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Der Raum war objektiv gesehen groß, aber so hoffnungslos vollgestopft, daß er winzig wirkte, und Mecklenburg sich manchmal fragte, wie er und seine Kollegen eigentlich das Kunststück fertigbrachten, sich darin zu bewegen und zu arbeiten, ohne sich ununterbrochen gegenseitig auf die Füße zu treten oder sich die Ellbogen in Rippen oder Gesichter zu stoßen. Manchmal wurde das Gefühl von Enge so schlimm, daß er sich fast einbildete, nicht mehr richtig atmen zu können - was natürlich Unsinn war. Die Klimaanlage sorgte nicht nur für gleichmäßige einundzwanzig Grad Celsius, sondern auch für einen beständigen Zustrom frischer, sauerstoffreicher Luft. Diese Fürsorge galt zwar sehr viel mehr den sündhaft teuren elektronischen Geräten, mit denen das Labor ausgestattet war als seinem lebenden Inventar, wurde aber vielleicht gerade deshalb peinlich genau eingehalten.

Was nichts daran änderte, daß es Mecklenburg manchmal schwerfiel, seine Klaustrophobie weit genug im Zaum zu halten, um sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Es gab Tage, an denen glaubte er, das Gewicht der ungezählten Tonnen Erdreich und Stein direkt körperlich zu fühlen, die auf der Gewölbedecke lasteten, und unabhängig von allem, was er sah und wußte, spürte er ganz deutlich, daß die Luft mit jedem Atemzug wärmer und sauerstoffärmer wurde.

Heute war einer dieser Tage. Seine Hände zitterten ganz leicht, während er die Feinjustierung eines der zahlreichen Kontrollgeräte überprüfte, die seinen Arbeitsplatz einrahmten und ihm manchmal das Gefühl gaben, sich in der Kulisse eines aufwendigen Science-fiction-Films zu befinden, nicht in einem geheimen Forschungslabor dreißig Meter unter den Straßen Berlins! Seine Augen brannten, und er hatte Mühe, frei zu atmen, Klimaanlage und computerüberwachter Sauerstoffgehalt hin oder her. Einer der Gründe dafür war zweifellos, daß Professor Dr. Hermann Mecklenburg tatsächlich unter einer milden Form von Klaustrophobie litt, der andere war höchst profan: Er war vollkommen übermüdet und am Ende seiner körperlichen und geistigen Kräfte. Es war sechsunddreißig Stunden her, daß er das letztemal geschlafen hatte, und er wagte nicht einmal darüber nachzudenken, wie lange es noch dauern würde.

»Es geht wieder los.«

Mecklenburg benötigte eine geschlagene Sekunde, um zu begreifen, daß die Worte seines Assistenten ihm galten, und eine zweite, um darauf zu reagieren. Es gab allerdings nicht allzu viel, was er tun konnte, abgesehen vielleicht von einem fast resignierenden Blick über die vielfältige Anordnung von Monitoren und Überwachungsinstrumenten vor sich. Er seufzte. Computer waren ja eine wunderschöne Sache, eine Erfindung, die sein und die Leben all seiner Kollegen um so vieles leichter gemacht hatte. Aber selbst diese Wundermaschinen hatten ihre Grenzen. Und die hatten sie offensichtlich erreicht.

Er ließ seinen Blick zum zweitenmal über die Computermonitore und Skalen schweifen, kam zu dem gleichen Ergebnis wie beim erstenmal, nämlich, daß nichts von dem, was er sah, auch nur die Spur von Sinn zu ergeben schien, und stand auf. Sein Rücken tat weh. Obwohl sich die Gewölbedecke gute zwei Meter über seinem Kopf befand, hatte er das Gefühl, sich nicht ganz aufrichten zu können, und die Luft, die er einatmete, war wärmer geworden, ganz egal, was das Thermometer behauptete. Außerdem hatte er leichte Kopfschmerzen.

Mecklenburg reckte sich ausgiebig, massierte einige Sekunden lang mit Fingerspitzen und Daumen seine verspannten Nackenmuskeln und schlängelte sich dann aus dem Kommandopult heraus. Der schmale Gang, auf den er trat, bot kaum mehr Bewegungsfreiheit. Er warf seinem Assistenten - einem von vieren, die momentan zusammen mit ihm hier unten arbeiteten - einen fragenden Blick zu, erntete ein ebenso wort- wie hilfloses Achselzucken und drehte sich dann in die entgegengesetzte Richtung. Die Wand, auf die er nun blickte, bestand als einzige hier unten nicht aus einem überladenen Durcheinander aus Monitoren, Aufzeichnungs- und Überwachungsgeräten, Schalttafeln und Skalen, sondern einer fast deckenhohen Glasscheibe.

