Gegen Kälte und Erschöpfung


Ich erwachte.

Ich hatte jedes Gefühl für die Zeit verloren und wusste auch nicht, was in den letzten Stunden geschehen war. Ich steckte noch im Schlafsack, es war schwarz um mich herum, weil ich ihn über meinem Kopf geschlossen hatte. Trotzdem war es kalt – die Kälte hatte mich geweckt.

Vorsichtig streckte ich mich und schob die Hüllen beiseite.

Erst jetzt erinnerte ich mich: Das war die Spalte unter dem Eisblock, unter dem ich Zuflucht gefunden hatte. Dort, am Rand, hingen die Eiszapfen, darunter eine Lage angewehter Schnee. Hinter der schmalen frei gebliebenen Öffnung war es grau, und ich sah, wie Schnee vorüberwehte. Das Wetter hatte sich schon wieder geändert. Doch immer noch wehte der eisige Orkan.

Mir blieb nichts anderes übrig, als weiter in meinem Versteck zu bleiben. Der Aufenthalt in der engen Spalte war nicht gerade angenehm, aber ich musste zufrieden sein, dass ich das Unwetter bisher überstanden hatte.

Meine Füße schmerzten, hoffentlich waren keine bleibenden Schäden entstanden.

Andererseits zerrte das Bewusstsein, dem Ziel so nahe zu sein und ihm doch nicht näher kommen zu können, an meinen Nerven. Einige Male kam es mir vor, als ob es draußen stiller wurde, dass die Gewalt des Sturmes nachgelassen hatte, und dann schickte ich mich an, die vor mir lagernden Schneemassen zu lockern, die Öffnung zu vergrößern, um mich draußen umsehen zu können, doch sofort wurde das Brausen und Heulen des Windes unangenehm laut, und ich zog mich mit dem Schicksal hadernd zurück.

Später versuchte ich es noch einmal – mit der Folge, dass ich mit Schneemassen zu kämpfen hatte, die von oben herunterglitten.

Allmählich verlor ich die Hoffnung, aus diesem Kerker jemals wieder herauszukommen.

Die wenigen Minuten außerhalb des Schlafsacks hatten mich ausgekühlt, und diese Kühle wurde ich nicht mehr los. Ich sollte etwas Warmes trinken, mir eine Mahlzeit zubereiten … aber ich konnte mich nicht überwinden, noch einmal aus dem Schlafsack herauszukriechen. Zuerst musste ich mich wieder erwärmen, später würde ich … ja, später …

Nein, ich durfte jetzt nicht resignieren. Ich musste etwas tun, und zwar sofort. Wieder richtete ich mich auf, zog meine Arme aus dem Schlafsack und griff nach dem Kocher. Er war noch an die Katalyt-Batterie angeschlossen. Jetzt kam es nicht mehr darauf an, mit ihr sparsam umzugehen, ich schaltete den Kocher ein – die Platte begann zu glühen. Sie würde ein wenig Wärme in dieses Eisloch bringen …

Diese kleine Aktion hatte mich viel Kraft gekostet. Jetzt konnte ich nichts mehr tun. Ich durfte mich wieder im Schlafsack verkriechen und die Augen schließen.

Ich schwamm in einem See von Schwarz.

Ich sank tiefer und tiefer, bis ich den Grund erreichte. Unter den Füßen nachgiebige Massen, ich durfte nicht stehen bleiben, um nicht zu versinken.

Ich bemühte mich, aus dieser Zone herauszukommen, mit rudernden Bewegungen der Arme kämpfte ich gegen einen zähen Widerstand an, gefangen in einem konturlosen Raum, Lichtreflexe erschienen in der Luft und lösten sich wieder auf.

Meine Glieder wurden schwer, das Atmen kostete Mühe. Ich nahm alle meine Kräfte zusammen … Die Lampe hatte ich gelöscht, rund um mich dichtes Schwarz.

Dann begann die Umgebung heller zu werden, erst kaum merklich, dann deutlicher. Eine Welt aus Grau in Grau, der Horizont hinter einer Nebelwand verborgen, nein, es war Eis. Ich trat hindurch, vor mir eine Stadt, eine Festung, Mauern aus Eis, Türme, Barrikaden, Brücken, Zinnen aus durchsichtigem Eis, ich ging über eine der Brücken, über mir Decken aus Eiszapfen.

