäten«, antwortete Braun. »Um es mit Worten auszudrücken, die auch ich verstehe: Irgend etwas geht in Haymars Gehirn vor. Und dieses Etwas passiert immer dann, wenn diese Bestie auftaucht und versucht, Sie zu erwischen, Herr Bremer. Mir scheint, mein Ex-Kollege Haymar hat etwas gegen Sie.«
»Wie ... kommen Sie darauf?« fragte Bremer stockend. Seine Gedanken begannen zu rasen. Etwas an Brauns Argumentation stimmte nicht. Es war nicht das Azrael-Ding gewesen, das seine beiden Agenten vor der Kirche erledigt hatte. Er konnte das nicht wissen, und Bremer würde sich auch hüten, es ihm zu sagen, aber es ließ seine ganze Theorie auf tönernen Füßen stehen.
»Weil Mecklenburg mich belogen hat«, antwortete Bremer. »Uns beide. Ich war die ganze Zeit der Annahme, daß Haymar der einzige ist. Aber das stimmt nicht. Es gab einen zweiten Überlebenden.«
»Mich«, murmelte Bremer.
»Sie«, bestätigte Braun. »Sie tragen den Azrael-Wirkstoff ebenfalls in sich. Habe ich recht?«
Bremer schwieg. Natürlich hatte Braun recht. Und ebenso natürlich hatte er es die ganze Zeit über gewußt, irgendwo, tief in sich. Er hatte sich nur fünf Jahre lang mit Erfolg geweigert, dieses Wissen zu akzeptieren.
»Mecklenburg war wirklich geschickt«, fuhr Braun fort, »das muß man ihm lassen. Er hatte tausend Erklärungen dafür, warum Sie von den Toten wieder auferstanden sind - und er hatte eine Art, etwas so zu erklären, daß man am Ende einfach nur froh war, wenn er endlich aufhörte zu reden. Aber die Wahrheit ist, daß er es die ganze Zeit über gewußt haben muß. Und ich glaube, er wußte auch, in welcher Gefahr Sie sich befinden.«
»Aber wieso ich? Ich ... ich kannte diesen Haymar doch nicht einmal!«
Braun zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Fragen Sie mich nicht, was im Gehirn eines sterbenden Mannes vorgeht. Vielleicht war der Gedanke an Sie das letzte, was er mit hinübergenommen hat. Vielleicht hat es irgend etwas damit zu tun, daß Sie beiden die einzigen sind, die diese Droge in sich tragen ... ich habe keine Ahnung.«
»Das ist doch Blödsinn!« sagte Bremer.
»Ungefähr so verrückt wie die Vorstellung, daß es jemanden gibt, der in der Lage ist, nur kraft seines Willens dieses ... Ding zu erschaffen, das wir gesehen haben?« fragte Braun. »Wir reden über etwas, von dem niemand weiß, was es eigentlich ist, Bremer. Also sagen Sie mir nicht, daß es blödsinnig wäre!«
»Wenn es wirklich so wäre«, mischte sich Angela ein, »dann frage ich mich, warum wir hier so seelenruhig herumsitzen. Haben Sie keine Angst, daß die Tür aufgehen und ein ungebetener Gast hereinkommen könnte?«
»Nein«, sagte Braun. »Ich habe Sorge dafür getragen, daß Kollege Haymar tief und fest schläft. Und bevor er aufwacht, werde ich das Experiment beenden.«
»Haben Sie nicht den Mut, es auszusprechen?« fragte Bremer. »Sie wollen ihn töten.«
»Haben Sie eine bessere Idee?« fragte Braun. Plötzlich wurde seine Stimme laut. »Verdammt noch mal! Die Hälfte meiner Männer ist tot. Dieses verdammte Ding hat die halbe Stadt in Brand gesetzt, und Gott allein weiß, was es noch tun wird! Soll ich einen Mann am Leben lassen, der im Grunde schon längst tot ist, und dafür das Leben Dutzender riskieren - vielleicht Hunderter?« Es war eine Frage, die nicht beantwortet werden konnte.
