15


Look war so betrunken, daß er den Schlüssel erst beim dritten oder vierten Versuch ins Schloß bekam und dann eine geschlagene Minute damit verschwendete, herauszubekommen, in welche Richtung er ihn drehen müßte, um die Tür aufzubekommen. Als er es endlich geschafft hatte, fiel er der Länge nach in den Hausflur und schlug sich die Nase blutig.

Das Glück des Betrunkenen war trotzdem auf seiner Seite: Einen Schritt weiter nach links, und er wäre genau in den Kinderwagen gestürzt, den die blöde Kuh aus dem dritten Stock wieder einmal dort abgestellt hatte, und dabei hätte er sich wirklich übel verletzen können. Der Buggy stand nicht nur entgegen der Hausordnung und ungeachtet aller Proteste der anderen Hausbewohner da, sondern bestand; aus ehemals plastikgeschützten, mittlerweile aber unverkleideten Metallspitzen und -kanten, die geradezu zum Augenausstechen und Schlagaderaufschlitzen einluden.

Wieso Madam-ich-habe-ein-Baby-und-schere-mich-deshalb-einen-Dreck-um-alle-anderen ihr ununterbrochen plärrendes Balg nicht schon vor Monaten daran aufgespießt hatte, war Look ein Rätsel. Vielleicht würde er das ja nachholen, wenn er ihr das nächstemal begegnete.

Er arbeitete sich mit einiger Mühe in die Höhe, fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht und betrachtete sekundenlang verständnislos das Blut, das daran klebte. Es war nicht viel, nur ein paar Tropfen, und erst jetzt spürte er auch den brennenden Schmerz in seiner Oberlippe. Look fuhr sich vorsichtig mit der Zungenspitze über die Zähne, stellte erleichtert fest, daß sie noch alle da waren und keiner wackelte, und wischte sich die Hand an der Hose sauber. Der brennende Schmerz sorgte dafür, daß sein Geist für einen Moment aus dem Alkoholnebel auftauchte, den er im Laufe des Abends mühsam darüber gelegt hatte, und er wieder fast klar denken konnte. Nicht, daß ihm das gefiel. Er hatte sich mit voller Absicht betrunken, aus keinem anderen Grund als dem, am Ende dieses Tages so abgefüllt zu sein, daß er sich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern konnte, geschweige denn an irgend etwas anderes. Aber es hatte sowieso nicht funktioniert. Der Scheiß-Alkohol hatte zwar dafür gesorgt, daß er zu voll war, um die Tür aufzuschließen und dabei auf die Fresse fiel, aber die Erinnerung hatte er nicht betäubt. Irgendwie tat er das nie. Dafür würde er sich morgen früh gotterbärmlich fühlen. Look rappelte sich endgültig hoch, versetzte dem Kinderwagen einen Tritt, der ihn zwei Meter auf die Kellertreppe zuhoppeln ließ (leider nicht weit genug, daß er die Stufen hinunterfiel und dabei in Stücke brach, wie er es sich gewünscht hatte) und wankte zum Lichtschalter, erwischte ihn jedoch nicht gleich, so daß er einen Moment ziellos im Dunkeln herumtasten mußte, um den klobigen Schalter zu finden. Das blöde Ding befand sich nicht dort, wo es eigentlich sein sollte, nämlich in Griffweite neben der Haustür, sondern an der gegenüberliegenden Wand, und zwar anscheinend jedesmal an einer anderen Stelle. Aber in diesem verdammten Haus war ja nichts so, wie es sein sollte. In diese Bruchbude zu ziehen, war die zweitdümmste Idee seines Lebens gewesen.

Anstelle des Lichtschalters ertasteten seine zitternden Finger etwas Kleines, Hartes mit zu vielen Beinen, das blitzschnell davonhuschte, als er es berührte. Look zog angeekelt die Hand zurück, wartete, bis sich sein trommelnder Herzschlag wieder einigermaßen beruhigt hatte und versuchte es dann erneut. Diesmal setzte er die Hand mit gespreizten Fingern auf dem rissigen Putz auf und ließ sie wie eine fünfbeinige Spinne auf den Lichtschalter zuwandern, um jedem anderen Bewohner der Wand Gelegenheit zu geben, sich in Sicherheit zu bringen. Diese verdammte Bruchbude hatte mehr Kakerlaken und Spinnen als er Haare auf dem Kopf.

Schließlich ertasteten seine Finger das spröde gewordene Bakelit und legten den Schalter mit einem schweren Klack um. Augenblicklich erfüllte trübes Zwielicht den Hausflur, und der Drei-Minuten-Automat begann mit seinem hektischen Klickern. Diese drei Minuten waren übrigens gelogen. Wahrscheinlich hatte der Hausmeister ihn aus purem Geiz auf dreißig Sekunden eingestellt - aus dem gleichen Geiz heraus, aus dem er immer nur eine zwanziger Birne in die Treppenhauslampe schraubte. Es war Look jedenfalls noch nie gelungen, seine Wohnung im vierten Stock zu erreichen, bevor das Scheißding abgelaufen war. Nicht einmal nüchtern - was allerdings selten vorkam.

