23


Die Hände des Mannes zitterten immer noch, als er Nördlinger den Becher zurückgab. Er hatte sich einen Gutteil des brühheißen Kaffees über die Finger und die Uniform geschüttet, anscheinend ohne es auch nur zu bemerken, und sein Gesicht hatte in den letzten Minuten noch mehr Farbe verloren, obwohl er schon kreidebleich gewesen war, als Nördlinger ihn getroffen hatte.

Der Anblick erschütterte Kriminalrat Nördlinger weit mehr, als irgendeiner der Anwesenden ahnen mochte. Nördlinger wußte natürlich sehr genau, was die meisten seiner Untergebenen von ihm dachten: Er galt als paragraphenreitender Pedant, der mit der Dienstvorschrift unter dem Kopfkissen schlief und so gut wie keine Gefühle kannte, und er pflegte diesen Ruf, so gut es ihm möglich war - auch wenn er nicht stimmte. So mancher seiner Leute hätte sich gewundert, hätte er gewußt, wie oft er schon alle Hände über sie gehalten hatte, um ihnen die gewissen Freiheiten zu ermöglichen, ohne die eine effiziente Polizeiarbeit nun einmal nicht möglich war, und wie oft er selbst seine Dienstvorschriften schon so weit gebeugt hatte, daß es knirschte. Und er hatte Gefühle, verdammt noch mal. Einen fünfzigjährigen Mann, der zwei Drittel seines Lebens bei der Berufsfeuerwehr verbracht hatte, vor Entsetzen zitternd auf dem Bürgersteig vor sich sitzen zu sehen, das berührte ihn sehr wohl. Er wußte, was diese Leute manchmal zu sehen bekamen.

»Soll ich Ihnen noch einen Kaffee holen?« fragte er. Der Feuerwehrmann machte eine Bewegung, die Nördlinger mit einiger Fantasie zu einem Kopfschütteln rekonstruierte.

»Nein«, sagte er schwach. »Es geht schon wieder. Danke.« Das war eine glatte Lüge. Dem Mann war speiübel. Er kämpfte nur noch mit letzter Macht um seine Beherrschung. Nördlinger ließ es jedoch dabei bewenden, verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und drehte den Plastikbecher unschlüssig in den Händen, während er sich herumdrehte. Einen Moment lang wußte er nicht, wohin damit. Dann wurde ihm bewußt, wo er war, und er ließ das Trinkgefäß achtlos fallen. Normalerweise widerstrebte es ihm zutiefst, Abfall einfach auf den Boden fallen zu lassen. Aber der Hausflur sah sowieso aus wie ein Schlachtfeld. Absurderweise hatte er trotzdem ein schlechtes Gewissen; um ein Haar hätte er sich wieder gebückt und nach einem Abfalleimer gesucht.

Als er sich wieder herumdrehte, streifte sein Blick jedoch einen der beiden mit schwarzer Plastikfolie zugedeckten Körper, die auf der anderen Seite des Korridors lagen. Er hatte das, was darunter lag, nur mit einem einzigen flüchtigen Blick gestreift, und allein die Erinnerung daran reichte, um auch in seinem Magen eine leichte Übelkeit wachzurufen.

Mit schnellen Schritten ging er los und steuerte den Ausgang an. Unter seinen Schuhen knirschte zerbrochenes Glas und in der Hitze spröde gewordenes Plastik. Ein verbogenes Metallstück flog klappernd davon. Plötzlich hatte er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Der Geruch von verbranntem Kunststoff und verschmortem Fleisch vermengte sich zu einem Gestank, der ihm den Atem nahm. Er mußte hier raus. Sofort. Wäre er allein gewesen, wäre er gerannt.

Kriminalrat Nördlinger war jedoch alles andere als allein. Außer ihm und dem bedauernswerten Feuerwehrmann (der sich genau in diesem Moment würgend hinter ihm erbrach - soviel zu seiner Versicherung, daß alles in Ordnung sei) hielten sich im Moment zwar nur zwei weitere Feuerwehrmänner hier drinnen auf, die die Trümmer beiseite räumten und nach versteckten Brandherden suchten, aber der Bürgersteig und die Straße vor dem Gebäude wimmelte nur so von Menschen: Polizeibeamten, Feuerwehrmännern, Rettungssanitätern und ungefähr zwei Dutzend Hausbewohnern, die die Feuerwehr vorsorglich evakuiert hatte, bevor klar wurde, wie schnell sie den Brand unter Kontrolle bringen würden. Und natürlich jede Menge Schaulustige.

