Mir blieb wenig Zeit, um mich auf meine Aufgabe vorzubereiten. Ich merkte, dass sie in meinem Denken ständig an Bedeutung gewonnen hatte und es nun völlig ausfüllte. Nichts war wichtiger, als den Auftrag perfekt und unbeirrt zu erfüllen. Dazu war ich hier.
Allerdings war in der Person von Ellen etwas Irritierendes dazugekommen, das sich in meine Gedanken drängte und gar nicht zu dem passte, was ich hier zu erledigen hatte. Ich müsste mich eigentlich dagegen wehren: Es durfte mich nicht daran hindern, alles zu tun, was die Pflicht verlangte. Das Eigenartige daran war, dass ich nur sehr ungenau umreißen konnte, was das war. Abwarten, Beobachten und, wenn nötig, Handeln – das war eigentlich alles, was feststand, und es war wenig genug.
Mein Erfolg würde sicher nicht zum geringsten Teil davon abhängen, dass ich die Augen offen hielt und über den Stand der Dinge immer auf dem Laufenden blieb. Im Hotel hatte ich mich schon umgesehen – Ellen hatte mich mit einem Plan und anderen nützlichen Unterlagen versorgt. So hatte ich nicht nur eine Übersicht über die Lage der Zimmer, sondern ich wusste auch die Namen der Diplomaten, die sie bezogen hatten. Darüber hinaus interessierte ich mich für die anderen Teile des Hotelbetriebs, die öffentlich zugänglichen Säle, die kleineren Besprechungszimmer, die Räume für Unterhaltung, Sport und Gesundheit, aber natürlich waren auch jene Teile des Hotels wichtig, die dem Personal vorbehalten waren: die Küche und die Vorratsräume, die Büros und die im Keller untergebrachten technischen Einrichtungen. Schon am Vormittag nahm ich mir die Zeit, alle diese Plätze anzuschauen.
Natürlich interessierten mich auch die außerhalb des Hotelbaus liegenden Bereiche der Bohrinsel – am Nachmittag wollte ich mich dort umsehen.
Zunächst kam es vor allem darauf an, die Abhörgeräte und die mikrominiaturisierte Kamera im Besprechungsraum anzubringen. Ich hatte damit etwas gezögert, weil ich damit rechnen musste, dass man den Saal vor dem Beginn der Konferenz noch einmal auf Wanzen untersuchen würde. Und diese Vorsicht erwies sich als berechtigt. Kurz vor der mittäglichen Essenszeit, als sich die Delegierten auf den Weg in den Speisesaal machten, beobachtete ich drei Männer in blauen Overalls mit Eimern, Besen und einem Staubsauger, als sie das Auditorium betraten. Sie kamen mir gleich verdächtig vor, und ich eilte in die etwas erhöht liegende Vorführkabine, die man von außen betreten konnte und von der aus man eine gute Übersicht über den großen Saal hatte.
So konnte ich beobachten, wie sie aus dem Eimer verschiedene Geräte herausholten, die eigentlich nicht zum Putzen geeignet waren; ich erkannte ein Peilgerät, eine optoelektronische Lupe und einen Kopfhörer. Und auch der Staubsauger war bloß eine Tarnung für ein Werkzeug ganz anderer Art: Sie klappten den Deckel hoch, und da kam eine Anzeigetafel mit Bildschirmen und Messskalen zum Vorschein. Mit dieser Ausstattung bewegten sie sich durch die Sitzreihen und begannen, mit ihren Sensoren die Polsterung abzutasten.
Ich hatte genug gesehen. Zwar glaube ich nicht, dass sie bei dieser Durchsuchung meine winzigen Mikrophone und Kameras ausfindig gemacht hätten, aber ich war froh, dass ich sie noch nicht montiert hatte. Jetzt aber wollte ich keine Zeit mehr versäumen.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, meine Geräte in der Nacht zu installieren, aber das erschien mir nun doch zu riskant. Würde mich jemand vom Sicherheitsdienst zu so ungewöhnlicher Zeit im Vortragssaal erwischen, dann fiele es mir schwer, eine plausible Erklärung dafür zu finden. Dann war es schon besser, mich unter einem Vorwand tagsüber dort zu betätigen.
Zur Tarnung meiner Umtriebe im Hotel hatte mir Ellen ein mit Namen und Bild versehenes Ansteckkärtchen gegeben, das mich als Mitarbeiter des Hotels auswies, und dazu noch einen Universalschlüssel, um den ich sie gebeten hatte. Das Personal war darüber informiert, dass ich im Hotelbetrieb die Aufgabe eines Direktionsassistenten übernommen hatte, und so könnte ich im Falle eines Falles angeben, dass ich den Auftrag hätte, mich vom ordnungsgemäßen Zustand des Konferenzsaals zu überzeugen.