Look bedachte den Aufzug mit einem schrägen Blick und wandte sich dann mühsam in die entgegengesetzte Richtung. Als er eingezogen war - vor sechs Jahren! - hatte ein Schild an den Aufzugtüren gehangen: AUSSER BETRIEB. Das Schild war irgendwann einmal entfernt worden, aber der Aufzug nie repariert. Er hatte einmal gelesen, daß es eine Bauvorschrift in dieser Stadt gab, nach der jedes Gebäude über vier Stockwerke über einen Aufzug verfügen mußte. Anscheinend stand in dieser Vorschrift nichts davon, daß dieser Aufzug auch funktionieren mußte. Er beeilte sich, um wenigstens die erste Etage zu erreichen, bevor das Licht ausging, und um ein Haar hätte er es sogar geschafft. Leider entfaltete der Alkohol seine Wirkung jetzt schneller, als seine Beine ihren Dienst versahen: Auf der vorletzten Stufe stolperte er, stürzte nach vorne und prellte sich schmerzhaft beide Handgelenke, als er versuchte, seinen Sturz abzufangen. Diesmal tat es einfach nur weh, aber sein Kopf wurde kein bißchen klar. Dann ging das Licht aus.

Und Look spürte, daß er nicht mehr allein war. Das Gefühl war so intensiv, daß er im ersten Moment tatsächlich glaubte, jemand hätte ihn berührt. Er stieß einen kleinen, keuchenden Schrei aus, wirbelte herum und verlor dadurch endgültig den Halt: Er fiel auf die Seite, rutschte zwei, drei Stufen weit wieder hinab und schrammte an jeder einzelnen schmerzhaft mit dem Hüftknochen entlang, ehe er zur Ruhe kam.

Diesmal machte ihn der Schmerz wach. Schlagartig und für einige Sekunden war er vollkommen klar. Aber das Gefühl, daß noch jemand (Etwas) mit ihm hier drinnen war, blieb.

Look sah sich aus weit aufgerissenen Augen um. Er war von vollkommener Dunkelheit umgeben. Das Licht, das durch die Haustür hereinfiel, reichte nicht bis hierher, und er sah nicht einmal die sprichwörtliche Hand vor Augen. Aber er spürte, daß er nicht allein war. Irgend etwas war da, ganz in seiner Nähe. Etwas Großes. Etwas Gefährliches. Etwas, das ihn belauerte.

»Ist da jemand?« fragte Look. Er bekam keine Antwort, aber nun glaubte er, etwas wie ein Atmen zu hören. Vielleicht auch nicht wirklich ein Atmen. Eher das Geräusch, das entstehen mochte, wenn ein gigantisches Insekt Luft durch seine Tracheen pumpte. »Ist da jemand?« fragte Look noch einmal. Er schrie fast. Sein Herzschlag begann zu rasen, und er spürte, wie eiskalte Panik in ihm emporkroch. Er bekam noch immer keine Antwort, aber die unheimlichen Atemgeräusche schienen lauter zu werden. Näher zu kommen?

Look wollte aufspringen und davonstürzen, aber die Furcht nagelte ihn fest. Er begann am ganzen Leib zu zittern, und vor seinem inneren Auge nahmen alle nur vorstellbaren Schrecken (und ein paar unvorstellbare) in der Dunkelheit vor ihm Gestalt an, und diese grauenhaften Tracheengeräusche waren nun eindeutig näher gekommen. Look wehrte sich verzweifelt und vergebens gegen die Vorstellung eines gigantischen, rasiermesserscharfen Mandibelpaares, das dicht vor seinem Gesicht auseinanderklappte und auf seine Kehle zuschrammte.

Über ihm wurde eine Tür aufgerissen, und einen Augenblick später flammte die Treppenhausbeleuchtung mit ihren ganzen gewaltigen zwanzig Watt auf. Die Treppe vor ihm war leer. Keine Riesenkakerlake. Kein Schatten. Kein Atmen. Look war allein.

»Was zum Teufel ist denn hier los?!« keifte eine Stimme über ihm. Look drehte mit einiger Mühe den Kopf und blickte in ein pausbäckiges Gesicht, aus dem ihn ein Paar winziger boshafter Augen voller Zorn anfunkelten. Neben der militanten Babymutter aus dem Dritten war Frau Ich-bin-ja-so-wichtig die Person, die Look im Haus am allerwenigsten leiden konnte. Im Moment allerdings vermochte er sich kaum einen schöneren Anblick vorzustellen als ihr Gesicht. Er stemmte sich halb in die Höhe und setzte dazu an, etwas zu tun, was ihr vermutlich vor lauter Unglauben einen Schlaganfall beschert hätte - nämlich sich bei ihr zu entschuldigen -, aber sie kam ihm zuvor.

