Bremer wartete gerade lange genug, damit Braun die Tür hinter sich schließen konnte, dann fuhr er so heftig in seinem Stuhl herum, daß einer der Männer hinter ihm eine erschrockene Bewegung machte, bevor ihm klar wurde, daß Bremers Reaktion nicht der Anfang eines Fluchtversuches war.
»Wer zum Teufel bist du?« Er schrie nicht wirklich, war aber nur noch eine Winzigkeit davon entfernt. »Und versuch erst gar nicht, mir eine neue rührselige Geschichte zu erzählen, oder mich zu belügen, wie Braun!«
»Wie kommst du darauf, daß ich dir überhaupt etwas sage?« fragte Angela. Sein Wutausbruch irritierte sie nicht im geringsten. Sie verdrehte die Augen, um auf die Männer hinter sich zu deuten, und natürlich war Bremer klar, daß die beiden jedes Wort hören mußten. Es war ihm gleich. Vermutlich war das Zimmer sowieso mit Wanzen gepflastert.
»Ich will wissen, wer du bist«, beharrte er. »Das bist du mir schuldig.«
»Wieso?« fragte Angela. »Nur weil du dich an diesen Wahnsinnigen verkauft hast, um mich zu retten? Ich habe dich nicht darum gebeten. Außerdem ist es sowieso sinnlos. Du glaubst doch nicht wirklich, daß er mich laufen läßt oder? Oder gar dich?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »So naiv kannst du nicht sein.«
»Sag es mir«, beharrte Bremer. »Ist es so, wie Braun vermutet? Arbeitest du für die Amerikaner oder die Russen? Oder irgendeinen anderen Geheimdienst? Hast du mich benutzt, um an das Geheimnis heranzukommen?« Angela setzte zu einer heftigen Antwort an, überlegte es sich dann anders und stand auf. Bremer rechnete damit, daß ihre Bewacher sie daran hindern würden. Als die beiden Männer sich nicht rührten, stand er ebenfalls auf und folgte Angela, die mittlerweile zum Fenster gegangen war und in die Nacht hinausstarrte.
Bremer trat neben sie. Angelas Gesicht spiegelte sich verzerrt auf dem Glas der Fensterscheibe, nur ein heller Fleck auf dem schattendurchsetzten Schwarz, als das Klinikgelände und der Park unter ihnen lagen, und für einen Moment erschien ihm dieser Schemen so verletzlich, so schützenswert, daß er um ein Haar den Arm um sie gelegt hätte. Aber er wagte es nicht. Er wußte nicht, was geschehen würde, wenn er sie berührte.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, fragte Angela: »Es ist wahr, nicht?«
»Was?«
»Was Braun behauptet hat. Du hast dich in mich verliebt.«
Warum war ihm das eigentlich peinlich? »Ich könnte dein Vater sein«, sagte er.
»Bist du aber nicht. Aber es hätte keinen Zweck, glaub mir Wir sind zu verschieden. Ich mag dich auch, aber wir ... stammen aus verschiedenen Welten. Es würde nicht gutgehen.«
Bremer antwortete nicht, und nachdem fast eine Minute verstrichen war, sagte Angela: »Mein Name ist wirklich Angela West. Aber das ist auch so ziemlich alles, was stimmt. Ich bin keine Polizistin. Und ich arbeite auch nicht für den CIA oder irgendeinen anderen Geheimdienst. Ich bin ... ich war Marcs Freundin.«
»Marc...?!«
»Marc Sillmann, ja«, sagte Angela. »Wir waren auf dem gleichen Internat. Falls wir lebend hier herauskommen, kannst du dort anrufen und den Direktor nach mir fragen. Er wird sich an mich erinnern.« Sie lachte. Bitter. »Er hat mich mehr als einmal mitten in der Nacht aus Marcs Zimmer geworfen, und umgekehrt.«
»Marcs Freundin?« wiederholte Bremer ungläubig. »Und du hast das alles einfach so geschafft? All diese Dinge herausbekommen, dir eine falsche Identität aufgebaut...?«
»Wer sagt, daß es einfach war?« fragte Angela. »Ich habe fünf Jahre dazu gebraucht. Aber es war auch nicht so schwer, wie du vielleicht glaubst. Ich habe Informatik studiert. Computer waren schon immer mein Hobby, schon bevor ich Marc kennengelernt habe. Es ist nicht unbedingt leicht, hineinzukommen. Aber wenn man einmal drinnen ist, kann man fast alles tun. Sich eine neue Identität aufzubauen, ist eine Kleinigkeit.«
»Aber warum?«
»Warum?« Angela starrte ihn ungläubig an. »Weil ich ihn geliebt habe. Kannst du das nicht verstehen?«
Wenn es jemand verstehen konnte, dann er. Bitterkeit machte sich in ihm breit.