Der Raum dahinter war das genaue Gegenteil des vollgestopften Labors, in dem Mecklenburg und seine vier Assistenten arbeiteten. Die Beleuchtung war auf ein Minimum reduziert, so daß sich die Scheibe aus drei Zentimeter dickem Panzerglas in einen schwarzen, halb durchsichtigen Spiegel verwandelt hatte, aus dem Mecklenburg sein eigenes Konterfei entgegenblickte. Er sah so aus, wie er sich fühlte: bleich und hohlwangig, mit dunklen Ringen unter den Augen und strähnigem Haar. Mecklenburg kannte den Raum hinter der Scheibe jedoch so gut, daß er kein Licht brauchte, um jedes noch so winzige Detail zu sehen Der Raum war fast so groß wie das Labor, aber nahezu leer. Die Wände bestanden aus einem glatten weißen Kunststoffmaterial, das um etliches widerstandsfähiger als Stahl war, und die einzige Tür, die in die Isolationskammer hineinführte, hätte dem Beschuß eines Schiffgeschützes standgehalten. Der Raum konnte auf Knopfdruck wahlweise mit Giftgas geflutet, binnen zehn Sekunden auf achthundert Grad Celsius erhitzt oder luftleer gepumpt werden, und Mecklenburg war ziemlich sicher, daß dasselbe auch für das Labor galt, in dem er und seine Mitarbeiter sich aufhielten - auch wenn die Leute, für die sie arbeiteten, das nicht zugaben. Niemand konnte ihnen vorwerfen, daß sie nicht alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen hätten.

Und trotzdem fragte er sich immer öfter, ob sie auch wirklich ausreichten.

Er blieb so dicht vor der Scheibe stehen, daß er den kühlen Hauch auf dem Gesicht spüren konnte, der von dem molekularverstärkten Glas ausging, zögerte einen Moment und berührte dann einen Schalter an der Wand neben der Scheibe. Sein Spiegelbild erlosch, als die Leuchtelemente den Raum auf der anderen Seite des Glases in schattenloses, gelbes Licht badeten. Die Lampen sollten angeblich perfekt das Sonnenlicht imitieren, aber Mecklenburg fand, daß sich ihr Schein in letzter Zeit verändert hatte. Die Farbe erinnerte ihn mehr an brennenden Schwefel.

Natürlich war das Unsinn. Mecklenburg rief sich in Gedanken zur Ordnung. Das Licht dort drüben sah so aus, wie es immer ausgesehen hatte. Das einzige, was sich hier verändert hatte, war er.

Er hörte Schritte und erkannte an ihrem Rhythmus, daß es Grinner war, ohne den Blick von dem schwarzen Sarkophag auf der anderen Seite der Scheibe nehmen zu müssen. »Irgend etwas Neues?«

»Unverändert«, antwortete Grinner. »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, daß er sich in einer sehr tiefen REM-Phase befindet. Aber die Werte stimmen einfach nicht. Ich versteh' das nicht!«

»Da befinden Sie sich in guter Gesellschaft, Matthias«, antwortete Mecklenburg. »Ich verstehe es ebenso wenig. Niemand versteht es. Aber aus diesem Grund sind wir ja hier, nicht wahr? Um das Rätsel zu lösen.« Grinner schnaubte zur Antwort, versenkte die rechte Hand in die Kitteltasche und zog sie dann leer wieder heraus. Mecklenburg lächelte, nahm seine eigenen Zigaretten aus der Tasche und wartete, bis sein Assistent sich bedient hatte, ehe auch er sich eine Zigarette anzündete und den Rauch ganz bewußt in Richtung des Schildes RAUCHEN VERBOTEN blies, neben dem er stand. Manchmal hatte es eben doch seine Vorteile, Chef zu sein.

