14


Von den fünftausend Taxen, die es Bremers Behauptung nach in Berlin gab (er hatte die Zahl in genau dem Moment erfunden, in dem er sie ausgesprochen hatte), hatte sich kein einziges in die Gegend verirrt, in der die Kneipe lag, und die einsame Telefonzelle, die er am Ende der Straße entdeckte, war ein Opfer von Vandalen geworden: Jemand war dem Apparat mit einer Brechstange zu Leibe gerückt, um an den Münzspeicher zu kommen, und der Hörer war abgerissen. Bremer blieb keine andere Wahl, als auf gut Glück loszumarschieren und darauf zu hoffen, daß irgendwann ein Taxi vorbeikommen oder er in eine etwas belebtere Gegend gelangen würde.

Er mußte gute zehn Minuten in strengem Tempo marschieren, ehe der Verkehr auf den Straßen allmählich wieder zunahm, und noch einmal fünf, bis er das erste Taxi sah. Das gelbe Schild auf seinem Dach war eingeschaltet, und er war auch ziemlich sicher, daß der Fahrer sein hektisches Winken bemerkte. Trotzdem hielt er nicht an, sondern beschleunigte ganz im Gegenteil, als Bremer auf die Straße treten wollte, um ihn auf diese Weise zum Anhalten zu zwingen. Bremer schickte einen wütenden Blick und einen gedanklichen Fluch hinterher, sagte sich aber gleichzeitig auch, daß er den Fahrer fast verstand. Die Gegend war in den letzten zehn Minuten ein wenig besser geworden, aber wirklich nur ein wenig. Und auch er selbst bot keinen sehr vertrauenerweckenden Anblick. Angela und er hatten seine Wohnung ziemlich überhastet verlassen, so daß er trotz der Kälte nur ein dünnes Jackett trug, und es hatte wieder leicht zu nieseln begonnen. Seine Kleider klebten ihm naß am Körper, und das Haar hing ihm in langen, nassen Strähnen ins Gesicht. Vermutlich hätte er sich selbst auch nicht mitgenommen.

Das zweite Taxi fuhr ebenso vorbei wie das erste; beim dritten Mal versuchte Bremer erst gar nicht, den Wagen auf normale Weise anzuhalten, sondern trat mit einem plötzlichen Schritt auf die Straße hinaus und hob erst dann den Arm.

Bremsen quietschten. Der Wagen kam zwischen zwei hoch aufschießenden Wasserfontänen unmittelbar vor ihm zum Stehen, und Bremer eilte so schnell um die Kühlerhaube herum und riß die Beifahrertür auf, daß dem Fahrer nicht einmal Zeit blieb, seinen Schrecken zu überwinden. Seiner Gesichtsfarbe und den entsetzt aufgerissenen Augen nach zu schließen, mußte er gewaltig gewesen sein.

Bremer ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, knallte die Tür hinter sich zu und zog in der gleichen Bewegung den Zettel aus der Tasche, auf dem Angela ihm Vater Thomas' Adresse ausgedruckt hatte.

»Wissen Sie, wo das ist?« fragte er.

Der Taxifahrer würdigte das Papier nicht einmal eines Blickes, sondern starrte Bremer weiter aus entsetzt aufgerissenen Augen an. »Sind ... Sie wahnsinnig?« stammelte er. »Um ... um ein Haar hätte ich Sie überfahren!«

»Haben Sie aber nicht, oder?« Bremer wedelte ungeduldig mit dem Blatt Papier. »Fahren Sie los, bitte.« Als der Mann immer noch zögerte, ließ er den Ausdruck sinken und zog statt dessen seinen Dienstausweis aus der Jackentasche. »Hören Sie, mein Freund. Ich weiß, daß ich wahrscheinlich einen komischen Eindruck auf Sie mache, aber die Angelegenheit ist wirklich wichtig. Ich kann es Ihnen jetzt nicht erklären, aber ich bin nicht das, wofür Sie mich halten.« Der Taxifahrer wirkte kein bißchen weniger verstört als zuvor, nachdem er Bremers Ausweis in Augenschein genommen hatte, aber er legte immerhin den Gang ein und fuhr los. Bremer mußte an das denken, was er Angela vor einer Viertelstunde über den Umgang mit ihrem Dienstausweis erzählt hatte, und unterdrückte ein Lächeln. Manchmal änderten sich die Dinge schneller, als man ahnte.

»Wie lange werden wir ungefähr brauchen?« fragte er nach einer Weile.

Der Fahrer zuckte unmerklich zusammen und schaltete sein Taxameter ein, ehe er antwortete. »Nicht lange«, sagte er. »Zehn Minuten. Vielleicht fünfzehn. Um diese Zeit ist nicht viel Verkehr.« Bremer versuchte sich den Stadtplan in Erinnerung zu rufen. Wenn er nicht völlig danebenlag, dann waren es von hier bis zur Baldowstraße, wo sie Rosen gefunden hatten, eine gute halbe Stunde Fahrt, selbst um diese Uhrzeit. Vater Thomas' Kirche lag eindeutig nicht in der Nähe des heruntergekommenen Fabrikhofs.

»Darf ich Ihnen einen Frage stellen?« fragte er.

»Ich dachte, das wäre Ihr Job«, sagte der Taxifahrer. Er sah Bremer nicht an. Sein Blick blieb starr auf die Straße gerichtet.