»Und wieso ich?«
»Du warst meine einzige Spur. Ich wußte nicht, daß es noch andere Überlebende gab. Und ich wußte erst recht Nichts von diesem ... Braun und seiner Bande.«
»Vielleicht ist es doch nicht so leicht, Polizei zu spielen«, sagte Bremer. Er war nicht sicher, ob er ihr glaubte oder nicht. Ihre Geschichte klang schlüssig - nicht unbedingt überzeugend, aber schlüssig -, doch jetzt war es so, daß er ihr eigentlich nicht glauben wollte. Wenn diese Version nun die Wahrheit war, dann war sie einfach zu ernüchternd.
»Ich bin doch ziemlich weit gekommen, oder?« fragte Angela. Leiser, in einem Flüsterton, den er kaum verstand und ohne die Lippen zu bewegen, fügte sie hinzu: »Wir müssen etwas unternehmen. Schlag mich.«
»Wie?« fragte Bremer verständnislos.
»Du hast mich schon verstanden, du Mistkerl!« Jetzt schrie sie fast. Bremer widerstand der Versuchung, sich zu ihren beiden Bewachern herumzudrehen, aber er sah in der Reflexion in der Fensterscheibe, wie sie zusammenfuhren und plötzlich aufmerksam in ihre Richtung blickten.
»Das ist doch Wahnsinn!« antwortete er, ebenfalls laut. »Du weißt, daß das sinnlos ist!«
»Das hättest du dir vielleicht etwas eher überlegen sollen!« schrie Angela. »So kommst du mir jedenfalls nicht davon!« Sie schlug nach ihm. Die Bewegung war ungelenk und langsam, verglichen mit dem, was er in der Nacht gesehen hatte, trotzdem objektiv schnell. Bremer fing ihre Hand im letzten Moment ab. Er spürte, daß keine Kraft hinter dem Schlag steckte.
»He, ihr zwei!« sagte einer der Agenten. »Hört auf.« Bremer sah, wie sich einer der Männer langsam in Bewegung setzte. Leider nur der eine.
Angela riß ihre Hand los, schlug zugleich mit dem anderen Arm nach ihm und versuchte, ihm das Knie zwischen die Beine zu rammen. Bremer wehrte beide Angriffe ab, packte ihre Handgelenke und versetzte ihr einen leichten Stoß. Er hätte allenfalls ausgereicht, sie zwei oder drei Schritte von sich zurücktaumeln zu lassen, nicht mehr, aber Angela verlor auf der Stelle das Gleichgewicht, torkelte nach hinten und stürzte schwer zu Boden.
»Schluß jetzt!« schrie der Agent. Er rannte auf Bremer zu. Obwohl er nur drei Schritte von ihm entfernt war und Angela in diesem Moment noch am Boden lag, war sie schneller als er. Als der Agent Bremer erreichte und den Arm ausstreckte, um ihn zu packen, federte Angela mit einem einzigen Satz in die Höhe und sprang ihn an. Bremers Reaktion kam zu spät. Trotz des Gewichtsunterschieds riß sie den Mann nach vorne und von den Füßen. Bremer wurde einfach mitgerissen, schaffte es irgendwie, nicht mit dem Kopf auf die Schreibtischkante zu knallen und sah, wie Angela und der Agent aneinandergeklammert über den Teppich rollten. Noch bevor er sich ganz hochgerappelt hatte, lösten sie sich wieder voneinander. Angela sprang hoch und zurück ... und hielt plötzlich die Waffe des Agenten in den Händen. Bremer hatte nicht einmal gesehen, wie sie sie ihm aus dem Schulterhalfter gerissen hatte.
Der Agent offenbar auch nicht, denn er machte eine Bewegung, um sich auf ein Knie und dann in die Höhe zu stemmen und erstarrte dann mitten in der Bewegung, als Angela ihm seine eigene Waffe an die Stirn setzte. »Versucht es nicht«, sagte sie. »Alle beide! Ich weiß, wie schnell ihr seid. Aber ich bin schneller.« Bremer wußte, daß das der Wahrheit entsprach, und die beiden Agenten schienen zumindest nicht ganz sicher zu sein, daß es nicht so war. Der, den Angela mit der Waffe bedrohte, wagte es nicht einmal zu atmen, und auch der andere zögerte. Er hatte die Hand unter die Jacke geschoben, um seine Waffe zu ziehen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende.
»Hört mit dem Unsinn auf«, sagte er. »Ihr kommt sowieso nicht hier heraus.« Das war wohl auch der Grund, aus dem er und sein Kollege nicht allzu ernsthaft versuchten, sich ihnen zu widersetzen. Warum sollten sie auch riskieren, sich eine Kugel einzufangen, wenn das, was Bremer und Angela taten, ohnehin zum Scheitern verurteilt war?