Alles war Täuschung, es war kein Eis, sondern Glas und Stahl, endlose Gänge, ich befand mich weit oben, mir gegenüber ein weiterer Turm, unten Abgründe, Schatten.

Merkwürdig, bisher war alles ohne emotionale Anteilnahme abgegangen, aber plötzlich spürte ich Angst, Verzweiflung – aber auch einen Funken Hoffnung …

Da waren Menschen, Menschen mit Taschen, Menschen in grauen Anzügen, Menschen mit verschlossenen Gesichtern.

Ich war selbst ein Mensch in einem grauen Anzug. Ich war auf dem Weg … ich weiß nicht wohin. Aber ich hatte etwas zu tun, musste mich verteidigen, mich rechtfertigen oder, richtiger, eine Prüfung ablegen. Ich war jung und unerfahren. Da waren Leute, die mich beobachteten. Strenge Gesichter, die mich anstarrten. Ich musste meinen Rang verteidigen … Aber das war doch lang vorbei! Nein, ich hatte geträumt, merkwürdige Träume, merkwürdige Empfindungen, nicht deutbar, scheinbar ohne Sinn …

Es waren Gefühle, die ich im Wachzustand noch nie empfunden hatte, jedenfalls nicht so intensiv. Ich hatte zu mir selbst zurückgefunden. Ich war nicht bereit, mich meinen Gefühlen zu überlassen, ich war nüchtern und kühl, mein Handeln durchdacht und folgerichtig, meine Ziele real, meine Gedanken logisch, meine Aufgabe vorgegeben …

Ja, ich war untergegangen, es war eine mir fremde Welt gewesen, die mich in ihren Bann geschlagen hatte … Traumwelten? Halluzinationen?

Nun war ich wieder in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Ich war noch verschlafen, aber nicht mehr müde. Mein Mund war trocken, meine Augen waren verklebt. Aber mein Körper war nicht mehr so kalt wie zuvor.

Es machte mir auch nichts mehr aus, aus dem warmen Schlafsack zu schlüpfen. Der Kocher strahlte immer noch etwas Wärme aus.

Auch die Taschenlampe brannte noch. Aber wie sah es draußen aus? Ich wühlte im herabrieselnden Schnee, der den Raum unter dem Eisblock nahezu zugeweht hatte. Und dann glaubte ich Licht zu sehen. Ich schob den Schnee beiseite: Es war wirklich Licht, das da hereindrang, zuerst nur ein Anflug von Dämmerung, dann, als hätte jemand einen Vorhang weggezogen, ein dünner Streifen Sonnenschein, und jetzt überflutete mich blendendes Licht, und ich musste die Augen schließen.

Als ich etwas später aus der Nische herauskroch, befand ich mich in einer mir unbekannten Umgebung, einer neu entstandenen Landschaft aus angewehtem Schnee. Vor mir lag die endlose Weite eines Schneefelds, nahezu eben, nur einige dünenförmige Erhebungen standen heraus. Hinter mir eine Ansammlung von wirr durcheinander liegenden Eisblöcken; gestern – oder war es vorgestern gewesen? – hatte ich nicht erkannt, wie hoch sie sich auftürmten. War das die Wirklichkeit? Oder immer noch der Traum?

Es dauerte Minuten, bis ich wieder klar denken konnte. Dann aber machte ich mich sofort an die Arbeit, es galt, meine Ausrüstung aus dem nun verschütteten Schneeloch zu buddeln. Als die Sachen endlich vor mir lagen, mit Eiskrusten überzogen, hätte ich am liebsten alles in den Rucksack geworfen und wäre losgerannt, aber im Gegeneinander der Gefühle siegte die Vernunft.

Bevor ich aufbrach, musste ich etwas zu mir nehmen, vor allem brauchte ich etwas Flüssiges, aber auch ein paar feste Nahrungsmittel.

