Noch zwei, höchstens drei Stunden bis zum Ziel – so hatte ich es mir ausgerechnet, als ich meine Wanderung begann. Es war später Vormittag gewesen, als ich aufgebrochen war. Es dauerte viel länger.
Nun ging der Tag dem Ende zu, die Sonne stand schon tief, ihr Schein drang nur trüb durch die Wolken, die sich merklich verdichteten. Das schöne Wetter reichte wohl nur für ein kurzes Zwischenspiel aus. Doch für mich sollte das genügen, denn auf der Landkarte im Display der Satellitenortung sah ich, dass ich nur noch ein kurzes Stück zu gehen hatte. Trotzdem bemerkte ich noch nichts von der Eisinsel und vom Globe-Hotel, denn vor mir lag eine Kette flacher Hügel, die die Sicht ins Tal verstellte.
Die schlechten Lichtverhältnisse waren der Grund dafür, dass ich unversehens vor einem Hindernis stand, das ich in der Arktis nicht erwartet hätte: ein dicht gezogener Stacheldrahtzaun.
Zuerst sah ich darin kein Problem. Ich blickte mich nach beiden Seiten um, der Zaun schien endlos weiterzulaufen, nirgends war ein Ende zu erkennen. Dann sah ich mir das Hindernis genauer an – vielleicht konnte ich mir mit meinem Taschenlaser eine Bresche schneiden, aber wie eine genauere Besichtigung ergab, war daran nicht ernsthaft zu denken, ich hätte stundenlang herumgewerkelt.
Es war doch lächerlich, dass ich hier, so kurz vor dem Ziel, nicht mehr weiterkam. Es musste doch irgendwo einen Durchgang geben. So machte ich mich auf den Weg und wanderte den Zaun entlang, in willkürlich gewählter Richtung nach Süden. Ich hatte weit zu gehen, bis ich einen Durchgang fand: ein breites, aus Leichtmetallstangen errichtetes Gatter, das sich glücklicherweise zur Seite schieben ließ.
Als ich auf der anderen Seite angekommen war, stand da ein Schild mit dem Hinweis: DURCHGANG UNTERSAGT – durch Zuwiderhandeln verursachte Unfälle sind von der Versicherung nicht gedeckt. Nun gut, immerhin befand ich mich jetzt wieder in einer zivilisierten Gegend.
Wie ich zugeben muss, war es ganz angenehm, wieder auf einem richtigen Weg zu gehen. An Papierkörben und Rastplätzen vorbei wanderte ich in leichter Schräge abwärts. Und endlich konnte ich mir die Insel, den Bohrturm und das merkwürdige Bauwerk des Globe-Hotels genauer ansehen. Die umfangreiche Anlage stand auf fünf stelzenartigen Beinen hoch über dem Wasserspiegel. Das Hotel selbst war am Rand der untersten und größten Plattform errichtet worden, nach Westen hin mit den Verstrebungen des Bohrturms verbunden, so dass eine seltsame Kombination von Technik und phantastischer Architektur entstanden war.
Ich hielt mich hier nicht lange auf, sondern schritt zügig weiter, und dabei konnten mich ein paar vereiste Treppen und Schneeverwehungen nicht stören. Unten erreichte ich eine Eisfläche, auf der die Ketten- und Radspuren von Fahrzeugen ein seltsam verschlungenes Muster bildeten. Sie drängten sich auf einer Seite zusammen; hier lag, am blauen P-Schild zu erkennen, ein Parkplatz, der derzeit unbenutzt war.
Von dieser Stelle waren es nur noch 400 Meter bis zum Ufer des Sees, man konnte aber auch einen anderen Weg nehmen, der seitlich weiterführte, und zwar in Richtung auf eine Gruppe von phantastisch geformten Eisgebilden. Hier war eine Traumlandschaft aus Eis und Wasser entstanden, Pfeiler, Podeste, Brückenbogen, steile grünlich-weiß gestreifte Eiswände, ovale Eingänge zu Grotten, von Eiszapfen verhangen – es sah aus, als wäre hier eine Gruppe nicht ganz nüchterner Landschaftsgestalter am Werk gewesen. Vermutlich war das als Tummelplatz für die Hotelgäste gedacht. An einigen Plätzen standen Laternen, und da und dort konnte man auch diskret angebrachte Scheinwerfer erkennen; es fehlte nur noch ein Podium für Musiker für eine Son-et-lumière-Veranstaltung. Doch auch hier war derzeit alles menschenleer.
Ich hatte allerdings kein besonderes Interesse an diesen Attraktionen, jetzt wollte ich endlich mein Ziel erreichen. Das letzte Stück des Weges war breit, mit Sand bestreut und an abschüssigen Stellen mit gestanzten Blechplatten belegt. Nach wenigen Minuten erreichte ich das Ufer.
Ich brauchte mich nicht lange nach einer Verbindung zum Hotel umzusehen. Nicht weit von mir entfernt lag eine Anlegestelle, die man von einem Parkplatz über Treppen erreichen konnte. Direkt am Wasser stand der große, flache Bau eines Bootshauses. An der mir zugewandten Seitenwand lag eine Schaluppe, die mit Seilen an einem Pfosten befestigt war. Ich kletterte hinein und nahm meinen Rucksack ab. Am Heck fand ich einen Außenbordmotor unter einer Plane. Ich legte ihn frei und schwenkte ihn über das Wasser.
Hoffentlich ließ er sich anwerfen! Ich drückte den Knopf für den Anlasser, und schon beim zweiten Versuch sprang der Motor an. Ich löste die Vertäuung und tauchte die Schraube ins Wasser. Zuerst langsam, dann aber immer schneller glitt ich über die Oberfläche. Ich atmete auf: Endlich war ich am Ziel.
Als ich näher herankam, merkte ich erst, wie groß die Anlage war, und konnte sie mir genauer ansehen. Ich erkannte einen turmartigen Aufbau und drumherum angeordnet fragil erscheinende Metalltreppen, die in verschiedenen Höhen liegende Decks miteinander verbanden. Eines davon, von der großen Plattform aus durch eine Brücke erreichbar, diente als Landefläche für Helikopter, vermutlich die einzige Möglichkeit, diese abgeschiedene Stätte auf einigermaßen bequeme Weise zu erreichen. Auf den anderen Ebenen standen Container, Behälter und Stapel von Röhren. Ein großer, aufrecht stehender Behälter diente wohl als Trinkwassertank. Eine besondere Note bekam die Konstruktion durch eine ganze Reihe schief in die Höhe ragender Kräne.
Während der Fahrt brach die Dunkelheit herein. Das monströse Bauwerk zeichnete sich nun schwarz gegen den etwas helleren Himmel ab, man konnte die Fenster gerade noch als rechteckige Umrisse erkennen, nur wenige waren erhellt. Wenn das die Flucht der Gastzimmer sein sollte, dann stand das Hotel so gut wie leer.
Endlich hatte ich mein Ziel erreicht und befand mich unterhalb eines dachartigen Vorbaus. Vor mir ein großer Schwimmkörper, einer der Pontons, die die Bohrinsel über Wasser hielten, und daran saß eine Plattform, die zum Andocken vorgesehen war. Ich fuhr geradewegs darauf zu und vertäute das Boot. Von dort aus führte eine steil ansteigende Leiter zu einem schmalen, durch ein Geländer geschützten Deck. Ich schulterte meinen Rucksack und stieg hinauf.
An der Seite regte sich etwas, eine Gestalt löste sich aus dem Schatten und trat auf mich zu.
»Da bist du ja endlich. Ich hatte dich schon vor zwei Tagen erwartet.«
Es war eine Frau, so viel konnte ich in der Dämmerung erkennen, und in ihrer Stimme war Tadel zu spüren. »Ich bin Ellen Warwick. Komm, ich bringe dich zum Eingang.«
Ich wollte etwas fragen, doch Ellen ging schon voraus. Sie beleuchtete den Weg mit einer Taschenlampe, und nun konnte ich etwas mehr von ihr sehen – sie trug einen Overall und Stiefel, auf dem Kopf hatte sie eine tief in die Stirn gezogene Fellmütze.
Sie führte mich zu einem Zwischengeschoss, ein stützender Unterbau für die große Plattform, auf der der Bohrturm wie auch der Kugelbau des Hotels ruhten. Es bestand aus einem Fachwerk von Stahlstreben, in seiner Mitte führte eine Wendeltreppe weiter hinauf. Wir befanden uns auf einem schmalen und stark vereisten Weg, der offenbar selten benutzt wurde. Er endete an einer windgeschützten Stelle, die von einer Mauer begrenzt war. Ich erkannte eine schmale Gittertür, dahinter eine weitere Treppe, und wollte darauf zugehen, doch Ellen hielt mich am Ärmel zurück und zog mich in eine Nische an der Wand.
»Dort oben liegt der offizielle Eingang, alle anderen sind derzeit gesperrt. Dort musst du durch eine Kontrolle. Die Sicherheitsvorschriften sind streng. Deine Ankunft wird etwas Aufsehen erregen, aber du brauchst ja nur deine Geschichte zu erzählen.«
Ich wusste nicht, wovon sie sprach. »Was für eine Kontrolle? Was ist denn hier los?«
Ellen blickte mich einen Augenblick lang verdutzt an. Dann sagte sie: »Ach, ich verstehe – du musst vorsichtig sein.« Sie überlegte kurz. »Ich habe jetzt keine Zeit, meine Identität nachzuweisen. Tu einfach, was ich dir sage. Also: Hier wartest du fünf Minuten. So habe ich genug Zeit, um hineinzugehen, denn sicher wird man mich rufen …«
»Ich dachte, alle anderen Zugänge sind versperrt«, wandte ich unwillkürlich ein.
»Ich bin die Geschäftsführerin und habe einen Universalschlüssel. Hast du verstanden, was zu tun ist?«
Ich nickte.
»Wir sehen uns gleich wieder. Aber kein Wort darüber, dass wir uns bereits getroffen haben. Ist das klar?«
»Verstanden.«
Ellen nickte mir flüchtig zu und ging den Weg zurück, den wir gekommen waren. Das Geräusch ihrer Schritte ging im Sturmwind unter, der hier, zwischen den Streben, freie Bahn hatte.
Ich blickte auf das Display meiner Uhr. Jetzt hatte ich erst einmal Zeit, um diesen seltsamen Empfang zu verarbeiten. Ich verstand nichts, dennoch zweifelte ich keinen Moment daran, dass ich Ellens Anweisungen folgen musste.
Fünf Minuten waren vergangen. Ich zögerte noch … war es die Unsicherheit, das Irritierende dieser Situation, was mich störte? Dann gab ich mir einen Ruck, warf den Rucksack über und ging los.
Eine breit ausladende Terrasse, ein paar flache Stufen, links und rechts ein Geländer, das aussah wie aus Kupfer geschmiedet. Ich hatte es von der Seite her, durch eine schmale, unauffällige Pforte, betreten. Der Boden geriffelt, aus einer Masse wie Beton, sauber, völlig frei von Schnee oder Eis. Wurde er beheizt? Mir kam es so vor, als fühlte ich Wärme aufsteigen.
Eine ganz leicht ansteigende Ebene, vor mir das Portal, eine zweigeteilte Glaswand. Als ich mich ihr näherte, glitten die beiden Flügel lautlos auseinander.
Ich trat in ein Foyer, das sich über mehrere Stockwerke erstreckte, die Etagen von hier unten durch Kränze kupferfarbenen Geländers zu erkennen. Ansonsten eine Hotelhalle wie viele andere auch, wenn auch weitaus feudaler. Teppiche, Blumentröge, Aquarien, im Hintergrund offene Durchgänge zu Seitenräumen, darin altertümliche Möbel großzügig verteilt. Wo waren die Kontrollen?
Ich hörte einen leisen Glockenton, und hinter einem Pult an der Rezeption erhob sich ein Mann in brauner Livree, der sich verstohlen die Jacke zuknöpfte und mir entgegenschaute. Plötzlich stand ein Page mit Käppi neben mir und nahm mir den Rucksack ab.
»Willkommen in unserem Haus. Ich bin der Concierge. Haben Sie reserviert?«
Ich kam nicht zum Antworten, denn ein Mann in schwarzem Anzug war aufgetaucht und schob den anderen beiseite.
»Entschuldigen Sie diese dumme Frage«, sagte er. »Ich bin der Gästebetreuer. Offenbar kommen Sie von außen, es ist nicht zu verkennen. Das ist höchst merkwürdig. Wie sind Sie denn hierher gelangt? Aber lassen wir das jetzt – es hat Zeit. Sie wirken mitgenommen. Legen Sie doch die Jacke ab. Und setzen Sie sich – am besten dort drüben.«
Ich wollte seiner Aufforderung folgen … und zuckte zusammen: zwei Maschinenpistolen waren auf mich gerichtet, eine von links, eine von rechts.
»Oh«, rief der Gästebetreuer, »keine Sorge, das ist nur eine Formalität. Leider unumgänglich. Wir haben eine Menge berühmter Politiker im Haus. Doch um die Sache abzumildern, haben wir nette Damen mit dieser Dienstleistung betraut.«
Tatsächlich: Es waren junge Frauen in grauen Uniformen; die Mündungen ihrer Waffen blieben präzise auf mich gerichtet, und ihre Gesichter ließen keine Milde erkennen. Inzwischen hatte ich meine Fassung wiedergefunden und versuchte diese Episode von der heiteren Seite zu betrachten. Ich setzte mich.
»Ihre Ankunft war nicht vorgesehen«, erklärte der Gästebetreuer. »Sie müssen wissen, dass in diesen Tagen hier die Konferenz beginnt.«
»Ich war mit einem Flugzeug unterwegs, doch dann musste ich abspringen – ein Notfall.«
Jetzt erst ging mir ein Licht auf: Ja, ich hatte davon gehört, in diesen Tagen sollten ja die internationalen Gespräche beginnen. An einem abgeschiedenen Ort, so hatte es geheißen. Könnte das der Tagungsort sein? Und genau da war ich hineingeraten! Was für ein merkwürdiger Zufall.
Jetzt fand ich das, was mir Ellen mitgeteilt hatte, schon ein wenig verständlicher, und ich wartete keine Aufforderung ab, sondern erzählte meine Geschichte.
Der Mann hörte interessiert zu, und dann sagte er: »Da haben Sie ja einiges mitgemacht. Ich will sehen, dass Sie möglichst rasch versorgt werden und zur Ruhe kommen. Aber Sie werden sicher verstehen: Ich muss zumindest Ihren Ausweis prüfen. Haben Sie Ihre I-Card dabei?«
Ich holte den Chip heraus. »Ist das das Richtige?«
»Oh, sehr gut. Einen Moment bitte …« Er nahm die Marke und ging damit zur Rezeption – wahrscheinlich kopierte er sie, denn es dauerte nur ein paar Sekunden.
Damit war aber die Prozedur noch nicht beendet.
»Bitte, nehmen Sie noch einmal kurz Platz«, bat mich der Angestellte. »Noch eine kleine Kontrollaktion. Ich habe das Personal schon gerufen. Es tut mir leid«, fügte er hinzu, »es dauert alles etwas länger, aber Ihre Ankunftszeit ist ungewöhnlich. Soll ich die Musik einschalten?«
Ich verzichtete darauf – allmählich begann ich die Geduld zu verlieren.
»Darf ich Sie bitten, mitzukommen?« Mein Betreuer wies auf einen Gang hinter der Rezeption und öffnete eine Tür. »Hier sind wir schon.«
Die Frau, die mich in Empfang nahm, war ihrem grünen Kittel nach zu urteilen eine Ärztin, der junge Mann neben ihr konnte ein Assistenzarzt sein. Im Hintergrund stand noch jemand, den ich fast übersehen hätte – ein bulliger Mann in einem blauen Trainingsanzug.
Die Ärztin bat mich, in einem Behandlungsstuhl Platz zu nehmen. Daraufhin entnahm sie mir eine Speichelprobe und steckte dann das Wattebäuschchen in ein LogiSet. Fast unverzüglich erschien mein Bild auf dem Schirm, das mich zu meiner Verwunderung nackt zeigte, dazu einige Datenreihen. Die Ärztin und ihr Gehilfe nickten einander zu, sie schienen mit dem Ergebnis zufrieden.
»Alles in Ordnung«, beschied mir die Ärztin und fügte dann hinzu: »– fürs Erste.«
Sie drückte einen Knopf, und der Betreuer erschien an der Tür.
»Sehen Sie, und schon ist die Sache erledigt. Es war doch nicht so schlimm, nicht wahr? Alles andere können wir morgen erledigen. Sie müssen nur noch zur Gepäckkontrolle, dann werden wir sehen, wo wir Sie unterbringen. Sicher haben Sie Verständnis dafür, dass Sie Ihr Zimmer zunächst nicht verlassen dürfen, bevor wir morgen die letzten Formalitäten erledigt haben.«
Er brachte mich in einen Raum, der sich kaum von den Gepäckschleusen auf Bahnhöfen und Flugplätzen unterschied. Der Page schleppte mit sichtlicher Mühe meinen Rucksack.
»Ich werde inzwischen die Geschäftsführerin rufen«, kündigte der Concierge an und verließ den Raum.
Zwei uniformierte Männer hatten mich bereits erwartet, und dann begann die übliche Suche nach Metall, Chemikalien, biotischem Material – mit Röntgen, Ultraschall, Molekularresonatoren und so weiter –, und das alles erheblich sorgfältiger, als es anderswo üblich war. Eigentlich hatte ich kein schlechtes Gewissen, aber eine gewisse Unruhe konnte ich dennoch nicht unterdrücken. Bald lagen sämtliche Teile meiner Ausrüstung über dem Tisch ausgebreitet, und die Beamten sahen sich alle etwas ratlos an.