Ein blauer Lichtblitz flammte auf, und Nördlinger verlängerte seine Liste in Gedanken. Und ein paar Journalisten, wie nicht anders zu erwarten war. Man konnte einen Tatort zumauern, sie fanden immer einen Weg. Als Nördlinger das Gebäude verließ, kam ihm ein uniformierter Polizeibeamter mit einem dampfenden Plastikbecher in der Hand entgegen. Ein fürsorglicher Hausbewohner hatte Kaffee gekocht, den er jetzt verteilte. Der Mann erkannte ihn, erschrak ein ganz kleines bißchen und änderte dann abrupt seine Richtung. Allerdings nicht schnell genug, daß Nördlinger nicht den Weinbrand gerochen hätte, den der gleiche fürsorgliche Hausbewohner offensichtlich in den Kaffee gemischt hatte. Normalerweise hätte Nördlinger eine solche Verfehlung nicht geduldet und wäre sofort energisch eingeschritten - aber was war an diesem Tag schon normal? Er tat so, als hätte er nichts gemerkt und ging schnell weiter.

Seine Männer waren damit beschäftigt, die Hausbewohner zu vernehmen und ihre Aussagen niederzuschreiben, aber Nördlinger glaubte nicht, daß außer einer Menge überflüssigen Papierkrams viel dabei herauskommen würde. Den einzigen Zeugen, der wirklich etwas gesehen hatte, hatte er selbst befragt. Und was die Besatzung der beiden Streifenwagen anging, die als erste vor Ort gewesen waren...

Nein, daran wollte er im Moment nicht denken. Morgen früh würde sich ein Polizeipsychologe mit ihnen unterhalten.

Er holte sich auch einen Kaffee (mittlerweile schien sich auch unter den Hausbewohnern herumgesprochen zu haben, wer er war: Sein Kaffee war pur), nippte daran und schlenderte fast ziellos weiter, als ihm ein Journalist den Weg vertrat. Nördlinger hätte die Kamera und den kleinen Kassettenrecorder gar nicht sehen müssen, den er ihm unter die Nase hielt, um ihn zu erkennen.

»Sie sind doch Kriminalrat Nördlinger, nicht wahr?« fragte der Mann. »Ich erkenne Sie.« Nördlinger nippte an seinem Kaffee und ging schweigend weiter. Natürlich folgte ihm der Reporter.

»Was ist hier passiert?«

»Es hat gebrannt«, antwortete Nördlinger einseitig.

»Kommen Sie, Herr Kriminalrat!« sagte der Journalist. »Wegen eines kleinen Feuers kommt doch ein Mann wie Sie nicht morgens um fünf hierher! Noch dazu mit der halben Berliner Polizei.«

»Also gut«, sagte Nördlinger, »ich will Ihnen die Wahrheit sagen: Jemand hat sich hier einen besonders aufdringlichen Reporter vorgeknöpft, ihm beide Beine und Arme gebrochen, ihn in zwei Stücke geschnitten und angezündet. Ich weiß allerdings nicht, in welcher Reihenfolge. Vürfels!«

Das letzte Wort hatte er gebrüllt. Es vergingen kaum fünf Sekunden, bis der Gerufene vor ihm auftauchte und ihn fragend ansah. Nördlinger deutete auf den Journalisten. »Nehmen Sie diesen Kerl fest!« sagte er.

»Warum?« fragte Vürfels.

»Keine Ahnung«, gestand Nördlinger. »Denken Sie sich etwas aus. Und...« Er nahm dem vollkommen fassungslosen Reporter den Kassettenrecorder aus der Hand, nahm die Kassette heraus und zertrat sie mit dem Absatz. »...geben Sie ihm zwei Mark für eine neue Kassette.« Er ging weiter, ohne den verwirrt dreinblickenden Journalisten und den kaum weniger hilflosen Vürfels auch nur noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Er wußte selbst nicht, warum er das getan hatte. Vürfels würde den Mann natürlich nicht festnehmen, sondern ihn irgendwie beruhigen, aber darauf kam es nicht an. Er fühlte sich einfach besser.