»Ach ja, das hätte ich mir ja denken können!« keifte sie. »Dieses versoffene Stück natürlich. Reicht es Ihnen noch nicht, jeden Abend zu randalieren? Müssen Sie jetzt auch noch mitten in der Nacht Lärm genug machen, um das ganze Haus zu wecken? Sie haben damit ja nicht viel zu schaffen, aber es gibt Leute, die ihren Schlaf brauchen, weil sie tagsüber arbeiten müssen!«

In diesem Haus jedenfalls würde morgen niemand ausgeschlafen sein, dachte Look. Frau Blockwart keifte laut genug, um auch den letzten aus dem Schlaf zu reißen. Er vergaß alle Nettigkeiten, zu denen er sich gerade hatte aufraffen wollen, zog sich am Treppengeländer vollends in die Höhe und rülpste lautstark. Das Gesicht unter dem altmodischen Haarnetz, durch das die Stacheln billiger Plastiklockenwickler lugten, verlor alle Farbe, aber seine Besitzerin wich auch vorsichtshalber wieder einen Schritt weit in die Sicherheit ihrer Wohnung zurück.

»Glauben Sie bloß nicht, daß ich mir das gefallen lasse«, keifte sie. »Ich werde gleich morgen einen Brief an den Hausbesitzer schreiben. So geht das nicht!« Und damit knallte sie die Tür zu.

Sollte sie, dachte Look. Die alte Vettel mußte ohnehin schon ein Vermögen an Briefmarken ausgegeben haben, so oft, wie sie sich über alles Mögliche beschwerte.

Er wollte weitergehen, als sein Fuß gegen ein Hindernis stieß, das raschelnd davonschlitterte. Look sah nach unten und erkannte, daß es sich um die Zeitung handelte, die ihm aus der Jackentasche gefallen war. Er sollte das Scheißding liegen lassen. Schließlich war es schuld daran, daß er sich so miserabel fühlte. Andererseits hatte er gutes Geld dafür bezahlt. Und die Zeitung wegzuwerfen, änderte nichts an ihrem Inhalt.

Look bückte sich danach, verlor das Gleichgewicht und plumpste unsanft auf den Hintern. So war das mit dem Alkohol. Dieser Teufel tat zwar nie das, was er sollte, aber man konnte sich mit ziemlicher Sicherheit darauf verlassen, daß er sich stets im unpassendsten Moment zurückmeldete.

Betrunken mit dem Oberkörper hin und her wankend, faltete er die Zeitung auseinander und las zum zwanzigsten Male an diesem Abend den Artikel, der ihn so in Aufruhr versetzt hatte. Er las ihn nicht wirklich. Dazu war er nicht mehr in der Lage. Die Buchstaben bildeten ein einziges, schwarzes Gewusel vor seinen Augen; wenn er zu lange hinsah, dann würde ihm höchstens schlecht werden. Aber es war auch nicht nötig, den Artikel zu lesen, denn er kannte ihn auswendig. Es ging um seinen alten Freund Kifi (Diesen Spitznamen hatten sie ihm schon während der Berufsschule verpaßt. Uneingeweihten nötigte er nur ein verständnisloses Stirnrunzeln ab, bis sie erfuhren, wofür Kifi stand = Kinderficker), Rosen und seinen Rechtsverdreher Strelowsky. Look kannte Kifis Anwalt nicht annähernd so gut wie Kifi selbst, aber er hatte ihn trotzdem in lebhafter Erinnerung behalten. Genauer gesagt, den Briefumschlag voller Geld, den er nach ihrem letzten Zusammentreffen mit nach Hause genommen hatte. Er hatte gehofft, niemals wieder von einem der beiden zu hören.

Wenn er der Zeitung glauben durfte, würde das auch nicht passieren. Jemand hatte die beiden ausgeknipst. Die Zeitungsfuzzys schrieben zwar etwas von Selbstmord, aber Look glaubte nicht an diese Version. Strelowsky hatte nicht den leisesten Grund, sich selbst umzubringen, und Kifi Rosen fehlte die grundlegende Voraussetzung, um auch nur an so etwas wie Selbstmord zu denken: ein Gewissen. Viel wahrscheinlicher war, daß die beiden ein krummes Ding zuviel gemeinsam gedreht hatten und dabei dem Falschen auf die Zehen gestiegen waren.

Look verstand nicht, warum ihn der Artikel so beunruhigte. Das genaue Gegenteil sollte der Fall sein. Meineid war kein Kavaliersdelikt, und solange Kifi und Strelowsky am Leben gewesen waren, hatte stets die Gefahr bestanden, daß eines Tages jemand an seine Tür klopfte und ihn fragte, woher er eigentlich damals die fünfzigtausend Mark bekommen hatte.

Diese Gefahr war vorbei. Er sollte froh über diesen Artikel sein. Statt dessen flößte er ihm regelrechte Todesangst ein.

Und er wußte nicht einmal, warum.