Schließlich hielt mir einer der Männer mein nach wie vor defektes Funkgerät entgegen: »Ihren Sender müssen wir leider sicherstellen. Während der Konferenz besteht hier eine Nachrichtensperre, und diese Art von Gerät fällt unter die Sicherheitsbestimmungen.«
Was blieb mir anderes übrig, als mich zu fügen? Sonst aber gab es nichts zu beanstanden, ich wurde ins Foyer zurückgebracht – und dort stand Ellen und erwartete mich. Der Concierge trat vor und machte uns bekannt, dann wandte sich Ellen an mich. Zum ersten Mal sah ich sie ohne Vermummung – ein erfreulicher Anblick.
Sie blickte mich forschend an. »Ich kenne Sie vom Fernsehen und aus der Presse: Sie sind doch Sylvan Caretti. Es ist uns eine Ehre, Sie hier zu begrüßen. Die Umstände sind allerdings recht ungewöhnlich – Sie haben ja gehört: die Konferenz … Leider sind schon alle Suiten für die Diplomaten vorbereitet, und ich muss Sie in der Personaletage unterbringen. Aber ich habe dort noch ein hübsches Zimmer für Sie. Können wir gehen?«
Mit dieser Frage hatte sie sich an den Concierge gewandt, und dieser hatte unterwürfig genickt. »Die Eskorte wird Sie begleiten«, sagte er mit einer bedauernden Handbewegung.
Ellen warf mir einen kurzen verschwörerischen Blick zu. Dann führte sie mich zum Lift, und so wie angekündigt blieb eine der beiden Damen mit ihrer Waffe im Arm an unserer Seite. Auch der Page mit meinem Rucksack schloss sich uns an.
Wir fuhren ein halbes Dutzend Stockwerke hinauf und gelangten in ein Geschoss, das zwar nicht besonders luxuriös war, aber hell und sauber wirkte – stahlblau eloxierte Wände, Lampen mit Glasschirmen, nummerierte Türen …
Vor einer davon blieb Ellen stehen und öffnete sie mit einer Magnetkarte, die sie mir dann in die Hand drückte.
»Hier werden Sie nun die nächsten Tage verbringen. Richten Sie sich ein – viel Gepäck haben Sie ja nicht. Einige Kleidungsstücke finden Sie im Schrank.«
Das Zimmer war ganz nett und zweckmäßig eingerichtet: eine Sitzgarnitur mit zwei Stühlen und einer Couch, ein schmales Bett, an der Wand ein rechteckiger Tisch, auf dem ein Vidiphon und eine DigiBox bereit lagen, ein Fernsehgerät mit FlatScreen. Statt der Fenster gab es zwei runde Luken wie auf einem Schiff, in einem Nebenraum ein winziges Bad. Sicher sahen die Suiten der vornehmen Gäste ein bisschen anders aus, doch im Vergleich mit meinen Nachtlagern im Eis war es immer noch eine Stätte des Überflusses.
Während ich mich im Zimmer umblickte, musterte ich meine Begleiterin unauffällig von der Seite. Sie war nicht groß, doch sie hielt sich betont aufrecht, so dass ihre sportliche Figur gut zur Geltung kam. Für eine Geschäftsführerin eines so großen Hotels kam sie mir sehr jung vor; auf den ersten Blick schätzte ich sie auf dreißig, vielleicht auch etwas darüber.
»Ich lasse Sie jetzt allein«, sagte sie. »Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie die Rezeption an. Und morgen werde ich mich bei Ihnen melden, wir werden dann sehen, wie wir Ihnen helfen können.«
Sie wünschte mir eine gute Nacht, ging hinaus und verschloss die Tür. Ich hörte, wie sich die Sperre schloss.
Ich bin Anstrengungen und Entbehrungen gewöhnt und lasse mich nicht leicht von der Erschöpfung überwältigen, aber jetzt, da die Spannung von mir abfiel, fühlte ich mich todmüde. Ich verzichtete darauf, ein Bad zu nehmen oder den Kühlschrank nach etwas Essbarem zu durchsuchen, sondern trank nur ein Glas Wasser. Ich war zu müde, um mich auszuziehen, und so ließ ich mich samt den Kleidern auf der Couch nieder und schloss die Augen – nur ein paar Minuten, nahm ich mir vor …
Ich erwachte, weil mich jemand am Arm rüttelte. Mir war, als wären nur ein paar Minuten vergangen. Ich richtete mich auf und brauchte ein paar tiefe Atemzüge, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen – sekundenlang wusste ich nicht, wo ich mich befand.
»Hast du die ganze Nacht über hier gelegen?« Neben mir stand Ellen und blickte auf mich hinunter. »Ich habe schon einige Male angerufen. Es ist spät.«
Ich murmelte etwas Unverständliches … Erst nach und nach fielen mir die seltsamen Umstände ein, die hier herrschten.
»Es wäre gut, wenn du rasch wieder zu Besinnung kämst. Dir steht etwas Unangenehmes bevor: Der Sicherheitsoffizier will dich sprechen – heute Vormittag noch.«
Das war keine besonders verlockende Aussicht, aber angeblich hatte ich ja nichts zu befürchten.
»Setz dich doch!«, sagte sie. Sie wies auf die Sitzgarnitur und trat dann an den Kühlschrank. »Sicher hast du noch nichts gegessen?« Sie holte ein Käsebrot heraus und legte es in den Kasten der Mikrowelle. Dann goss sie Wasser in ein Glas. »Da ist etwas gegen den Durst. Aus hauseigenem Eis, mit Mineralien versetzt.« Sie lachte. Dieses Lachen wirkte auf seltsame Weise beruhigend, und ich entspannte mich.
Die Käseschnitte begann verlockend zu duften – Ellen legte sie auf einen Teller und stellte ihn zusammen mit dem Glas vor mich auf den Tisch. Dann ließ sie sich mir gegenüber nieder.
»Ich kann ja verstehen, dass du vorsichtig bist«, fuhr sie fort, »aber mir gegenüber brauchst du wirklich nicht Verstecken zu spielen.«
»Warum sollte ich Verstecken spielen? Es ist so, wie ich sage: wir gerieten auf dem Flug zu unserem Ziel in ein Unwetter. Die Maschine drohte abzustürzen. Wir machten uns zum Absprung bereit, ich war als Erster an der Reihe. Ich bin gut gelandet, die Ausrüstung hatte ich dabei, und so habe ich mich auf den Weg zum Hotel gemacht. Was aus den anderen geworden ist, weiß ich nicht.«
»Das erklärt aber nicht, warum du dich verspätet hast«, warf Ellen ein.
»Das Unwetter hielt zwei Tage lang an – ich kam einfach nicht rascher vorwärts.«
»Na schön – du hast ja nichts versäumt. Die Delegierten sind zwar schon hier, aber die Konferenzen haben noch nicht begonnen. Ich stand nämlich schon an den zwei vorhergehenden Abenden unten an der Anlegestelle. Nicht gerade gemütlich.«
Ich murmelte ein paar Worte als Entschuldigung. »Was ich nicht verstehe …«, sagte ich dann, »wieso hast du mich erwartet? Denn niemand konnte etwas von meiner üblen Lage wissen, ich war eine Woche lang völlig von der Außenwelt abgeschnitten.«
Sie blickte mich forschend an, als ob sie an meinem Verstand zweifelte, dann entspannte sich ihr Gesichtsausdruck, sie lehnte sich zurück und sagte: »Nun gut, jetzt bist du da, und darauf kommt es schließlich an. Ich glaube zu verstehen, wieso du nichts weißt. Das ist schließlich die sicherste Methode …«
Wenn sie es verstand, so sollte es mir recht sein – ich verstand jedenfalls nichts. Was war da geschehen? Spielte mir das Gedächtnis wieder einen Streich? Wozu hatte sie ihre Zustimmung gegeben? Ich wollte noch einmal damit anfangen, ihr zu erklären, was mich hierher geführt hatte, aber dann ließ ich es. Vielleicht sollte ich einfach so tun, als wäre alles in Ordnung.
»Gönn dir noch etwas Ruhe, aber vergiss den Besuch beim Sicherheitsoffizier nicht. Um zehn Uhr lasse ich dich abholen und in mein Büro bringen. Wundere dich nicht, wenn ich dich vor anderen Leuten offiziell anspreche. Ich bin die Einzige, die über deine Aufgabe informiert ist. Niemand anderer weiß von unserer Zusammenarbeit.«
Da waren sie wieder, diese seltsamen Andeutungen, aber ich nickte nur und ging nicht weiter darauf ein.
Ellen erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung aus dem niedrigen Sessel.
»Es wird schon alles gut«, sagte sie. Wieder musterte sie mich kritisch. Dann winkte sie mir zu und verließ den Raum.
Nach der langen Nachtruhe war ich gut erholt – physisch und psychisch. Ich fühlte mich wohl und ließ mich auch von dem merkwürdigen Benehmen der Managerin nicht beirren.
Ein Blick auf das Display verriet mir, dass ich noch fast eine Stunde Zeit hatte. Ich beschloss, mir zunächst ein Bad zu gönnen und nach langer Zeit wieder einmal heißes Wasser und Seifenschaum auf mich wirken zu lassen. Es war ein echter Genuss!
Da ich von der Käseschnitte nicht satt geworden war, öffnete ich den Eisschrank und stellte fest, dass mir dort ein guter Geist einige appetitlich aufgemachte Packungen mit Fertigkost hineingelegt hatte. Bald danach saß ich in einem flauschigen Morgenmantel bei einem richtigen Frühstück.
Dann sah ich nach, was für Kleidungsstücke man für mich vorbereitet hatte. Es war alles dabei, was man bei einem kurzen Aufenthalt in einem Hotel braucht: Kleidungsstücke nicht gerade von den bekannten Markenfirmen, aber bequem und genau passend. Hier war man also nicht nur über meine Ankunft, sondern auch über meine Körpermaße informiert. Mir sollte es recht sein – früher oder später würde sich das schon klären.
Ein paar Minuten später klopfte es an der Tür, draußen stand ein junger Hotelangestellter in einem schicken Dress und bat mich, ihm zu folgen. Und auch eine grau uniformierte Frau mit einer Waffe im Arm fehlte nicht. Mit dem Lift ging es einige Stockwerke hinunter, und als wir die Kabine verließen, sah ich mich erstaunt um: Hier herrschte der Luxus, der mir vorenthalten wurde: mit Samt verkleidete Wände, Teppiche dick wie der Rasen von Vorstadtgärten, wertvoll aussehende Bilder in noch wertvolleren Rahmen, gläserne Leuchter mit Goldglanz-Glühlampen und Türen, an denen man Fernsehkontakt mit den Bewohnern aufnehmen konnte. Dagegen wirkte mein Zimmer geradezu ärmlich.
In einem nicht weniger vornehm ausgestatteten Seitenteil dieses Stockwerks lagen die Räume der Direktion. Dort lieferte mich der Bedienstete ab, und ich kam in ein Zimmer, das zwar auch teuer eingerichtet war, aber mit Glas und Metall kühl und zurückhaltend wirkte: Ellens Büro. Ich betrat es von einem kleineren Nebenraum aus, in dem zwei Angestellte vor ihren Arbeitstischen saßen.
Ellen Warwick hielt sich nur kurz mit ein paar persönlichen Worten auf. »Ich hoffe, Sie hatten eine gute Nacht. Im Übrigen freut es mich, Sie persönlich kennen zu lernen. Ich erinnere mich noch an Ihren spektakulären Sprung in die Höhle, über den in allen Medien berichtet wurde. Ich habe es in Holo-Vision verfolgt. Bei diesen Aufnahmen wurde ich richtig schwindelig.«
Sie lächelte zurückhaltend, und da ich nichts dazu sagte, fuhr sie fort: »Ich werde Ihnen ein wenig über das Globe-Hotel erzählen. Sie finden es in einer besonderen Situation vor. Es ist Ihnen bekannt, dass hier der so genannte Supergipfel stattfinden wird, eine Veranstaltung, die aus verschiedenen Gründen recht ungewöhnlich ist. Auf der einen Seite ist es eine Ehre, dass wir das Hotel dafür zur Verfügung stellen dürfen. Nicht zuletzt ist es die damit verbundene Publicity, die für uns wichtig ist. Andererseits müssen wir eine Menge Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen.«
Da sie in ihren Erklärungen eine kleine Pause machte, erkundigte ich mich, worin diese bestünden.
»Es sind besonders die Sicherheitsmaßnahmen, mit denen man uns die ganze Zeit über nervt«, erklärte Ellen. »Es ist unangenehm genug, dass uns der normale Nachrichtenaustausch untersagt wurde: Wir können zwar Nachrichten empfangen, dürfen aber selbst keine Verbindung nach außen aufnehmen. Besonders störend ist es aber, dass wir außer den Politikern noch dreißig Angehörige des Internationalen Sicherheitsdienstes unterbringen müssen. Sie halten das Hotel geradezu besetzt. Sie schnüffeln überall herum. Spezialtrupps mit Suchgeräten haben alle Räume vom Keller bis zum Dach kontrolliert. Von unseren Lebensmittelvorräten wurden Stichproben entnommen und chemisch auf Gifte oder psychogene Drogen analysiert. Das gesamte Personal, ich selbst mit eingeschlossen, wurde genau geprüft – Befragungen, fast schon Verhöre. Alle Bediensteten, die erst in den letzten zwei Jahren eingestellt worden waren, mussten wir – zumindest zeitweise – entlassen. Als Ersatz kamen Leute, die von der Miliz selbst ausgesucht wurden. Ich habe meine Zweifel, dass es sich um versiertes Hotelpersonal handelt. Das ist im Übrigen das Nächste, was auch Sie über sich ergehen lassen müssen: diese Befragung. Ihre Personalien wurden ja schon bei Ihrer Ankunft geprüft, und es scheint alles in Ordnung. Aber das genügt ihnen offenbar noch nicht. Sie werden sich wundern, was diese Leute alles wissen wollen.«
Zwinkerte sie mir zu, oder bildete ich mir das nur ein? Schon sprach sie weiter. »Jetzt wird wohl noch geprüft werden, ob die Umstände Ihrer überraschenden Ankunft hier mitten im Sperrgebiet wirklich harmloser Natur sind.«
Ellen musterte mich mit einer Mischung aus Zweifel, Spott und Überlegenheit. Dann setzte sie, ohne ein Pause entstehen zu lassen, ihre Erklärungen fort. »Ich bin überzeugt davon, dass Sie diese Befragung gut überstehen. Wenn Sie das hinter sich haben, werden wir weitersehen. Bitte melden Sie sich dann gleich wieder bei mir.« Sie drückte einen Knopf, und der junge Mann, der mich hierher gebracht und im Nebenraum gewartet hatte, kam herein. »Bring Herrn Caretti in den Westflügel, wo sich die Miliz einquartiert hat. Gib ihn dort an der Sperre ab.«
Der Eintritt in jenen Teil des Hotels, in dem sich die Miliz einquartiert hatte, führte durch eine offenbar erst kürzlich eingezogene Zwischenwand; der Durchlass war durch ein bis zur Decke reichendes metallenes Drehkreuz verschlossen. Es bildete einen krassen Gegensatz zu den seidenen Teppichen und den mit Samt verkleideten Wänden.
Von der Gegenseite her hatte man offensichtlich mein Eintreffen registriert, aus der Tiefe des Gangs trat ein Uniformierter mit silbernen Spangen an den Schultern und befahl mir hereinzukommen. Ich nannte meinen Namen, worauf er einem anderen, neben ihm aufgetauchten Soldaten niedrigeren Ranges ein paar geflüsterte Anweisungen gab.
Der Mann führte mich zu einer Tür, auf der ein Schild mit der Aufschrift »Oberstleutnant Jeremy Jurema« befestigt war.
Wenig später saß ich gegenüber einem hageren Mann mit vollem schwarzem Haar und einer Hautfarbe, die leicht ins Oliv changierte. Er war in Zivil, was bei ihm wie eine Verkleidung wirkte, denn dem Aussehen und dem Benehmen nach war er Offizier. Er wies mir einen Stuhl zu und ließ mich einige lange Minuten warten, während er in bedruckten Papieren blätterte und das Gelesene mit Angaben auf einem Bildschirm verglich.
Dann blickte er auf und musterte mich. »Ist es nicht etwas überraschend, dass Sie gerade hier gelandet sind?«
»Gerade hier gelandet? Das kann man wohl nicht behaupten diese Insel war weit und breit der einzige Ort, den ich von meiner Absprungstelle aus erreichen konnte. Bis hierher waren es immerhin sechs Tagesmärsche über Eis und Schnee. Ich hatte die Insel und das Gebäude zum Glück kurz vor dem Absprung vom Flugzeug aus gesehen.«
Der Offizier blickte mich immer noch durchdringend an. »Dann erzählen Sie mir doch mal, wie es zu diesem Absprung kam. Und, wenn ich bitten darf, legen Sie die Hände hierher auf die Lehnen.«
Ich folgte seiner Anweisung. Also ein Lügendetektortest. Natürlich war mir die Situation nicht angenehm, aber andererseits fühlte ich mich insofern sicher, als ich mit meiner Geschichte einfach bei der Wahrheit bleiben konnte.
Der Oberstleutnant wandte sich wieder seinem Bildschirm zu, tippte etwas ein, wartete die Reaktion ab und verglich sie dann offensichtlich mit den anderen Unterlagen.