»Vorhin, als Sie mich gesehen haben«, fuhr Bremer fort, »Sie wollten nicht anhalten, habe ich recht? Ich meine: Ihr gelbes Licht war an, und ich nehme nicht an, daß Sie aus purer Langeweile nachts durch Berlin fahren, sondern wohl eher, weil Sie auf der Suche nach Fahrgästen sind Trotzdem wären Sie weitergefahren, wenn ich Ihnen nicht quasi vor den Kühler gesprungen wäre. Warum?«

»Was soll das?« fragte der Fahrer. Er sah Bremer immer noch nicht an, sondern blickte weiter starr geradeaus, aber seine Nervosität nahm spürbar zu. »Ich habe Sie...«

»Ganz deutlich gesehen«, fiel ihm Bremer ins Wort. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will Ihnen keinen Ärger machen. Ich habe einen ganz bestimmten Grund für diese Frage. Ihre beiden Kollegen, die ich vorher anhalten wollte, hätten mich um ein Haar über den Haufen gefahren, und Sie hätten es am liebsten auch getan. Ich möchte nur wissen, warum. Antworten Sie ehrlich - auch wenn es noch so verrückt klingt.«

Der Mann schaltete die Scheibenwischer ein und fummelte ein paar Augenblicke an seinem Funkgerät herum, um Zeit zu gewinnen. Er versuchte, Bremer anzusehen, drehte dann aber hastig wieder den Kopf weg, als sich ihre Blicke begegneten. »Ich ... hatte so ein Gefühl«, sagte er ausweichend.

»Ein Gefühl?«

Der Taxifahrer zuckte mit den Schultern. Seine Hände schlossen sich so fest um das Lenkrad, daß der Lederbezug knirschte. »Daß es besser wäre, nicht anzuhalten«, sagte er. »Ich weiß, es klingt komisch. Aber ich ... wollte nicht anhalten.« Er zuckte erneut mit den Schultern. »Sie haben gefragt.« Und er wollte auch nicht mit ihm reden. Wenn Bremer eines deutlich spürte, dann, wieviel Unbehagen es dem Mann bereitete, seine Fragen zu beantworten; vielleicht sogar schon, seine bloße Gegenwart zu ertragen. Nun, es war, wie der Mann gesagt hatte: Er hatte gefragt und eine Antwort bekommen. Er hatte kaum das Recht, sich darüber zu beschweren.

Der Rest der Fahrt verlief in unangenehmem, fast schon ängstlichem Schweigen. Bremer tat es dem Fahrer gleich und blickte starr auf die Straße hinaus, aber ihm entging natürlich nicht, daß der Mann ihn manchmal verstohlen aus den Augenwinkeln musterte, und er konnte die Anspannung, unter der er stand, fast körperlich greifen. Sie brauchten tatsächlich nur gute zehn Minuten, um die Pfarrei St. Peter zu erreichen, aber Bremer war sicher, daß es dem Mann vorkam wie zehnmal so lange.

Als sie in die Straße einbogen, in der die Kirche lag, erlebte er die nächste, unangenehme Überraschung: Zwanzig oder dreißig Meter entfernt und auf der anderen Straßenseite parkte ein dunkelblauer oder schwarzer BMW der Luxusklasse. Die getönten Scheiben waren von innen beschlagen, und gerade, als sie in die Straße einbogen, löste sich eine schattenhafte Gestalt aus einer Toreinfahrt in der Nähe und stieg auf der Beifahrerseite in den Wagen. Daß er auf dieser Seite einstieg bedeutete, das noch ein anderer, der BMW-Fahrer, im Auto saß.

Er fragte sich, wieso er eigentlich überrascht war. Er hatte kein Recht dazu. Offensichtlich hatte er eine der Grundregeln der Polizeiarbeit vergessen: prinzipiell davon auszugehen, daß die andere Seite mindestens genau so gut informiert war wie man selbst, und im Zweifelsfall nicht dümmer, sondern schlauer agierte.

Der Taxifahrer hatte bereits Tempo weggenommen und einen Gang heruntergeschaltet, aber ihm mußte Bremers Reaktion wohl aufgefallen sein, denn er fragte: »Kollegen von Ihnen?« Ohne seine Antwort abzuwarten, bremste er weiter ab und machte Anstalten, unmittelbar hinter dem BMW anzuhalten.

»Nein«, antwortete Bremer. »Nicht unbedingt. Halten Sie auf der anderen Seite. Direkt vor dem Tor.« Das Taxi beschleunigte wieder und passierte den anderen Wagen so dicht, daß wahrscheinlich nicht einmal mehr der berühmte Bierdeckel dazwischen gepaßt hätte. Als sie auf gleicher Höhe waren, drehte Brenner den Kopf zur Seite und versuchte, einen Blick in das andere Fahrzeug zu erhaschen; allerdings ohne Erfolg. Die getönten Scheiben machten es unmöglich, irgend etwas dahinter zu erkennen.

Sie fuhren ein kleines Stück weiter, wendeten und hielten vor einem überdimensionalen geschmiedeten Metalltor an. Das Gebäude dahinter war nur als Schemen zu erkennen, wirkte aber vielleicht gerade deshalb unheimlich, auf eine schwer in Worte zu fassende Weise fast lebendig. Die Kirche war nicht beleuchtet - was erwartete er, um zwei Uhr nachts? - und eine Sekunde lang fragte er sich, was zum Teufel, er hier eigentlich tat. Er wußte noch nicht einmal, ob dieser sonderbare Geistliche tatsächlich hier wohnte. Das Pfarrhaus konnte ebenso gut einen Block entfernt sein, oder auch zehn.