Die drei Minuten waren vorbei. Das Licht ging aus. Look ließ die Zeitung sinken, hob mit einem Ruck den Kopf und sah sich um.

Nichts. Kein Tracheenatmen. Keine Schatten. Er war allein. Er ließ die Zeitung fallen (noch etwas für deine Beschwerdeliste, alte Kuh), zog sich schwankend am Treppengeländer in die Höhe und torkelte los. Der Alkohol entfaltete mittlerweile eine sonderbare Wirkung: Er fühlte sich halbwegs nüchtern, aber sein Körper war es nicht. Er war nicht mehr in der Lage, geradeaus zu gehen, sondern schoß in einem willkürlichen Zickzack auf die Wohnungstür zu und schlug mit der flachen Hand dagegen, ehe er beim dritten Versuch den Lichtschalter erwischte.

Hinter dem Spion in der Tür bewegte sich ein Schatten. Wahrscheinlich stand Igelkopf Ohne-mich-geht-nichts hinter dem Spion und führte pedantisch Buch über jeden Rülpser, den er tat. Sollte sie.

Look taumelte weiter, schleppte sich die nächsten fünf oder sechs Stufen hinauf und merkte plötzlich, daß er es nicht mehr schaffen würde, seine Blase lang genug unter Kontrolle zu halten. Trotzdem zweifelte er daran, den Weg bis zu seiner Wohnung im fünften Stock noch zu schaffen.

Außerdem hatte er gar keine Lust, sich den Schwanz zwischen die Beine zu klemmen und mit seiner Blase um die Wette zu laufen.

Look blieb stehen, grinste und drehte sich schwankend herum. Wenn Frau Ich-weiß-was schon einen Beschwerdebrief schrieb, konnte er ihr auch gleich einen vernünftigen Grund liefern. Schließlich wäre es doch schade um die schöne Briefmarke.

Er wankte die Treppe wieder hinab, blieb vor ihrer Tür stehen und grinste den Schatten hinter dem Spion an, während er seinen Hosenschlitz öffnete. Hinter der Tür erklang ein schrilles Kläffen. Look grinste noch breiter, als er an den Hund der Dicken dachte, ein undefinierbares Etwas von der Größe einer Ratte. Vorhin hatte er ihn nicht gesehen. Wahrscheinlich hatte sie das Mistvieh extra geweckt, um Beistand gegen den großen bösen Mann vor der Tür zu haben. Gut. Falls sie den Fehler beging, die Tür aufzumachen, hatte er wenigstens ein Ziel.

Der Druck auf seiner Blase war mittlerweile fast unerträglich geworden, und Look gab ihm endlich nach. Er hörte, wie der Strahl gegen die Tür plätscherte und sich am Boden ausbreitete, und noch bevor er den Blick senken und nachsehen konnte, ob seine Schuhe in Gefahr waren, wurde die Tür aufgerissen, und Igelkopf starrte ihn an.

»Was erdreisten Sie sich jetzt...« Ihre Stimme versagte, als sie den Blick senkte und sah was er tat. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Sie stieß ein leises, fast komisch klingendes Quieken aus. Zwischen ihren Füßen erschien eine haarige Rattenschnauze und kläffte sich die Seele aus dem Leib.

Look kicherte, trat einen halben Schritt zurück und drehte sich leicht zur Seite. Er hatte perfekt gezielt. Aus dem Kläffen wurde ein überraschtes Winseln, als der Strahl den Hund zielsicher auf die Nase traf, und dann flitzte der Köter wie ein geölter Blitz davon.

Seine Besitzerin wurde kreidebleich. Ihre Augen quollen so weit aus den Höhlen, daß Look fast damit rechnete, daß sie herausfielen. »Was...?« stammelte sie ununterbrochen. »Was...?«

»Erinnerschlich noch daran, wie?« lallte Look mit schwerer Zunge. »Aber du ... kriegsch esch nisch. Auch weenus gene ... hättesch.« Frau Blockwart kreischte - schrill, aber so leise, daß es kaum zu hören war, und Look konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihr auch noch auf die Pantoffeln zu pinkeln, ehe sie endlich zurückprallte und die Tür zuwarf. Schade. Er hätte gerne auch noch ihr Nachthemd verziert. »Pißnelke!« kicherte Look. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie jetzt in ihrer Wohnung Amok lief. Vielleicht würde sie sogar die Polizei anrufen. Sollte sie. Sie konnte von Glück sagen, daß er nur pinkeln mußte, und keinen anderen Drang verspürte!

Look erleichterte sich zu Ende, schüttelte dreimal (mehr war Selbstbefriedigung, wie Kifi immer gesagt hatte) und zog den Reißverschluß wieder hoch. Dann drehte er sich mühsam um und wankte zum zweitenmal die Treppe hinauf. Diesmal kam er fast bis zur Mitte, ehe das Licht ausging - Und das Atmen begann.