Das ging eine ganze Weile so weiter. Dann stellte er den Bildschirm auf Dunkel und sagte merklich freundlicher: »Ich schätze Mut und Risikobereitschaft. Sie scheinen diese Eigenschaften zu haben. Ihr Name ist mir bekannt, ich habe Sie erst vor Kurzem in einer Life-Sendung gesehen. Es ging um eine Bergbesteigung. Beachtlich, was Sie da gewagt haben.« Er nickte mir anerkennend zu. Dann stand er auf, und ich folgte seinem Beispiel. »An Ihrer Identität besteht kein Zweifel, also ist alles in Ordnung. Vielleicht können wir uns einmal am Abend auf ein Glas Wein treffen – wenn die Konferenz vorbei ist.« Er lachte, als wäre ihm etwas Lustiges eingefallen. »Diese seltsamen Vögel hier im Globe-Hotel haben sich gut mit Getränken versorgt.«
Ich bedankte mich und versuchte, mich erfreut zu zeigen. »Das wäre allerdings sehr nett. Aber Sie werden verstehen, dass ich so rasch wie möglich von hier wegkommen möchte. Meinen Sie nicht, dass sich dazu eine Gelegenheit ergibt?«
Seine Reaktion war etwas seltsam, er lächelte, ein wenig belustigt, wie es schien. Dann sagte er: »Da muss ich Sie enttäuschen – niemand darf die Insel vor dem Ende der Konferenz verlassen. Seit vorgestern – als die Delegierten hier eingetroffen sind – wurden alle Verkehrsverbindungen unterbrochen. Besonders die Presse ist unglaublich scharf auf jede Art von Information und hat schon mehrmals versucht, Journalisten einzuschmuggeln. Einer war sogar als Koch getarnt. Wir haben ihn hinausgeworfen. Denn alles, was sich hier tut, unterliegt aus Gründen der Sicherheit natürlich absoluter Geheimhaltung.«
Kurz überlegte ich, ob ich versuchen sollte zu widersprechen, aber als ich seine Miene sah, ließ ich es lieber. Ich dankte ihm und verabschiedete mich. Er rief die Ordonanz, die mich zur Drehtür brachte. Ich war heilfroh, dass ich unangefochten wieder herausgekommen war.
Ich ging in mein Zimmer zurück, diesmal ohne bewaffnete Begleitung. Ich versuchte, die neuesten Eindrücke zu verarbeiten. Vor allem beschäftigte mich die Tatsache, dass ich mich nicht davonmachen konnte. Ein exklusiver Zwangsaufenthalt! Keine Möglichkeit, meine Nordpolfahrt doch noch zu verwirklichen! Im Moment sah ich keine Chance, all diesen Unannehmlichkeiten zu entgehen. Vielleicht konnte mir Ellen einen Tipp geben. Aber da gab es ja auch noch einige Unklarheiten zu beseitigen …
Ich rief sie an, und sie fragte mich, ob es irgendetwas Besonderes zu berichten gäbe. Als ich verneinte, bat sie mich, das Gespräch auf den nächsten Vormittag zu verschieben. Ich sollte mich inzwischen ein bisschen im Hotel umsehen – im Vorführraum, wo man verschiedenste Typen von Dokumentationen und Animationen abrufen konnte; im Fitness-Center, wo es alle erdenklichen Apparate gab, mit denen sich Menschen ins Schwitzen bringen konnten; in der Bibliothek, die viele seltene, von nostalgischen Kulturmenschen geschätzte, auf Papier gedruckte Bücher enthielt; oder in der automatisch betriebenen Bar – der einzigen, die in dieser toten Zeit noch geöffnet war.
Gern würde sie mir Gutscheine dafür bringen lassen, aber – so machte sie mich aufmerksam – es könnte sein, dass ich dort auf Angehörige der Besatzung träfe. Auf dieses Vergnügen konnte ich verzichten, und trotz der eben erst vorübergegangenen anstrengenden Tage beschloss ich, den Fitnessraum aufzusuchen – denn ich gehörte nun einmal zu diesen masochistisch veranlagten Menschen, die sich dort mit Vergnügen verschiedenen Torturen mit Gewichten, Laufrädern und Expandern unterziehen.
So war ich hinterher recht müde, aber ich fühlte mich wohl und freute mich auf einen ruhigen Abend. Vielleicht war es gar nicht so unangenehm, ein paar Tage auszuspannen. Ich holte mir einige Süßigkeiten aus dem Eisschrank, dann schenkte ich mir ein Glas mit einem moussierenden Fruchtgetränk ein und machte es mir auf einem der Stühle vor dem Fernseher bequem.
Es war acht Uhr, die Zeit, zu der WWNews die Zusammenfassung der Tagesmeldungen brachte. Wie gewohnt klatschte ich in die Hände, der akustische Sensor reagierte, und der Schirm wurde hell.
Es war genau die richtige Zeit, das Opening war angelaufen, daran schlossen Bildszenen zur Ankündigung der wichtigsten Ereignisse des Tages an.
Gleich der erste Hinweis galt der Gipfelkonferenz, und für einen Moment blendete ein Bild auf, im Grunde genommen nur ein hübsches Ornament: ein liegendes grünes Oval, von einem Kranz aus blauen Blumen umschlossen … doch es traf mich wie ein Blitz! Es riss irgendeine bis eben noch verschlossene Zone in meinem Gedächtnis auf, es war eine Fülle von aufwühlenden Einzelheiten, die sich mir plötzlich eröffneten … Innerhalb einer Minute fügten sie sich zu einer Gesamtschau, die nicht nur meinen Aufenthalt im Globe-Hotel, sondern meine gesamte Situation von Grund auf veränderte. Und plötzlich wurde mir auch Ellens seltsames Verhalten verständlich: die Worte, mit denen sie mich empfangen hatte, ihre Andeutungen, dass sie mich erwartet habe, und noch manches andere.
Mit meiner Hoffnung auf ein paar faule Tage war es vorbei, aber dieser Umstand hatte nun auch keine Bedeutung mehr für mich …
Das Emblem war inzwischen längst verschwunden. Man sah Bilder, die die schon lange geplante Gipfelkonferenz betrafen, und in diesem Moment wurde auch der Schauplatz des Ereignisses bekannt gegeben: eben dieses Hotel im Eissee, in das ich über merkwürdige Umwege geraten war. Filmaufnahmen des Gebäudes und seiner Umgebung wurden gezeigt. Man berichtete, dass inzwischen alle Delegierten auf der Eisinsel angekommen seien und dort zunächst ein paar Tage Zeit hätten, sich dort häuslich einzurichten und sich in persönlichen Gesprächen auf die Konferenz vorzubereiten. Doch, so wurde hinzugefügt, es würde – um die Verhandlungen nicht zu stören – keine Life-Aufnahmen von der Konferenz geben.
Plötzlich war ich wieder Herr der Lage, ich kannte meine Aufgabe, und ich erinnerte mich genau, wie wir seinerzeit darüber diskutiert hatten, auf welche Art ich die Kontrollen am besten überstehen könnte. Dabei hatten wir uns ebenso auf Tests mit Lügendetektoren eingestellt wie auch auf Befragungen unter Einfluss psychogener Drogen. Mit diesen Mitteln konnte man aus verdächtigen Personen alles herausholen, was sich im Bewusstsein befand. Ohne diese Vorkehrungen hätte mich die Befragung in eine peinliche Lage gebracht – zum Glück hatten sich die Vorsichtsmaßnahmen bewährt. Ich war froh darüber, dass sich die seltsamen Umstände meiner Ankunft auf verständliche Weise geklärt hatten.
Es war Abend, und unter normalen Umständen hätte ich Ellen nie gestört. Aber mein Anliegen war bestimmt wichtig genug, um die Regeln des Anstands zu brechen: Ich wählte ihre Nummer und musste erst einem Anrufautomaten Auskunft darüber geben, wer ich war und was ich wünschte. Doch dann hörte ich ihre Stimme, und ich sagte nur: »Ich bin wieder im Bilde.«
»Das ist gut!« Ich hörte, wie sie erleichtert durchatmete. Dann fragte sie: »Da können wir endlich offen miteinander sprechen. Wollen wir uns heute noch sehen? Am besten im Foyer, im Blauen Salon – das ist jener Nebenraum mit den hellblau bezogenen Renaissance-Möbeln. Sagen wir: in zehn Minuten?«
Wir waren beide pünktlich und trafen uns schon im Aufzug.
Die Rezeption war besetzt, und da und dort sah ich auch Gruppen von Delegierten, die an den niedrigen Tischen im Foyer Platz genommen hatten und sich unterhielten.
Glücklicherweise war der Blaue Salon leer, doch kaum, dass wir ihn betreten hatten, kam auch schon ein Kellner und nahm unsere Bestellung auf. Ellen bestellte zwei Martini.
Die blaue Nische mit ihrem antiken Renaissance-Mobiliar und den altertümlichen Ölbildern war ein Kleinod für sich, aber dafür hatten wir an diesem Abend wenig Sinn.
»Wie bist du drauf gekommen?«, fragte sie, als wir uns in die weich gepolsterten Stühle gesetzt hatten. Unsere Beziehung hatte sich geändert: Jetzt waren wir Verbündete.
»Durch einen assoziativen Auslöser. Ein Bild im Fernsehen: Es wurde vor den Abendnachrichten kurz eingeblendet. Sehr beziehungsreich: eine Erdkugel, von fünf Ringen umgeben. Darauf war ich konditioniert. Das Emblem hat mir die Erinnerungen aus den vorangegangenen Monaten zurückgebracht, die in meinem Gehirn in der Zwischenzeit mit einer Sperre geschützt waren. So hat man es mir damals erklärt, als ich mit einer Metallhaube auf dem Schädel im Behandlungsstuhl saß. Jetzt weiß ich, was ich hier zu tun habe. Und ich weiß auch wieder, warum man diese Maßnahme ergriffen hat. Entschuldige bitte meine Ignoranz.«
»Da gibt es nichts zu entschuldigen. Es war ja nötig, sich auf alle Eventualitäten einzustellen. Und ich kann verstehen, wie unangenehm die Situation für dich war. Aber jetzt hast du es überstanden – du hast Glück gehabt.«
Natürlich hätte einiges schief gehen können. Aber war es wirklich Glück? Was hatten die, die das veranlasst hatten, vorausgesehen, geplant, berechnet? Und was entzog sich ihrer Voraussicht?
Eigentlich war es unglaublich, wie entscheidend sich meine Situation mit einem Schlag geändert hatte, und nicht nur diese: mein Gemütszustand, meine Persönlichkeit. Ich war ein anderer geworden, hatte andere Interessen, andere Ziele. Vom naiven Sylvan, der partout den Nordpol erreichen wollte, war nicht viel übrig geblieben.
Dann durchfuhr mich ein erschreckender Gedanke: Hatte ich mich nun endgültig in meine wirkliche Persönlichkeit zurückverwandelt, oder gab es in meinem Gehirn weitere für mich noch unzugängliche Bereiche? Vielleicht war das nicht die einzige Sperre gewesen? Der Gedanke, dass jemand von außen jederzeit eingreifen konnte, um mich erneut in einen anderen zu verwandeln, war schockierend. Durfte ich überhaupt noch irgendwann sicher sein, zu meiner wahren Persönlichkeit zurückzufinden?
Ich hatte in Gedanken versunken geschwiegen, und Ellen hatte mich nicht gestört. Nun aber, als sie bemerkt hatte, dass ich wieder in die Gegenwart zurückgefunden hatte, erkundigte sie sich danach, was mir Unbehagen bereitete, und ich versuchte es ihr zu erklären.
Es war gut, darüber mit jemand zu sprechen, und ich spürte, dass Ellen mich verstand.
Ein Bediensteter brachte alkoholische Getränke; hier, in diesem abgelegenen Winkel, schienen die Gesetze der übrigen Welt nicht zu gelten. Nach einer alten Sitte hoben wir die Gläser, so dass sie sich leicht berührten und einen hellen singenden Ton von sich gaben. Wir wünschten uns Glück und tranken. Es schmeckte süß und bitter zugleich und schien fast augenblicklich ein befreiendes Gefühl zu verursachen.
Das Licht kam von einem mit Glasstückchen behängten Lüster und war auf angenehmes Dämmerlicht herabgeregelt. In dieser Beleuchtung erschienen Ellens Gesichtszüge erstaunlich weich.
»Was weißt du von meiner Aufgabe?«, fragte ich. »Ich vermute, es ist mehr, als mir selbst bewusst ist.«
»Ich weiß nur wenig«, antwortete Ellen. »Zuerst dachte ich, es hätte etwas mit Berichterstattung zu tun. Aber dann dämmerte mir, dass der Geheimdienst dahinter steckt. Du brauchst mir auch nichts Genaueres darüber zu sagen. Ich will es gar nicht wissen. Man hat mir nur mitgeteilt, dass man Sylvan Caretti hierher schicken würde und dass er einen besonderen Auftrag hätte. Und man teilte mir mit, dass er über das Eis kommen würde. Und dass ich es geheim halten müsse.«
Ich nickte, es klang einleuchtend, und es passte zu dem, was ich mir inzwischen zusammengereimt hatte.
Ellen überlegte kurz. »Da gibt es noch etwas, was du wissen musst. Vor drei Tagen habe ich in meinem Textspeicher eine bis dahin gesperrte Notiz gefunden: dass hier irgendwo im Hotel ein Behälter mit Spezialgeräten für dich versteckt ist. Irgendeiner der Gäste muss sie heimlich eingegeben haben – offenbar schon zu jener Zeit, als das Hotel noch öffentlich zugänglich war. Wahrscheinlich hat er auch den Behälter versteckt. Erst als unsere Zusammenarbeit perfekt war, hat man es mir mitgeteilt – und dazu ein Stichwort, das ich dir mitteilen soll. Vielleicht sind es Waffen – was mir nicht sehr angenehm wäre.«
Ich horchte auf: ein Behälter mit Spezialgeräten, ein Stichwort, das sie mir mitteilen sollte …
»Wie lautet das Stichwort?«
»›Sonnenwind‹.«
Jetzt erst begriff ich: wieder ein Schlüsselreiz, der meine Erinnerung wecken sollte. Und tatsächlich fiel mir nun ein, was man mir seinerzeit mitgeteilt hatte – um es später wieder zu löschen.
»Jetzt ist alles klar: Die Sachen sind im Ventilator, in der Küche. Wir sollten sie bald holen – am besten noch heute Nacht. Dieses moderne Zeug ist so klein, dass man es leicht verstecken kann: Minikameras für geheime Fernsehaufnahmen, Abhörgeräte und einiges andere. Ich kann dich also beruhigen: Es sind keine Waffen dabei – die hätte man nicht so leicht verstecken können.«
»Das ist gut – ich hatte schon Sorge, ob alles wirklich so harmlos ist, wie man mir gesagt hat. Ob ich da nicht in eine üble Sache hineingeraten bin.«
Es war offensichtlich, dass sie damit auch eine Frage verband – und hoffte, dass ich ihre nachträglich aufgekommenen Bedenken zerstreuen könnte. Aber wäre das die Wahrheit? Konnte ich wirklich ausschließen, dass das, was hier im Haus geschehen würde, nicht auch schlimme Folgen haben könnte? Plötzlich spürte ich so etwas wie ein schlechtes Gewissen.
»Warum hast du dich darauf eingelassen?«, fragte ich.
Ellen blickte zu Boden, als sie antwortete. »Man hat mir gesagt, es wäre eine gute Sache, dich hier aufzunehmen und dir behilflich zu sein. Aber, um ehrlich zu sein: Das war nicht der wirkliche Grund für meine Zusage.«
»Und was ist der wirkliche Grund?«, fragte ich.
»Ich will von hier fort, und dazu brauche ich Geld«, antwortete Ellen und blickte mich aufmerksam an, als wollte sie herausfinden, ob ich über dieses Geständnis schockiert wäre. »Das Hotel gehört meiner Familie, und obwohl ich die Jüngste unter den Geschwistern bin, hat man mir die Leitung anvertraut. Leider haben wir damit Verluste gemacht, und ich möchte hier nicht länger bleiben. Ich möchte selbständig sein – und nicht hier versauern. Aber ich kann mich nicht davonmachen und Schulden zurücklassen.«
Die Erklärung leuchtete ein, und ich hatte keinen Grund zu widersprechen. Was mir durch den Kopf ging, während ich Ellen zugehört hatte, bezog sich auf etwas ganz anderes – nämlich auf die Frage, ob nicht Ellen in Gefahr geraten könnte. Es gelang mir nicht, meine Besorgnis zu verbergen.
Ellen hatte mich beobachtet. »Ich denke jetzt ein wenig anders darüber«, sagte sie. »Das alles ist nicht ganz so harmlos, wie man mir vorgemacht hat. Ich habe tatsächlich Angst.«
Obwohl sich finstere Gedanken nicht so ohne weiteres verdrängen lassen, sprachen wir nicht mehr darüber. Ellen erzählte ein wenig aus ihrem Leben, von den Umständen, die sie in jungen Jahren in diese abgeschiedene Gegend geführt hatten.
»Ist es nicht ein wenig ungewöhnlich, hier ein Hotel zu errichten?«, fragte ich.
»Eigentlich nicht«, antwortete Ellen. »Denk doch nur an das Unterwasserhotel im Marianengraben oder an das Space-Hotel, das um die Erde kreist. Die sind ständig ausgebucht.«
»Aber verträgt sich ein Hotelbetrieb denn mit der Ölförderung?«, wandte ich ein.