Mit dieser Tarnung konnte ich es wagen. Es gab genügend Stellen, an denen ich meine körnchengroßen Mikrophone und die fadenförmigen Molekularspeicher unterbringen konnte – ich klebte sie ohne viel Umstände unter die Tischplatten und die Sitzlehnen. Als Versteck für eine etwas größere Kamera mit ihrer stecknadelkopfgroßen Fish-Eye-Linse wählte ich ein wertvoll anmutendes Bild an einer der Seitenwände. Ich versenkte das zylinderförmige Wunderwerk der Nanotechnik in ein dünnes Loch, das ich in den kunstvoll geschnitzten Rahmen gebohrt hatte. Schließlich versteckte ich noch ein Relais, das die aufgenommenen Impulse in kürzeste Blöcke zusammengefasst und verstärkt zu mir weiterleiten sollte. Das Ganze dauerte nicht länger als zehn Minuten, und ich blieb dabei völlig ungestört.
Es war noch Zeit genug, um in der Kantine für die Angestellten das Mittagessen nachzuholen.
Den Nachmittag über hatte ich nicht viel zu tun. Einmal gab es im Konferenzsaal eine Mikrophonprobe, die ich benutzte, um mich von der Brauchbarkeit meiner Installation zu überzeugen. Die Kamera lieferte perfekte Bilder, und auch der Kopfhörer funktionierte einwandfrei – die Stimmen waren gut zu verstehen. Wenn ich mich in meinem Zimmer befand, konnte ich es mir auch noch recht bequem machen: Ich setzte dazu das ComSet ein, das zur Raumausstattung gehörte. Damit ließen sich auch die Bilder aus der Kamera ohne Zeitverzug betrachten. Für diesen Zweck hatte man für mich eine passende Schaltung mit Decoder, Adapter und Verstärker vorbereitet. Außerdem sollte natürlich jede empfangene Information in Molekularspeichern festgehalten werden.
Jetzt, da ich mit meinen Vorbereitungen fertig war, wäre es mir am liebsten gewesen, nicht länger warten zu müssen, sondern endlich aktiv zu werden. Ich konnte meine Ungeduld nur schwer bezähmen. Doch nach dem, was ich gehört hatte, war der Beginn der Sitzungen ein weiteres Mal verschoben worden – man wollte den Diplomaten Gelegenheit für inoffizielle Vorgespräche geben. Ich wunderte mich ein wenig darüber – denn die Zeit, die für die entscheidenden Sitzungen blieb, wurde immer knapper.
Um mir die Zeit zu vertreiben, schaltete ich WWNews, den Fernsehkanal der WU, ein, der normalerweise brandheiße Nachrichten sendete. Doch was ich da zum Thema der Tagung zu sehen bekam, war alles mindestens drei Tage alt. Noch immer Aufnahmen von der Anreise der Delegierten: wie sie in die Flugzeuge stiegen, die sie zu einem Zwischenaufenthalt nach Spitzbergen bringen würden, wie sie dort ankamen und wie sie schließlich gemeinsam in die Gondel eines Spezialtransporters stiegen, einer überdimensionalen Schwebescheibe. Das letzte Bild war dann ein imposanter Schwenk über die Bohrinsel mit dem fahnengeschmückten Globe-Hotel.
Für den Abend hatte ich einen letzten Erkundungsgang vorgesehen: hinaus auf das brachliegende Gelände der Bohrinsel. Wenn für die Zeit der Konferenz etwas Illegales geplant war, dann schien mir diese Örtlichkeit ein idealer Platz für heimliche Verschwörer, um ihre Aktivitäten vorzubereiten. Es war sicher vernünftig, sich auch dort etwas umzusehen.
Wie ich gehört hatte, waren seit einigen Wochen alle Verbindungen zum äußeren Bereich der Bohrinsel geschlossen, aber Ellen zeigte mir eine Feuerschutztür, die sich in Notfällen öffnen ließ. Dazu dienten altmodische Eisenschlüssel, die man sich aus einem daneben angebrachten Kästchen holen konnte, wenn man die aus Glas bestehende Frontseite einschlug.
»Ich nehme an, dass man den Schlüssel auch irgendwie herausholen kann, ohne die Scheibe einzuschlagen«, meinte Ellen.
Wir besorgten uns einen Werkzeugkasten, und Ellen brachte mich in einen Abstellraum in der Etage mit den Diensträumen und Büros. An einer Wand, wie angekündigt, die schwere Metalltür und daneben das Kästchen. Ich brauchte lediglich mit dem Stemmeisen die Metallplatte der Seitenwand anzuheben, um an den Schlüssel heranzukommen.