Ich schmolz eine Hand voll Schnee – das ergab fade schmeckendes, aber frisches Süßwasser – und sichtete die Reste meines Proviants. Um mich nicht unnötig zu belasten, begnügte ich mich mit ein paar Quellkügelchen und trank einen Viertelliter warmes Wasser nach. Da ich danach ein flaues Gefühl im Magen hatte, nahm ich abschließend zwei Antacid-Tabletten.

Jetzt wollte ich aber keine Minute mehr vergeuden. Trotz der Eile musste ich mich noch mit den defekten Schuhen beschäftigen; ich machte es kurz und schlang einfach ein Klebeband um die Knöchelschützer herum. Den Rucksack zusammengepackt und geschultert, das Sonnenschutzglas des Helms vor das Gesicht geklappt und den Pickel in der Hand – so begann ich die letzte Etappe meines einsamen Weges.


Mittwoch, 16. April

Für Robin war es völlig überraschend gekommen: Der neue Leiter des altehrwürdigen Werkschutzes, Josz, hatte ihn zu einem Gespräch in sein Büro gebeten. Es lag in einer der oberen Etagen. Die Zeit war ein wenig ungewöhnlich: sechs Uhr dreißig in der Früh.

Josz war für seine Position außergewöhnlich jung – nicht älter als vierzig. Die leicht gelockten Haare fielen ihm ein wenig in die Stirn. Er hatte auch nichts Soldatisches an sich, sondern bewegte sich locker und ungezwungen. Doch wenn man ihn genauer ansah, dann deutete einiges in seinem Gesicht auf Intelligenz und Tatkraft hin.

Sein Zimmer ähnelte eher einer Sende- und Empfangsstation als einem Büro. Eine Wand war völlig mit Bildschirmen bedeckt. Auf den meisten waren Diagramme zu sehen – gezackte farbige Linien wechselten ruckartig ihre Formen und Positionen, andere zeigten Blockdarstellungen und Raster mit laufenden Zahlen, und auf wieder anderen waren Netze wiedergegeben, über die sich rote Marken bewegten.

»Wir sind ganz gut darüber informiert, was innerhalb des Hauses und auch außerhalb geschieht«, erklärte Josz. »Oder hast du uns wirklich nur als eine Art Feuerwehr angesehen?«

Robin war nicht ganz klar, was diese Frage zu bedeuten hatte. Er zog die Augenbrauen zusammen.

Josz fuhr unbeirrt fort: »So wissen wir zum Beispiel, dass du dich an einen unserer Mitarbeiter herangemacht hast, um ihn auszufragen. Ist dir Kynski, mein persönlicher Assistent, nicht aufgefallen? Sein Erscheinen im Lokal hat genügt, um Timos Geschwätzigkeit zu stoppen.«

In dieser Feststellung war zwar kein Vorwurf zu spüren, dennoch war Robin darüber verwundert, dass selbst die Mitarbeiter der Behörde so massiv überwacht wurden.

»Wir lassen uns von der Security nicht überfahren. Schau!«

Josz wies auf einen roten Punkt auf einem der Bildschirme. »Das ist Gorosch. Er ist jetzt in seiner Wohnung. Als er das letzte Mal beim Zahnarzt war, haben wir ihm einen Miniatursender einbauen lassen. So sind wir über jeden seiner Schritte informiert.«

»Und warum teilst du mir das mit?«, fragte Robin.

Josz lächelte zufrieden – die Überraschung war ihm gelungen. »Ich habe mich bei deinen Vorgesetzten erkundigt«, sagte er. »Man hat mich an Direktor van der Steegen verwiesen, und dann habe ich mich eine Weile mit Frau Bajer unterhalten. Sie hat mir ein wenig über die speziellen Ermittlungen angedeutet, mit denen du beschäftigt bist, und sie hat angeregt, dass wir in einer Angelegenheit, in der wir selbst ermitteln, mit dir zusammenarbeiten sollen. Es ist also alles in Ordnung. Bist du einverstanden?«

Damit hatte sich für Robin wieder einmal eine überraschende Wendung ergeben – wie schon so oft in diesen Tagen. Offenbar steckte Michèle dahinter. Merklich erleichtert stimmte er zu.