»Es geht ja zunächst nicht um Förderung, sondern um Probebohrungen. Die Insel liegt inmitten einer riesigen Eisscholle. Derzeit ist sie 160 Kilometer lang und 120 breit, wobei sich diese Maße ständig ändern. Momentan treibt sie langsam nach Norden, dabei bewegt sie sich über geologische Schichten, in denen man Öl vermutet. Alle ein bis zwei Monate findet eine Probebohrung statt – das dauert nur ein paar Tage und stört den Hotelbetrieb nicht.«
»Und wie vertreiben die Gäste sich hier die Zeit?«
Ellen lächelte, als wäre die Frage etwas naiv gewesen. »Wanderungen, Skitouren, Fahrten mit Motorschlitten und Mountain-Bikes. Es ist eine großartige Umgebung. Direkt am Ufer haben wir eine Eislandschaft mit Wasserrinnen aufgebaut, in denen man mit Booten herumfahren kann. Bei Dunkelheit ist alles künstlich beleuchtet. So können selbst im langen Winter Leute kommen, die Einsamkeit und Stille suchen. Wer hier gewesen ist, ist begeistert. Und trotzdem haben wir zu wenig Besucher.«
»Und wie lange soll der Betrieb noch weitergehen?«, fragte ich. »Das Eis ist doch schon seit Jahrzehnten im Abschmelzen begriffen.«
»Natürlich muss rasch etwas geschehen, um die Schmelzprozesse weiter zu verzögern. Alle zwei Wochen wird von Flugzeugen aus ein Mittel gestreut, das die Reflexion an der Oberfläche des Eises auf fast 100 Prozent erhöht. Dort unten, im Eispark, haben wir es absichtlich unregelmäßig verteilt. Dadurch haben sich diese abenteuerlichen Formationen mit tiefen Einschnitten und Höhlen gebildet.«
Mir fiel der merkwürdig seifige Geschmack des Schmelzwassers ein, den ich mir nicht erklären konnte – nun wusste ich, was ich da getrunken hatte …
Es war spät geworden, und wir wollten nun die hinterlegten Spionagegeräte aus ihrem Versteck holen. Die Küche war leer, so dass wir in Ruhe nach jenem Teil der Abdichtung suchen konnten, in dem das Material versteckt war. Die Stelle war durch ein eingekratztes Kreuz und zwei Pfeile markiert, und ich brauchte nur wenige Minuten, um die flache Schachtel herauszuhebein, die dort eingeschmolzen war. Dann schob ich das Stück der Abdichtung wieder an Ort und Stelle; die von mir verursachte Beschädigung war mit bloßem Auge nicht zu erkennen.
Zum Abschluss lud mich Ellen noch auf einen Martini in ihrem Apartment ein. Von irgendwo aus dem Hintergrund kam leise Musik. Wir sprachen nicht viel und hörten zu. Die Melodie klang einschmeichelnd und ein wenig klagend. Vielleicht deutete sich darin ein Zug Ellens an, den sie nicht so ohne weiteres offenbarte. Anfangs hatte sie ein wenig hart gewirkt, doch heute hatte ich einiges von ihr erfahren, was meine Meinung änderte.
Als die Klänge verstummten, war es, als hätte uns etwas in die Gegenwart zurückgerufen. Ich musste mich aufraffen, um zu sagen: »Es ist Zeit zu gehen.«
Ellen sah mir in die Augen. Dann sagte sie: »Ich möchte heute Nacht nicht allein sein.«
Also blieb ich bei ihr.
Der Weg nach Corleone erwies sich als höchst umständlich. Am einfachsten war es noch, zum ersten Zwischenstopp nach Rom zu kommen, aber auf den Anschlussflug zur nächsten Station, Palermo an der Nordküste Siziliens, musste Robin bis zum nächsten Tag warten. Er übernachtete in einem mittelmäßigen Hotel und nutzte die Gelegenheit, sich ein wenig in Rom umzusehen. Er staunte über die Menge von Ruinen, die dort herumstanden. Als er am nächsten Tag endlich in Palermo angekommen war, stellte sich heraus, dass es hier weder Schwebetaxis noch Helikopter für den öffentlichen Gebrauch gab, Robin musste ein altmodisches Auto für katalysierten Wasserstoff mieten. Es hatte ein Schiebedach, das offen stand und sich nicht schließen ließ, und so brannte ihm während der Fahrt die Sonne auf den Schädel.
Die Asphaltstraße führte in Serpentinen aufwärts, und nur an den Kehren hatte Robin Gelegenheit, kurze Blicke auf die Stadt zu werfen. Sie lag in einer Meeresbucht, von Bergen eingesäumt, und sah mit ihren vielen Kirchtürmen und Kuppeln wie ein Relikt aus einer märchenhaften Vergangenheit aus. Bei der Fahrt durch den Ort hatte Robin allerdings festgestellt, dass ein Großteil der Gebäude verfallen war.
Bald aber ging es auf holprigem Untergrund bergauf. Unvermittelt war er in eine öde Karstlandschaft geraten, die Straße wurde schmäler und ging in einen unbefestigten Feldweg über. Immer wieder enge Kurven, manchmal kam er gefährlich nah an Abgründen vorbei. Der Weg beanspruchte Robins ganze Aufmerksamkeit.
Er hatte bisher nur selten manuell bedienbare Autos benutzt, er saß ans Lenkrad geklammert und fühlte, wie ihm der Schweiß über die Stirn rann. Glücklicherweise herrschte nur wenig Verkehr, doch einige Male musste Robin entgegenkommenden Lastern ausweichen, die mit unglaublicher Geschwindigkeit über den holprigen Untergrund fuhren. Sie schleuderten Steine nach rechts und links und zogen Staubwolken hinter sich her. Gelegentlich begegnete er Traktoren, und zwei- oder dreimal musste er in den Straßengraben ausweichen, um Fahrzeuge vorbeizulassen, die von Tieren gezogen wurden.
Es war drückend heiß, und Robin kam nur langsam weiter. Man hatte ihm eine zerfledderte Straßenkarte mitgegeben, und doch bereitete es ihm Schwierigkeiten, den richtigen Weg zu finden. Am besten war es, nach dem nächsten Dorf Ausschau zu halten und es anzusteuern – nur dort gab es Wegweiser, nach denen man sich richten konnte. In einem davon verirrte er sich und musste den Wagen eine Viertelstunde lang durch ein Winkelwerk von steil auf- und abwärts führenden Gassen lavieren.
Schließlich tauchte vor ihm doch noch ein überdimensionales Schild mit dem Schriftzug »Corleone« auf, verbunden mit dem in mehreren Sprachen gegebenen Hinweis, dass es sich um die historische Stätte der Mafia handelte.
Vom Ort war noch wenig zu sehen, und das, was er sah, war doch etwas enttäuschend: ohne erkennbare Ordnung verteilte Häuser, schmutzig weiße Wände, flache, blassrote Dächer, über die nur ein einzelner Kirchturm auffällig emporragte. Auch gut, dachte Robin, schließlich bin ich nicht zur Erholung da.
Die Straße schwenkte auf eine grob gefügte Stadtmauer zu und mündete in einem großen, von einem Rundbogen überdachten Tor. Rechts daneben eine Reihe von blau, rot und grün lackierten Reisebussen. Waren die alle über die Feldwege auf der Hochfläche gekommen? Die Beulen an den Seitenwänden ließen darauf schließen.
Als Robin auf das Tor zufuhr, löste sich eine Gestalt mit Schirmmütze aus dem Schatten einer Nische und stoppte die Fahrt mit einem hochgehaltenen rot und weiß gestreiften Schild. In schwer verständlichem Englisch erklärte der Wächter, dass Robin seinen Wagen auf einem Parkplatz vor der Mauer zurücklassen musste, wofür er eine saftige Parkgebühr kassierte.
Seufzend schlug Robin den Staub, der durch das Dachfenster eingedrungen war, von den Kleidern. Er nahm seine Reisetasche auf und machte sich auf den Weg durch das Tor. Dahinter öffnete sich ein Platz, der auf der einen Seite von der Stadtmauer, auf der anderen von einer Front alter Häuser umgeben war. In der Mitte gab es einen Zeitungs- und einen Obststand, im Schatten der Mauer standen einige alte Elektro-Cars: Taxis, die offenbar auf Kunden warteten.
Robin hatte ein Zimmer bestellt. Er trat an eines der Taxis heran und erkundigte sich nach dem Weg zum Hotel. Der Fahrer nötigte ihn zum Einsteigen, und Robin war ganz froh, dass er seine Reisetasche nicht weiter schleppen musste. Da der Kleinwagen keinen Kofferraum enthielt, wurde das Gepäckstück auf dem Rücksitz neben ihm abgestellt.
Eine ratternde Fahrt über Steinpflaster, vorbei an schmutzig weißen Häusern mit flachen Dächern, die oben, über der Straße, zusammenzustoßen schienen. An die Häuserwände angeklebt – so sah es zumindest aus – schmale Balkone, von schmucklosen Metallgittern umsäumt. Es war kaum ein Mensch zu sehen. Doch dann öffnete sich vor ihnen unversehens ein stattlicher Platz, und damit änderte sich die Situation entscheidend. Hier hielt sich eine erstaunlich große Zahl von Menschen auf, die scheinbar ziellos umherschlenderten oder einfach herumstanden: vor der Stiege, die zu einer imposanten und offenbar erst kürzlich renovierten Kirche führte; neben den Holzbänken, die vor Restaurants und Souvenirläden aufgereiht waren; um eine Gruppe von älteren Leuten herum, die in ein Kugelspiel am Boden vertieft waren … Trotzdem schien das Auftauchen des Taxis einiges Aufsehen zu erregen, denn viele drehten sich zu ihm um.
Plötzlich ein Ruck, der Fahrer hatte jäh gebremst, durch die Windschutzscheibe konnte Robin die Gestalt eines jungen Mannes erkennen, der, eine Schusswaffe drohend erhoben, neben dem Taxi aufgetaucht war, gleichzeitig riss jemand die hintere Autotür auf – auf der Seite, auf der das Gepäck gestapelt war – und packte die Reisetasche. Es geschah so schnell, dass Robin erst begriff, als die beiden Räuber längst auf der Flucht waren.
Der erste Schreck wandelte sich rasch zu heller Empörung über diese Frechheit. Da ihm niemand zu Hilfe kam, musste er selbst etwas unternehmen – aber was? Doch bevor er einen Entschluss fassen konnte, verfolgten drei verwegen aussehende Männer mit Schirmmützen die beiden Flüchtenden und hielten sie fest. Einer nahm die Reisetasche an sich, sah sich nach dem Taxi um und ging darauf zu. Er machte eine grüßende Handbewegung und reichte Robin das Gepäckstück. In diesem Moment ertönte lauter Applaus: Das Taxi war dicht umringt von Zuschauern, die ihren Beifall an die hilfsbereiten Männer richteten. Ein übler Scherz, den man sich da mit Neuankömmlingen machte! Die gelangweilten Touristen hatten offensichtlich schon darauf gewartet.
Auch der Wagenlenker winkte den um sein Fahrzeug versammelten Männern zu, Scherzworte flogen hin und her, und nun kamen auch die unechten Räuber zurück und hielten die Hände für ein Trinkgeld auf. Mit saurer Miene verteilte Robin einige Credits. Es dauerte lange, ehe sich der Pulk auflöste und Robin die Fahrt fortsetzen konnte. Endlich lenkte der Fahrer das Taxi in das Gassengewirr zurück – um schließlich auf dem Platz herauszukommen, von dem aus sie am Anfang ihrer Fahrt gestartet waren. Er fuhr an die Häuserfront heran und hielt vor einem der größeren Gebäude, auf dem Robin nun ein Hotelschild erkannte.
Robin dachte kurz daran, sich zu beschweren – über das abgekartete Spiel, das da auf seine Kosten abgelaufen war. Dann aber verzichtete er darauf, es hätte wenig genutzt, und er wollte ja kein Aufsehen erregen.
Robin hatte ein Zimmer zugewiesen bekommen, in dem ein scheppernder Ventilator die heiße Luft verwirbelte. Er war heilfroh, an seinem Ziel zu sein, von der wilden Autofahrt war er ziemlich erschöpft. Das Erste, was er zu erledigen hatte, war ein Anruf bei Josz. Der berichtete, dass sich Gorosch, wie sie es erwartet hatten, für einen kurzen Urlaub abgemeldet hatte.
»Heute früh ist er aufgebrochen«, berichtete Josz, »doch kurz darauf verloren wir die Verbindung – vielleicht hat er den im Zahn eingebauten Sender entdeckt. Aber das Ziel seiner Reise ist uns ja bekannt.«
Damit war das Wichtigste gesagt. Robin bat Josz, das Hotel ausfindig zu machen, in dem Gorosch absteigen würde, und verabschiedete sich dann schnell. Robin versuchte, Michèle zu erreichen, was ihm zwar nicht gelang, aber er erfuhr, dass sie verreist war. Sollte es ihr gelungen sein, so kurzfristig eine Reise nach »Sanssouci« zu organisieren?
Da die Ankunft von Gorosch nicht vor Mittag des folgenden Tages zu erwarten war, blieb Robin noch ein wenig Zeit, um seine Aktionen vorzubereiten. Er beschloss, sich in einem der Läden mit der für Touristen üblichen bunten Ferienkleidung auszustatten, was sicher eine gute Tarnung war. Weiter schien es ihm wichtig, sich im Ort umzusehen und einen Plan für sein Vorgehen zu entwickeln. Obwohl er Appetit hatte, gönnte er sich keine richtige Mahlzeit, sondern holte sich an einem Kiosk ein merkwürdiges, fladenartiges Produkt, das mit scharf schmeckenden Wurststückchen belegt war. Beim Essen knirschte es zwischen den Zähnen, aber es war angenehm sättigend.
In dieser Jahreszeit ging die Sonne spät unter, und so blieben Robin noch ein paar Stunden, um sich mit der Örtlichkeit vertraut zu machen. Glücklicherweise war es inzwischen nicht mehr ganz so heiß.
Einige Schilder zeigten den Weg zu einem »Castello«, und Robin folgte ihnen, da er dort das Stadtzentrum vermutete. Er kam an einigen Barockpalästen vorbei und konnte Inschriften entziffern, die auf Besitztümer adeliger Familien wiesen. Kamen sie als Treffpunkte der Versammlung infrage, an der Gorosch teilnehmen sollte? Robin versuchte eine Tür zu öffnen, was aber nicht gelang, und als er in ein Fenster blickte, sah er im Innern einen mit zerbrochenen Bausteinen übersäten Boden und eine Wand mit Löchern, durch die von außen Licht einfiel; die äußerlich sichtbare Instandhaltung hatte sich wohl nur auf die Fassade beschränkt. Und ähnliche Beobachtungen machte er auch bei anderen antiken Gebäuden.
In der Tat war das Castello auch der Mittelpunkt von Corleone. Es war jenes Gebäude, von dem aus sich der Turm in den Himmel erhob – in sarazenischem Stil gebaut, wie auf einer Tafel zu lesen war. Im Gegensatz zu den anderen vornehmen Bauten war es noch bewohnt und diente einer klösterlichen Bruderschaft als Domizil. Auch hier wimmelte es von Besuchern aus allen möglichen Ländern. Eine Schar von fliegenden Händlern bot Andenken an: Imitate von alten Waffen, Degen und Stichmesser aus Kunststoff, auf Alt getrimmte Kappen und Filzhüte, Bilder von Mafiagrößen wie des Volkshelden und Banditen Giuliano und des machthungrigen Paten Michael Corleone. Das Geschäft schien gut zu gehen, denn überall sah man als Mafiosi verkleidete Männer. Waren es Einheimische, die etwas zur Atmosphäre des Ortes beitragen wollten, oder Touristen, die die Verkleidung wohlig schaudernd zur Schau stellten?
Ohne festes Ziel wanderte Robin weiter, er drang in die engen Gassen ein, in denen für Autos kein Platz war, und wunderte sich darüber, dass sich hier das Leben zu einem großen Teil auf die Straße verlagert hatte. Überall dort, wo die Gebäude ein wenig Platz ließen, waren Handwerker zu sehen, Tischler an der Hobelbank und an der Drechselmaschine, Schmiede mit schweren Hämmern am Amboss, Schneider an klapprigen Nähmaschinen, alte Frauen an Webstühlen und vieles mehr. Und überall standen Touristen, die zusahen und die Ergebnisse des fröhlichen Werkens als Andenken erwarben.
Robin ging weiter – und stand plötzlich wieder vor seinem Hotel. Es war zweifellos etwas schwierig, in diesem ungeordneten Straßennetz die Übersicht zu behalten. Robin blickte sich um, versuchte sich zu orientieren – wenn er diese Richtung einschlug, sollte er eigentlich in einen anderen Stadtteil kommen. Er schritt eilig durch die engen Häuserschluchten – und landete wieder am Platz des Castellos.
Daraufhin entschloss er sich, systematisch vorzugehen. Er versuchte eine konsequent gerade Richtung einzuhalten, sah aber bald ein, dass das nicht möglich war, weil er durch den Straßenverlauf gezwungen war, mehrmals nach links zur Seite auszuweichen. Er ging weiter und achtete nun darauf, bei jeder Kreuzung oder Verzweigung dem rechten Ast zu folgen. Als er aber wieder im Zentrum ankam und dann, beim Weitergehen, auf dem Platz am Eingangstor, bei seinem Hotel, da wurde ihm klar, dass sich der in diesem Ort zugängliche Raum auf eine relativ kleine Fläche beschränkte. Es schien keine Verbindung zu den anderen Stadtteilen zu geben. Eine unangenehme Erkenntnis, denn wenn Gorosch ortskundig war und sich mit seinen Partnern außerhalb des Touristenviertels traf, dann konnte es geschehen, dass er, Robin, ihn überhaupt nicht zu Gesicht bekam. Der Sicherheit halber ging er durch das Stadttor nach außen, doch als er den Parkplatz verlassen wollte, war der schläfrige Wächter mit einem Mal recht wach.
»Halt, wohin wollen Sie?«
»Ist das der einzige Zugang zur Stadt?«, fragte Robin.
»Allerdings«, bestätigte der Wächter.