Mit einiger Mühe öffnete ich die Tür, eisiger Wind schlug mir entgegen, und ich trat noch einmal in den Gang zurück, um meine Thermojacke anzuziehen und die Mütze mit den Ohrenschützern aufzusetzen. Ich dankte Ellen, die zurück zur Arbeit musste, und trat hinaus. Den Werkzeugkasten nahm ich mit und stellte ihn außen neben der Tür ab.
Nach dem Aufenthalt in den warmen Räumen des Hotels wirkte die Kälte wie ein Schock … nur wenige Tage war ich in der geschützten Umgebung gewesen, und schon spürte ich Anzeichen von Verweichlichung? Aber ich gewöhnte mich rasch an die Umstände, und bald begann ich die frische Luft zu genießen. Ich fühlte mich wieder einmal in meinem Element: von einer rauen Umwelt gefordert und allen Anforderungen gewachsen.
Es war schon ziemlich dunkel, dünner Nebel lag wie Watte über den metallenen Bodenflächen, doch ich versuchte, ohne Taschenlampe auszukommen. Ich wusste nicht, wie die Miliz darauf reagieren würde, wenn mich jemand außerhalb des geschlossenen Bereichs entdeckte.
Meine Augen gewöhnten sich schnell an die schwache Beleuchtung; es war, als lösten sich allmählich die bizarren Formen dieses verlassenen technischen Wunderwerks aus einem grauen Nebel: hoch über allem anderen das Gestänge des Bohrturms, darum herum die scheinbar regellos zum Himmel emporgereckten Arme der Kräne, mit offenen Metalltreppen verbundene Plattformen, dicke Stränge dicker Röhren, die rundlichen Umrisse von Tanks und viele andere Dinge, deren Zweck ich nicht erraten konnte.
Der Wind hatte den Nebel vertrieben, der Himmel war von den Wolken befreit und breitete sich wie eine schwarzblaue Kuppel über den See und die rundherum liegende Hügellandschaft aus Eis. Und dann deutete sich mit einem kaum wahrnehmbaren Flackern ein besonderes Schauspiel der Natur an: etwas Unsichtbares, Hauchzartes, von dem dennoch ein körperloses Leuchten ausging, ein diffuses grünes Band und dann noch eines, beide leicht bewegt, von weißen und rosa Streifen begrenzt, und das Ganze inmitten von atmosphärischem Blau.
Durch das Nordlicht wurde mein Ausflug ins Freie zu einem unvergesslichen Erlebnis.
Der farbendurchwirkte Himmel hatte aber auch eine praktische Wirkung – indem er mir den Weg wies: Zuerst wollte ich mir von weiter oben eine Übersicht verschaffen … Ich stieg zunächst einige Treppen hinauf, über eine Folge von Kehren bis zur höchsten Plattform direkt unter dem Bohrturm. Die Stufen wie auch der Boden bestanden aus geriffeltem Metall, was wohl das Ausgleiten verhindern sollte, denn manche Stellen waren mit Eiskrusten überzogen. Von Balken und Streben hingen Eiszapfen herunter, und als ich einmal versehentlich eines dieser Gebilde berührte, brach es in mehrere Stücke, die dann am Boden neben mir zersplitterten.
Hier oben wehte der Wind mit ungedämpfter Kraft, aber von hier hatte ich auch eine wunderbare Aussicht auf das Meer, in dessen Wellen der Abglanz des Himmels als Teppich schwankender Reflexe erschien.
Doch dann wurde ich jäh aus meinen Gedanken gerissen: Dort unten regte sich etwas, ein grellweißer Lichtschein glitt plötzlich tief unter mir über eine Metallwand und ein daran anschließendes Geländer … dann war die Erscheinung vorbei, und ich hörte den dumpfen Klang einer zufallenden Tür.
Ich klappte die Ohrenschützer hoch, um besser zu hören. Eine Weile blieb ich unbewegt stehen … Ich hatte mich nicht getäuscht, denn eine Minute später wiederholte sich die Szene, nur dass die beleuchtete Wand zwischendurch kurz von einem dahinhuschenden Schatten verdunkelt wurde. Kein Zweifel: Dort unten hielten sich Menschen auf, die derzeit eigentlich nichts auf der Bohrinsel zu suchen hatten. Der Sache musste ich auf den Grund gehen.
Bisher hatte ich nicht darauf geachtet, dass meine Schritte über das Blech des Untergrunds Lärm verursacht hatten, doch jetzt setzte ich die Füße vorsichtiger auf. So kam ich langsam tiefer. In den unteren Ebenen standen die Anlagen etwas kompakter, es gab quaderförmige Bauten, Container, die als Arbeits- oder Schlafräume dienen mochten.