Josz forderte Robin auf, sich zu setzen, und dieser rückte einen Stuhl so zurecht, dass sowohl er wie auch Josz die Bildschirmwand im Blickfeld hatten. Der rote Punkt, der die Position Goroschs markierte, war einige Zeit still geblieben, doch jetzt zeigte er wieder Bewegungen an.

»Ich will dir zuerst berichten, was unsere Mitarbeiter über Gorosch erzählt haben – alle seine Aktionen werden schon seit Längerem beobachtet. Das Ergebnis ist enttäuschend, die Untersuchung hat nicht viel Erwähnenswertes ergeben. Ich beschränke mich also auf die Dinge, die etwas vom Üblichen abweichen.«

Der rote Punkt auf dem Bildschirm wechselte ein wenig die Position, dann trat wieder Ruhe ein.

Josz blickte auf das Display mit der Uhrzeit. »Wir haben noch etwas Zeit«, sagte er, ohne weiter zu erläutern, was er damit meinte. »Zu den etwas ungewöhnlichen Dingen gehört das Domizil, das sich Gorosch ausgesucht hat. Es liegt ein wenig abseits, ein Altbau, noch aus der Zeit, als der Ort nicht viel mehr war als ein schwer erreichbares Dorf. Es sieht übrigens sehr hübsch aus, die Mauern aus Felsstücken zusammengesetzt, das Dach mit Ziegeln gedeckt.«

»Und was ist daran so ungewöhnlich?«, frage Robin.

»Nun, es passt nicht zu Gorosch. Er hat nicht das Geringste für so etwas übrig – für Romantik und für altmodische Dinge. Das geht aus seinem Psychogramm eindeutig hervor. Der Platz, den er sich ausgesucht hat, ist nicht leicht zu erreichen – nur über eine in den Fels gehauene enge Sackgasse. Warum nimmt er einen so umständlichen Anfahrtsweg in Kauf?«

»Andererseits ist das ein guter Ort für geheime Zusammenkünfte«, wandte Robin ein.

Josz schüttelte den Kopf. »Er hat selten Besuch bekommen, und es waren meist nur Leute aus seiner Abteilung. Das wissen wir von Kynski. Er war längere Zeit auf Gorosch angesetzt.« Er sah wieder auf die Uhr. »Jetzt ist es so weit. Komm!«

Josz erhob sich. Er trat auf den Gang hinaus und führte Robin zum Lift. Er rief die Kabine und drückte, als sie eingestiegen waren, einige Tasten auf dem Ziffernblatt. Es ging aufwärts.

Als sie hielten und ausstiegen, stellte Robin erstaunt fest, dass sie sich auf dem flachen Dach des Mittelbaus befanden. Er kannte diesen Platz … seine erste Unterhaltung mit Michèle … dieser Ort hatte eine besondere Bedeutung für ihn. Und gerade jetzt, in diesem unpassenden Augenblick, wurde ihm klar, wie sehr sie schon in dieser ersten gemeinsamen Stunde seine Gefühle in Verwirrung gebracht hatte.

Unwillkürlich blieb Robin stehen. Es war ziemlich kühl, die Sonne verbarg sich noch hinter den Bergen, eine dünne Nebelschicht hing hoch oben über dem Tal, doch sie ließ genügend Licht durch, um eine gute Sicht über den Ort zu gestatten …

»Hier, diese Richtung!« Josz schien ungeduldig. Er eilte voran, geradewegs zu einem Aufbau, der sich noch ein Stück über die Ebene des Daches erhob: ein von einem hohen Geländer gesäumtes Podest. In der Betonumkleidung waren schießschartenähnliche Öffnungen zu erkennen. Mit einem Chip löste Josz den Sperrriegel des Drehkreuzes. Danach ging es über einige Stufen hinauf, und wieder blieb Robin nichts anderes übrig, als dem anderen zu folgen.

Auf der Plattform standen einige Scherenfernrohre herum, und zwar so, dass man mit ihnen in Richtung Talausgang blicken konnte. Josz trat an eines heran und löste die durchsichtige Schutzhülle.

Er deutete auf das daneben stehende Gerät. »Nimm dieses!« Es hörte sich wie ein Befehl an. Er schwenkte das seine in eine bestimmte Richtung, dann blickte er hindurch und schien etwas zu suchen.