»Aber es muss doch möglich sein, in die äußeren Stadtviertel zu kommen.«
»Für Touristen gesperrt«, widersprach der Mann. »Es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit. Vergessen Sie nicht, wo Sie sich befinden! Es gibt dort auch nicht das Geringste, was Sie interessieren könnte.«
Robin wollte sich schon erkundigen, wieso sein Gesprächspartner so genau wusste, was ihn, Robin, interessierte, doch dann ließ er es. Er musste versuchen, das Rätsel auf andere Weise zu lösen. Er grüßte, ohne seine Verärgerung zu zeigen, und ging zurück durch das Tor zum inneren Platz. Obwohl es schon dunkel wurde, hielten sich hier jetzt mehr Menschen auf als am Nachmittag bei seiner Ankunft. Einige Läden, die vorher geschlossen gewesen waren, hatten nun geöffnet, eine Menge Touristen, denen man hier nirgends entgehen konnte, standen herum, und man sah Einheimische in altmodischen Trachten. Auf der einen Seite des Platzes veranstalteten Kinder ein Wettrennen mit bunt bemalten hölzernen Dreirädern, auf der anderen waren Arbeiter in blauen Overalls dabei, ein Podium zusammenzubauen.
Was sollte Robin an diesem Abend noch unternehmen? Er entschloss sich, es für diesen Tag gut sein zu lassen. Er suchte sich eines der Restaurants und ließ sich eine landesübliche Speise empfehlen. Man brachte ihm einen Teller, in dem Stücke von verschiedenen Meerestieren zu erkennen waren, zähe Tentakel von Tintenfischen, glitschiges Muschelfleisch, das man erst zwischen den Schalen herauskratzen musste, winzige grausilberne Fischchen, die man samt den Gräten essen sollte, und einiges, über dessen Herkunft nur zu spekulieren war. Robin begnügte sich mit einigen recht delikaten Krebsen, essiggetränkten Artischocken und einem Dutzend fetttriefender Oliven. Danach servierte man ihm etwas als italienische Spezialität, das anderswo als »Wiener Schnitzel« bezeichnet worden wäre, aber es schmeckte ihm, und somit war er zufrieden.
Als er das Restaurant verließ, war auf der Bühne und auf dem Platz davor ein Spektakel in Gang. Robin drängte sich zwischen den dicht an dicht stehenden Zuschauern hindurch, bis er einen Platz fand, von dem aus er sehen konnte. Offenbar ging es um einen Überfall. Von der Seite näherte sich ein bunt gestrichener, von Pferden gezogener Wagen, auf dem es sich eine vornehme Gesellschaft in alten Gewändern gemütlich gemacht hatte. Nachdem sie ein Liedchen gesungen hatten, sprangen von der Bühne maskierte Banditen herunter, die mit Pistolen in die Luft schossen und den Damen ihren Schmuck herunterrissen. Doch auch hier erschien letztendlich eine Gruppe in Leder gekleideter Männer, die die Überfallenen befreiten und schließlich mit ihnen gemeinsam feierten.
Noch vor dem Ende des Schauspiels zog sich Robin zurück und verschwand in seinem Hotel. Doch noch lange nachdem er zu Bett gegangen war und zu schlafen versuchte, hörte er von draußen Musik und Lärm.
Am nächsten Tag, nach einem bescheidenen Frühstück, brach Robin wieder auf. Irgendwo hatte er etwas von einem Informationszentrum gelesen, er machte sich auf die Suche und fand es an versteckter Stelle in einer der alten Gassen. Er fragte nach einem Stadtplan, erkannte aber schon auf den ersten Blick, dass nur das Touristenviertel berücksichtigt war.
»Ich hätte gern eine Karte, die die ganze Stadt zeigt«, sagte er.
»Oh«, sagte die Dame hinter der Theke erstaunt. »So etwas gibt es hier nicht. Aber versuchen Sie es doch im Museum.« Sie beschrieb ihm, wie er es erreichen konnte.
Also machte sich Robin auf den Weg zum Museum und fand es ohne Mühe – in einem der alten Bauten mit den herausgeputzten Fassaden; hier hatte man das Souterrain renoviert und benutzte es, um Zeugnisse der Vergangenheit auszustellen. Jemand, der sich für Geschichte interessierte, hätte hier reichhaltiges Studienmaterial gefunden, aber Robin ging es nur um seinen Stadtplan.
Darum blieb er an einem Tisch stehen, wo unter einer Glasplatte ein paar fein verzierte handgezeichnete Karten ausgebreitet lagen. Es war schwer, sich auf ihnen zurechtzufinden und die Entsprechungen zum aktuellen Stadtbild zu finden.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte jemand, der leise hinter Robin getreten war. »Ich bin Lorenzo di Salina, der Kurator des Museums.« Es war ein junger Mann in einem grauen Anzug, der wohl so etwas wie eine Dienstkleidung darstellen sollte.
»Ich interessiere mich für die Geschichte der Stadt«, antwortete Robin, »und frage mich, ob es nicht außerhalb des Touristenviertels noch andere interessante Bauten gibt.«
»Die gibt es«, bestätigte Lorenzo, »aber sie sind nicht mehr in bestem Zustand.«
»Das würde mich nicht stören. Ich würde mich gern dort drüben umsehen.« Er wies auf eine der Karten, auf der etwas abseits vom Zentrum in einer merkwürdigen Perspektive ein Prunkbau eingezeichnet war. »Aber diese Gegend ist wohl für Gäste verboten?«
»Nein, nein«, widersprach der Beamte. »Aber es stimmt natürlich, dass man die Besucher nicht gern in diesen Stadtteilen sieht. Sie würden auch keine Freude daran haben.«
»Warum denn nicht?«
»Nun, sehen Sie«, antwortete Lorenzo. »Hier, im Touristenteil, ist alles sauber renoviert, man hat sogar neue Gebäude errichtet, oder zumindest die Fassaden – im alten Stil, versteht sich. Und auch ein Teil der Stadtmauer ist neu. Der Ort ist heute viel malerischer als früher. Und hier sehen Sie Szenen … wie sich das Leben früher abgespielt hat. Der übrige Teil ist langweilig: ein Ort wie viele andere hier auf der Hochfläche, keine Attraktionen.«
»Er interessiert mich trotzdem. Wie kommt man denn dorthin?«
Lorenzo wies auf den Stadtplan, den Robin der Übersicht halber auf der Glasplatte ausgebreitet hatte. »Ganz einfach. Es gibt mehrere Möglichkeiten. Sehen Sie, hier zum Beispiel.« Er deutete auf eine Sackgasse, die an eine Stiege führte. »Dort steht zwar eine Tafel ›privat‹, aber wenn Sie einfach weitergehen, dann sind Sie auch schon drüben.«
Robin bedankte sich, doch der junge Mann zog sich nicht zurück, sondern bot sich an, dem Besucher die Schätze des Hauses zu zeigen. Robin ließ sich darauf ein, denn hier hatte er einen Menschen getroffen, der ihm vielleicht noch einige nützliche Auskünfte geben könnte. So wanderten sie zwischen verstaubten Tischen und Vitrinen umher, und Lorenzo erzählte von einer vergangenen Zeit, in der es um Adelsgeschlechter und mehr oder weniger edle Räuber ging.
Zwischendurch wies Lorenzo auf antike Scherben aus der Epoche einer griechischen Besatzung, auf bunte Kacheln, die arabische Eindringlinge hinterlassen hatten, und auf verschiedene Stich- und Hiebwaffen, Produkte eines alteingesessenen Schmiedehandwerks. Er erkundigte sich, ob Robin vielleicht an solchen wertvollen Souvenirs interessiert wäre, und vergaß auch nicht zu erwähnen, dass er ähnliche Stücke besorgen könnte.
Als sie alles besichtigt hatten und Robin sich wenig am Kauf von Antiquitäten interessiert zeigte, lud ihn Lorenzo zu einem Espresso ein. Erwies auf zwei Polsterstühle, die in einer Ecke standen. Es waren bemerkenswert schöne Stücke, aber der Stoff war abgewetzt, einige Löcher hatte man mit Klebeband abgedeckt.
Lorenzo verschwand durch eine Tür, und schon bald kam er mit einem Tablett und stellte zwei winzige Tassen auf ein rundes Tischchen, dazu eine Schale mit Zucker. Die kohlrabenschwarze Flüssigkeit duftete köstlich, doch Robin verbrannte sich schon beim Versuch, einen ersten kleinen Schluck zu nehmen, die Lippen.
»Leider beschäftigen sich nur wenige unserer Gäste mit unserer wechselvollen Geschichte«, sagte Lorenzo. »Sie sind heute der erste Besucher. Können Sie mir sagen, wofür Sie sich besonders interessieren? Vielleicht kann ich Ihnen noch ein paar Tipps geben.«
Inzwischen hatte sich Robin eine Geschichte ausgedacht. »Ich möchte einen historischen Roman schreiben, etwas Spannendes, was in dieser Gegend spielt. Es soll um Auseinandersetzungen einiger verbündeter Familien mit der Obrigkeit gehen.«
»Also etwas aus dem Milieu der Mafia. Da gibt es viele ungewöhnliche Geschichten.«
»Die Handlung habe ich mir schon zurechtgelegt, es geht mir vor allem um die Beschreibung der Schauplätze.«
Lorenzo hob resignierend die Schultern. »Man hat vieles davon verfallen lassen. Die Idee, den Ort für den Fremdenverkehr zu erschließen, kam viel zu spät. Aber trotzdem kann man an einigen Stellen noch etwas von der früheren Pracht erahnen.«
»Den Eindruck habe ich auch gewonnen, und ich habe schon einiges notiert, was mir nützlich sein kann. Nun habe ich noch ein spezielles Problem: Ich möchte einen Platz für Versammlungen beschreiben, die möglichst im Verborgenen vor sich gehen sollen. Ich denke da an irgendwelche versteckten Räume, Keller beispielsweise, Katakomben oder Ähnliches. Wo haben sich denn die Verschwörer früher getroffen?«
Lorenzo hob bedeutungsvoll die Hand. »Oh, da liegen Sie aber völlig daneben, wenn Sie so etwas im Bereich der Stadt suchen. Da habe ich etwas Besseres, und es ist sogar historisch belegt.« Er schwieg, um die Spannung zu erhöhen, doch Robin zeigte keine Ungeduld, und so fuhr Lorenzo fort: »In der Umgebung gibt es mehrere Höhlen, und sie spielten bei den Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle – wenn es beispielsweise darum ging, Flüchtlinge zu verstecken. Und eine davon hat tatsächlich als geheimer Versammlungsort gedient.«
Robin war nicht sicher, ob er sieh Gorosch und dessen Kollegen aus Politik und Wirtschaft in einer Höhle vorstellen konnte, doch als hätte Lorenzo seine Zweifel erraten, ging er gerade auf diese Bedenken ein. »Es ist eine große, künstlich eingeebnete Halle – bestens für solche Zwecke geeignet. Und leicht zu erreichen: Es gibt nur eine einzige Engstelle – das ist der Eingang, der sich leicht mit einer Steinplatte verschließen und dadurch verbergen lässt.
Von dort kommt man durch einen Gang in eine Halle, in der man es sich richtig bequem machen kann. Heute noch stehen dort gut erhaltene Holzbänke, und an einer Tropfstelle kann man frisches Trinkwasser auffangen. Dazu kommt die angenehme Temperatur, selbst im Hochsommer ist es in der Höhle wohltuend kühl.«
Robin war anzumerken, dass er schon halb und halb überzeugt war, und als sich Lorenzo erbot, ihm das Versteck zu zeigen, nahm er gern an. Sie verabredeten sich für den Nachmittag, an dem das Museum geschlossen war.
Lorenzo hatte Robin versichert, dass keine besondere Ausrüstung nötig sei, und für Lampen würde er schon sorgen. Er wartete vor dem Stadttor in einem stark zerbeulten Geländewagen. Ein kurzes Stück ging es auf der Straße dahin, dann steuerte Lorenzo geradewegs auf eine steinbedeckte Ebene zu, und sie fuhren nahezu ein halbe Stunde über die gefurchte Karsthochfläche. Der Wagen sackte in Gruben, sprang über Kalksteinblöcke, und Robin klammerte sich mit beiden Händen an die Griffe, um nicht hinausgeschleudert zu werden.
Schließlich kamen sie in eine Senke, die mit dürrem Buschwerk und einzelnen Olivenbäumen bedeckt war. Ein nur an zwei Rillen erkennbarer Fahrweg führte sie an eine Felswand, sie hielten, und Lorenzo kündigte an, dass sie noch ein kurzes Stück zu gehen hätten. Jetzt bereute es Robin, dass er sich keine festen Schuhe besorgt hatte, denn auf dem weglosen Gelände stieß er sich an Felszacken, stolperte über herausragende Wurzeln und zerkratzte sich Schienbeine und Waden an Disteln und Dornen.
An einer nicht weiter auffälligen Stelle blieb Lorenzo stehen. »Wir sind da!« Er freute sich über Robins erstauntes Gesicht, als er an die Felswand trat, einige Steine aufhob und eine Steinplatte freilegte. Sie ließ sich mit vereinter Kraft beiseite schieben, und da öffnete sich vor ihnen auch schon der dunkle Gang, den Lorenzo angekündigt hatte.
Feuchte, kühle Luft wehte ihnen entgegen, und im Licht der alten Karbidlampen, die Lorenzo etwas umständlich zum Brennen gebracht hatte, traten sie ein. Für Robin eine ungewohnte Umgebung. Es ging über Kalkkrusten, von den Decken hingen Tropfsteine, und wenn sie an Nischen vorbeikamen, dann sahen sie dort winzige Calcitnadeln glitzern.
Vielleicht 50 Meter weit drangen sie ins Innere vor, dann hob sich die Decke, und sie standen in einer Halle voll zahlloser Tropfsteine: kuppeiförmige Bodenzapfen, spitze herunterhängende Deckenzapfen und mehrere mächtige Säulen, die von vorhangartig geformten Kalkausscheidungen umkleidet waren.
»Da sind wir«, sagte Lorenzo und deutete auf eine Reihe parallel ausgerichteter Bänke. Ihnen gegenüber, etwas erhöht auf einer natürlichen Felsstufe, standen einige Holzsessel, in einem Halbkreis angeordnet. Man konnte sich gut vorstellen, dass hier geheime Zusammenkünfte stattfanden – verbrecherische Verschwörungen ausgeheckt oder satanische Riten exerziert wurden. Zumindest als Kulisse für Abenteuerfilme wäre das ein günstiger Platz.
Lorenzo war an eine Nische getreten und holte etwas aus einer dort stehenden Truhe. Er kam damit zu Robin zurück, der auf einer der Bänke Platz genommen hatte und unwillkürlich zusammenzuckte, als sich zwei Pistolen auf ihn richteten.
»Die habe ich dort drüben aus dem Lehm gegraben. Sie waren in ein Wachstuch eingewickelt und sind ungewöhnlich gut erhalten. Ganz seltene Stücke aus dem achtzehnten Jahrhundert.«
Er legte sie Robin in den Schoß. Der hatte keine Ahnung von Antiquitäten, trotzdem meldeten sich in ihm Zweifel an der Echtheit, als er die Waffen in der Hand hielt und genauer betrachtete. Immerhin hatte er einige Übungsstunden mit Handfeuerwaffen absolviert, und so wusste er, wie man damit umgeht. Er wog die Waffe in der Hand, blickte in den Lauf und schwenkte die Trommel heraus. An einer Seite erkannte er eine winzige, eingravierte Schrift, und es gelang ihm, sie trotz der mäßigen Beleuchtung zu entziffern. Was da eingraviert war, hieß zweifellos »Made in China«.
Robin verzichtete darauf, Lorenzo darauf aufmerksam zu machen, aber das Vertrauen zu seinem Führer war nun empfindlich gestört. Und zugleich verschwand auch seine Hoffnung, hier den Versammlungsort von Gorosch und seinen Verbündeten gefunden zu haben. Vielleicht war er zuerst noch von der abenteuerlichen Vorstellung eines verschwörerischen Zusammentreffens in einer solchen Naturkulisse beeindruckt gewesen. Jetzt aber war er ernüchtert, und er war sich sicher, dass die Höhle nichts mit den Machenschaften der modernen Wirtschaftsmafia zu tun hatte. Wahrscheinlich hatte sie überhaupt nie etwas mit der Mafia zu tun gehabt.
Robin ließ sich jedoch nichts anmerken. Er wandte sich an Lorenzo und versicherte ihm, dass die Höhle ihn in Hinblick auf seinen Roman sehr inspiriert habe.
Plötzlich hatte er es eilig, nach Corleone zurückzukehren, und so ertrug er die erbarmungslose Rüttelei der Geländefahrt noch einmal mit erzwungener Geduld. Am Platz hinter dem Tor ließ er sich absetzen. Er drückte Lorenzo einige Credits in die Hand. Für seinen Führer hatte sich die Exkursion gelohnt.
Die heißeste Tageszeit war vorbei, und allmählich kamen die Menschen wieder aus ihren schattigen Winkeln. Der Lärmpegel stieg deutlich an, vor allem das Kindergeschrei machte sich mehr und mehr bemerkbar. Robin ging in sein Hotelzimmer und nahm wieder Verbindung mit Josz auf. Der meinte, dass mit Goroschs Eintreffen erst gegen Abend zu rechnen sei – dieser hätte vermutlich die Möglichkeit, sich für die Strecke von Palermo nach Corleone einen Helikopter zu besorgen, aber wahrscheinlich legte er ebenso wie Robin keinen Wert darauf, besonderes Aufsehen zu erregen, und würde sich wohl eher mit einem Bus oder Leihwagen begnügen – und dann war mit seiner Ankunft nicht vor dem Abend zu rechnen. Es galt also abzuwarten.
Gewisse Hoffnung knüpfte Robin an einen Besuch in den abgesperrten Stadtteilen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich die Teilnehmer des echten Mafia-Treffens unter die Touristen mischen würden.