Nördlinger ging langsam auf seinen Wagen zu, blieb aber zwanzig Schritte davor stehen und musterte die schattenhafte Gestalt, die auf dem Rücksitz zu erkennen war. Vater Thomas war nicht besonders begeistert gewesen, als Nördlinger ausstieg und er feststellen mußte, daß sich die Wagentür nicht von innen öffnen ließ. Er wäre wahrscheinlich noch sehr viel weniger begeistert gewesen, hätte er gewußt, daß er sich im Moment ihrer Ankunft hier als mehr oder weniger verhaftet betrachten konnte. Im Moment tendierte das Pendel zwar deutlich in Richtung weniger, aber Nördlinger fand, daß er ruhig noch ein bißchen schmoren konnte. Er hatte das Gefühl, daß dieser komische Heilige ihm noch lange nicht alles gesagt hatte.

Er nippte wieder an seinem Kaffee, drehte sich auf dem Absatz herum und ging auf einen der drei Krankenwagen zu, die auf der anderen Straßenseite geparkt waren. Es war der einzige Wagen, dessen Hecktüren geschlossen waren. Ein Polizeibeamter mit einer Maschinenpistole hielt davor Wache, und die Innenbeleuchtung des Wagens brannte.

Nördlinger öffnete die Tür, trat gebückt in den Wagen und zog sie sorgsam hinter sich wieder zu, ehe er sich herumdrehte. In dem Rettungswagen hielt sich im Moment kein Rettungssanitäter oder Arzt auf, sondern nur Meiler und ein knapp dreißigjähriger, breitschultriger Mann, dessen linker Arm in einer Schlinge hing. Die gut vierzig Zentimeter lange, spitze Glasscherbe, die der Arzt aus seinem Unterarm gezogen hatte, lag auf einem verchromten Tablett. Der Bursche mußte ziemlich hart sein. Hätte man Nördlinger ein solches Ding aus dem Arm gezogen, dann würde er jetzt bestimmt nicht dasitzen und genervt aussehen.

»Hat er schon geredet?« fragte er. Meiler wollte antworten, aber der andere kam ihm zuvor.

»Ich habe ein Loch im Arm, nicht in der Zunge«, sagte er. »Mein Name ist Jürgen Malchow. Ich arbeite für die Abteilung elf des Innenministeriums, und das ist alles, was Sie von mir erfahren werden. Wenn Sie mir nicht glauben, dann rufen Sie die Telefonnummer an, die ich Ihnen gesagt habe.« Nördlinger wußte, daß es keine Abteilung elf des Innenministeriums gab.

»Ich hasse Telefone«, sagte er. »Warum erzählen Sie mir nicht einfach, wer Sie sind und was hier wirklich passiert ist?«

»Weil Sie das nichts angeht.«

»Wissen Sie, wer ich bin?« fragte Nördlinger.

»Nein«, antwortete Malchow. »Und es interessiert mich auch nicht.«

»Das sollte es aber«, sagte Nördlinger. »Ich kann Sie nämlich durchaus einsperren lassen. Für einen Tag, eine Woche, einen Monat...« Er zuckte mit den Schultern. »Es liegt ganz bei Ihnen.«

»Nein«, antwortete Malchow. »Das können Sie nicht.« Er sah Nördlinger fest in die Augen. Nördlinger suchte vergeblich nach einer Spur von Überheblichkeit oder Unsicherheit in seinem Blick. Da war keines von beidem. Malchow war einfach ein Mann, der wußte, daß das, was er sagte, die Wahrheit war. Nördlinger konnte ihm nichts tun. Er würde so oder so in ein paar Stunden frei sein.

Nördlinger beschloß, seine Taktik zu ändern. »Hören Sie mir zu, Herr Malchow«, sagte er. »Ich könnte Ihnen Ärger machen, aber ich will es gar nicht. Ich will nur wissen, was hier passiert ist. Sie wissen es besser als ich.«

»Ich weiß gar nichts«, behauptete Malchow.

»Das glaube ich doch«, erwiderte Nördlinger. Seine Stimme wurde lauter, blieb aber freundlich. »Dort draußen liegt ein halbes Dutzend Toter! Jemand hat das halbe Haus in die Luft gesprengt, und die Zeugen erzählen mir eine vollkommen hirnrissige Geschichte von einer Fledermaus, die Menschen frißt. Auf dem Pflaster liegt genug verschossene Munition, um einen Kleinlaster zu füllen, und Sie haben eine Waffe mit leer geschossenem Magazin im Schulterhalfter! Und Sie wollen mir erzählen, daß Sie nicht wissen was hier passiert ist?«

»Rufen Sie die Nummer an«, sagte Malchow stur.