»Ah – da ist es. Dort draußen steht das Haus von Gorosch. Oben, über dem Hang, das rote Ziegeldach … hast du es?«

Es war nicht schwer zu finden. Es war in den Hang hineingebaut, gleich dahinter erhob sich eine Felsgruppe. In Richtung Westen begann ein Wald. Als Robin das Fernrohr auf das Haus richtete, war er über den hohen Vergrößerungsgrad erstaunt. Er vermochte sogar die altmodische Bemalung der hölzernen Fensterflügel zu erkennen. An der rechten Seite war eine Plattform aufgeschüttet, die Basis für einen Dachgarten. Dort standen einige Palmen in großen Blumentöpfen, an der Wand reihten sich ein paar mit Gittern verschlossene Verschlage, davor ragten drei Stangen auf, nach oben hin mit Querstreben abgeschlossen.

»Was hat das …« Robin wollte etwas fragen, doch Josz mahnte mit einem Zischlaut zur Ruhe – als fürchtete er, dass sie vom optisch so nahe herangerückten Gebäude aus zu hören wären. »Da, er kommt. Du brauchst nur zu beobachten. Das ist die zweite Merkwürdigkeit in Goroschs Leben.«

Der Chef des Sicherheitsdienstes, in einer dicken Lederjacke und mit Handschuhen ausgestattet, trat an die Verschläge heran – Käfige, wie sich nun herausstellte. Denn er griff in den ersten hinein und holte einen stattlichen schwarzen Vogel mit einem gekrümmten Schnabel heraus, den er auf eine der Stangen setzte. Dasselbe wiederholte sich bei den zwei weiteren Käfigen.

»Falken«, sagte Josz. »Gorosch züchtet Falken.«

Der Security-Chef war mit den Vögeln beschäftigt, es war nicht im Detail zu erkennen, was er tat. Er trat an die Käfige heran, kam wieder zu den Sitzstangen zurück. Die Tiere waren unruhig, manchmal hoben sie die Flügel, und Robin wunderte sich darüber, wie groß sie dann wirkten – die Flügelspannweite maß sicher einen halben Meter oder mehr.

Robin erinnerte sich dunkel. »Hat man solche Vögel nicht früher bei der Jagd verwendet? Beschäftigt sich Gorosch mit der Jagd?«

»Nein«, beschied Josz kurz.

Gorosch stand wieder bei den Vögeln, er machte sich an einer der Sitzstangen zu schaffen, und dann sah es aus, als wolle er das Tier in die Luft werfen. Da breitete der schwarze Vogel die Schwingen aus und schraubte sich mit kraftvollen Bewegungen in die Höhe. Er wurde kleiner und kleiner und war bald nicht mehr zu erkennen. Inzwischen hatte Gorosch auch die anderen Falken von den Fesseln befreit und sie in die Luft entlassen.

»Fliegen sie ihm nicht davon?«, fragte Robin.

»Sie kommen von selbst zurück. Ich habe es schon einige Male beobachtet.«

Als wollte Gorosch den Beweis dafür antreten, griff er nach einem Gegenstand, der wie ein an einem Stab befestigter Federnbusch aussah, und schwenkte ihn in Kopfhöhe hin und her. Das schien zunächst keine Wirkung zu haben, doch dann erschien am Himmel ein schwarzer Punkt, der rasch größer wurde, dann folgten noch zwei weitere: Die Vögel kamen im Sturzflug zurück. Kurz vor der Landung stemmten sich ihre Flügel gegen den Fall. Gorosch streckte den Arm aus, und der erste der Falken ließ sich auf seiner mit einem Lederhandschuh geschützten Hand nieder. Ersetzte ihn auf die Stange, und die beiden Beobachter konnten zusehen, wie der Falke mit dem Schnabel nach etwas hackte, das Gorosch an einem Stab befestigt hatte – vermutlich Fleischstücke, Leckerbissen, die für die Tiere begehrenswert genug waren, um dafür die Gefangenschaft in Kauf zu nehmen.

»Das wär’s«, sagte Josz, und es klang so, als wäre er von der Spannung befreit, die ihn in den letzten Minuten ergriffen hatte. »Ich schlage vor, wir gehen in die Kantine und gönnen uns ein Frühstück.«

Wenig später saßen sie vor dampfenden Tassen und schälten belegte Brötchen aus den Plastikhüllen.