Mein Ziel war jener Platz, an dem ich den Lichtschein gesehen hatte. Es war das Hauptdeck in zentraler Lage, genau unterhalb des Bohrturms. Die Mitte war von einem Gebäude mit sechseckigem Grundriss besetzt, daneben gab es einige kleine Bauten, darunter, um die Ecke im Hintergrund, auch einen Verschlag mit einem Schildchen, auf dem ein stilisiertes Männchen zu sehen war. Das war wohl die Örtlichkeit, die jener Mensch besucht hatte, der vorhin kurz unterwegs gewesen war und den von mir beobachteten Lichteffekt verursacht hatte.
Am meisten interessierte mich der Zentralbau, der nicht nur größer, sondern auch höher war als alle anderen. Von oben lief das Bohrgestänge in das Dach hinein. Aus der Nähe erkannte ich mehrere schwach beleuchtete Fenster. Ich schlich mich an eines heran und blickte hinein: im Inneren mehrere Männer, die sich an einer Anlage zu schaffen machten, deren Zweck sich mir nicht erschloss. Es war ein bis zur Decke reichender Aufbau in Form eines stehenden Zylinders, der an einer Seite geöffnet war. Ins Innere der Höhlung konnte ich nicht blicken, aber ich beobachtete, dass zwei der Männer einen kleinen, aber schweren Gegenstand hineinzusetzen versuchten. Andere saßen an Arbeitstischen und Pulten, auf denen verschiedene Geräte standen; aus den zugehörigen Displays und Skalenfenstern schloss ich, dass es sich um Messeinrichtungen handelte. Was ging hier vor? Ich hatte ein flaues Gefühl.
Die beiden Männer am Zylinder hatten ihr Werk vollendet. An den Gesten erkannte ich, dass einer der beiden etwas zu den übrigen sagte, was von meiner Position aus nicht zu hören war. Es schien ein Zeichen für den Schluss der Arbeit gewesen zu sein, denn die Leute holten aus einem von mir nicht einsehbaren Winkel Jacken und Mützen und schickten sich an, die Blechhütte zu verlassen.
Jetzt war es aber höchste Zeit, mich aus dem Staub zu machen! Ich wollte losrennen, doch da öffnete sich schon die Tür, und so schien es mir unauffälliger, mich mit ruhigen Schritten zu entfernen, von hinten war ich vermutlich nicht von den anderen zu unterscheiden …
Doch da hörte ich eine Stimme, die zweifellos mir galt: »He, du … Was machst du hier?« Er hatte englisch gesprochen, mit einem harten Akzent.
Da ich mich an einer überdachten Stelle befand, wo der Schatten etwas tiefer war, konnte er mich kaum erkennen. Ich zog mir die Mütze tiefer ins Gesicht, drehte mich um und rief: »Ich hab’s eilig … bin gleich wieder da.« Dabei bemühte ich mich, in ähnlich hartem Tonfall zu sprechen, und deutete in die von mir eingeschlagene Richtung.
Ich bog um die Ecke, hinter der die Toilette stand, öffnete die Tür – und warf sie mit lautem Knall zu … von außen, denn nun hatte ich es wirklich eilig. Ich zog mir die Schuhe von den Füßen und lief in Socken lautlos zur nächsten hinaufführenden Treppe. In einer Ecke blieb ich kurz stehen und sah mich um … Dort tauchte ein Mensch auf, sah sich kurz um – und verschwand wieder.
Verdammt, das war knapp gewesen. Nichts wie weg! So rasch ich konnte, lief ich die Stufen hinauf … Vor Aufregung spürte ich zuerst nicht einmal das kalte Metall an den Fußsohlen, und auch als dann die Kälte durchdrang, hielt ich durch, bis ich die Pforte zum Hotelinneren erreichte. Ich packte den Werkzeugkasten, trat ein, verschloss die Tür und verstaute den Schlüssel. Dann setzte ich mich auf eine Kiste und rieb mir die Füße, die sich nun wie Eisklumpen anfühlten. Es dauerte lang, bis ich sie wieder auf normale Temperatur gebracht hatte und mich so weit erholt hatte, um den Schlüsselkasten wieder in die ursprüngliche Form zu bringen. Dann sah ich zu, dass ich in mein Zimmer kam.
Meine Füße schmerzten; ohne die Impfung mit dem Kältemittel, die ich zur Vorbereitung meiner Reise bekommen hatte, hätte ich mir sicher Erfrierungen zugezogen. Jetzt fehlte mir nur noch eine heiße Dusche. Ich streifte die Kleider vom Leib, drehte die Brause auf und genoss es, als sich das Wasser über mich ergoss.