»Ich lasse Sie einsperren«, drohte Nördlinger. »Bei dem, was hier passiert ist, kann Sie keine Macht der Welt davor bewahren.«

»Sie müssen nicht telefonieren«, sagte Malchow. »Jemand wird Sie anrufen.«

Nördlinger seufzte. »Ich will einfach nur wissen, wo Braun ist«, seufzte er.

»Braun? Ich kenne niemanden, der so heißt.« Malchow massierte sein linkes Handgelenk und verzog das Gesicht.

»Sollte ich jemanden treffen, der so heißt, dann bitte ich ihn, Sie anzurufen.« Nördlinger begriff, daß das das äußerste Eingeständnis war, das er von Malchow erwarten konnte - eigentlich war es mehr, als er erwarten konnte. Er bedeutete Meiler mit Blicken, ihm zu folgen, dann verließ er ohne ein weiteres Wort den Krankenwagen und entfernte sich ein paar Schritte. Meiler folgte ihm.

»Lassen Sie ihn noch zehn Minuten schmoren, dann kann er gehen«, sagte Nördlinger.

»Aber...«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, unterbrach ihn Nördlinger. »Aber der Kerl hat leider recht, wissen Sie? Wir können ihm gar nichts.«

»Wir könnten ihn immerhin gegen Verstoß gegen das Waffengesetz festnehmen«, sagte Meiler. »Er hatte einen Schalldämpfer in der Tasche. Die Dinger sind verboten.« Das würde vermutlich wirklich ausreichen, um Malchow für einen oder zwei Tage schmoren zu lassen, überlegte Nördlinger. Für ein paar Sekunden fand er genug Gefallen an dem Gedanken, um Meiler nachzugeben. Aber dann schüttelte er den Kopf.

»Lassen Sie ihn laufen«, sagte er. »In zehn Minuten. Oder sogar in zwanzig. Und achten Sie darauf, daß ihm der Sanitäter kein Schmerzmittel gibt.«

Er ließ Meiler stehen und eilte mit jetzt sehr schnellen ausgreifenden Schritten auf seinen Wagen zu. Thomas spießte ihn mit Blicken regelrecht auf, als er sich neben ihr auf den Rücksitz fallen ließ, sagte aber nichts.

»Bevor Sie irgend etwas sagen«, begann Nördlinger »Ich will nichts von der Macht Gottes hören. Ich will auch nichts von der ewigen Verdammnis hören, von der Macht des Teufels oder himmlischen Fügungen, nichts von gottgesandten Plagen oder der Erbsünde. Ich will einfach nur wissen, was hier los war.«

»Ich hatte nicht vor, irgend etwas von alledem zu sagen«, sagte Thomas.

Nördlinger war ehrlich überrascht. »Nicht?«

»Das alles hier hat nichts mit Gottes Werk zu tun«, antwortete Thomas. »Und schon gar nicht mit seinem Willen. Für das, was hier passiert ist, sind allein Menschen verantwortlich.« Nördlinger war verwirrt - nicht einmal so sehr über Thomas' Worte, sondern in weit größerem Maße über das, was sie in ihm auslösten.

»Es ... fällt mir nicht ganz leicht, das zu akzeptieren«, sagte er. »Wir haben bisher sechs Tote gefunden, und wir sind noch nicht fertig mit suchen. Da draußen sitzen vier gestandene Polizeibeamte, die Stein und Bein schwören, sie hätten ein Ungeheuer gesehen, und einige der Leichen sehen aus, als wären sie von etwas angefallen worden, das ich mir nicht einmal vorzustellen wage. Und Sie wollen mir erzählen, das wäre alles ganz normal?«

»Ich habe nicht normal gesagt.« Thomas öffnete die Tür und stieg aus. Nördlinger kletterte ebenfalls aus dem Wagen. Thomas hatte sich mittlerweile schon ein paar Meter entfernt und ging auf den zertrümmerten BMW zu, der am Straßenrand stand.

Nördlinger hatte einen Beamten aufgestellt, um das Fahrzeugwrack zu bewachen, damit sich niemand daran zu schaffen machte. Der Mann wollte Thomas den Weg vertreten, aber Nördlinger schüttelte rasch den Kopf und schickte ihn mit einer entsprechenden Geste weg.