»Was hat die Falknerei mit unseren Problemen zu tun?«, fragte Robin.

»Ich weiß es nicht, aber es ist so auffällig, dass man sich diese Frage stellen muss.«

»Kann es nicht ein simples Hobby sein?«

»Ein solches Hobby passt eben nicht zu ihm. Es muss irgendeinen praktischen Grund dafür geben, wenn er sich auf so etwas einlässt.«

Robin nahm einen Schluck aus seiner Tasse und griff nach einem weiteren Brötchen. »Vielleicht gibt es doch einen Zusammenhang«, sagte er grübelnd. »Ich habe da einen vagen Verdacht.« Und dann fügte er entschlossen hinzu: »Ich werde der Sache nachgehen.«

»Da bin ich gespannt«, sagte Josz. »Wir bleiben in Verbindung.« Er drückte Robin einen Chip in die Hand. »Aber nicht über das öffentliche Netz – hier ist der Code für den internen Kanal.«

Das Frühstück hatte gut getan, und nun, noch unter dem Eindruck des eigenartigen Schauspiels, dem sie beigewohnt hatten, begaben sie sich an ihre Arbeitsplätze. Beide waren recht zufrieden – als wären sie einen entscheidenden Schritt vorangekommen.


*

Robin hatte es eilig, er hatte eine vage Idee, und er war neugierig darauf, ob sich sein Verdacht erhärten ließ. Wie üblich begann er seine Recherche vom Arbeitsplatz aus. Zunächst brauchte er ein paar amtliche Unterlagen. Wie er vermutet hatte, war die Zucht von Tieren im Wohnbereich nicht ohne weiteres möglich, und so sollte Gorosch eine Genehmigung dafür eingeholt haben, denn er betrieb sein merkwürdiges Hobby ja in aller Öffentlichkeit. Es war etwas umständlich, herauszufinden, welche Behörde für solche Fälle verantwortlich war, doch als es Robin gelungen war, hatte er auch bald die Kopie des Bescheides in Händen, der dem Sicherheitschef die Erlaubnis für das Züchten von Greifvögeln erteilte.

Das war der erste Schritt gewesen, und Robin spürte so etwas wie Jagdeifer – als wäre er hinter einer Beute her, die er allmählich in die Enge trieb, und das stimmte ja sogar in gewissem Sinn. Der zweite Schritt war noch aufregender: Er wollte nämlich wissen, ob es in der näheren Umgebung noch andere Personen gab, die dasselbe Hobby betrieben. Das konnte ein wenig mehr Zeit in Anspruch nehmen, denn er musste in benachbarten Gemeinden suchen, und dazu bedurfte es umständlicherer Formalitäten als am Ort des Internationalen Gerichtshofs, wo gute Verbindungen mit dem Rathaus und der Polizei bestanden.

Robin stellte sich auf eine unbestimmte Wartezeit ein. Um sie nutzbringend zu verwenden, holte er sich einige Unterlagen aus der Datenbank. Da gab es mehr, als er erwartet hatte: Es bestand eine weit in frühere Jahrhunderte zurückreichende Tradition der Zucht und Verwendung von Falken und anderen Greifvögeln für Jagdzwecke. Darüber hinaus holte er sich aber auch Material über andere Bereiche, wo es um die Nutzanwendung gezähmter Vögel ging, von der Haltung von Legehennen bis zum Einsatz von Brieftauben in Kriegszeiten …

Und dann, überraschend schnell, kam die erhoffte Nachricht: Es gab noch einen Falkenzüchter, einen allein stehenden Pensionisten in einem kleinen Ort im selben Tal, einige Kilometer flussabwärts. Robin wollte sichergehen und wartete, bis die ganze von ihm ausgewählte Region durchforstet war, doch es blieb bei der einzigen Rückmeldung. Das war eine wichtige Erkenntnis, wenngleich noch kein Beweis. Robin brauchte noch eine Auskunft von Josz, und er rief ihn auf der internen Leitung an.