»Soll ich auf Sie warten?« fragte der Taxifahrer. Bremer zog seine Brieftasche hervor und zählte den Fahrpreis ab, den das Taxameter angab, einschließlich eines wirklich großzügig bemessenen Trinkgeldes. Seine impulsive Antwort auf die Frage des Mannes wäre ein klares Ja gewesen - es war gut möglich, daß er an eine verschlossene Tür klopfte, und in dieser Gegend ein neues Taxi zu bekommen, war so gut wie ausgeschlossen. Aber dann sah er hoch und blickte wieder den Wagen auf der anderen Straßenseite an, und das erleichterte ihm die Entscheidung.

»Nein«, sagte er. »Fahren Sie ruhig. Und ... noch etwas. Sind Sie verheiratet?«

»Wie?«

»Wenn Sie es sind, dann nehmen Sie Ihre Familie und fahren ein paar Tage weg.« Bremer griff erneut in die Brieftasche, nahm einen Hunderter und nach kurzem Zögern noch einen zweiten heraus und gab sie dem Fahrer. Damit war er so gut wie pleite, aber das machte nichts. Geld war vermutlich das letzte, was er in den nächsten Tagen brauchte.

»Sie ziehen mich doch da nicht in eine krumme Geschichte hinein?«

»Machen Sie sich einfach ein paar schöne Tage«, sagte Bremer. Angesichts der Summe, die er dem Mann gegeben hatte, ein lächerlicher Vorschlag, aber mehr hatte er nicht. »Falls jemand kommt und sich nach mir erkundigt, sagen Sie die Wahrheit.«

»Was für eine Wahrheit?« fragte der Fahrer. »Ich weiß doch gar nichts.«

»Eben.« Bremer stieg aus, warf die Tür sehr viel heftiger ins Schloß, als nötig gewesen wäre, und wartete, bis der Wagen abgefahren war. Dabei hielt er den BMW auf der anderen Straßenseite aufmerksam im Auge. Nichts rührte sich. Zumindest fuhren sie nicht gleich hinterher, um den armen Kerl aus dem Verkehr zu ziehen.

Wahrscheinlich sah er zu schwarz, versuchte er sich zu beruhigen. Seine Verfolger hatten anderes zu tun, als einen harmlosen Taxifahrer zu jagen. Sie würden ihm maximal ein paar Fragen stellen und es damit gut sein lassen. Sie wären dämlich, mehr zu tun. Einen Menschen einfach verschwinden zu lassen, wirbelte viel zuviel Staub auf. Trotzdem blieb er reglos stehen und wartete, bis der Wagen hinter der nächsten Biegung verschwunden war. Erst dann drehte er sich herum, öffnete das Tor und trat hindurch. Augenblicklich vergaß er den Taxifahrer, die Männer im blauen BMW und auch alles andere. Die Szenerie, die sich vor ihm ausbreitete, war durch und durch gespenstisch. Sie hätte aus einem Hammer-Film aus den Fünfzigern stammen können, abgesehen davon vielleicht, daß ihr die rührende Naivität jener Szenarien fehlte. Trotzdem wirkte sie genau so unwirklich - und auf eine ganz und gar nicht schwer in Worte zu fassende Weise furchteinflößend.

Die Kirche war überraschend groß und wirkte dadurch, daß sie vollkommen allein auf dem weitläufigen Grundstück stand, noch größer; ein gotischer Prachtbau, der zu DDR-Zeiten bewußt dem Verfall anheim gegeben worden war und sich diesem mit der Beharrlichkeit wirklich alter Gebäude widersetzt hatte. Auf der linken Seite des Grundstückes erstreckte sich das, was einmal ein Friedhof gewesen war: Einige zum Teil vollständig umgestürzte Grabsteine, und zwei oder drei lebensgroße Statuen, die vielleicht Engel darstellen mochten. Bremer hütete sich, genau hinzusehen. Es gab Dinge, die man schon durch Blicke wecken konnte - vor allem solche, die in einem selbst waren. Sehr viel hätte er ohnehin nicht erkennen können. Trotz des noch immer anhaltenden leichten Nieselregens war Nebel aufgekommen, der nicht sehr dicht war, trotzdem aber alles ineinanderfließen ließ, was weiter als zwanzig oder dreißig Schritte entfernt lag. Außerdem hatte er die unangenehme Eigenschaft, den Eindruck von Bewegung zu erwecken, wo keine war. Und in dem Zustand, in dem sich Bremer befand, tat er vielleicht gut daran, seiner Fantasie nicht noch mehr Nahrung zu geben.

Er beschleunigte seine Schritte, eilte die breite Treppe zum Kirchenportal hoch und vermied es dabei ganz bewußt, das Gebäude zu genau zu betrachten. Rechts und links, aber auch über dem Portal, starrten ihn dämonenköpfige Wasserspeier und verschnörkelte Gargoylen an; noch mehr Futter für seine Fantasie, das er in Moment nun wirklich nicht gebrauchen konnte.

Trotzdem blieb er noch einmal stehen und sah sich um, ehe er die Hand nach dem Türgriff ausstreckte. Wenn es so etwas wie ein Pfarrhaus gab, dann lag es entweder genau auf der anderen Seite oder war hinter den immer dichter werdenden Nebelschwaden verborgen. Höchstwahrscheinlich gab es keines.