Meine Bekanntschaft mit Ellen und das, was sich daraus entwickelt hatte, stand in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem, was ich immer noch als unabdingbare Pflicht ansah. Für einen in jeder Hinsicht unabhängigen Einzelgänger wie mich war damit ein völlig neues Element in mein Leben getreten – die Ahnung von etwas Schönem und Wertvollem. Unter anderen Umständen hätte es mich voll und ganz erfüllen können. Jetzt allerdings …
Erst später drängte mich diese verwirrende und beunruhigende Situation zum Vergleich mit früheren Erfahrungen, und wieder einmal stieß ich bei meinen Versuchen, mich zu erinnern, auf eine düstere Leere. Manchmal gelang es mir, für kurze Momente etwas Vergangenes wachzurufen; es waren keine konkreten Ereignisse oder Bilder, sondern eher Gefühle, deren Ursachen und Zusammenhänge ich nicht zu fassen bekam – sobald ich es versuchte und schon glaubte, etwas davon festhalten zu können, verflüchtigte es sich auch schon wieder. So vage diese Eindrücke auch waren, so brachten sie doch eine gewisse Ahnung mit sich, dass ich früher einmal zu Gefühlen fähig gewesen war, die dem nahe kamen, was ich jetzt empfand. Es war, als hätte es sich vor langer Zeit zugetragen, und der Verdacht lag nahe, dass auch der Verlust dieses Stücks meiner Vergangenheit an dem Eingriff lag, den man an mir vorgenommen hatte.
Diese Maßnahme war mir bisher erklärlich und akzeptabel erschienen, es war ja die übliche und wahrscheinlich auch die einzig wirksame Art, Agenten davor zu bewahren, ihre Geheimnisse preiszugeben. Doch zum ersten Mal nahm ich es meinen Auftraggebern übel, dass sie mir etwas weggenommen hatten, das Teil meiner Persönlichkeit war. Trotzdem glaubte ich zu wissen, dass alles, was früher geschehen war, nicht an das herankam, was ich in diesen Tagen erlebte.
Ich hatte nicht viel Zeit, mich diesen Gedanken hinzugeben, denn einerseits gab es genug zu tun, und während der kurzen Stunden, in denen ich mit Ellen zusammen war, erschien diese Art von Seelenforschung gegenüber der Realität ohne größere Bedeutung.
So fühlte ich mich geradezu glücklich, als ich am Morgen des nächsten Tages mit Ellen in der Kantine beim Frühstück saß. Jetzt erst kam ich dazu, ihr von meinem Erlebnis während des Erkundungsgangs auf der Bohrinsel zu erzählen. Über die Tatsache, dass dort Techniker am Werk waren, die sich an den Einrichtungen zu schaffen machten, war sie erstaunt und beunruhigt – sie konnte sich nicht vorstellen, was da vor sich ging. Denn von einer bevorstehenden Probebohrung war ihr nichts bekannt. Es war durchaus möglich, dass diese Leute mit simplen technischen Wartungen beschäftigt waren, aber ebenso gut konnten ihre Aktivitäten im Auftrag unserer Gegner erfolgen. Für alle Fälle nahm ich mir vor, ein Auge darauf zu haben.
Ellen verabschiedete sich bald, und ich holte mir noch einen Teller mit eingelegten Früchten, bevor ich mich in das Zimmer zurückzog. Ich schaltete den Nachrichtenkanal des Fernsehens ein.
Ein weiteres Mal beschwor der Kommentator die Ruhe dieser Zufluchtsstätte, die die Delegierten vor der Zudringlichkeit der Neugierigen bewahren sollte. Hier konnten sie sich frei bewegen, ohne die Bodyguards, die ihnen ständig auf den Fersen waren, um sie vor Anschlägen zu schützen; ohne die Medienberater, die ihnen ununterbrochen zuflüsterten, wie sie sich geben und was sie sagen sollten; ohne die Protokollbeamten, die ihnen vorschrieben, wen sie mit einer Verbeugung, mit einem Händedruck, mit einer Umarmung oder auch mit herablassendem Zuwinken grüßen sollten.
Zwischendurch gab es ausführliche Informationen über die teilnehmenden Persönlichkeiten. Man sah sie bei früheren Veranstaltungen, bei Interviews, in ihren Privaträumen und im Privatleben – ganz offensichtlich ging es darum, ihre Wichtigkeit zu unterstreichen. Vielen von ihnen war ich in den letzten Tagen bereits im Hotel begegnet, die meisten waren mir aus den Medien bekannt, aber jetzt sah ich sie mir natürlich mit anderen Augen an. Aus den Szenen, die sie bei früheren Anlässen, bei öffentlichen Sitzungen oder bei Feierlichkeiten zeigten, konnte man schließen, dass sich die meisten gut kannten und ein herzliches Verhältnis zueinander hatten. Spielten sie alle nur Theater? Denn aus früheren Meldungen wusste ich, dass es auch erbitterte Gegner unter ihnen gab.