»Nimm seine Waffe«, sagte Angela. Bremer ging um den Schreibtisch herum, aber er beging nicht den Fehler, in die Reichweite des Mannes zu kommen, sondern machte nur eine auffordernde Geste. Der Mann sah ihn eine Sekunde lang trotzig an, dann zog er seine Waffe aus dem Schulterhalfter und warf sie Bremer vor die Füße. In seinen Augen blitzte es dabei triumphierend auf, und Bremer begriff, daß ihr Fluchtversuch wahrscheinlich jetzt schon entdeckt worden war.
Während er die Waffe aufhob, wich Angela rasch zwei Schritte von dem anderen zurück und bedeutete ihm mit einer Geste, aufzustehen. »Und jetzt nehmt eure Handschellen und kettet euch an die Heizung.« Die beiden Männer gehorchten, wenn auch nicht annähernd so schnell, wie es Bremer lieb gewesen wäre. Nachdem sie sich nebeneinander in die Hocke herabgelassen und an den Heizkörper angekettet hatten, verlangte Angela ihre Schlüssel. Sie warfen sie ihr hin, und Angela kickte sie mit einem Fußtritt davon.
»Und wenn ich jetzt noch eure Handys bekomme, dann bin ich schon wunschlos glücklich«, sagte sie.
Die beiden Telefone folgten den Schlüsseln in die entgegengesetzte Ecke des Raumes, und Angela ließ mit einem Ausdruck sichtbarer Erleichterung ihre Waffe sinken.
»Und jetzt?« fragte Bremer.
»Geh zur Tür«, befahl Angela. »Schnell.«
Bremer gehorchte. Als er den halben Weg zurückgelegt hatte, rief Angela: »Nach links!« und er machte einen raschen Schwenk in die angegebene Richtung. Kaum hatte er es getan, erscholl hinter ihm ein scharfer Knall. In der Tür erschien ein winziges, rundes Loch mit ausgefransten schwarzen Rändern, und auf der anderen Seite erklang ein gedämpftes Stöhnen, gefolgt von einem dumpfen, sonderbar weichen Aufprall.
Angela stürmte an ihm vorbei, sprengte die Tür mit einem Fußtritt auf und quetschte sich durch den Spalt. Die Tür ließ sich nicht richtig öffnen, denn der Mann, der auf der anderen Seite gestanden hatte, lag jetzt verkrümmt davor und preßte die Hand gegen die Schulter. Die Uzi war zu Boden gefallen und ein Stück weit davongeschlittert. Angela hob sie auf, schob sie unter den Gürtel und runzelte die Stirn, als sie herausrutschte und abermals zu Boden fiel. Nachdem sie sie wieder aufgehoben hatte, behielt sie sie in der Hand und steckte statt dessen die Pistole ein. Das ging. »Hilf mir!« Gemeinsam schleiften sie den Verletzten in Brauns Büro. Bremer sah jetzt, daß die Kugel seine rechte Schulter glatt durchschlagen hatte. Die Wunde blutete heftig, und der Mann war kaum noch bei Bewußtsein.
»Du hättest ihn umbringen können«, sagte er.
»Ich habe mir gemerkt, wo er stand«, antwortete Angela. »Und wenn er sich bewegt hätte?«
»Hat er aber nicht, oder?« Angela grub das Handy des Mannes aus, zertrat es unter dem Absatz und fesselte anschließend seine Hände mit den Handschellen auf den Rücken. Dann zog sie das Hemd des Mannes unter dem Gürtel hervor, riß ohne die geringste Mühe mehrere Streifen davon ab und legte ihm einen hastigen, aber äußerst professionell aussehenden Druckverband an.
»Hast du zufällig auch Medizin studiert?« fragte Bremer.
»Nein«, antwortete Angela. »Aber fernöstliche Kampfkunst. Man lernt dabei nicht nur Leute zusammenzuschlagen, weißt du?« Sie zog den letzten Knoten fest, begutachtete ihr Werk und schlug dem Mann leicht mit der flachen Hand ins Gesicht. »Verstehen Sie mich?« Der Mann stöhnte. Vielleicht war es wirklich eine Antwort, vielleicht nur eine automatische Reaktion auf die Berührung. Angela schien es jedenfalls zu genügen.
»Halten Sie durch«, sagte Angela. »Versuchen Sie, nicht das Bewußtsein zu verlieren. Ich schicke Ihnen einen Arzt.« Sie nickte und fügte an Bremer gewandt hinzu: »Schließlich ist das hier ein Krankenhaus.«
»Informatikstudentin, wie?« fragte Bremer. »Und was jetzt, du Studentin!«
»Jetzt«, antwortete Angela und deutete nach draußen, »kommt der richtig schwere Teil.«