Er berichtete kurz, was er bisher unternommen hatte, und schloss seine Frage an: »Ich brauche noch ein paar Informationen über Goroschs Falknerei – über das hinaus, was wir heute beobachtet haben. Besonders interessiert mich, ob er die Vögel manchmal auch für längere Zeit frei fliegen lässt.«

Josz bestätigte das. »Einige Male in der Woche. Meist gegen Abend, eine Stunde vor Sonnenuntergang. Sie steigen dann hoch auf und verschwinden irgendwo am Himmel. Doch vor Einbruch der Dunkelheit finden sie sich von selbst wieder ein. Kannst du mir sagen, worauf du hinauswillst?«

»Ich bin jetzt ziemlich sicher«, antwortete Robin. »Ich habe mich ja schon früher gefragt, auf welche Weise Gorosch Verbindung mit dem Syndikat aufnimmt. Über Leitungen oder über Funk ist es nicht möglich – das alles kann abgehört werden, und auch eine Codierung nützt da nicht viel. Also über Boten? Doch es würde natürlich auffallen, wenn er mehrfach Besuch von außerhalb bekäme. Als du mir heute früh die Falken gezeigt hast, hatte ich eine Ahnung, dass sie etwas mit dieser Frage zu tun haben könnten: als harmlos wirkende Überbringer von Nachrichten. Und das, was ich in den letzten Stunden erfahren habe, macht mich ziemlich sicher. Ich will nur noch einen Ornithologen konsultieren, vielleicht ergibt sich dabei noch etwas Genaueres.«

»Donnerwetter!« Josz verbarg sein Erstaunen nicht. »Das hört sich vielversprechend an. Halt mich auf dem Laufenden.«

Inzwischen war es Mittag, aber Robin verzichtete auf den Besuch der Kantine. Stattdessen versuchte er einen Vogelkundler aufzutreiben, den er schließlich in einem Institut am Bodensee fand. Nach der Mittagszeit hatte er ihn am Vidiphon. Robin wies sich über das Rückruf-System als Angehöriger des Internationalen Gerichtshofs aus und schilderte dann den Fall, ohne auf Einzelheiten einzugehen.

»Mir ist bekannt, dass Falken standorttreu sind, dass sie eine feste Bindung zu den Orten ihrer menschlichen Betreuer haben. Und dass sie freiwillig zurückkommen, wenn sie dort Futter erhalten. Wie steht es aber, wenn es um zwei Orte geht, die sie abwechselnd aufsuchen sollen? Könnte man ihnen so etwas beibringen?«

Der Wissenschaftler überlegte kurz. »Ich denke, das ist möglich. Die Tiere sind recht intelligent. Angenommen, sie kennen einen Platz, an dem sie zu einer bestimmten Tageszeit mit Leckerbissen versorgt werden … dann ist es sehr wahrscheinlich, dass sie dorthin fliegen, um sich das Futter zu holen, wenn sie zur rechten Zeit freigelassen werden – und danach wieder an ihren Standort zurückkehren.«

Robin bedankte sich. Er hatte das Gespräch aufgenommen, um es genauer zu studieren, doch das war nicht nötig – die Auskunft war verständlich und eindeutig. Nun war er sicher, dass die Vögel als fliegende Boten dienten und dass der zweite Falkner der Verbindungsmann war, über den der Nachrichtenaustausch lief.

Er rief Josz an und teilte es ihm mit. Der schien es eilig zu haben und sagte nur: »Ich werde die Sache in die Hand nehmen. Da ist keine Zeit zu verlieren. Du hörst von mir.«

Robin war nicht gerade erfreut, dass er jetzt untätig warten musste, aber als er darüber nachdachte, was in dieser Situation zu geschehen hatte, sah er ein, dass hier für die Spezialisten des Werkschutzes bessere Möglichkeiten bestanden.