Bremer gestand sich ein, daß er alles andere als professionell vorging. Von dem Moment an, in dem er Angela in seine Wohnung gelassen hatte, hatte er so ziemlich alles falschgemacht, was man nur falsch machen konnte. Aber schließlich hatte ihn auch niemand auf eine solche Situation vorbereitet.

Er verscheuchte den Gedanken, streckte die Hand aus und drückte die schwere Klinke nach unten. Wenn er Vater Thomas nicht antraf, dann hatte er wenigstens ein trockenes Plätzchen, an dem er den Rest der Nacht zubringen konnte. Vielleicht fand er sogar ein paar Stunden Schlaf. Er war sehr müde. Die Zeiten, in denen er ganze Nächte durchmachen und am nächsten Morgen unbeeindruckt weitermachen konnte, als wäre nichts geschehen, waren schon lange vorbei.

Die Tür war sehr schwer, aber nicht verschlossen, und als Bremer sich mit immer noch höllisch schmerzender Schulter dagegen stemmte und sie aufschob, sah er, daß dahinter noch Licht brannte, auch wenn es sich nur um einen blassen, rötlich gelben Schimmer handelte. Er trat nicht gerade durch die Tür, sondern schraubte sich mit einer Dreihundertsechzig-Grad-Drehung hindurch, um noch einen letzten Blick auf den Wagen auf der anderen Straßenseite zu werfen. Hinter den getönten Scheiben rührte sich immer noch nichts, aber für einen kurzen Moment, vielleicht nur den hundertsten Teil einer Sekunde, glaubte er einen hektischen Tanz der Schatten zu beobachten, als hätten sich tausende rauchiger Nebelfalter aus ihrem Versteck jenseits der Wirklichkeit gelöst und umkreisten das Fahrzeug.

Bremer blinzelte, und die Vision verschwand. Offenbar begann er allmählich wirklich zu halluzinieren. Es wurde Zeit, daß er ein wenig Schlaf bekam.

Er schloß die Tür, machte einen Schritt in die Kirche hinein und blieb wieder stehen, um sich umzusehen. Im ersten Moment war er verwirrt. Vor ihm erstreckte sich nur ein gutes Dutzend wuchtiger Bankreihen, vor denen sich ein unerwartet schlichter Altar unter einem gewaltigen Holzkreuz erhob. Offenbar hatten die Architekten des Gebäudes zu einem optischen Trick gegriffen, der es von außen sehr viel größer erscheinen ließ, als es war. Das einzige Licht kam von zwei ungleich heruntergebrannten Kerzen auf dem Altar, die viel mehr Schatten als Helligkeit entstehen ließen. Und auch mit der Akustik hier drinnen stimmte etwas nicht. Als Bremer weiterging, erzeugten seine Schritte lang nachhallende, hohle Echos, als befände er sich tatsächlich in einer Kathedrale, nicht in einer Kirche, die eher das Attribut klein verdiente. Während er langsam zwischen den Bankreihen hindurchging, ließ er seinen Blick nach rechts und links schweifen. Es war allerdings müßig. Das Licht der beiden Kerzen reichte nicht aus, die Abgründe zwischen den schweren Eichenbänken zu erhellen. Die Vorstellung, was sich alles in diesen schwarzen Schluchten verbergen mochte, hätte ihn mit Unbehagen erfüllt, hätte er sich solche Gedanken gestattet.

Er tat es nicht, aber ein anderer, ebenso unheimlicher Gedanke überkam ihn, während er sich dem Altar näherte. Bremer bezeichnete sich selbst als religiös - in seinem ganz privaten Sinne -, hatte aber nie viel mit der Kirche am Hut gehabt. Er verabscheute jede Art von Zwang, und Reglementierungen im vielleicht privatesten aller Bereiche, der Frage nach Gott oder einem gleich wie gearteten höheren Wesen, erst recht. Trotzdem hatte er Kirchen stets als einen Ort der Zuflucht empfunden, einen Platz, der Vertrauen und Geborgenheit ausstrahlte, und der offen für die war, die keinen anderen Ort mehr hatten, an den sie gehen sollten.

Diese Kirche war das genaue Gegenteil. Alles hier verströmte Furcht, schlimmer noch: Ablehnung. Er sollte hier nicht sein. Niemand sollte hier sein. Die Schatten, jeder Quadratzentimeter des Bodens, jeder Stein, jedes Molekül der Luft schrien ihm zu, daß er gehen sollte, von diesem Ort fliehen, der ein Hort der Schatten und der Angst war, kein Platz für Menschen. Bremer versuchte, auch diesen Gedanken zu verscheuchen, aber es gelang ihm nicht. Vielleicht, weil es sich dabei nicht nur um Einbildung handelte.

Hinter ihm raschelte etwas.

Das Geräusch war sehr leise, in der vollkommenen Stille hier drinnen aber ganz deutlich zu vernehmen. Bremer fuhr erschrocken herum, riß die Augen auf und versuchte die Schwärze hinter sich mit Blicken zu durchdringen. Sein Herz pochte. Ohne es zu wollen, wich er einen Schritt zurück und prallte schmerzhaft mit den Nieren gegen die steinerne Kante des Altars.

Der plötzliche, heftige Schmerz stach wie ein Leuchtfeuer durch die Unwirklichkeit, die ihn umgab. Weil er so unerwartet kam, empfand Bremer den Schmerz als doppelt schlimm. Für einen Moment wurde ihm schwindelig. Er stöhnte, preßte die linke Hand in die Nierengegend und blinzelte ein paarmal, um klarer sehen zu können.