Look erstarrte mitten in der Bewegung. Das Geräusch war zu deutlich, um es zu ignorieren, oder als bloße Sinnestäuschung abzutun. Es entstand in der Dunkelheit hinter ihm; nicht unmittelbar hinter ihm, aber doch nahe genug, um ihm einen eisigen Schauer über den Rücken zu jagen. Er hatte jetzt zwei Möglichkeiten: Er konnte davonrennen und in seine Wohnung stürmen und sich unter seiner Bettdecke verkriechen, ein probates Mittel gegen eingebildete Ungeheuer und zu lebhafte Alpträume, wie ihm nicht nur Millionen von Kindern in aller Welt, sondern auch mindestens ebenso viele Erwachsene hätten bestätigen können, oder er konnte sich herumdrehen und sich der Bedrohung stellen, die wahrscheinlich sowieso nur eingebildet war. Look überlegte blitzschnell - und entschied sich für eine Lösung, die für ihn im Grunde vollkommen atypisch war: Er drehte sich herum und stellte sich dem Ding, das die Dunkelheit ausgespien hatte. Diese Entscheidung kostete ihn das Leben, aber im Grunde spielte das keine Rolle mehr. Die andere Alternative hätte es ihm nicht gerettet, sondern höchstens um ein paar Augenblicke verlängert. Und vielleicht nicht einmal das.

Auf Anhieb sah er nicht mehr als auch beim erstenmal. Tief - im Grunde viel zu tief - unter ihm schimmerte ein asymmetrischer Fleck blaßgrauer Helligkeit, wo das Licht der Straßenlaterne durch die Haustür fiel, und aus dem Spion in der Wohnungstür drang ein gelbliches Funkeln. Aber seine Augen schienen sich bereits an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt zu haben, denn er sah das Treppenhaus dazwischen nicht mehr als einheitliche Fläche aus tiefstem Schwarz, sondern als regelmäßiges Muster aus Grau- und verschiedenen Anthrazittönen. Irgendwo auf halber Höhe schimmerte ein verwaschener heller Fleck; die Zeitung, die er fallen gelassen hatte.

Das Geräusch schien von dort zu kommen. Vielleicht bewegte einfach Luftzug das Papier, und das war schon die ganze Erklärung.

Look war gerade soweit, diese simple Erklärung nicht nur glauben zu wollen, sondern es auch tatsächlich zu tun, als sich die Zeitung zu bewegen begann.

Sie faltete sich auseinander, ordnete sich neu, und zugleich begannen auch die acht Zentimeter großen Lettern der Schlagzeile wild durcheinanderzuwirbeln und sich dann zu einem neuen Sinn zu gruppieren. Trotz der Entfernung und des praktisch nicht vorhandenen Lichts konnte Look die Worte deutlich lesen. Er hätte es wahrscheinlich auch gekonnt, wenn sie nicht dagestanden hätten.

Als er die Zeitung fallen gelassen hatte, hatte die Schlagzeile gelautet: BIZARRER SELBSTMORD.

Jetzt lautete sie: DREI WEITERE OPFER. Look war jetzt schlagartig und vollkommen nüchtern. Er stöhnte. Seine Kiefer preßten sich so fest zusammen, daß sein Zahnfleisch zu bluten begann, ohne daß er es auch nur bemerkte. Natürlich wußte er, daß diese drei Worte dort nicht standen. Sie konnten nicht dort stehen, denn es gab nur zwei Menschen auf der Welt, die wußten, was sie bedeutet hätten, und einer davon war seit heute morgen tot. Aber sie hätten dort stehen sollen, denn es war die Wahrheit, sein ganz persönliches, finsteres Geheimnis, das ihn zum Trinken gebracht und sein Leben zerstört hatte: Kifi Rosen war seinem Spitznamen noch dreimal auf fürchterliche Weise gerecht geworden, nachdem er mit Hilfe seines Rechtsanwaltes und Looks gekaufter Falschaussage der Klapse und anschließender lebenslanger Sicherheitsverwahrung entgangen war. Er war sehr viel geschickter vorgegangen als vor seiner Verhaftung, hatte Jahre verstreichen lassen, in denen er ein mustergültiges Leben geführt hatte, und war selbst dann vorsichtig geblieben, als seine kranken Triebe wieder die Oberhand über sein Handeln gewonnen hatten. Diesmal hatte er kein falsches Alibi gebraucht, denn er hatte einfach keine Spuren hinterlassen. Nicht einmal Leichen.

Aber er hatte es Look gesagt. Und was willst du tun, Arschloch? Mich bei den Bullen anzeigen? Nur zu. Vielleicht kriegen wir ja eine gemeinsame Zelle. Dann wird es nicht so langweilig, weißt du?