Eine kühle Dusche, eine halbe Stunde Ruhe im knarrenden Bett, dann machte sich Robin auf den Weg. Ohne Schwierigkeiten fand er die bewusste Stelle am Ende der Sackgasse, und gleich darauf stand er an der schmalen Stiege mit dem an einer Absperrkette hängenden Schild PRIVAT. Ein wenig zögernd begann er den Aufstieg über die von vielen Schuhsohlen glatt geschliffenen Steinstufen, er bog um zwei Ecken, ging ein Stück durch einen offenen Gang und hatte dann nur noch einen kurzen Abstieg zur nächsten Straße vor sich.
Zuerst hatte Robin gefürchtet, in diesem Ortsteil aufzufallen, vielleicht sogar aufgehalten und zur Rede gestellt zu werden, doch dann begegnete er einigen Einwohnern, die ihm keine besondere Beachtung schenkten. Wie er so durch die Gassen ging, empfand er gleichwohl einen entscheidenden Unterschied. Es lag am Eindruck des Echten, Wahren und Natürlichen, den er nun empfand – ein normales Dorf mit asphaltierten Straßen, frei hängenden Stromleitungen und einem Dickicht aus Radio- und Fernsehantennen. Zwischen die steinernen Häuser, wie sie hier früher gebaut wurden, hatten sich Ziegelbauten geschoben, aber trotz des dadurch verübten Stilbruchs wirkte diese Gegend unverfälschter als das Zentrum. Selbst die Leute, die an ihm vorbeikamen, strahlten Normalität aus; sie benutzten die Errungenschaften des dritten Jahrtausends wie Schirmmützen, Jeans, Mobiltelefone und Musikboxen. Doch vor allem: Es waren keine Touristen unter ihnen.
Obwohl Robin keine Ahnung hatte, wie er nun an die von ihm angestrebten und gar nicht weiter definierbaren Erkenntnisse kommen sollte, fühlte er sich plötzlich nicht mehr so fehl am Platz wie während seines bisherigen Aufenthalts in Corleone, sondern war auf nicht weiter ergründbare Art sicher, nun bald an der Quelle seiner Wünsche zu sein.
So überließ er sich gern den Eindrücken dieses aus früheren Jahrhunderten stammenden Orts und schlenderte gut gelaunt durch die Gassen. An einer Stelle, wo sich die Straße zu einem länglichen Platz erweiterte, fand Robin ein einfaches Restaurant. Vor dem Gebäude war eine Laube eingerichtet, der darüber wachsende Wein spendete Schatten. Einer spontanen Regung folgend, nahm Robin auf einer Bank Platz und ließ sich eine Flasche Mineralwasser bringen.
Um diese Zeit waren es nur wenige Leute, die sich hier niedergelassen hatten; die meisten von ihnen waren alt. Ein stattlicher Greis mit langem weißem Haar, der auf der Nebenbank saß, nickte Robin zu, und als dieser den Gruß freundlich erwiderte, sagte er: »Mineralwasser ist etwas Gutes. Aber man sollte es nicht ohne Wein trinken. Wollen Sie ihn nicht einmal versuchen?« Er wandte sich zu Robin und hob einladend eine Karaffe mit dem aus roten Trauben gekelterten Getränk, das man in dieser Gegend mit Vorliebe zu trinken schien.
Robin war dieser Kontakt nur recht, von dem Alten konnte er vielleicht einiges Nützliches erfahren. Darum trank er den Rest des Wassers aus und hielt dem Alten sein Glas hin. Der schenkte ein und setzte sich dann wie selbstverständlich auf die Bank neben Robin. Sie prosteten sich zu, und Robin fand einige lobende Worte für die Flüssigkeit mit der schönen Farbe, von der er nicht gerade begeistert war.
»Mein Name ist Aurelio Gattuso«, sagte der Sizilianer.
Auch Robin stellte sich vor.
»Sie haben vermutlich die Nase voll von dem Trubel da drüben«, sagte Gattuso.
Robin nickte. »Diese Hektik ist schwer zu ertragen.« Und um das Gespräch gleich in die richtige Richtung zu lenken, fügte er hinzu: »Besonders dieses Mafiatheater ist unerträglich.«
»Hier war nun einmal ein Zentrum der Mafia«, erwiderte der Alte. »Jeder in dieser Stadt hat Ahnen aus den großen Familien. Ich selbst stamme in direkter Linie von Salvatore Giuliano ab. Ich habe ihn noch persönlich gekannt.«
Robin versuchte sich an das zu erinnern, was er den Unterlagen über die Mafia entnommen hatte. »Ich weiß nicht viel über Giuliano. War das nicht der Revolutionär, der sich für die Rechte der Armen einsetzte? Jedenfalls eine herausragende Persönlichkeit.«
»Das war er«, bestätigte Gattuso. Und er erzählte einiges über seinen Ahnen – wie er den Reichen auflauerte und ihnen Geld und Schmuck raubte, wie er seine Beute an die Bauern weitergab und wie diese zum Dank für ihn tanzten und sangen. Und dann der schmähliche Verrat. Eine hübsche Geschichte. Doch Robin kam sie bekannt vor. Hatte er sie nicht in einem Film gesehen?
»Woran lag es eigentlich, dass sich die Mafia später zu einer Verbrecherorganisation entwickelte? – Und dass sie so große Macht erringen konnte?«
Gattuso schien zu überlegen. »Ja, woran lag es? Ich glaube, es lag an der besonderen Einstellung der Sizilianer. Eine Grundlage war die absolute Treue gegenüber der Familie, der Gehorsam, den die Jüngeren den Älteren schuldig waren. Das war hier, auf dieser Insel, die immer wieder unter der Herrschaft fremder Eroberer stand, ausschlaggebend für das Überleben. Und die zweite Voraussetzung war das Prinzip, den eigenen Gesetzen zu folgen oder, anders ausgedrückt, sich nach keinen Gesetzen zu richten, die einem irgendein Außenstehender aufzwingen wollte.«
Das leuchtete Robin ein. Wie leicht sich manche schwierigen Fragen beantworten ließen! Und dieser einfache Mann konnte es verständlich machen. Nun gut: Das war die Vergangenheit. Doch wie stand es mit der Gegenwart?
»Wie ist es dann mit der Mafia weitergegangen?«, fragte Robin. »Man hört so viele Gerüchte, aber nichts Genaues. Gibt es denn hier noch Angehörige der Mafia? Sind sie noch aktiv?«
Gattuso wischte ein Weinblatt beiseite, das auf den Tisch geflattert war, und nahm dann einen Schluck aus seinem Glas. »Es waren ein paar große Paten, die die Zeichen der Zeit erkannten und die Mafia in die USA überführten. Was sollte eine Organisation wie die Mafia in diesem vergessenen Winkel der Erde? Ein armes Land, vom Aussterben bedroht? Nein, nein, erst in Amerika begann der große Aufschwung. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten!«
»Aber damit war es doch bald zu Ende.« Es war keine Feststellung, sondern eine Frage.
»Nur für die, die sich erwischen ließen, für die Unvorsichtigen, die Übereifrigen, die Dummen. Die anderen hatten die Strategie der Integration. Das dritte Standbein, das den sicheren Halt garantiert. Es ist das Ansehen, das Macht hervorruft – das macht einen unangreifbar.«
Eine Gruppe von Menschen, auf die man sich uneingeschränkt verlassen konnte. Dazu die Möglichkeit, ohne Rücksicht auf Regeln, Vorschriften und Gesetze handeln zu können. Das konnte auch heute noch ein Schlüssel zum Erfolg sein. War es so? Gattuso schien gern bereit, sein Wissen an den Mann zu bringen, und so durfte Robin mit weiteren Auskünften rechnen – auf viel angenehmere Weise als bei Recherchen mit der Datenbank. Es war ein wunderbarer Ort, um zu plaudern.
»Heißt das, dass solche Organisationen noch existieren?«
»Aber ja, sie sind inzwischen fest etabliert. Und nun sind sie nicht mehr verfemt, sondern gelten als ehrenwert. Es sind gebildete Leute, Studierte. Indem sie sich anpassten, erwarben sie einen Rang in der Gesellschaft. Und der macht sie unangreifbar.«
Robin wandte den Kopf und blickte auf die malerische Umgebung. Die windschiefen Häuser, die blaugrün gestrichenen Fensterläden, die tönernen Töpfe mit sattroten Begonien. »Und welche Rolle spielt diese Insel, das alte Stammland der Mafia? Gibt es in Sizilien noch Verbindung mit diesen im Ausland geborenen Landsleuten?«
Das war so ein Gedanke, der Robin gekommen war. Die alten Stätten der ursprünglichen Heimat … eine sentimentale Beziehung zur eigenen Vergangenheit … Lag nicht eine gewisse Logik darin, wenn sie sich von Zeit zu Zeit hier trafen, wenn es etwas zu besprechen gab? Vielleicht war es ein solches Zusammentreffen, das Gorosch hierher reisen ließ?
Doch Gattuso schüttelte den Kopf. »Einige Jahre gab es noch feste Bindungen. Kein Sizilianer kann seine Wurzeln verleugnen – so haben es noch viele Auswanderer der ersten Stunde gehalten. Aber ihre Kinder und Kindeskinder – diejenigen, die nicht hier geboren sind? Können sie noch so etwas wie ein Heimatgefühl empfinden?«
Robin konnte seine Frage selbst beantworten. »Diese Verbindung besteht also heute nicht mehr so wie früher.«
»Die junge Generation hat die alten Werte vergessen. Sizilien bedeutet ihnen nichts mehr. Es ist eine Schande.«
Sie hatten den Rotwein ausgetrunken. Gattuso rief nach einer zweiten Karaffe Wein. Ein Mädchen mit langen schwarzen Zöpfen brachte sie. Er füllte ihre Gläser, und sie prosteten sich zu.
Ein Glück, dass ich auf jemand getroffen bin, der sich auskennt, dachte er. Der Alte war ein netter Mann.
»Es ist interessant, Ihnen zuzuhören. Sie kennen sich in der Geschichte aus.«
Gattuso freute sich über dieses Lob. »Ich war Lehrer. Ich habe Geschichte unterrichtet. Und Geographie. Und ich habe viel gelesen.« Seine Stimme war ein wenig undeutlich geworden, aber Robin konnte ihn trotzdem gut verstehen.
»Auch ich habe einiges gelesen – um mich auf die Reise vorzubereiten. Aber Sie wissen eine Menge, was nicht allgemein bekannt ist.« Er fühlte eine weiche Berührung an den Waden – es war eine braun gesprenkelte Katze, die ihn umschmeichelte.
»Es sind keine Geheimnisse. Wer es wissen will, kann es herausfinden.«
»Und wieso wird es in der Öffentlichkeit verschwiegen?«
Jetzt lächelte der Alte. »Ganz einfach: Auch die Nachrichten sind in den Händen der Organisation: Rundfunk, Presse, Info-Dienste, verstehen Sie?«
Robin starrte in das Weinglas. Immer wenn Gattuso zur Unterstreichung seiner Worte mit der flachen Hand auf den Tisch schlug, schwappte die purpurrote Flüssigkeit hin und her, und der Reflex einer Lampe, die oben am Holzgitter befestigt war, geriet in heftige Bewegung. Die Katze war auf Robins Knie gesprungen und hatte es sich dort bequem gemacht.
Was Gattuso da erzählte, war etwas verwirrend, und Robin musste sich konzentrieren, um die Zusammenhänge zu erfassen. Gewiss, es lag in der Hand der Medieninstitute, was sie dem Publikum mitteilten und was nicht – das war logisch. So dauerte es eine Weile, ehe Robin auf eine entscheidende Frage kam, die sich daraus ergab. Er stellte sie, und es war ihm gleichgültig, ob sein Gesprächspartner daraus vielleicht einen Schluss hinsichtlich des wahren Grundes seines Besuchs ziehen mochte: »Halten Sie es für möglich«, fragte er, »dass die höchsten Repräsentanten der Ehrenwerten Organisation hier, in Corleone, zu einer geheimen Besprechung zusammentreffen?«
Das schien Gattuso sehr zu belustigen. »Völlig unmöglich«, antwortete er dann, und in seinem Gesichtsausdruck deutete sich eine feste Überzeugung, aber auch ein gewisses Bedauern an. »Es gäbe keinen Grund, und jede Sentimentalität liegt dieser Generation völlig fern.«
Robin wurde plötzlich müde … War es die Hitze, lag es am Wein, oder war es die Enttäuschung? Wenn es stimmte, was der alte Mann angedeutet hatte, dann war Robin hier am falschen Ort. Ein Irrtum, eine Fehlinterpretation. Oder waren sie getäuscht worden?
Aber war der alte Mann überhaupt glaubwürdig? Er wollte Giuliano persönlich gekannt haben. Wenn das stimmte, dann müsste er weit über 150 Jahre alt sein, also war das wohl gelogen. Und seine Schilderungen: die guten Taten des edlen Räubers. Es hatte geklungen, als wäre Gattuso dabei gewesen: so lebendig, so farbig, als hätte er es selbst beobachtet. Irgendwie hatte das Ganze unecht geklungen, inszeniert, theatralisch … Aber woher mochte er dann seine Kenntnisse haben?
Heute würde Robin nicht weiterkommen. Er sagte, dass er müde sei und sich ausruhen wolle. Dabei wies er auf den Wein, den er nicht gewohnt war. Gattuso schien es ihm nicht übel zu nehmen. Er hatte nichts dagegen, dass Robin die Rechnung beglich, und begleitete ihn noch bis zu den Stiegen, die Robin zurück in das Touristenviertel führten. Ein Mädchen sprach ihn an, als er den Weg zurück zum Hotel suchte, doch er schüttelte nur den Kopf und war froh, als er feststellte, dass er bereits am Platz hinter dem Tor angekommen war …
Zehn Minuten später lag er im Bett, und selbst der von draußen hereindringende Lärm einer Kavalkade von Mopeds vermochte ihn nicht am Einschlafen zu hindern.
Am nächsten Morgen wachte Robin mit schmerzendem Schädel auf. Er konnte sich nicht überwinden aufzustehen – und war um eine Erfahrung reicher: Künftig würde er beim Genuss von naturbelassenem Wein zurückhaltender sein.
Es war angenehm, noch eine Weile im Bett liegen zu bleiben. Im Raum war es dämmrig, durch die Vorhänge fielen nur schmale Streifen Licht, und die Geräusche von außen waren gedämpft. Sein Zimmer war ein Refugium, das ihn vor allem Grellen und Lauten schützte und in dem selbst die Zeit nur langsam verrann.
Robin nickte noch einmal ein … Es war so etwas wie ein schlechtes Gewissen, das ihn aus dem Schlaf riss und an seine Aufgabe erinnerte. Er hatte Mühe, sich an den gestrigen Abend zu erinnern. Die Gaststätte im äußeren Stadtteil, der alte Mann, der so viel geredet hatte … Robin wusste nicht mehr, wie er zurück ins Hotel gekommen war, dagegen erinnerte ersieh noch gut an das, was er vom alten Lehrer Aurelio Gattuso gehört hatte. Und wenn diese Informationsquelle auch nicht unbedingt verlässlich schien, so hatte er doch einiges erfahren, was beachtenswert schien: Es sollte sie also wirklich geben, die Erben der Mafia. Was er nun darüber wusste, erschien logisch, doch Robin hatte jetzt keine Lust, sich damit zu beschäftigen. Viel wichtiger war jetzt die bestürzende Einsicht, dass seine Reise ihren Zweck verfehlt hatte. Hier konnte er noch lange auf Gorosch warten. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als abzureisen. Das musste er so rasch wie möglich klären.
Robin ging ins Bad und drehte den Hahn für kühles Wasser auf, aber das, was er sich über den Kopf rinnen ließ, war eher lauwarm. Immerhin – jetzt fühlte er sich schon etwas besser. Nur seine Zunge war belegt. Er spülte den Mund aus und putzte sich gründlich die Zähne.
Dann holte er sein mobiles Miniphon aus der Jackentasche und rief Josz an. Seine Stimme war belegt, als er die peinliche Einsicht über seinen Aufenthalt in Corleone eingestehen musste.
»Ich habe auch eine schlechte Nachricht«, antwortete Josz, bevor Robin mit weiteren Erklärungen beginnen konnte.
»Vielleicht ist es dieselbe«, sagte Robin und erzählte dann ausführlich von den Ereignissen des gestrigen Tages und von den Gründen, die ihn am Sinn seiner Reise zweifeln ließen.
»Ich kann es kürzer machen – man hat Gorosch bei seiner Ankunft in den USA beobachtet: Kennedy Airport. Er hat eine I-Card mit falschem Namen benutzt – perfekt gefälscht. Es stimmt also: In Corleone wird er nicht auftauchen.«
»Was können wir tun?«
»Nichts. Wir haben seine Spur verloren. Komm zurück. Zumindest hattest du zwei schöne Urlaubstage.«
Schöne Urlaubstage! Plötzlich war der Schmerz in Robins Schädel wieder da. Aber er ging nicht auf den unbeabsichtigten Spott ein und versprach, sich unverzüglich auf den Rückweg zu machen. Bevor er zu seinem Auto zurückkehrte, blieb er an einem der Stände stehen, um einen Sonnenschutz für den Kopf zu kaufen. Er musste nehmen, was angeboten wurde, und so kam es, dass er mit einem angeblich originalen Mafia-Filzhut auf dem Kopf nach Palermo zurückfuhr.
Es war spätabends, als Robin nach der umständlichen Rückreise aus Corleone wieder zu Hause angelangt war. Es war kalt und regnerisch. Während der letzten Tage im sonnigen Süden hatte er sich nach den kühleren Temperaturen im Tal zwischen den Bergen gesehnt, doch dieser Temperaturunterschied war ihm doch etwas zu krass. Er begann zu frösteln und regelte die Temperatur in seiner Wohnung hoch.