Das Rascheln wiederholte sich. Es war lauter, und diesmal konnte Bremer die Richtung orten, aus der es kam: rechts von ihm, und hinter der dritten oder vierten Bankreihe. Bremer starrte so konzentriert in diese Richtung, daß seine Augen weh taten. Er sah nichts. Die Dunkelheit schien nur noch tiefer zu werden, füllte sich mit etwas, das vielleicht keinen Körper, sehr wohl aber Substanz hatte. Das Rascheln und Schleifen erklang zum drittenmal, und diesmal hörte es nicht wieder auf, sondern hielt an und wurde zugleich lauter, und dann richtete sich ein Schatten zwischen den Bankreihen auf, riesig, verzerrt und schwarz, wuchs weiter und weiter und weiter und...

...wurde zu einem Menschen. Bremer konnte nicht sagen, wer überraschter war - Thomas oder er. Der Geistliche blinzelte ihn aus Augen an, die noch trüb und verquollen vom Schlaf waren. Sein Gesicht war unnatürlich blaß, und der Umstand, daß er mit Ausnahme seines weißen Priesterkragens vollkommen schwarz gekleidet war, ließ es scheinbar schwerelos im Nichts schweben. Bremer erkannte ihn sofort und ohne den geringsten Zweifel, obwohl er ihn nur ein einziges Mal gesehen hatte, und auch das nur für wenige Minuten. Trotzdem beruhigte sich sein hämmernder Puls nicht, sondern raste nur noch schneller, und sein Atem ging so schnell, daß er kurz davor stand, zu hyperventilieren.

»Herr ... Bremer?« Thomas blinzelte ein paarmal und hob eine ebenfalls geisterhaft im Nichts schwebende Hand, um sich schlaftrunken damit über die Augen zu fahren. Ganz offensichtlich hatte er lang ausgestreckt auf der Bank gelegen und geschlafen.

»Vater Thomas.« Bremer hustete, um sein Keuchen zu überspielen. »Es tut mir leid, wenn ich...«

»Sie haben mich nicht gestört. Im Gegenteil.« Thomas stand auf. Die Muskeln an seinem Hals traten sichtbar hervor, als er ein Gähnen unterdrückte, und seine ganze Haltung wirkte entspannt. Wäre er allein gewesen, dann hätte er sich jetzt herzhaft gereckt. Während er sich mit kleinen ungelenk wirkenden Schritten zwischen den Bankreihen ins Freie schob, fuhr er fort: »Ich muß mich entschuldigen Ich wollte nicht einschlafen. Aber ich war müde, die Zeit verging...« Er zuckte mit den Schultern und lächelte verlegen. »Manchmal ist das Fleisch eben doch stärker als der Geist.« Er kam langsam auf Bremer zu und gähnte nun doch, ungeniert und mit weit offenem Mund. Zumindest hatte er jetzt wieder einen Körper. Die Schwärze hinter ihm war dunkelgrau geworden, so daß sich seine Gestalt deutlich davor abhob. Bremer ertappte sich dabei, Thomas' Schultern einer ganz besonders eingehenden Musterung zu unterziehen. Wonach suchte er eigentlich? Nach Flügeln? Lächerlich!

Thomas schob umständlich den Ärmel hoch und sah auf die Uhr. »Sie kommen spät.«

»Sagen Sie nicht, Sie hätten mich erwartet«, sagte Bremer. »Vor einer Stunde wußte ich selbst noch nicht, daß ich herkommen würde.« Wenn er ganz ehrlich war, dann wußte er auch jetzt noch nicht genau, warum er eigentlich hier war. Vielleicht nur aus einem Gefühl heraus. Und vielleicht dem Umstand, daß Vater Thomas die einzige, jämmerliche Spur war, die er in dieser Geschichte hatte.

»Sollte ich Sie lieber fragen, warum Sie hier sind - mitten in der Nacht?« fragte Thomas lächelnd. Er schüttelte den Kopf. Es war fast unheimlich: Bremer konnte regelrecht sehen, wie die Müdigkeit aus seinem Gesicht verschwand. Für eine Sekunde überkam ihn ein vollkommen absurder Neid auf Thomas' Jugend und die Energie, die noch in seinem Körper steckte. »Wir beide wissen, warum Sie hier sind. Ich habe Sie erwartet - oder vielleicht sollte ich besser sagen: Ich habe befürchtet, daß Sie kommen.« Seine Worte hatten eine seltsame Wirkung auf Bremer: Einerseits jagten sie ihm schon wieder einen eisigen Schauer über den Rücken, aber andererseits begann er sich auch ganz ernsthaft zu fragen, ob wirklich so viel dahinter steckte, wie es schien, oder ob es sich nicht vielmehr um pure Effekthascherei handelte. Thomas redete, ohne wirklich etwas zu sagen. Möglicherweise mit Absicht.

Sein Atem hatte sich wieder soweit beruhigt, daß er zumindest seine Stimme unter Kontrolle hatte, als er antwortete. »Ich bin hier, um Ihnen ein paar Fragen zu stellen.«

»Um diese Zeit?«

Bremer hob die Schultern. »Der eine arbeitet nachts um halb drei, der andere schläft in seiner Kirche. Wie es scheint sind wir beide in der glücklichen Lage, uns unsere Arbeitszeit frei einteilen zu können.«

Thomas lächelte weiter, aber es wirkte jetzt nicht mehr ganz echt, und in seinen Augen erschien ein fragender, ganz leicht beunruhigter Ausdruck. Bremer kannte diesen Blick gut genug, um zu wissen, daß er auf dem richtigen Weg war.