Das Insektenatmen wurde lauter. Die Zeitung hörte auf, sich zu bewegen und zu rascheln, und dann gerann die Schwärze auf der Treppe zu einem riesigen, mehr als zwei Meter großem Umriß, kein Körper, sondern einfach ein scharf umrissener Fleck des tiefsten Schwarz, das Look jemals gesehen hatte. Die Gestalt hätte ein Mensch sein können, ein Vampir aus einem alten Horrorfilm mit Boris Karloff, der sich in seinen Mantel gehüllt hatte, aber auch ein aufrecht stehender, übermannsgroßer Käfer. Unsichtbare Augen starrten Look voller absoluter Gnadenlosigkeit an. Look konnte sie sowenig sehen wie das Gesicht, zu dem sie gehörten, aber ihr Blick war wie Säure.

Eine sonderbare Art von Ruhe überkam Look. Er hatte Angst, unendlich große Angst, aber es war keine Angst vor dem ... Ding da unter ihm, von dem er nur wußte, daß es nichts anderes als eine Ausgeburt seiner Fantasie war. Er wußte sogar ziemlich genau, was mit ihm passierte. Delirium tremens, so nannte man es wohl. Er hatte geahnt, daß es eines Tages geschehen würde. Schließlich hatte er lange genug darauf hingearbeitet. Er hatte nur nicht gedacht, daß es so sein würde.

Die groteske Kreatur regte sich, faltete raschelnd das auseinander, was er für einen Mantel gehalten hatte, und darunter kam tatsächlich etwas zum Vorschein, was wie eine Kreuzung aus einem Insekt und ... irgend etwas aussah: schlank, riesig, schimmernd wie braunrotes Chitin und mit einem gewaltigen, dreieckigen Schädel, der ganz von einem Paar grausamer Augen beherrscht wurde. Zitternde Fühler tasteten in seine Richtung, als das Ding Witterung aufnahm.

Look sah mit fast wissenschaftlichem Interesse zu, wie die Kreatur eines ihrer grotesk dürren Beine ausklappte und einen einzelnen, staksenden Schritt in seine Richtung tat. Er war ziemlich überrascht, wozu seine eigene Fantasie imstande war. Mit Willenskraft hätte er sich eine so bizarre Kreatur niemals vorstellen können. Sie wirkte so unglaublich echt.

Was dann geschah, das hätte ihn unter allen anderen denkbaren Umständen vor Lachen einfach losbrüllen lassen. Und selbst jetzt beinahe. Aber eben nur beinahe. Und auch das nur im ersten Moment.

Die Wohnungstür flog auf, und Frau Blockwart Hier-regiere-ich-und-sonst-keiner stürmte heraus, gefolgt von einem kläffenden, nassen Fellbündels von der Größe eines Hausschuhs. Der Anblick war trotz allem einfach absurd, denn die Hüterin des Hauses hatte sich tatsächlich mit einem Teppichklopfer bewaffnet, um wieder Ruhe und Ordnung in ihr Reich zu bringen! Ihr Gesicht war dunkelrot vor heiligem Zorn, und ihre vollgepinkelten Hausschuhe erzeugten quatschende Geräusche, während sie schnaubend auf ihn losstürmte. Obwohl das Licht, das aus ihrer Wohnung drang, direkt auf das Ungeheuer fiel, nahm sie es nicht einmal zur Kenntnis, sondern stürmte schnaubend an ihm vorbei, gefolgt von ihrem kläffenden Köter. Look beobachtete die absurde Szene mit einer Mischung aus Unglauben, hysterischer Heiterkeit und der allmählich aufdämmernden Erkenntnis, das er gleich mit einem Teppichklopfer verprügelt werden würde.

Und es kam noch schlimmer. Die Dicke wälzte sich schnaubend die Treppe hinauf, wobei sie ihr Körpergewicht immer mit einer Hand auf dem Knie abstützte, während sie das andere Bein in die Höhe stemmte. Ihr Köter versuchte ihr zu folgen, aber das Vieh war so dämlich, daß es nicht auf, sondern mit voller Wucht vor die erste Treppenstufe sprang, und mit einem Quieken zurückfiel.

Als er sich wieder aufrichten wollte, streckte das Ungeheuer einen seiner dürren Arme aus und riß ihm den Kopf ab.

Looks Herz setzte für einen Schlag aus. Dann noch einen. Und noch einen. Als es weiterhämmerte, geschah es mit zehnfacher Schnelligkeit und so hart, daß er schlagartig am ganzen Leib zu zittern begann. Er wartete darauf, daß die Angst zuschlug, aber das geschah nicht. Sein Körper reagierte schneller auf den Schock als sein Geist. Er empfand ... nichts.

Die Dicke war mitten im Schritt stehengeblieben und hatte sich herumgedreht, als sie das erschrockenen Fiepen ihres kleinen Lieblings hörte. Für eine oder zwei Sekunden stand sie wie zur Salzsäure erstarrt da und starrte auf das blutende, kopflose Fellbündel herab, das am Fuße der Treppe lag. Dann hob sie unendlich langsam den Kopf.

