13


Cremer wäre um ein Haar eingeschlafen, und das war nicht gut. Aus zwei Gründen: Der eine war, daß Braun es nicht besonders schätzte, wenn seine Leute während eines Einsatzes schliefen - selbst wenn dieser Einsatz nur darin bestand, eine menschenleere Straße zu bewachen, einen Friedhof und eine Kirche, die so aussahen, als wäre selbst Gott vor ungefähr fünfhundert Jahren daraus ausgezogen. Der andere - irrational, aber im Moment mindestens ebenso gewichtig - war, daß Cremer im Verlauf des Abends schon mehrmals kurz eingenickt war und während dieser stets nur Sekunden dauernden Schlafphasen Fetzen eines Alptraumes erlebt hatte, die übel genug waren, ihm keinen Appetit auf eine Fortsetzung zu machen.

Er sah auf die Uhr. Noch gute vier Stunden, bis sie abgelöst wurden. Eine Ewigkeit, aber auch wieder nicht so lange, daß sie nicht durchzustehen waren.

Cremer griff in die Tasche, tastete nach seinen Zigaretten und zog die Hand dann wieder zurück. Er hatte schon entschieden zuviel geraucht. Die Luft im Wagen war zum Schneiden dick, und selbst ihm als Kettenraucher fiel der üble Geruch auf, der sich in den Polstern eingenistet hatte. Außerdem hatte er ein unangenehmes Kratzen im Hals und leichte Kopfschmerzen. Wahrscheinlich war der übermäßige Nikotinmißbrauch auch der Grund für seine Alpträume.

Er ließ das Seitenfenster des BMW weiter herunterfahren und atmete die kalte Nachtluft in tiefen, schon fast gierigen Zügen ein. Es half nicht viel. Der dumpfe Druck zwischen seinen Schläfen blieb, und er begann zusätzlich noch zu frieren. Cremer zog eine Grimasse, schloß das Fenster wieder und griff nun doch nach seinen Zigaretten. Als er das Feuerzeug aus der Tasche zog, wurde die Beifahrertür aufgerissen, und Reinhold kam zurück. Er hatte eine Pinkelpause gemacht, die neunte oder zehnte in dieser Nacht. Entweder, dachte Cremer spöttisch, hatte er noch einen Nebenjob, von dem niemand wußte, oder er sollte dringend einen Urologen aufsuchen.

»Muß das sein?« nörgelte Reinhold, als er die Zigarettenpackung in Cremers Hand sah. »Hier drin stinkt's sowieso schon wie in einer Bahnhofskneipe.« Unter normalen Umständen wäre allein diese Bemerkung für Cremer Anlaß genug gewesen, sich jetzt erst recht eine Zigarette anzuzünden; zumal er Reinhold sowieso nicht leiden konnte. Irgendwie waren die Umstände in dieser Nacht aber nicht normal. Er war in außergewöhnlich versöhnlicher Stimmung, und das leise, aber permanente Hämmern zwischen seinen Schläfen gab Reinhold zusätzlich recht. Er sah ihn nur eine Sekunde stirnrunzelnd an, dann zuckte er mit den Schultern und steckte Zigaretten und Feuerzeug wieder ein.

Als er es getan hatte, tauchte das Scheinwerferpaar eines Wagens im Rückspiegel auf. In einer gottverlassenen Gegend wie dieser war das allein schon etwas Besonderes. Seit Reinhold und er ihre Wache angetreten hatten, hatten sie kaum mehr als ein Dutzend Fahrzeuge gesehen. Sie waren allesamt vorbeigefahren.

Dieser nicht. Der Wagen wurde langsamer, näherte sich dem rechten Straßenrand und verlor noch weiter an Geschwindigkeit, so daß Cremer schon glaubte, er würde unmittelbar hinter ihnen anhalten. Seine Gedanken begannen plötzlich zu rasen. Er wäre kein bißchen überrascht, wenn es Braun selbst wäre, der zu einer unangemeldeten Stippvisite vorbeikam. Braun war dafür bekannt, seine Leute manchmal in den unmöglichsten Augenblicken zu kontrollieren. Rasch ließ er seinen Blick über das Armaturenbrett vor sich streifen. Alles war in Ordnung. Das Funkgerät war auf Empfang geschaltet, Fernglas und Kamera lagen griffbereit da. Er hatte sich nichts vorzuwerfen.

Als er den Blick wieder hob, hatte sich das Scheinwerferpaar bis auf zehn Meter genähert. Im buchstäblich letzten Moment machte der Wagen einen Schlenker nach links und fuhr so dicht an ihnen vorbei, daß Cremer nicht überrascht gewesen wäre, hätten sich ihre Spiegel berührt. Neben ihm sog Reinhold erschrocken die Luft durch die Zähne und ließ sich im Sitz nach unten sinken, und Cremer reagierte blitzschnell (und wahrscheinlich trotzdem zu spät) und tat dasselbe. Seine Knie stießen schmerzhaft gegen das Lenkrad, und noch während er nach unten glitt, konnte er sehen, daß es sich bei dem anderen Wagen um ein Taxi handelte. Die Innenbeleuchtung war eingeschaltet, und der einzige Fahrgast saß vorne neben dem Fahrer und hatte das Gesicht in ihre Richtung gedreht.