Obwohl er einen langen Tag hinter sich hatte, war er nicht müde, sondern von ungewöhnlicher Unruhe ergriffen. Sicher lag es daran, dass er gern etwas über die Ereignisse der letzten zwei Tage erfahren hätte. Er überlegte, ob er sich heute, am Sonntag, noch bei Josz melden sollte, doch es war schon kurz nach elf, und er verschob es auf morgen. Er spielte auch mit dem Gedanken, Michèle anzurufen, doch was sollte sie von ihm denken, wenn er sie um diese Zeit aus dem Schlaf riss? Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu gedulden. Morgen würde er alles Nötige erfahren.
Robin war spät zur Ruhe gekommen, doch schließlich überwältigte ihn die Müdigkeit, und wider Erwarten fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als er durch den elektronisch imitierten Gongschlag seines ComSets geweckt wurde, hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Es war Josz, der sich für den frühen Anruf entschuldigte und Robin bat, möglichst rasch zu einem Informationsgespräch zu kommen. Auf weitere Auskünfte ließ er sich nicht ein. Erst jetzt warf Robin einen kurzen Blick auf die Zeitanzeige: sieben Uhr am Morgen.
Eine Stunde später traf er im Bürogebäude ein. Er hatte gerade noch Zeit, in seinen Arbeitsraum zu gehen, um Michèle anzurufen. Er wusste, dass sie immer schon früh im Büro war, doch er hatte keinen Erfolg: Ein Schriftzug meldete: »Teilnehmer nicht erreichbar«.
Also machte er sich auf den Weg zum Treffpunkt. Der Ort, den ihm Josz genannt hatte, befand sich in einer der oberen, der Leitung des Gerichtshofs vorbehaltenen Etagen. Doch mit seiner I-Card kam Robin unbehindert durch die Sperre, Josz hatte nicht vergessen, ihn anzumelden.
Der Raum erinnerte an ein Tonstudio: Er war fensterlos, die Wände mit geriffelten Platten verkleidet, der Boden mit einem weichen Stoff bezogen, doch gab es weder Mikrophone noch Lautsprecher. Von dem, was hier erörtert wurde, sollte kein Laut hinausdringen.
Robin hatte nichts von der Existenz dieses hochgesicherten Besprechungszimmers gewusst. Es wurde nicht oft benutzt, normalerweise trafen sich hier nur die Angehörigen des obersten Führungsstabes, um ihre geheimsten Gedanken auszutauschen und die entscheidenden Beschlüsse zu fassen. Es musste sich schon um ungewöhnliche Dinge handeln, die ihm Josz eröffnen wollte.
Robin fragte, ob er nicht erst von seinen Erlebnissen auf Sizilien berichten sollte, doch Josz meinte, dass es sich nicht lohnte, sich noch länger mit diesem beschämenden Hereinfall zu beschäftigen.
»Wir haben uns alle täuschen lassen«, sagte Josz und kam damit doch noch einmal auf das leidige Thema zurück. »Corleone können wir vergessen. Das Wort bezog sich nicht auf den historischen Ort, sondern war ein Deckname für ein Quartier der Mafia in Kansas City.«
Auch Robin war es lieber, dass er seinen Misserfolg nicht näher erläutern musste. »Wie seid ihr Gorosch auf die Spur gekommen?«
»Er hat Umwege benutzt, um ans Ziel zu kommen. In Kansas City haben wir ihn wieder aus den Augen verloren. Er hat sich dort nur einige Stunden aufgehalten – offenbar, um sich Instruktionen zu holen. Aber er ist nicht zurückgekommen. Jetzt wird nach ihm gefahndet.«
»Und wie soll es weitergehen?«
Als Josz weitersprach, hatte sich der Tonfall seiner Stimme geändert – man merkte ihm an, dass es von nun an um erfreulichere Dinge gehen würde. »Ich habe die Erlaubnis erwirkt, dich über einige streng geheime Vorgänge zu informieren, und das ist auch der Grund dafür, dass ich dich in diesen Raum gebeten habe. Das Problem war folgendes: Wir wissen inzwischen, dass alle untergeordneten Mitglieder des Sicherheitsdienstes Angehörige einer der großen privaten Söldner-Organisationen sind, die im Dienst der Internationalen Security steht, und dass sie sich unter falschen Namen hier angesiedelt haben; wir könnten sie also wegen Dokumentenfälschung anklagen. Leider würde es viel zu lange dauern, bis wir genügend Beweise hätten – da wäre ihr Anschlag schon längst vorbei. Doch zum Glück haben wir eine schwache Stelle entdeckt, und das ermöglicht es uns, von einer ganz unerwarteten Seite her zuzuschlagen …«
Er machte eine Pause, und es war offensichtlich, dass er sich darauf freute, mit einer Überraschung aufzuwarten. »Ich will es kurz machen. Es war unsere Finanzabteilung, die den entscheidenden Tipp geben konnte. Diese Leute des Sicherheitsdienstes werden nämlich zusätzlich von ihrem geheimen Auftraggeber entlohnt. Und nun das Entscheidende: Sie haben beträchtliche Summen angenommen, aber nicht versteuert. Das ist eben der Unterschied: Während wir jedes kleinste Vergehen bis ins Detail aufklären und mit Beweisen belegen müssen, ehe wir aktiv werden dürfen, genügen für die Steuerbehörde ein paar Eintragungen in Bankformulare, statt der Recherchen bedarf es nur einiger einfacher Rechnungen: Additionen, Subtraktionen und Prozentrechnungen. Und wenn sich dabei ein Fehlbetrag erweist, dann sitzt der Betreffende in der Falle: gnadenlos, unverzüglich – und so gut wie verurteilt.«
Die Überraschung zeichnete sich in Robins Gesicht ab, und Josz genoss seinen Triumph. »Alles ist bis ins Kleinste vorbereitet. Wir brauchen nur noch zwei oder drei Tage, dann kommt es zu einer Massenverhaftung, wie es sie bisher noch nicht gegeben hat.«
Erst allmählich begann Robin zu begreifen. Das war wirklich ein schlauer Plan, und er bewunderte Josz, der ihn sich ausgedacht hatte. Militär, Polizei, alle möglichen Ordnungsdienste waren längst in die Hände privater Unternehmer übergegangen, und niemand wusste genau, welche davon zur Mafia gehörten und welche nicht. Aber die Steuerbehörde war nun einmal eine von jenen wenigen Institutionen, die sich ihre Unabhängigkeit bewahrt hatten. Und sie arbeitete eng mit dem Internationalen Gerichtshof zusammen.
Als sich Robin darüber klar geworden war, fühlte er sich irgendwie befreit – als ließen sich durch diese Maßnahmen seine enttäuschenden Resultate in Corleone wettmachen.
Als sich Robin anschickte, den schalldichten Raum zu verlassen, fiel ihm noch etwas ein. »Ich hatte dir doch von jenem Dr. Occoroni erzählt, der mich im Keller seiner seltsamen Analyse unterzogen hat. Hast du daran gedacht – ich hatte darum gebeten, seine Personaldaten zu überprüfen. Können wir auch ihn über die Steueraktion erfassen?«
»Ich habe es nicht vergessen. Aber ich muss dich enttäuschen – er taucht zwar in den Honorarlisten auf, aber nur als freier Mitarbeiter der Sicherheitsabteilung. Wir haben keine weiteren Daten von ihm. Da ist nichts zu machen.«
Robin war enttäuscht, aber er bedankte sich.
»Wir gehen der Sache weiter nach«, versprach Josz, bevor sie sich trennten.
Kurze Zeit darauf saß Robin wieder in seinem Büro. Ein weiteres Mal versuchte er, Michèle zu erreichen, doch an ihrer Stelle meldete sich eine Sekretärin. Robin erfuhr, dass Michèle von einer Uriaubsreise nicht zurückgekommen war – sie hatte sich telefonisch krank gemeldet. So versuchte er es noch einmal in ihrer Wohnung, aber wieder erschien nur der Schriftzug mit der Mitteilung, dass sie nicht zu erreichen war.
Irgendetwas stimmte da nicht. Die Frage, was mit Michèle geschehen war, beunruhigte ihn, aber im Moment konnte er nichts tun als abzuwarten.
Es wurde ihm nicht langweilig, denn er hatte genug zu tun. Josz hatte ihm ja ein erweitertes Arbeitsfeld eröffnet, das nebenbei auch eine Steigerung seiner Kompetenzen mit sich brachte. Durch seine neuen Aufgaben wurde Robin daran erinnert, dass inzwischen die Internationale Gipfelkonferenz begonnen hatte. Inzwischen war auch der Ort dieses Ereignisses bekannt gegeben worden: ein abgeschiedenes Hotel irgendwo in der Arktis. Das erste Mal wurden Aufnahmen von der Ankunft der Diplomaten auf der Eisinsel gezeigt – die phantastische Kulisse des Hotels, der Rundbau neben dem Bohrturm, der nun mit den Fahnen der beteiligten Nationen geschmückt war, wirkte wie ein Bühnenbild.
Die Arbeiten, in die sich Robin nun vertiefte, hatten etwas mit dieser Konferenz zu tun, und schon nach kurzer Zeit stellte er fest, dass an ihrem ungestörten Verlauf gewisse Zweifel bestanden. Bei der Frage, welche Art von Störungen zu befürchten war, schienen seine Auftraggeber allerdings im Dunkeln zu tappen. In abgefangenen Mitteilungen, Ergebnissen von Abhörmaßnahmen und Meldungen von Agenten suchten sie nach konkreten Hinweisen, aber außer einigen vagen Verdachtsmomenten lagen noch keine Erkenntnisse vor. Die Recherchen, mit denen sich nun auch Robin zu beschäftigen hatte, speziell die Entschlüsselung codierter Nachrichten, sollten Licht ins Dunkel bringen.
Am späteren Nachmittag meldete sich sein Vidiphon. Der Schirm wurde hell, doch war kein Bild zu sehen. Fast hätte Robin abgeschaltet, als eine leise Stimme zu hören war. Sie klang merkwürdig verstellt, als wollte der Anrufer nicht von heimlichen Lauschern identifiziert werden. »Bitte, sag nichts. Treffpunkt wie beim ersten Mal. Heute. Derselbe Ort, dieselbe Zeit. Hast du verstanden?«
Das musste Michèle sein. »Verstanden. Aber …« – da hatte sie schon aufgelegt.
Michèle! Sicher meinte sie ihr erstes Treffen im Wintergarten des Kurhauses, den stillen Platz vor der Palmengruppe. Wie spät war es damals gewesen? Soweit er sich erinnerte, kurz vor zehn. Am liebsten wäre Robin gleich aufgebrochen, aber dann besann er sieh und versuchte ruhig zu bleiben. Die merkwürdige Art, wie Michèle mit ihm Verbindung aufgenommen hatte, ließ darauf schließen, dass ihr Zusammentreffen unbeobachtet bleiben sollte. Also wäre es unvernünftig gewesen, sich bereits jetzt, wo noch viele Menschen unterwegs waren, dort sehen zu lassen.
Die Zeit bis zum Aufbruch dehnte sich endlos. Robin versuchte, sich zur Fortsetzung seiner Arbeit zu zwingen, was ihm aber nicht sehr gut gelang. Ungeduldig wartete er den Dienstschluss ab und verlor dann keine Minute, um den Lift zu erreichen, bevor die Massen seiner Kollegen eintrafen. Es war noch viel zu früh, aber das glich er aus, indem er einen komplizierten Weg wählte, der ihn durch mehrere Kaufhäuser, Restaurants und Sportanlagen hindurchführte. Immer wieder blickte er sich unauffällig nach Leuten um, die ihm zu folgen versuchten, aber er konnte niemand Verdächtigen entdecken.
Als er den Platz vor den Palmen erreichte, löste sich eine Gestalt aus dem Schatten. Michèle trug einen bis über die Knie hinunterreichenden Mantel und eine Mütze, die sie tief in die Stirn gezogen hatte, und über der Schulter eine Reisetasche. Sie kam auf Robin zu.
»Ich bin so froh, dass du gekommen bist«, sagte sie sichtlich bewegt und umarmte ihn.
Robin, ein wenig überrascht, versicherte, dass sie sich auf ihn verlassen könne. »Was ist passiert? Du bist doch nicht krank?«
»Ich bin nicht krank«, sagte sie, »aber in einer sehr schwierigen Lage. Ich hoffe, du kannst mir helfen.«
Robin deutete auf eine der Bänke, und sie setzten sich.
Michèle schien sich allmählich wieder zu fassen.
»Eigentlich weiß ich selbst nicht, worum es geht. Es ist alles so merkwürdig – ich habe keine Ahnung, was es bedeuten soll …« Sie stockte und setzte noch einmal an. »Vergangene Woche war ich in ›Sanssouci‹. Es war am letzten Tag, als ich eine SMS bekam. Sie war ganz kurz und ohne Absender, aber sie konnte nur von Jan stammen. Ich solle sofort zurückkommen, aber weder meine Wohnung noch das Büro aufsuchen – ich sei in Gefahr. Ich bekäme bald eine ausführliche Nachricht über mein Miniphon – doch die kam nicht an … bis jetzt …«
»Was hast du dann getan?«
»Ich bin sofort abgereist. Die letzte Nacht habe ich bei einer Freundin verbracht. Aber … ich weiß nicht, ob ich dort sicher bin …«
Robin stimmte ihr zu. »Wahrscheinlich nicht – wenn dich jemand finden will … Du brauchst sofort ein sicheres Versteck, das ist zunächst einmal das Wichtigste.« Er runzelte die Stirn und überlegte kurz. Dann hellte sich seine Miene auf. »Ich habe eine Idee. Oben, in den Bergen, gibt es eine Skihütte, die ich mir gemeinsam mit einigen Sportsfreunden eingerichtet habe – damals, als die Düsenski in Mode kamen. Um diese Jahreszeit ist sie unbenutzt. Dort würde dich niemand suchen.«
»Und wie kommt man dorthin?«
»Es gibt einen unterirdischen Schrägaufzug. Von der Bergstation sind es nur ein paar Schritte zur Hütte. Was hältst du davon? Wenn du erst in Sicherheit bist, werden wir weitersehen.«
Michèle schien sein Vorschlag zu gefallen, sie sah nicht mehr ganz so verzweifelt aus wie zuvor, und jetzt, da es etwas zu tun gab, hatte sich auch Robins Stimmung gebessert.
»Komm, wir besorgen dir noch ein paar warme Kleidungsstücke und etwas Proviant. Da oben liegt noch Schnee. Alles andere, was du brauchst, findest du in der Hütte.«
Sie verließen den Kurpark, und Robin suchte mit Michèle ein Spezialgeschäft für Sport und Expeditionen. Neben einigen Konserven bekam Michèle einen warmen Overall und feste Schuhe, und auch Robin suchte sich eine Thermojacke aus.
»Getränke gibt es oben genug, ebenso eine Menge Nahrungsmittel. Auch ein Herd ist oben, der Raum lässt sich heizen, und ein altes Fernsehgerät steht auch noch herum«, kündigte Robin an.
Sie besorgten sich einen Leihwagen und fuhren an den Stadtrand. Von einer Straßenkehre aus konnte man zu einem großen Parkplatz abbiegen, und dort gab es einige kleine Bauten, die Talstationen mehrerer Skiaufzüge, die in verschiedene Richtungen den Berg hinaufführten. Wie es in dieser Gegend Vorschrift war, waren sie mit Hilfe von Excavatoren unterirdisch verlegt worden.
Robin führte Michèle zu einem der Holzbauten und tippte den Code in sein Miniphon. Die Tür öffnete sich. Sie betraten eine Kammer, an deren Rückwand eine Schiebetür offen stand. Man blickte in das bereitstehende Fahrzeug, das keine Sitze, sondern nur Liegematten aufwies.
Michèle wunderte sich, wie eng der Tunnel war – und entsprechend unbequem war auch das Gefährt, ein zylindrisches Objekt, in dem nur zwei Personen in halb liegender Stellung Platz fanden. Nachdem sie sich hineingezwängt hatten, drückte Robin den Startknopf … kurze Zeit später schloss sich die Schiebetür, und man hörte das heftige Zischen des Pressluftantriebs … Sekunden später wurde der Zylinder zunächst langsam in den Tunnel geschoben und beschleunigte dann mit einem Ruck … von der Geschwindigkeit war nur dann etwas zu bemerken, wenn das Fahrzeug in leichte Kurven ging und der Andruck die beiden Passagiere seitlich an die Metallwand drückte.
Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten, dann hielt der Gleitzylinder an, und die Schiebetür öffnete sich. Ein wenig mühsam stiegen sie aus. Sie waren in einem Verschlag angekommen, der durch eine alte Glühlampe notdürftig beleuchtet war. Sie schauderten, denn hier oben war es empfindlich kalt. Eilig zogen sie die von Robin besorgte warme Kleidung über und nahmen das Gepäck, dann drückte Robin die schwer bewegliche Tür auf - Schnee rieselte ihm entgegen.
Rundherum war es dunkel, doch Robin schaltete seine Katalyt-Lampe ein, die einen Lichtkeil in die Umgebung warf. Zwischen Felsen und Schneehaufen war da ein gewundener Steg zu erkennen. Der Boden war mit Schnee bedeckt. Wenig später tauchte die Hütte vor ihnen auf; die Aluminiumbeschichtung der Bretterwände spiegelte den Lampenschein. Die Tür ließ sich widerstandslos öffnen, eine starke Deckenlampe beleuchtete einen kleinen Raum, in dem ein Holztisch den dominierenden Platz einnahm. Im Hintergrund stand der Akku, der von Brennstoffzellen aufgeladen wurde. Sie stellten das Gepäck auf zwei Bänken ab, Robin schaltete die Heizung ein und stellte Teewasser auf.