Das Ungeheuer war näher gekommen und stand jetzt unmittelbar vor der Treppe, drei Stufen unter ihr. Trotzdem befanden sich ihre Gesichter nahezu auf gleicher Höhe. Look konnte nicht erkennen, was sich auf dem der Dicken abspielte, und die braunrote Chitinmaske des Ungeheuers war zu keiner Regung fähig.

Die Dicke sagte kein Wort. Sie gab nicht einmal mehr dieses komische Quietschen von sich, das Look vorhin gehört hatte. Aber nach ein paar Sekunden streckte das Ungeheuer die Klaue aus, die den abgerissenen Hundeschädel hielt, und drückte ihn der Dicken in die Hand. Sie ergriff ihn, blickte darauf hinab und fiel in Ohnmacht.

Der dumpfe Laut, mit dem sie rücklings auf der Treppe aufschlug, riß Look endlich aus seiner Erstarrung. Er schrie gellend auf, wirbelte auf der Stelle herum und raste los. Hinter ihm stieß das Ungeheuer ein rasselndes Tracheenatmen aus und setzte mit staksigen, aber ungeheuer schnellen Bewegungen zur Verfolgung an.

Look rannte so schnell wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er wußte, daß er keine Chance hatte, dem Ding zu entkommen, denn es war keine Halluzination, keine Ausgeburt seiner alkoholkranken Fantasie, sondern grauenhafte Wirklichkeit, und es war schnell, aber dieses Wissen spornte ihn nur zu noch größerer Schnelligkeit an. Er raste, immer zwei, manchmal drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf, erreichte das nächste Stockwerk und jagte den Flur entlang, um die nächste Treppe zu erreichen. Hinter sich hörte er das trockene Ledergeräusch riesiger Flügel, - die sich entfaltet hätten, hätte der Platz dazu gereicht -, das Scharren chitingepanzerter Gelenke und das Klacken stahlharter Klauen auf dem Boden. Er rannte noch schneller, schrie, kreischte, erreichte die nächste Treppe und katapultierte sich selbst am Geländer in die Höhe. Eine rasiermesserscharfe Klaue riß ein Stück von der Größe einer Hand aus dem Treppengeländer, genau dort, wo vor einem Sekundenbruchteil noch seine Finger gewesen waren, dann traf irgend etwas seinen Rücken, riß die Jacke, das Hemd und auch das Fleisch darunter auf und schleuderte ihn nach vorne. Wie durch ein Wunder stürzte er nicht, sondern wurde durch die schiere Wucht des Hiebes im Gegenteil noch einmal beschleunigt und gelangte so wieder aus der Reichweite der Bestie. Er hatte keine Schmerzen. Warmes Blut lief seinen Rücken hinunter und tränkte seine Hose. Er sollte Schmerzen haben. Doch alles, was er fühlte, war Angst; eine Furcht, die vielleicht einfach zu gewaltig war, als daß sie noch irgendein anderes, selbst körperliches Gefühl zugelassen hätte.

Er erreichte die nächste Etage, fand irgendwo in seinem Körper noch einmal ein bißchen Kraft und stürmte die nächste Treppe hinauf. Über und unter ihm begann das Haus allmählich zu erwachen, geweckt von seinen Schreien und dem Lärm der gnadenlosen Jagd. Zornige Stimmen wurden laut, Türen aufgerissen und hastig wieder zugeschlagen, aber Look nahm nichts davon noch wirklich zur Kenntnis. Seine Kräfte begannen zu erlahmen. Er war jetzt in der vierten Etage, und irgendwie brachte er es fertig, seine Beine immer noch einmal zu einem weiteren Schritt zu zwingen, aber er spürte auch, wie seine Kraftreserven mehr und mehr dahinschmolzen. Die beiden letzten Hiebe des Ungeheuers hatten ihn verfehlt, aber der nächste würde ihn treffen. Spätestens der übernächste.

Es war der übernächste. Look hatte die fünfte Etage erreicht, die rettende Tür zu seiner Wohnung lag vor ihm. Er war nicht in der Verfassung, sich Gedanken darüber zu machen, daß das dünne Holz nicht einmal einem ernstgemeinten Fußtritt Stand halten würde, geschweige denn dem Ding hinter ihm. Im Laufen versuchte er, den Schlüssel aus der Tasche zu ziehen, fühlte einen Luftzug hinter sich und in der nächsten Sekunde einen grausamen, knochenbrechenden Schlag, der sein linkes Schulterblatt zertrümmerte und ihn quer durch den Flur und gegen seine eigene Wohnungstür schleuderte. Look wimmerte vor Pein, arbeitete sich in eine halb kniende Position hoch und versuchte, den Schlüssel ins Schloß zu schieben.