Montag, 21. April

Robin musste sich drei Tage lang in Geduld üben und gewöhnte sich allmählich wieder an seine übliche Arbeit, die er in letzter Zeit etwas vernachlässigt hatte. Doch er war weit davon entfernt, Angelo und Gorosch zu vergessen. Dafür sorgten schon die Meldungen über die bevorstehende internationale Gipfelkonferenz, deren Ort noch immer geheim gehalten wurde. Umso mehr hörte man über die angestrebten Ziele: Koordinationsaufgaben, die das Zusammenleben der Völker erleichtern und vereinfachen sollten. Das würde allerdings eine entscheidende Änderung der politischen Strukturen mit sich bringen, bei der die Kompetenzen der Länder zugunsten internationaler Gruppierungen beschnitten würden. Es gab Stimmen für die Umstellung, aber auch solche, die sich heftig dagegen wehrten, und beide Seiten hatten gute Gründe für ihre Meinung. Hinter all dem steckten aber auch grundlegende Fragen der Machtverteilung zwischen lokalen Regierungen, Wirtschaftsunternehmen und Banken auf der einen Seite und den global ausgerichteten Gremien der Weltregierung auf der anderen.

Normalerweise hätte sich Robin nicht besonders für die bevorstehenden Verhandlungen interessiert; wie viele Menschen war er bisher der Auffassung gewesen, dass der einzelne Bürger – verglichen mit den am Spiel beteiligten Kräften – machtlos war. Jetzt, da er sich zu der kleinen Gruppe zählen durfte, die über Insiderwissen verfügte, war das ganz anders geworden. Er spürte plötzlich eine starke Verpflichtung, etwas gegen die zerstörerischen Kräfte zu tun, die die Entwicklung aus Eigennutz aus der richtigen Bahn zu drängen versuchten.

Am Abend des dritten Tages bat ihn Josz zu einem unauffälligen Zusammentreffen in einem derzeit leer stehenden Besprechungsraum.

Als Robin eintrat, war Josz schon da, und er machte einen sehr zufriedenen Eindruck. Sie setzten sich in zwei Aluminiumstühle in der Ecke.

Josz rückte gleich mit der Neuigkeit heraus. »Wir haben eine Nachricht abgefangen«, sagte er.

Einen Moment lang wusste Robin nicht, was gemeint war, aber dann wurde es ihm klar. »Ihr habt einen Falken heruntergeholt?«, fragte er.

»Ja, ich habe einen jungen Mann gefunden, der sich mit Modellflugzeugen beschäftigt. Er war ganz begeistert von der Aufgäbe, eines seiner Geräte so umzubauen, dass man damit auf Vogeljagd gehen kann. Gestern hat Gorosch seine Falken freigesetzt. Wir haben sie auf dem Rückflug abgepasst, und meinem Gehilfen ist es gelungen, die Flugscheibe an einen der Falken heranzusteuern und ihn in einem Netz zu fangen.«

»Dann weiß Gorosch also, dass wir ihm auf die Schliche gekommen sind?«

»Wahrscheinlich nicht. Wir haben alles getan, um das zu vermeiden. Wir nahmen den Vogel auf einer versteckten Wiese in Empfang. An einem Ring am Bein trug er einen Speicher-Chip. Wir haben die Daten kopiert und den Chip wieder am Bein befestigt. Dann brachten wir den Vogel mit dem Flugkörper ungefähr dorthin, wo er gefangen wurde, und ließen ihn frei. Ich habe es mit dem Feldstecher beobachtet: Er hat seinen Flug fortgesetzt. Natürlich dürfte er etwas verspätet an seinem Ziel angelangt sein, aber so etwas kann ja vorkommen. Ich glaube nicht, dass Gorosch etwas von unserer Aktion bemerkt hat.«

»Und die Nachricht … Konnte man sie entziffern?«

»Sie war nur einfach verschlüsselt, die guten Leute scheinen sich sehr sicher zu fühlen. Es handelt sich um die Einladung zu einer Besprechung – samt Ort und Datum. Der Treffpunkt liegt in Corleone, ein Touristenort mit historischen Attraktionen. Die Zeit: genau in einer Woche.«

Robin war überrascht. Er hätte nicht gedacht, dass sie so rasch weiterkommen würden. Dann fragte er: »Und was geschieht jetzt?«

Josz lächelte und sagte: »Ganz einfach: du wirst einen Urlaub beantragen und Ende dieser Woche nach Corleone reisen. Ein hübsches Plätzchen in einer hübschen Gegend: Sizilien. Warst du schon mal dort? Du wirst dich dort ein wenig umsehen.«

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