»Was haben Sie gestern morgen in der Baldowstraße gemacht?« fragte Bremer. »Und jetzt sagen Sie mir nicht, daß Sie zufällig vorbeigekommen sind. Ich glaube nicht an Zufälle. Und ganz davon abgesehen ist die Gegend eine halbe Stunde von hier entfernt.«

»Ich habe einem Menschen die Sterbesakramente gegeben«, antwortete Thomas, immer noch lächelnd, aber in verändertem Ton. Er war verunsichert und bereits in der Defensive, was Bremer ein wenig erstaunte. Er hatte nicht damit gerechnet, so leichtes Spiel mit dem Geistlichen zu haben. Bekamen Sie nicht Unterricht in Rhetorik und Diskussionstechniken? »Ist dagegen etwas zu sagen?«

»Das kommt vielleicht immer auf den Menschen an«, antwortete Bremer. »Aber es beantwortet nicht meine Frage: Was haben Sie dort gesucht? Es war kein Zufall.«

»Und wenn doch?« Thomas klang jetzt trotzig. Seine Verteidigung brach sozusagen mit Lichtgeschwindigkeit zusammen. Gut. Statt sich weiter langsam an ihn heranzupirschen und seine Verteidigung zu unterminieren, beschloß Bremer, zum Frontalangriff überzugehen.

»Dann war es auch Zufall, daß Strelowsky keine zwölf Stunden später praktisch vor Ihrer Haustür tot aufgefunden wurde?«

»Rosens Rechtsanwalt?« Thomas nickte. »Der war hier. Gestern abend.«

»Hier? Bei Ihnen? Meine Kollegen haben gesagt, Sie hätten nichts gehört und nichts gesehen.«

»Ihre Kollegen hätten das nicht verstanden«, antwortete Thomas. »Ich hielt es für besser, nichts zu sagen. Dies ist keine Polizeiangelegenheit, Herr Bremer.«

»Sie wissen, daß Sie sich damit strafbar gemacht haben«, sagte Bremer ernst. »Ich könnte Sie auf der Stelle verhaften ... eigentlich müßte ich es sogar.«

»Wollen Sie das Schicksal verhaften?« fragte Thomas spöttisch.

Nein, er würde sich nicht auf dieses pseudoesoterische Gerede einlassen. »Sie sind nicht das Schicksal, Thomas«, sagte Bremer ernst. »So, wie ich das sehe, sind Sie nur jemand, der sich ganz toll dabei vorkommt, die graue Eminenz im Hintergrund zu mimen. Sind Sie es? Oder sind Sie nur ein Wichtigtuer?«

»In beiden Fällen müßten Sie mich verhaften, nicht wahr?«

»Vielleicht sind Sie ja einfach nur jemand, der Informationen zurückhält, die zur Aufklärung eines Verbrechens nötig sind«, antwortete Bremer kühl. »In diesem Fall werde ich Sie verhaften, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

»Verhaften? Haben Sie denn gar keine Angst vor der Macht, der ich diene?«

Bremer lachte. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Hochwürden - aber Sie haben anscheinend die letzten zwanzig Jahre verschlafen, nicht nur ein paar Stunden. Niemand hat mehr Angst vor der Kirche. Im Gegenteil. Heutzutage gilt es als chic, sich mit ihr anzulegen.«

»Ich habe nicht von der Kirche gesprochen«, sagte Thomas ernst. Er seufzte. »Warum lassen wir das nicht? Sie sind nicht hierhergekommen, und ich habe nicht auf Sie gewartet, nur damit wir uns gegenseitig bedrohen können. Ich kann Ihnen sagen, was Sie wissen wollen, aber es wird Ihnen nicht gefallen. Und ich glaube, im Grunde wissen Sie es auch bereits.«

»Sie wissen, wer Rosen getötet hat.«

»Und alle anderen, ja. Und wer weiter töten wird.«

»Wer?« fragte Bremer.

Die Schatten hinter Thomas begannen sich zu bewegen, ballten sich zusammen und trieben wieder auseinander, einen unendlich kurzen Moment, bevor sie wirklich Gestalt annehmen konnten. Diesmal.

»Sie werden keinen Erfolg haben, wenn Sie nach einem Mörder aus Fleisch und Blut suchen, Herr Bremer«, antwortete Thomas. »Rosens Obduktion hat ergeben, daß er Selbstmord begangen hat, so wie alle anderen auch, habe ich recht?«

Bremer wußte es - zumindest in Rosens Fall - nicht einmal genau, aber er nickte trotzdem. »Wollen Sie mir erzählen, daß es ein ... Geist war?« fragte er. Die beiden letzten Worte hatten spöttisch klingen sollen, aber er hörte selbst, daß seine Stimme einfach nur schrill wurde. Hysterisch.

»Geist... Das ist ein so großes Wort.« Thomas schüttelte den Kopf, kam auf ihn zu und schmiegte beide Hände um die Kante des Altars. Als er weitersprach, war sein Blick starr auf das schmucklose Holzkreuz darüber gerichtet, aber Bremer war nicht sicher, daß der Geistliche wirklich dasselbe sah wie er. »Wie definieren Sie es? Als reine Energie, die einen Klumpen Fleisch und Flüssigkeiten zum Leben erweckt? Als göttlichen Funken? Oder vielleicht als eine Art Wesen aus einer anderen Dimension?«

»Woher soll ich das wissen?« fragte Bremer grob. »Für solche Fragen sind Sie doch wohl eher zuständig.«

Thomas lachte; sehr leise und ohne Humor. »Es gab eine Zeit, da war ich derselben Meinung, Herr Bremer. Sie ist lange vorbei.«

»Und was glauben Sie heute?« fragte Bremer. Er versuchte sich dagegen zu wehren, aber erfolglos: Thomas' Worte erfüllten ihn mit einem eiskalten Frösteln. Vielleicht, weil sie eine Wahrheit enthielten, die er tief in seinem Inneren schon lange erkannt hatte.