Ein »entscheidender Schritt zur Gemeinschaft aller Menschen auf der Erde« sollte es werden, das verkündete der Reporter. Doch für wen von diesen mächtigen und stolzen Personen war das wirklich das vorherrschende Ziel, und wer gab es nur vor? Wer hatte gute Absichten, und gegen wen musste man sich wehren? Wer war ehrlich oder falsch, wer war wohlwollend oder missgünstig, wer war stark oder schwach, wer war intelligent, und wer ließ sich übertölpeln? In den nächsten Tagen würde es sich erweisen.
Was ich da zu sehen bekam, begann mich bald zu langweilen. Jetzt, da ich mit meinen Vorbereitungen fertig war und es nur noch darum ging, auf die Ereignisse, die da kommen sollten, zu warten, wurde ich plötzlich ungeduldig. Aber diese paar Stunden würden auch noch vorübergehen, und dann war die Zeit der Vorbereitungen und des Wartens vorbei.
Regenwolken hingen reglos über den Häusern. Sie hatten sich im Tal gefangen.
Es nieselte. Und so trüb wie der Tag war auch Robins Stimmung. Er begriff nicht, wie Michèle ihn so abrupt verlassen konnte. Noch als er vor dem Hochbau des Gerichtshofs ankam, gingen ihm die Erlebnisse des letzten Abends durch den Kopf.
Schon am Eingang merkte er, dass sich etwas Ungewöhnliches ereignet hatte, und das lenkte ihn ein bisschen von seinen Grübeleien ab. Und dann las er auf der großen Tafel im Foyer: »40 Angehörige des Internationalen Gerichtshofs verhaftet.«
Im Eingangsbereich hatten sich Gruppen gebildet, die über diese Meldung diskutierten und sich nicht erklären konnten, was da geschehen war. Zum allgemeinen Erstaunen gehörten die meisten Festgenommenen dem Sicherheitsdienst an. … »wegen Steuerhinterziehung«, hieß es, was die Sache für die Uneingeweihten noch merkwürdiger machte. Donnerwetter, dachte Robin, es ist tatsächlich so verlaufen, wie Josz es geplant hatte.
Diese Neuigkeit vermochte Robins trübe Stimmung für kurze Zeit zu vertreiben. Eilig suchte er sein Büro auf – er war gespannt darauf, Einzelheiten des Coups zu erfahren. Es merkte, dass das Alarmlämpchen seines Vidiphons blinkte … Als er die Verbindung zum Anrufer herstellte, hörte er die aufgeregte Stimme von Masterson. Er sagte nur: »Josz ist bis jetzt nicht eingetroffen, und ich kann ihn nicht erreichen. Es gibt eine Menge zu tun, ich komme allein nicht zurecht. Bitte, komm in mein Büro.«
Robin versprach es. Vorher versuchte er noch rasch, Michèle zu erreichen, doch er erfuhr, dass sie in einer Besprechung sei und nicht gestört werden dürfte.
Zu dem Direktionsassistenten hatte Robin kein gutes Verhältnis. Den störte es offenbar, dass Robin in den letzten Wochen an Prestige gewonnen hatte, und er sah ihn als Konkurrenten. Doch an diesem Morgen war alles anders: Es war deutlich zu bemerken, dass Masterson ein Stein vom Herzen fiel, als Robin im Büro auftauchte, wo er den Assistenten bleich und aufgelöst vorfand. Josz war an diesem Morgen nicht ins Büro gekommen, wo sie sich schon um sechs Uhr früh hatten treffen wollen, und bisher waren alle Nachforschungen nach ihm vergeblich geblieben.
»Ich weiß nicht, was ich noch tun könnte«, jammerte Masterson, und Robin empfand fast Mitleid mit ihm und versuchte, ihn zu beruhigen. »Ich werde die Sache in die Hand nehmen. Es müssen ja Spuren zurückgeblieben sein, die man finden kann. Es sei denn, Josz hat sich in Luft aufgelöst?« Er konnte sich diesen kleinen Spott nicht verkneifen, doch er fuhr gleich wieder ernst fort: »Ich melde mich, sobald ich etwas herausgefunden habe.«
Als Robin sich dann mit seinem Recherchiersystem auf die Suche machte, wurde er allmählich unruhig. Hatte er zu viel versprochen? Josz schien wirklich spurlos verschwunden zu sein. Dann aber erinnerte sich Robin an eine recht merkwürdige Tatsache, der er bisher keine Bedeutung beigemessen hatte: Außer Josz waren auch ein paar Mitarbeiter des Gerichtshofs verschwunden, die nicht der betroffenen Sicherheitsabteilung angehörten. Was waren das für Leute? Gehörte vielleicht auch Josz dazu? Robin ließ sich von einem Kollegen des Steueramts die Listen der verhafteten Personen geben – und tatsächlich: Da stand auch der Name seines Vorgesetzten. Unwillkürlich fragte er sich, ob auch Josz in fremdem Auftrag gearbeitet haben könnte, aber diesen Gedanken, der aller Logik widersprach, verwarf er sofort wieder. Was steckte nur hinter dieser merkwürdigen Festnahme?