Generationen klügerer Männer, als Braun und Bremer es waren, hatten diese Frage diskutiert, ohne zu einer Antwort zu kommen, und natürlich gelang es auch Bremer nicht.
Braun ging es offensichtlich aber auch nicht darum, das Gespräch zu vertiefen, denn er fuhr im entschlossenen Tonfall fort: »Wir werden das Experiment beenden. Heute noch!«
»Warum auch nicht?« fragte Angela spitz. »Jetzt, wo Sie ein neues Versuchskaninchen haben.«
Braun starrte sie auf eine Art an, als frage er sich einfach, warum er sie eigentlich nicht auch erschossen hatte. Dann wandte er sich wieder an Bremer. »Das stimmt sogar. Aber Sie haben nichts zu befürchten.«
»So wie Ihr Kollege Haymar?«
»Das war etwas anderes«, behauptete Braun. »Haymar war praktisch schon tot, als wir ihn gefunden haben.«
»War ich das nicht auch?«
»Sie hatten drei Kugeln in der Brust, Herr Bremer«, sagte Braun. »Die Verletzungen waren nicht wirklich tödlich. Sie hatten Glück. Was Sie in einen Zustand des Scheintodes versetzt hat, das war der Schock - wußten Sie übrigens, daß die meisten Opfer von Schußwunden am Schock sterben, nicht an ihren Verletzungen? Bei Haymar war das etwas anderes. Von ihm war kaum noch genug übrig, um es auf eine Bahre zu legen. Daß es Mecklenburg gelungen ist, ihn noch so lange am Leben zu erhalten, grenzt nicht nur an ein Wunder, es ist eines. Er stirbt sowieso. Der Mann stirbt seit fünf Jahren. Glauben Sie mir: Ich tue ihm einen Gefallen, wenn ich den Stecker herausziehe.«
»Und wann gedenken Sie den Stecker bei mir herauszuziehen?« fragte Bremer.
Braun verzog das Gesicht. »Sie haben nichts zu befürchten«, sagte er. »Wir brauchen nur ein paar Blutproben von Ihnen, das ist im Grunde schon alles«, sagte er. »Ich will Ihnen nichts vormachen: Sie werden hierbleiben müssen. Wenn Sie es so sehen wollen, als unser Gefangener, obwohl mir das Wort Gast sehr viel lieber wäre.«
»Wie kommt es, daß ich Ihnen nicht glaube?« fragte Bremer.
»Weil Sie ein Dummkopf sind, Bremer«, antwortete Braun. »Ein intelligenter Mann, aber trotzdem ein Dummkopf. Sie wissen offenbar immer noch nicht, wer Ihre Freunde sind, und wer Ihre Feinde.« Das Telefon klingelte. Allein der Blick, den Braun dem Gerät zuwarf, machte Bremer klar, daß er offensichtlich Anweisungen gegeben hatte, nur im allernötigsten Fall gestört zu werden. Eine halbe Sekunde starrte er das Gerät an, dann riß er den Hörer regelrecht von der Gabel und blaffte ein ›Ja?‹ hinein.
Das Gespräch dauerte nicht lange, höchstens eine Minute, in der Bremer Braun keine Sekunde aus den Augen ließ. Braun sagte kein Wort, sondern hörte nur zu, und sein Gesicht blieb in dieser Zeit vollkommen unbewegt. Trotzdem wußte Bremer schon bevor er auflegte, daß er keine guten Neuigkeiten hatte.
»Nun?« fragte er.