Endlose Sekunden verstrichen, reihten sich zu einer Minute und vielleicht noch einer, ehe Thomas antwortete, und als er es tat, da war seine Stimme sehr leise und ging mit keinem Wort auf Bremers Frage ein.

»In gewissem Sinne haben sie sich selbst getötet, Herr Bremer. Das Wesen, über das wir reden, hat nur Macht über die Schuldigen. Ihnen gegenüber aber ist es gnadenlos.«

»Das ... Wesen?« Bremer nahm keine Rücksicht mehr darauf, was er wem und wann versprochen hatte. Es spielte keine Rolle. Jetzt nicht mehr. Thomas' Worte hatten einen Schrecken heraufbeschworen, den er noch gar nicht ganz erfassen konnte, der aber ungeheuerlich war. »Das ist unmöglich, Thomas. Azrael existiert nicht mehr. Er ist zusammen mit Marc gestorben!«

»Wie kann etwas sterben, was nie gelebt hat?« Thomas riß seinen Blick endlich von dem hölzernen Kruzifix los und sah Bremer an. Seine Augen brannten. »Sie sollten doch am besten wissen, daß der Unterschied zwischen Leben und Tod nicht so endgültig ist, wie die meisten Menschen glauben.«

»Was soll das heißen?« fragte Bremer.

»Das Wesen, über das wir reden, ist nicht aus dieser Welt«, antwortete Thomas. »Oh, es ist aus Fleisch und Blut, wenn Sie das meinen. Es hat einen Körper, und es kann töten, und ich bete zumindest darum, daß es auch getötet werden kann. Es lebt in den Schatten, aber es wittert die Sünde wie ein Raubfisch das Blut im Wasser, und wenn es ans Licht tritt, dann ist es erbarmungslos.«

»Woher ... wissen Sie das alles?« fragte Bremer stockend. Die Angst war wieder da. Eine immer stärker werdende, irrationale Furcht, mit der ihn Thomas' Worte erfüllten, so unglaublich sie auch klingen mochten. Sie taten es nicht einmal. Sie sollten es, aber sie weigerten sich einfach, es zu tun. Großer Gott, er war ein moderner, rational denkender Mensch, der in wenigen Monaten den Schritt ins einundzwanzigste Jahrhundert tun würde, der als Jugendlicher die erste Mondlandung im Fernsehen beobachtet hatte und der tagtäglich und mit der größten Selbstverständlichkeit mit einer Technik umging, die es noch vor zwanzig Jahren nur in Science-fiction-Romanen gegeben hatte. Und er stand hier und redete über Geister und Dämonen, über Geschichten, mit denen man allenfalls kleine Kinder erschrecken konnte, und wahrscheinlich nicht einmal mehr das. Und trotzdem krümmte sich in ihm etwas vor Angst. Etwas, das jenseits aller Zweifel einfach wußte, daß all diese Geschichten wahr waren. Sie und noch andere, schlimmere.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Thomas. »Vielleicht hatte ich eine Vision. Vielleicht hat...«, er sah das Kreuz über sich an, »...Gott mit mir gesprochen. Vielleicht war es auch etwas anderes. Ich weiß nur, daß wir es aufhalten müssen, denn es wird nicht von selbst aufhören. Es wird weiter töten und weiter töten.«

»Solange es Schuldige findet?«

Thomas wurde zornig. »Und wer von uns ist ohne Schuld?« bellte er. »Wer von uns hat noch nie etwas getan, das er bereut hätte? Wer hat noch nie etwas getan, dessen er sich geschämt hätte, noch nie einem anderen Leid zugefügt, ihm Unrecht getan? Wo ist die Grenze? Wer hat den Tod verdient? Rosen, der unschuldige Kinder getötet hat, weil er krank war und nicht anders konnte? Der Anwalt, der die Gesetze so weit gebeugt hat, bis er freigelassen werden mußte? Die falschen Zeugen, die ihm ein Alibi verschafft haben? Der Richter, der seine Freilassung unterschrieben hat, obwohl er ganz genau wußte, daß er schuldig war? Sie, weil Sie nicht genug Beweise zusammengetragen haben, um ihn endgültig dingfest zu machen? Sagen Sie mir, wann es genug ist! Wer leben darf, und wer nicht!«

Bremer war regelrecht sprachlos. Thomas hatte sich so in Rage geredet, daß er die letzten Sätze beinahe geschrien hatte und seine Worte als vielfach gebrochenes Echo von den gotischen Spitzbogen über ihren Köpfen widerhallten, verzerrt und mit geflüsterten, unheimlichen Kommentaren versehen, als wisperten die Schatten ihre Zustimmung.

»Finden Sie das komisch?« fragte Thomas.