»Scheiße!« fluchte Reinhold. »Wenn das unser Freund war, dann hat er uns erkannt.« Cremer hätte ihm gerne widersprochen, aber er konnte es nicht. Zum einen hatte Reinhold vollkommen recht, und zum anderen hing er in einer so unbequemen Lage im Sitz, daß er kaum noch Luft bekam.

Mit einiger Mühe arbeitete er sich wieder hoch, warf Reinhold einen zwar grundlosen, aber nichtsdestoweniger wütenden Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf den anderen Wagen. Das Taxi war mittlerweile mit permanent aufleuchtenden Bremslichtern weitergerollt und hatte sich bereits gute zwanzig Meter entfernt. Reinhold hatte recht, dachte er. Wenn Bremer in dem Taxi saß, dann mußte er sie einfach erkannt haben. Der BMW hatte getönte Scheiben, durch die man selbst bei Tageslicht nur schwer hindurchsehen konnte, aber allein der Wagen selbst fiel in einer Gegend wie dieser auf wie der sprichwörtliche bunte Hund. Braun würde toben.

Das Taxi rollte immer langsamer werdend weiter, machte einen plötzlichen Schlenker nach rechts, der sein Vorderrad garantiert unsanfte Bekanntschaft mit der Bordsteinkante schließen ließ, und wendete dann. Augenblicke später hielt der Wagen vor dem schmiedeeisernen Tor auf der anderen Straßenseite an. Die Beifahrertür ging auf.

Wieder reagierte Reinhold schneller als er. Er griff nach dem Feldstecher, schaltete den Rotlichtverstärker ein und setzte das Glas an, noch während Cremer sich mit dem sinnlosen Versuch abmühte, den Mann, der aus dem Taxi stieg, mit bloßem Auge identifizieren zu wollen. Zwei oder drei Sekunden verstrichen, dann sagte Reinhold: »Volltreffer. Mach Meldung.« Der Kerl sammelte allmählich gewaltig Minuspunkte, dachte Cremer. Wütend griff er nach dem Funkgerät, löste das Mikrofon aus seiner Halterung und drückte die Sprechtaste.

Das Schicksal meinte es an diesem Abend nicht gut mit ihm. Braun selbst war am anderen Ende der Leitung, und er meldete sich so schnell, als hätte er mit der Hand auf dem Sprechknopf auf seinen Anruf gewartet. Cremer blieb nicht einmal Zeit, sich ein paar wohlklingende Worte zu überlegen, um Braun sanftmütig zu stimmen. Verdammt, schlief dieser Kerl eigentlich nie?

»Ja?«

»Einheit vier«, sagte Cremer unbehaglich. »Das Zielobjekt ist gerade eingetroffen.« Er kam sich albern dabei vor. Seine Meldung entsprach den Vorschriften, war aber trotzdem ziemlich idiotisch. Die Frequenz, auf der sie redeten, war praktisch abhörsicher. Wer immer sich die Mühe machte, Technik im Wert von einer halben Million und genug Know-how aufzubieten, um der NASA Konkurrenz zu machen, nur um sie abzuhören, der würde auch wissen, worüber sie sprachen.

»Sind Sie sicher?« fragte Braun. Cremer nickte; keine besonders effiziente Antwort, wenn man ein Mikrofon in der Hand hielt. Nach einer Sekunde fügte er ein hastiges ›Ja‹ hinzu.

»Erstaunlich«, sagte Braun. »Ich hätte nicht zu hoffen gewagt, daß er es uns so leicht macht. Was tut er?«

»Er hat gerade das Taxi bezahlt und geht jetzt auf die Kirche zu«, antwortete Cremer. »Sehr langsam. Anscheinend ist er sich nicht sicher. Das Taxi fährt ab.«

»Können Sie die Nummer erkennen?«

Reinhold richtete sein Nachtsichtgerät auf das Taxi, folgte ihm für zwei oder drei Sekunden und sagte: »Siebenundfünfzig, neunzehn.« Cremer wiederholte die Nummer. Für eine oder zwei Sekunden herrschte Schweigen im Funkgerät, eine so vollkommene, totale Stille, daß sich Cremer nicht zum erstenmal die altmodischen analogen Geräte zurückwünschte, bei denen man wenigstens noch ein statisches Knistern hörte, nicht diese unheimliche, digitale Stille. Natürlich wußte er, was Braun in diesen zwei Sekunden tat. Er sorgte dafür, daß es morgen früh ein Taxi weniger in Berlin geben würde.

»Er geht hinein«, sagte Reinhold. »Ich kann nicht erkennen, ob ihm jemand aufgemacht hat. Er ist drinnen.« Cremer gab die Meldung an Braun weiter. Nach einer Sekunde des Zögerns (für die er sich selbst verfluchte) fügte er hinzu: »...noch etwas. Ich fürchte, er hat uns entdeckt.« Womit immer er gerechnet hatte, es geschah nicht.

Braun schwieg nur eine oder zwei quälende Sekunden, dann sagte er: »Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Bleiben Sie, wo sie sind. Ich bin auf dem Weg zu Ihnen. Wenn er die Kirche verläßt, bevor ich eintreffe, setzen Sie ihn fest.«

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