Er setzte sich mit dem Kollegen von der Steuer in Verbindung, der ihm allerdings über das Netz keine weiteren Akten zukommen lassen wollte. Nachdem sie eine Weile diskutiert hatten und Robin ihn auf die Möglichkeit von Irrtümern hingewiesen hatte, einigten sie sich darauf, die Akten gemeinsam durchzusehen, und Robin machte sich auf den Weg ins Steueramt.
Als sie dann vor dem Bildschirm saßen und sich die Daten der Verhafteten vornahmen, machte Robin den Kollegen auf etwas aufmerksam, was diesem offenbar nicht aufgefallen war: Während sich bei den meisten die unversteuerten Beträge auf Zuwendungen von unbekannter Seite bezogen, waren bei Josz beim Spielen erzielte Gewinne angeführt. War Josz vielleicht heimlich dem Glücksspiel verfallen? Im Übrigen erschienen die erwähnten Summen im Vergleich mit den anderen lächerlich gering, womit sich wohl auch eine Verhaftung erübrigte.
Der Steuerbeamte war nicht dieser Meinung: »Der Mann hat Steuern hinterzogen, und das schon seit Jahren«, sagte er. »Außerdem hat er die Polizisten, die ihn festnehmen wollten, tätlich angegriffen.« Doch er versprach, die Angelegenheit schnell zu bearbeiten, und er verschaffte Robin auf dessen Bitte hin sogar die Erlaubnis, Josz im Gefängnis zu besuchen.
Als Robin den Ausdruck der Liste zurückgeben wollte, blieb sein Blick an einem anderen Namen hängen, mit dem er nicht gerechnet hätte: Fay McCain. Was war hier geschehen? Vielleicht ein weiterer Irrtum? Er zeigte dem Steuerbeamten die betreffende Stelle in der Liste, und dieser schaute sie sich misstrauisch an. »Hier ist aber ein hübsches Sümmchen eingetragen«, sagte er, und tatsächlich: Es handelte sich um einen nennenswerten Betrag.
»Es könnte ein Missverständnis sein«, sagte Robin. »Eventuell gibt es einen Zusammenhang mit meinen Ermittlungen. Darf ich auch mit ihr sprechen?«
Nach einer kurzen Diskussion ließ sich der Beamte überreden.
Robin hatte gar nicht gewusst, wo in dieser Stadt das Gefängnis lag, und als ihn ein Wagen des Steueramts dorthin brachte, war er recht erstaunt darüber, dass es hier, in diesem ehemals so mondänen Kurort, so etwas gab: einen schmutzig grauen Bau, in dem Verbrecher eingesperrt wurden. Schon von außen fielen die Reihen winziger, vergitterter Fenster auf, die mit ihrem stereotypen Muster die ganze Vorderfront überzogen.
An der Pforte gab Robin seine I-Card ab, auf der die Erlaubnis für einen Besuch des Gefängnisses vermerkt war, und kurz darauf ging er mit einem ihm zugeteilten Polizisten einen endlosen Gang entlang, wo er hinter Gittern eingesperrte Personen sah. Dieser Anblick kam ihm unwirklich vor – wie ein Bild aus einem der historischen Filme, die er sich hin und wieder anschaute. Und dann hielt der Beamte vor einem der Verschlage, öffnete die Tür und sagte: »Zehn Minuten.« Er ging einige Schritte zurück und blieb wartend stehen, während Robin eintrat und mit merklicher Beklemmung registrierte, dass sich die Metalltür hinter ihm schloss.
Die zerknitterte Gestalt, die sich da von einer schmalen Lagerstätte erhob, war kaum zu erkennen. Die Kleidung verschmutzt, die Nase geschwollen und die Oberlippe zerschnitten. Es war Josz.
»Um Himmels willen, Robin«, sagte der Gefangene, »was ist nur mit mir geschehen – warum wurde ich festgenommen?«
»Hast du dich gewehrt?«, fragte Robin.
»Ich war doch im Recht«, verteidigte sich Josz. »Das muss ein verrückter Irrtum sein. Wie konnte unsere Aktion so fehllaufen!« Er war schwer zu verstehen, da ihn die schmerzende Lippe beim Sprechen behinderte.