Bremer wurde erst jetzt klar, daß sich seine Lippen zu einem schmalen Lächeln verzogen hatten, und er schüttelte hastig den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ganz und gar nicht. Ich mußte nur an Nördlinger denken. Meinen Chef. Es ist erst ein paar Stunden her, da hat er mir einen Vortrag über Selbstjustiz gehalten. Ich meine ... Sie und er haben verschiedene Worte benutzt, aber im Grunde haben Sie dasselbe gesagt. Obwohl der eine über göttliche und der andere über irdische Gerechtigkeit gesprochen hat.«

»Vielleicht ist der Unterschied gar nicht so groß, wie Sie glauben«, meinte Thomas.

»Und wenn doch?« Bremer deutete auf das Kreuz, aber Thomas wußte so gut wie er, was er wirklich meinte. »Wenn das, was wir erleben, gerade göttliche Gerechtigkeit ist?«

»Dann diene ich dem falschen Gott«, sagte Thomas hart.

»Das könnte man als Gotteslästerung auslegen«, sagte Bremer.

»Kaum.« Thomas machte eine wegwerfende Geste. »Ich weiß, daß es nicht so ist. Gott ist nicht so grausam. Wäre er es, dann hätte er die Menschheit schon vor langer Zeit ausgelöscht.«

»Vielleicht die andere Seite?«

»Satan?« Thomas schüttelte energisch den Kopf. Dann lachte er. »Glauben Sie an Gott, Herr Bremer? Ich meine an einen alten Mann mit weißem Haar und einem langen Bart, der auf dem Himmelsthron sitzt und den Engeln beim Harfespielen zusieht?«

»Natürlich nicht.«

»Wieso stellen Sie sich Satan dann als blutrünstiges Ungeheuer mit Hörnern auf dem Kopf vor, das seine dämonischen Diener ausschickt, um Menschen zu töten?« wollte Thomas wissen. »Ich weiß, daß es das Böse in der Welt gibt, aber es ist nicht so leicht zu erkennen. Es wäre schön, wäre es so.«

»Ich habe das Ding gesehen, Thomas«, flüsterte Bremer. Er war fast selbst überrascht, sich diese Worte reden zu hören. Bisher hatte er nicht einmal sich selbst gegenüber zugegeben, die ... Kreatur wirklich gesehen zu haben, und jetzt vertraute er sich einem quasi vollkommen Fremden an.

»Was?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Bremer. »Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen. Ich weiß nicht, was es war. Aber es war grauenhaft. Ein Ungeheuer. Zu nichts anderem gut, als zu töten.«

»Dieses Geschöpf hat nichts mit Gott oder dem Teufel zu tun«, behauptete Thomas. »Es wurde von Menschen erschaffen, glauben Sie mir. Und was Menschen erschaffen haben, das können Menschen auch wieder zerstören.«

Ja, dachte Bremer. Wenn es vorher nicht sie zerstört.

Das Gespräch hatte sich in eine vollkommen andere Richtung entwickelt, als er erwartet hatte - obwohl er im Grunde gar nichts erwartet hatte -, und er fühlte sich nun auf eine vollkommen andere Art unbehaglich als noch vor wenigen Minuten. Die Kirche hatte alles Gespenstische verloren. Statt eines Hortes unheimlicher Schatten und unausgesprochener Bedrohungen sah Bremer sie nun nur noch als das, was sie auch war: ein Haufen alte Steine und morsches Holz, in den sich Feuchtigkeit und Kälte eingenistet hatten; und vermutlich ganze Heerscharen von Ungeziefer. Obwohl sie in den letzten zehn Minuten mehr und intensiver über Geister, Gott, Dämonen, den Teufel und allen anderen metaphysischen Humbug geredet hatten, als Bremer es jemals zuvor im Leben getan hatte, und obwohl er nach diesem Gespräch einfach nicht mehr umhin kam, die Existenz solcherlei Dinge zumindest in Betracht zu ziehen, schien ihr Gespräch die Bedrohung, der er sich ausgesetzt sah, trotzdem greifbarer gemacht zu haben. Sie sprachen über etwas, das er in Ermangelung eines besseren Wortes als Dämon bezeichnete. Gut. Wenn er noch immer nicht daran glauben wollte, daß es sich tatsächlich um einen solchen handelte, dann war es seine Aufgabe, eine andere Erklärung zu finden. Dinge zu erkennen, die nicht das waren, was sie zu sein vorgaben, war schließlich sein Job. Und er war ziemlich gut darin.

»Was werden Sie jetzt tun?« fragte Thomas nach einer Weile.

»Einer von uns sollte vielleicht beten«, antwortete Bremer mit einem schiefen Grinsen.

»Eine gute Idee«, sagte Thomas. »Und was tun Sie?«

Bremer lachte kurz. »Ich muß herausfinden, was damals wirklich passiert ist«, sagte er. »Bisher war ich der Meinung, daß nach Sillmanns Tod alles zu Ende gewesen wäre. Ich weiß im Moment nur noch nicht, wie.«

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Er hatte zumindest zwei Punkte, an denen er ansetzen konnte. Der eine befand sich am anderen Ende der Stadt und schlief im Moment wahrscheinlich tief, aber der andere war nur ein paar Meter entfernt auf der anderen Straßenseite. Bei dem bloßen Gedanken sträubten sich ihm zwar die Haare, aber andererseits rechneten die Agenten wahrscheinlich mit allem - nur nicht damit, daß er zum Angriff überging.

»Sie haben nicht zufällig eine Waffe, die Sie mir leihen könnten?« fragte er.

Thomas starrte ihn nur an, und Bremer hob seufzend die Schultern.

»Es war ja nur eine Frage. Aber Sie können mir doch wenigstens zeigen, wie ich ungesehen hier herauskomme, oder?«

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