Eine gigantische Klaue zischte an seinem Kopf vorbei und stanzte drei fingerlange, dreieckige Löcher in das Holz der Tür unmittelbar neben seinem Gesicht. Look ließ den Schlüssel fallen, drehte sich wimmernd herum und riß die rechte Hand in dem vollkommen sinnlosen Versuch hoch, sein Gesicht zu schützen. Den linken Arm konnte er nicht mehr bewegen. Seine Schulter bestand nur noch aus tobendem Schmerz, Blut und weißen Knochensplittern, die durch den blutgetränkten Stoff seiner Jacke stachen. Der tödliche Hieb kam nicht. Noch nicht. Das Ding spielte nur mit ihm, als hätte es ihm noch nicht genug Angst eingejagt, noch nicht genug Schmerz zugefügt. Statt sein Gesicht zu zerschmettern, was es ohne Probleme gekonnt hätte, packte es mit seiner fürchterlichen Klaue nur seine Hand (wobei es ihm völlig unabsichtlich drei Finger brach), riß ihn in die Höhe und schmetterte ihn mit solcher Wucht gegen das Treppengeländer, daß das morsche Holz krachte; von dem, was in seinem Rücken geschah, gar nicht zu reden. Für einen schrecklichen Moment drohte er das Gleichgewicht zu verlieren und hintenüber in die Tiefe zu stürzen. Er kämpfte instinktiv um seine Balance und gewann, aber eigentlich ohne zu wissen, warum. Ein Sturz in die Tiefe wäre wahrscheinlich gnädig gegen das, was ihn hier erwartete.

Die Kreatur stand reglos vor ihm, zwei Meter entfernt, womit er sich noch in Reichweite ihrer gräßlichen Klauen befand, machte aber keine Anstalten, ihn anzugreifen. Sie hätte ihm spielend den Schädel einschlagen, ihm das Rückgrat brechen oder ihm wahrscheinlich auch den Kopf abreißen können, wie sie es mit dem Hund der dicken Frau getan hatte. Look hatte die fürchterliche Kraft, die in diesen nur scheinbar so dünnen Gliedern wohnte, schließlich am eigenen Leib gespürt. Aber sie rührte sich nicht. Ihre Arme bewegten sich ruckartig und ziellos, wie die Vorderläufe einer Gottesanbeterin, aber sie stand einfach nur da und starrte ihn an - als wartete sie auf etwas. Worauf? Daß er sich wehrte, zu fliehen versuchte vielleicht, damit sie ihr grausames Spiel fortsetzen konnte?

»Was ... was willst du?« stammelte Look. »Was willst du von mir? Wer hat dich geschickt?« Die Kreatur antwortete nicht. Sie konnte es nicht. Sie hatte keine Sprechwerkzeuge.

Und hätte sie sie besessen, hätte sie trotzdem nicht geantwortet. Es war kein Geschöpf, das zum Reden geschaffen war. Aber Look las die Antwort auf seine Frage überdeutlich in seinen schwarzen seelenlosen Augen.

»Es ... es war nicht meine Schuld«, stammelte er. »Was hätte ich denn tun sollen? Ich konnte nichts machen! Ich ... ich wäre doch selbst gekascht worden!« Das Geschöpf hob langsam den Arm. Seine rasiermesserscharfen Klauen glitten über Looks Brust und schlitzten seine Kleider auf, ohne die Haut darunter auch nur zu berühren, setzten ihren Weg fort, berührten sein Kinn, seinen Mund und seine Wangen so sanft wie Schmetterlingsflügel und tupften seine Augenlider, um sich dann wieder zurückzuziehen. Aber dieses Geschöpf war nicht gekommen, um Gnade walten zu lassen. Diesen Begriff kannte es nicht einmal. Es zeigte ihm, was kommen würde.

»Aber es war doch nicht meine Schuld!« wimmerte Look. »Was sollte ich denn tun? Ich ... ich wollte doch nicht in den Bau! Bitte!« Er wimmerte, flehte, bettelte um sein Leben, aber er wußte auch, daß es vergebens sein würde. Die Kreatur hob erneut ihre fürchterliche Klaue, und diesmal teilte sich sein Fleisch, und warmes, rotes Blut lief über seinen Bauch und seine Lenden. Look kreischte vor Schmerz, warf sich nach hinten und kippte mit weit ausgebreiteten Armen über das Treppengeländer.

Er stürzte fünf Etagen weit in die Tiefe und landete genau auf dem Kinderwagen, den er vorhin selbst an die richtige Stelle befördert hatte, und dessen Kanten und Spitzen nun endlich etwas zum Aufspießen gefunden hatten. Der Krankenwagen, den ein aufgeregter Hausbewohner gerufen hatte, kam acht Minuten später, und die entsetzten Rettungssanitäter mußten feststellen, daß der Mann in dem zertrümmerten Kinderwagen nicht nur noch am Leben, sondern bei vollem Bewußtsein war.

Der Transport ins nächste Krankenhaus nahm weitere elf Minuten in Anspruch, und es vergingen noch einmal vier Minuten, ehe zwei leichenblasse Krankenpfleger das wimmernde Bündel auf einen OP-Tisch legten, wo es endlich seinen letzten Atemzug tat.

Die alttestamentarische Gerechtigkeit, die der Seele Azraels eingehaucht war, hatte Genugtuung erfahren.

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