»Bleib ruhig, ich hol’ dich hier heraus.« Robin setzte sich auf den Metallstuhl und deutete Josz an, dass er sich auch setzen sollte. »Vor allem, und das ist das Wichtigste: Deine Aktion war ein voller Erfolg. Du hast nur eine Kleinigkeit übersehen: Ihr habt beim Kegeln um Geld gespielt, und du hast dabei einiges gewonnen. Du hast es nicht versteuert, aber da die Beträge in den Unterlagen des Sportvereins festgehalten wurden, blieb das nicht verborgen. So bist du selbst ins Netz geraten.«
Der Gesichtsausdruck von Josz war unbeschreiblich: Erstaunen, Unglauben, Fassungslosigkeit … Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte man darüber lachen können, dachte Robin, aber er verkniff es sich.
»Die Beträge sind so klein, dass du sicher schnell entlassen wirst«, erklärte Robin. »Ich habe auch mit dem Beamten gesprochen, der dich festgenommen hat. Er hat im Übrigen nur seine Pflicht getan. Du hättest dich nicht wehren sollen. Was hast du ihm denn getan?«
»Nur ein Tritt ans Schienbein«, antwortete Josz kleinlaut. »Nicht der Rede wert.«
»Tätlicher Angriff auf einen Polizisten beim Ausüben seiner Pflicht«, zitierte Robin aus dem Gesetzbuch. Doch dann versuchte er den Kollegen zu beruhigen: »Keine Angst – sobald die Formalitäten erledigt sind, bist du frei.«
»Wann wird das sein?«, fragte Josz.
»Ich tu mein Bestes«, versprach Robin. »Vielleicht noch heute.«
Draußen näherte sich der Aufseher. »Die zehn Minuten sind vorüber.«
Robin verabschiedete sich von Josz und versprach noch einmal, die Freilassung so rasch wie möglich zu veranlassen. Dann wandte er sich an seinen Begleiter und nannte ihm den Namen von Fay.
»Die sitzt im Frauentrakt«, meinte der Beamte.
Sie kehrten zur Pforte zurück, und Robin wurde der Obhut einer Aufseherin übergeben. Sie führte ihn in ein anderes Geschoss des Gebäudes, doch im Grunde sah ein Gang aus wie der andere.
Die Frau in Uniform blieb stehen und wies auf eine Gittertür. »Hier ist es.«
Wieder wurden Robin zehn Minuten zugestanden.
Es war tatsächlich Fay, die ihm entgegenkam und ihn erstaunt musterte. Sie sah gut aus wie immer, offenbar hatte sie sich bei der Festnahme nicht gewehrt.
»Ich hätte nicht erwartet, dich hier wiederzusehen«, sagte Robin. Sie waren voreinander stehen geblieben und blickten beide etwas überrascht.
»Warum bist du gekommen?«, fragte Fay. »Ich dachte, du hast kein Interesse an mir.«
»Es lag an den Umständen«, sagte Robin, ohne dazu weitere Erklärungen abzugeben. »Aber ich habe es nicht glauben können, als ich deinen Namen auf der Liste fand. Wie ist es dazu gekommen?«
»Willst du mich verhören?«, fragte Fay.
»Aber nein«, antwortete Robin. »Du musst mir nicht antworten. Ich kann auch gleich wieder gehen.«
»Was willst du denn wissen?«
Auch in diesem Raum gab es nur einen Stuhl. Fay deutete darauf und setzte sich selbst auf die Kante ihrer Liege.
»Ich kann mir nicht erklären, warum du hier im Gefängnis sitzt. Das kann doch nur ein Irrtum sein. Vielleicht kann ich dir helfen.«
Nun wirkte Fay schon ein wenig freundlicher. »Ich kann es mir auch nicht erklären. Angeblich handelt es sich um ein Steuervergehen. Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr.«
»Eben habe ich einen Freund besucht«, sagte Robin. »Er ist aus Versehen festgenommen worden. Der Betrag, um den es da geht, ist lächerlich gering, er hat ein paar Mal beim Wettkegeln gewonnen. Ich bin sicher, dass ich ihm helfen kann. Vielleicht kann ich auch etwas für dich tun. Um welche Beträge handelt es sich? Wofür hast du Geld bekommen?«
Fay zögerte etwas mit der Antwort. »Ich habe Material gesammelt. Für einen Journalisten, er wollte einen Artikel über den Gerichtshof schreiben. Dafür hat er mir ein Beschaffungshonorar gegeben – ohne Quittung, es sollte unter uns bleiben.«
Robin wiegte abschätzend den Kopf, »– wenn das alles ist! Ich werde dafür sorgen, dass man dich entlässt.«
»Das wäre fein«, antwortete Fay, doch ihrem Gesichtsausdruck ließ sich entnehmen, dass sie in Robins Versprechen nicht allzu viel Vertrauen setzte. Robin nickte ihr zu: »Es kommt schon alles in Ordnung«, versprach er. Er drehte sich um und winkte der Polizistin, die so tat, als hätte sie die beiden nicht die ganze Zeit beobachtet. »Ich bin fertig.« Sie versperrte die Tür und führte Robin zur Pforte zurück.