»Seine Hämostaphin-Werte sind schon wieder gestiegen«, sagte Grinner nach einer Weile. »Wenn die Steigerungsrate so bleibt, bekommen wir bald ernsthafte Probleme. Ich kann den Ascarin-Anteil nicht beliebig weiter rauffahren. Früher oder später bringt ihn das um.«

Vielleicht wäre das das Beste, was uns passieren kann, dachte Mecklenburg. Natürlich hütete er sich, den Gedanken laut auszusprechen - auch wenn er fast sicher war, daß Grinners Gefühle in eine ähnliche Richtung gingen. Das ... Ding da drüben machte ihm angst. Und nicht nur ihm. Und er war nicht einmal mehr sicher, ob sie Haymar wirklich töten konnten. Er war ja nicht einmal mehr sicher, ob das, was in dem zweieinhalb Meter langen, schwarz verchromten Sarkophag auf der anderen Seite der Glasscheibe lag, wirklich noch ein Mensch war.

Mecklenburg begriff die Gefahr, die in diesem Gedanken lag, und bemühte sich mit aller Kraft, ihn zu durchbrechen. Allerdings mit wenig Erfolg. Ganz im Gegenteil begannen seine Gedanken auf immer sonderbareren Wegen zu wandeln, und auch das nicht zum erstenmal.

Noch vor einem Jahr hätte er über das, was ihm jetzt immer öfter durch den Kopf ging, laut gelacht, oder aber verständnislos den Kopf geschüttelt. Aber vor einem Jahr war er auch noch ein anderer Mensch gewesen. Damals hatte er noch geglaubt, Dinge zu wissen. Jetzt...

Professor Mecklenburg war eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Er war nicht einfach nur gut; er war der Beste, und er war sich dieser Tatsache auch stets bewußt gewesen, ohne irgendeine Spur von Arroganz oder Überheblichkeit. Aus keinem anderen Grund hatte man ihm diese Arbeit angeboten. Es war eine Aufgabe, die schlichtweg den Besten erforderte, und eine Herausforderung, der er sich damals nicht hatte entziehen können.

Aber statt zu lernen, hatte er zu zweifeln begonnen. Es war, als ginge er den Weg des Wissenschaftlers in genau umgekehrter Richtung. Mit jedem Tag, den er hier unten verbrachte, schien sein Wissen ein winziges bißchen abzunehmen, statt zu wachsen, und gleichzeitig wurde sein Verständnis für Zusammenhänge und Kausalität geringer. Die Männer, die ihn hierhergebracht hatten (und die ihn für seine Arbeit unglaublich gut bezahlten, nebenbei bemerkt), erwarteten keine Wunder von ihm, aber Antworten. Doch alles, was er ihnen sagen konnte war, daß mit Haymar irgend etwas geschah. Und daß sie vielleicht gut daran täten, Angst davor zu haben.

Er konnte sich nicht vorstellen, daß Braun oder Treblo - oder wie auch immer er wirklich hieß - sich auf Dauer mit dieser Art von Antwort zufriedengeben würde. Wahrscheinlich nicht einmal mehr sehr lange. Mecklenburg brach den Gedanken mit einer neuerlichen, noch bewußteren Anstrengung ab, nahm einen letzten Zug aus seiner Zigarette und trat den Stummel mit der Schuhspitze aus. Er unterdrückte ein Gähnen, während er auf die Armbanduhr sah.

»Es ist nach eins, Professor«, sagte Grinner überflüssigerweise. »Warum legen Sie sich nicht wenigstens eine oder zwei Stunden hin? Niemandem ist damit gedient, wenn Sie zusammenklappen. Ich rufe Sie sofort, wenn sich hier irgend etwas Außergewöhnliches tut. Selbst wenn er nur hustet.«

Das wäre in der Tat etwas Außergewöhnliches, dachte Mecklenburg spöttisch. Der Mann in dem stählernen Sarkophag hatte vor einem halben Jahr das letztemal geatmet. »Sie haben recht, Matthias«, sagte er - fast gegen seinen Willen. Aber Grinners Worte hatten seine Müdigkeit erst richtig geweckt, und in einem Punkt hatte er vollkommen recht: Niemandem war damit gedient, wenn er im entscheidenden Moment vor Erschöpfung aus den Latschen kippte. »Ich gehe nach nebenan und lege mich hin. Aber Sie rufen mich, sobald irgendeines dieser Geräte hier auch nur piep macht.«

»Versprochen«, sagte Grinner. Im gleichen Moment, in dem sich Mecklenburg auf dem Absatz umwandte, um zur Tür zu gehen, drehten sämtliche Computer im Labor zugleich durch.

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