Braun sah auf den Computerausdruck vor sich, ehe er antwortete. »Es gibt zwei weitere Tote«, sagte er. »Look und eine alte Frau, die in seinem Haus gewohnt hat.«
»Look?!« Hätte jemand Bremer unversehens einen Eimer mit kaltem Wasser ins Gesicht geschüttet, hätte der Schock kaum größer sein können. »Sind Sie sicher?«
Braun nickte. Sein Blick huschte immer irritierter über den Computerausdruck vor ihm. Er schien etwas zu suchen. Etwas, das nicht da war. »Offensichtlich hat er Selbstmord begangen. Eigenartig, nicht? Er ist aus dem fünften Stock im Treppenhaus gesprungen und hat sich jeden einzelnen Knochen im Leib gebrochen. Ich kann mir eine angenehmere Art vorstellen, mich umzubringen. Er hat noch eine gute Viertelstunde gelebt.«
»Und die Frau?«
»Irgendeine Hausbewohnerin«, sagte Braun achselzuckend. »Ihrem Gesichtsausdruck zufolge muß sie sich buchstäblich zu Tode erschrocken haben. Der erste Befund des Notarztes lautet auf einen Herzinfarkt. Erinnert Sie das an etwas?«
»Wer ist dieser Look?« fragte Angela.
»Irgendeine versoffene Ratte«, sagte Braun. »Er und zwei andere haben Rosen damals ein Alibi verschafft, von dem jeder wußte, daß es falsch war.«
»Leider konnten wir es nicht beweisen«, fügte Bremer hinzu. In seinem Bewußtsein wollte ein Gedanke Gestalt annehmen. Er wußte nicht genau, welcher, aber er spürte, daß er wichtig war. Vielleicht lebenswichtig. Da war etwas, was er gehört und wieder vergessen hatte. Vor ganz kurzer Zeit erst.
»Er arbeitet Ihre Liste ab, Bremer«, sagte Braun düster. »Ziemlich gründlich, wie es scheint. Sind Sie immer noch der Meinung, ich sollte das Experiment nicht beenden?«
Etwas stimmte nicht. Haymar war damals ein ganz normaler Agent gewesen, wie Braun. Selbst wenn er später irgendwie Kenntnis von Bremers Liste bekommen hätte und sie jetzt abarbeitete, wie Braun es ausgedrückt hatte, so konnte er gar nichts von Look wissen. Allenfalls von Strelowsky, und eigentlich nicht einmal davon. Aber keinesfalls von Look und den beiden anderen falschen Zeugen, oder...
»...oder der Arzt, der das Gutachten erstellt hat, oder der Richter, der Rosen freigesprochen hat, obwohl er wußte, daß er schuldig war«, murmelte er.
»Was sagen Sie?« fragte Braun.
Bremer sah mit einem Ruck hoch. »Großer Gott!« murmelte er. »Rufen Sie den Richter an!«
»Welchen Richter?«
»Den, der Rosen damals freigesprochen hat«, sagte Bremer hastig. »Und schicken Sie ein paar Männer zu den beiden anderen Zeugen, die damals zu Rosens Gunsten ausgesagt haben - falls es noch nicht zu spät ist!« Aufgeregt wandte er sich an Angela. »Es ist Thomas, begreifst du nicht?« Nein, natürlich begriff sie nicht. Wie auch? Bremer fiel erst im nachhinein ein, daß sie diesem seltsamen Geistlichen, der in seiner Kirche schlief, ja niemals begegnet war. »Schicken Sie einen Wagen zur Kirche St. Peter!« sagte er, wieder an Braun gewandt. »Das ist dort, wo Sie Ihre beiden zusammengeschlagenen Agenten hingeschickt hatten. Sie finden dort jemanden, der sich Vater Thomas nennt. Ich weiß nicht, ob er wirklich so heißt, oder ob es ihn überhaupt gibt Aber wenn, dann sollten Sie verdammt vorsichtig sein! Und versuchen Sie, diesen Richter zu finden und in Sicherheit zu bringen. Am besten hierher.«
»Hierher?«
»Es ist nicht Haymar, begreifen Sie das immer noch nicht?« fragte Bremer. »Oder passen Ihre zerebralen Aktivitäten etwa auch in Looks Selbstmord?«
Braun sah nicht einmal auf seine Liste. Das hatte er vorher schon getan. Bremer wußte, daß darauf kein weiterer Ausbruch verzeichnet war. Nachdem er zwei oder drei Sekunden gezögert hatte, stand er auf und ging um seinen Schreibtisch herum. »Paßt auf die beiden auf«, sagte er, während er den Raum verließ.