Thomas ging um das Fahrzeugwrack herum und blieb vor der zertrümmerten Kühlerhaube stehen. »Sehen Sie«, sagte er. Im ersten Moment sah Nördlinger nicht, was er meinte. Die gesamte Frontpartei des BMW war zermalmt; ein einziger Wust aus geborstenem Metall, aus dem noch immer Öl und Kühlmittel tropfte. Aber dann sah er es: In dem zerbeulten Metall gähnte eine Anzahl gleichmäßiger, dreieckiger Löcher, so regelmäßig angeordnet, als hätte sie eine Maschine hineingestanzt.

»Glauben Sie, daß das ein Mensch war?« fragte Thomas, hob die Hand und deutete auf das Dach des Wagens. »Oder das?« Das Wagendach war regelrecht aufgeschlitzt; ein vierzig Zentimeter langer, drei Finger breiter Riß mit nach außen gebogenen Rändern. Nördlinger versuchte sich vorzustellen, welche Art von Unfall eine solche Beschädigung verursachen konnte, aber es gelang ihm nicht. Dafür spürte er ein eisiges Frösteln wie eine Kolonne winziger Polarameisen sein Rückgrat hinunter laufen.

»Aber gerade haben Sie selbst gesagt...«

»Ich habe gesagt, es war Menschenwerk. Nicht, es war ein Mensch. Und das ist erst der Anfang, Herr Nördlinger. Das ist nichts gegen das, was geschehen wird, wenn wir Braun nicht finden.«

»Wie ... meinen Sie das?« fragte Nördlinger mühsam. Es war lächerlich. Thomas' Worte waren ... grotesk. Noch vor einer Stunde hätte er darüber gelacht. Jetzt erfüllten sie ihn mit einer Furcht, gegen die er einfach hilflos war. »Was soll das heißen?«

»Die Apokalypse«, antwortete Thomas. »Das jüngste Gericht - suchen Sie sich einen Begriff aus. Keiner wird ausreichen, das zu beschreiben, was geschehen wird, wenn wir Ihn nicht rechtzeitig finden. Gott hat sich etwas dabei gedacht, als er den Menschen nicht die Macht gegeben hat, Schicksal zu spielen. Es heißt Auge um Auge, Herr Nördlinger - aber auch nur ein Auge für ein Auge, ein Leben für ein Leben. Nicht mehr! Das geschieht, wenn Menschen die Macht haben, alles zu tun, was sie wollen. Wir müssen Bremer finden, schnell! Er ist vielleicht unsere letzte Chance, eine Katastrophe zu verhindern!«

»Aber ich weiß nicht, wo er ist, verdammt noch mal!« Nördlinger schrie fast. Dann drehte er sich langsam herum, blickte den Krankenwagen an, in dem Meiler noch für gut' zehn Minuten damit beschäftigt sein sollte, Malchow schmoren zu lassen - und schüttelte den Kopf. Es würde nicht funktionieren.

»Was haben Sie?« fragte Thomas. Er schien wirklich ein ausgezeichneter Beobachter zu sein.

»Nichts«, antwortete Nördlinger. »Ich überlege nur, ob ich lachen soll.«

»Lachen?«

»Über einen besonders guten Scherz, den sich das Schicksal gerade mit uns erlaubt.« Er drehte sich wieder zu Thomas herum. »Es gibt jemanden, der wahrscheinlich weiß, wo wir Bremer finden.«

»Dort drüben?« Thomas deutete mit dem Kopf auf den Krankenwagen, sah ihn einen Moment lang an, als zweifele er an seinem Verstand und setzte sich dann mit einem energischen Schritt in Bewegung.

Nördlinger hielt ihn am Arm zurück. »Das hat keinen Sinn«, sagte er.

»Aber gerade sagten Sie doch...«

»Daß es jemanden gibt, der wahrscheinlich weiß, wie wir Bremer finden, ja«, bestätigte Nördlinger. »Aber er wird es uns nicht verraten.« Thomas sah ihn an, und plötzlich erschien etwas Neues in seinen Augen; etwas, das Nördlinger um ein Haar dazu gebracht hätte, einen Schritt vor ihm zurückzuweichen.

»O doch«, sagte er leise. »Das wird er.«

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