Es war gemütlich hier: die Holzwände dicht mit Regalen, Bildern und Schnitzereien versehen, zwei kleine Fenster, ein Elektroherd, ein Spültisch, darüber die Hähne für Warm- und Kaltwasser. Im Hintergrund, durch zwei Schränke abgetrennt, eine breite Bettstatt, wo mehrere Menschen Platz fanden, darauf ein Stapel zusammengelegter Wolldecken.
Bald war es wohlig warm, Michèle und Robin setzten sich an den Tisch und tranken Tee.
Michèle versuchte durch das Fenster hinauszusehen, aber es war nichts zu erkennen. Man sah ihr an, dass sie sich ein wenig unbehaglich fühlte. »Was soll ich tun, wenn jemand hier heraufkommt?«, fragte sie.
Robin schüttelte den Kopf. »Um diese Jahreszeit kommt niemand. Die Saison ist vorbei, angeblich besteht Lawinengefahr. Aber du wirst ja keine großen Wanderungen machen«, fügte Robin hinzu.
»Das habe ich in der Tat nicht vor«, antwortete Michèle ernsthaft.
Robin lachte beruhigend. »Im Übrigen hast du als mein Gast das Recht, dich hier oben aufzuhalten – falls dich das beruhigen sollte. Aber das Entscheidende ist doch, dass du hier vor Verfolgern sicher bist.«
Robin holte von einem Wandfach eine Schachtel mit Gewürzwaffeln, öffnete sie und schob sie zu Michèle hinüber.
Er setzte sich wieder, und seine Miene wurde ernst. »Jetzt möchte ich aber doch gern wissen, was du in ›Sanssouci‹ herausgefunden hast.«
»Da gibt es einiges, was bemerkenswert erscheint, aber der Klärung bedarf. Sehr weit bin ich dabei nicht gekommen. Jedenfalls hat sich Angelo mehrere Wochen hindurch dort aufgehalten, aber es war kein normaler Erholungsaufenthalt.«
»Sondern?«, fragte Robin.
»Worum es dabei ging, habe ich nicht herausbekommen«, sagte Michèle. »Ich vermute, es sollte eine Vorbereitung auf eine heikle Aufgabe sein. Zunächst habe ich mich nach Angelos Kontaktpersonen erkundigt. Es hat den Anschein, als wären einige Spezialisten zur Zusammenarbeit mit ihm herbeibeordert worden. Vielleicht zu einem Spezialtraining, vielleicht für einen besonderen Unterricht. Auch darüber konnte ich keine Einzelheiten in Erfahrung bringen. Da gab es beispielsweise Tassilo Bertheim – einen Drehbuchautor, der die Skripte zu einigen recht bekannten Abenteuerfilmen geschrieben hat. Wichtig war auch eine Psychoneurologin, Dr. Martha Feirer, eine Spezialistin für Gedächtnistraining; sie hat viele Tage mit Angelo verbracht. Ach ja, ein Schönheitschirurg war auch dabei, aber da besteht vermutlich kein tieferer Zusammenhang.«
Robin ging nicht darauf ein, aber er hielt es durchaus für möglich, dass es da einen Zusammenhang gab. Plastische Chirurgie als Mittel zur Tarnung – davon hatte er schon gehört.
»Dann ist mir noch jemand anderer aufgefallen, der offenbar mit Angelo in Verbindung stand: Sylvan Caretti, ein Extremsportler und Abenteurer. Er hat etwas mit einem Reisebüro zu tun, das sich Interact Adventure Tours nennt. Dieser Caretti muss irgendeine Bedeutung für Angelo haben, aber soviel ich herausbekommen habe, war er nicht in ›Sanssouci‹. Ich habe keine Eintragung gefunden.«
Robin schüttelte den Kopf, auf diese Eröffnungen konnte er sich keinen Reim machen. Dann fiel ihm noch etwas ein. »Bist du im Zusammenhang mit Angelo auf den Namen Occoroni gestoßen?«
»Nein. Ich habe auch daran gedacht, aber ich habe nichts gefunden.«
Beide schwiegen eine Weile, dann sagte Michèle: »Dieser Tag war sehr anstrengend für mich. Ich glaube, es macht wenig Sinn, wenn ich noch auf alle möglichen Einzelheiten eingehe. Pass auf: Ich habe eine Art Tagebuch geführt – ich überlasse dir die Aufzeichnung von meinem Diktat, darin wirst du sicherlich noch einiges finden, was ich bisher nicht erwähnt habe. Du solltest es lesen, und bei nächster Gelegenheit sprechen wir darüber.«
Robin nickte. »Es ist schon spät, ich werde mich auf den Rückweg machen. Ich glaube, du findest hier alles, was du brauchst.«
Er stand auf, und auch Michèle erhob sich. Sie blickte zu den Fenstern und in die dahinter angestaute Finsternis. Dann drehte sie sich wieder zu Robin und fragte leise: »Du willst mich allein lassen? Kannst du nicht hierbleiben? Es ist mir hier ein wenig unheimlich.«
Robin hatte sich schon vorher, als er Michèle an diesen einsamen Ort am Rande des Gebirges gebracht hatte, Gedanken darüber gemacht, ob er sie hier allein zurücklassen durfte. Und nun hatte sie die Frage selbst beantwortet.
Der Gedanke war verlockend, hatte er sich doch längst eingestanden, dass er sich unsterblich in Michèle verliebt hatte. Aber was Michèles Gefühle betraf, so war er sich nicht im Klaren … So zögerte er mit der Antwort. Doch er brauchte keine zu geben, denn Michèle trat auf ihn zu, lehnte sich an ihn und legte den Kopf an seine Schulter. Da zog er sie an sich und hielt sie fest, als wollte er sie nie mehr loslassen.
Michèles Aufzeichnungen
Do. – Spätabends angekommen. Kann nichts mehr unternehmen. Einige Prospekte durchgesehen, meine Kenntnisse über »Sanssouci« aufgefrischt und ergänzt. Ein weiträumiges Parkgelände, im Zentrum ein nachgebautes Renaissance-Schlösschen, innen Versammlungsräume, ein Holotheater, zwei Restaurants, mehrere Besprechungszimmer mit Netzzugriff, eine Infothek. Darum herum mehrere Gebäude, Gästehäuser, Sporthallen, ein Konzertsaal, eine Cyber-Kuppel für Schulungszwecke, aber auch als Kunstraum. Auf dem Orientierungsplan am Rand des Geländes noch viele andere nicht weiter gekennzeichnete Anlagen. Ein ganzes Heft über das Programmangebot: Vorträge zur Weiterbildung, Diskussionsabende, Kreativkurse, Gedächtnistraining, Konzentrationsübungen. Dazu eine Menge Kultur. Alles sehr vornehm, sehr gediegen und sehr langweilig.
Fr. – Gelände besichtigt. Beim Frühstück die anderen Gäste gemustert – ausnahmslos jene Sorte von Menschen, die sich ihrer Wichtigkeit bewusst sind und das auch nach außen erkennen lassen. Der Zutritt zu den Anlagen am Rande des Geländes ist gesperrt – den Grund unauffällig in Erfahrung bringen! Über das ComSet in einem leer stehenden Besprechungszimmer nach Informationen über Angelo gesucht, einige nichtssagende Daten gefunden. In den Listen der Feriengäste ist er nicht aufgeführt. Nach längerer Suche eine Eintragung aufgespürt: drei Monate war er in einem Trakt 2a untergebracht; auf dem Plan nicht eingezeichnet. Zwischendurch ist ein Klinikaufenthalt angegeben: 10 Tage Psychiatrie.
Bei einem Spaziergang zum gesperrten Teil des Geländes gekommen. Abtrennung durch eine unauffällige Ultraschall-Sperre. Einige Zeit beobachtet, Einblick durch Buschwerk erschwert. Auf einem Weg in der Nähe der Gebäude eine Gruppe von Männern und Frauen in weißen Kitteln gesehen. In der Nähe der Absperrung, innen, einen Mann beobachtet. Er bewegte sich langsam, unsicher. Als er näher kam, rief ich ihn. Er reagierte zögernd, aber er kam an die Sperre heran. Ich stellte ihm ein paar Fragen, aber er sah mich nur stumm an. Dann wandte er sich um und entfernte sich.
Mein Eindruck: Hier geht es nicht nur um die üblichen Erholungsmaßnahmen, sondern um nachhaltige Einwirkung auf die Mitarbeiter. Vielleicht um Schulung und Training mit den modernen Methoden des Persönlichkeits-Designs, vielleicht auch um Behandlung von Ausfallerscheinungen und psychischen Schäden in den Kreisen der Führungselite.
Am Abend wieder im internen Netz gestöbert. Die Liste der Gäste genau studiert. Die meisten sind Mitglieder des Gerichtshofs, manchmal auch mit Angehörigen, einige wenige offenbar Künstler und Wissenschaftler, die zur Mitwirkung an Vorführungen bzw. zu Vorträgen eingeladen waren und sich hier nur ein oder zwei Tage aufhielten. Die einzige Ausnahme war ein Autor von Filmdrehbüchern und Programmen für Erlebnistheater: Er war eine ganze Woche hier, und dann fand ich ihn auch noch für weitere drei Wochen als Gast im internen Teil eingetragen. Trakt 2a, wo auch Angelo untergebracht war, und überdies zur selben Zeit. Ein Zufall? Das will ich noch herausfinden.
Sa. – Ein Versuch, in den gesperrten Teil zu kommen, gescheitert. Im Holotheater ein Opernglas besorgt und das Gelände vom Terrassencafe der Cyber-Kuppel aus beobachtet. Von einem Mann angesprochen worden – was es da drüben Interessantes zu beobachten gäbe? Erst war ich erschrocken, doch seine Frage war offenbar nur ein Vorwand, um mich kennen zu lernen. Er erzählte, dass er Verhaltenskybernetiker sei und für die Kollegen drüben in der Klinik einen Kurs über die neuesten Methoden der Neuroelektronik abzuhalten habe. Als ich Näheres wissen wollte, zählte er einiges auf, was auf seinem Gebiet in der Zukunft zu erwarten sei: intrapersonelle Übertragung von gelernten Routinen, gezielte Veränderung persönlichkeitsrelevanter Eigenschaften, artifiziell eingeleitete multiple Bewusstseinsspaltung … Ich bat ihn, mir einiges über den gegenwärtigen Stand der Forschung zu erzählen, doch da zeigte er sich merkwürdig verschlossen. Aber er lud mich für den Abend zu einem Konzertbesuch ein, ich sagte zu, um eventuell doch noch etwas aus ihm herauszuholen. Doch das ging schief – ich hätte nicht gedacht, dass sich Verhaltenskybernetiker so plump anstellen, um Mädchen herumzukriegen.
Morgen ist mein Aufenthalt hier zu Ende. Die Ausbeute ist leider enttäuschend. Aber immerhin habe ich jetzt einige Vermutungen. So hat sich bestätigt, dass Angelo nicht zur Erholung in »Sanssouci« war, es ging wohl um eine ganz spezielle Vorbereitung auf seine Aufgabe. Vorher habe ich lediglich an eine besondere Schulung gedacht, jetzt aber habe ich den Verdacht, dass er auch schwerer wiegende Eingriffe über sich ergehen lassen musste. Aber was hatte der Drehbuchautor damit zu tun? Ach ja, ich habe noch herausgefunden, dass dieser das Expose für eine Sendung über Sylvan Caretti geschrieben hat.
Am späten Abend eine SMS von Jan bekommen: Ich solle »Sanssouci« so schnell wie möglich verlassen und mich einige Tage verstecken. Es würde sich bald alles klären, und er würde sich so bald wie möglich wieder melden. Morgen früh wollte ich ohnehin abreisen … Aber wo soll ich mich verstecken?
Am nächsten Morgen kam Robin zwei Stunden zu spät ins Büro. Er fühlte sich so glücklich wie nie zuvor und hatte Mühe, sich in seine Tagesarbeit zu vertiefen. Mit seinen Gedanken war er noch oben in der Hütte … Kaum zu glauben, dass dort, oberhalb der dichten Wolkendecke, die sich über das Tal breitete, eine Welt voll Licht und Sonnenschein existierte – blauer Himmel, glitzernd weißer Schnee. Und dass dort Michèle auf ihn wartete.
Robin hatte sich dazu zwingen müssen, wieder in die graue Welt des Alltags zurückzukehren, aber es hatte keinen Sinn, die Augen vor den Ereignissen dieser Tage zu verschließen. Schließlich war er darin verwickelt, und – so sagte er sich – eben diese Ereignisse waren es ja auch, die ihn mit Michèle zusammengebracht hatten.
Er folgte seinem Impuls und schaltete den Nachrichtensender ein.
Wie zu erwarten war, stand die Gipfelkonferenz im Mittelpunkt der Tagesmeldungen. Zwar ging daraus nicht klar hervor, ob die Verhandlungen schon begonnen hatten, doch dem äußeren Anschein nach verlief alles wie geplant.
Auch die Ermittlungen, die Robin am Tag zuvor eingeleitet hatte, waren bisher ohne konkreten Hinweis auf eine Störaktion geblieben. Falls an diesem Verdacht wirklich etwas dran war, dann war es den Drahtziehern gelungen, die Vorbereitungen absolut geheim zu halten.
Eigentlich war Robin froh darüber, denn so konnte er sich guten Gewissens Michèles Aufzeichnungen zuwenden.
Der Text selbst war nur kurz, aber doch weitaus interessanter, als Robin erwartet hatte. Michèle selbst war ja mit den Ergebnissen nicht zufrieden, aber Robin fand doch einiges, was er für aufschlussreich hielt. Besonders beachtlich erschien ihm die Tatsache, dass Angelo einige Zeit mit Psychologen und Neurologen zu tun gehabt hatte. Das erinnerte ihn an einiges, was er erst kürzlich erfahren hatte: bei den Ergänzungskursen, die er und seine Kollegen regelmäßig einmal im Jahr absolvieren mussten. Dabei ging es vor allem um neueste Techniken, die bei ihrer Arbeit nützlich sein konnten: Waffen, Abhörtechniken, Decodierungsverfahren, Auswertungsprogramme, aber auch um Erkenntnisse der Psychologie und Neurologie, die zur Beeinflussung verdächtiger Personen und zur Abwehr fremder Beeinflussungsversuche dienen konnten. Robin vermutete, dass man Angelo in dieser Fachrichtung einer besonders intensiven Schulung unterzogen hatte, um ihn auf seine wie auch immer geartete Aufgabe vorzubereiten.
Robin erinnerte sich aber auch an den Verdacht, den Michèle geäußert hatte: dass die Kur, der man van der Steegen in »Sanssouci« unterzogen hatte, zu seinem bedauerlichen Gemütszustand geführt haben könnte. Sollte es da eventuell einen Zusammenhang geben? Darüber wollte er am Abend mit Michèle sprechen.
Robin hatte sich vorgenommen, am Nachmittag Josz aufzusuchen, um das weitere Vorgehen zu besprechen, doch bevor er sich anmelden konnte, trat der in Robins Büro.
Er lehnte Robins Einladung, sich zu setzen, ab und blieb an die Fensterleiste gelehnt stehen.
»Ist die Abhörsicherung eingeschaltet?«, fragte er, und als Robin nickte, verkündete er: »Ich habe ein paar Neuigkeiten, vor allem, was die geplante Aktion betrifft: Wir kommen gut voran. Dabei haben sich ein paar Überraschungen ergeben.«
Als Robin etwas sagen wollte, wehrte Josz mit einer Handbewegung ab. »Ich will hier nicht über Details sprechen. Nur so viel: Am Komplott sind mehr Mitarbeiter beteiligt, als wir geahnt haben. Eben erst hat man es mir mitgeteilt. Das versetzt uns in die Lage, gründlich aufzuräumen.«
Der Steuerfahndung entkommt keiner, der sich nicht korrekt verhalten hat, dachte Robin. »Wann ist es so weit?«, fragte er.
»Schon bald, in ein paar Tagen – sobald wir alles zusammenhaben. Es sind auch ein paar rechtliche Fragen zu klären, denn wir brauchen die Erlaubnis, alle Beteiligten in Gewahrsam zu nehmen. Das wird man uns nicht verweigern, denn die hinterzogenen Beträge, um die es geht, sind so hoch, dass wir uns auf Verdunkelungsgefahr berufen können.«
Die in Aussicht genommenen juristischen Kniffe interessierten Robin wenig, und er hatte auch den Eindruck, dass Josz noch etwas zu berichten hatte, aber damit nicht so recht herausrücken wollte.
»Dann ist ja alles auf dem besten Weg«, bemerkte er, »aber deshalb hättest du doch nicht extra kommen müssen. Gibt es noch etwas?«
Josz nickte, und seiner Miene war anzumerken, dass es sich um etwas Unangenehmes handelte. »Leider ja«, antwortete er. »Jan van der Steegen wurde entführt.«
Für Robin kam diese Nachricht unerwartet, war aber genau genommen gar nicht so überraschend – irgendetwas in dieser Art war ja zu erwarten gewesen.
»Weiß man schon Näheres?«, erkundigte sich Robin.
»Das letzte Mal, als Jan gesehen wurde, stieg er gerade in ein CityCar. Von dem Moment an war er von der Bildfläche verschwunden. Wie sich später herausstellte, war die Fahrt nicht registriert – das CityCar gehörte zu keinem der zugelassenen Beförderungsdienste. Also vermutlich ein Fahrzeug, das von den Kidnappern als Taxi getarnt war. Niemand ist etwas Besonderes daran aufgefallen.«
»Und wann hat sich herausgestellt, dass es eine Entführung ist?«
»Wir erhielten eine E-Mail, und über das Netz haben wir zu verhandeln versucht. Die Forderungen richteten sich auf Gorosch: Es wurde verlangt, ihn freizulassen.«
»Und was habt ihr nun vor?«
»Wir haben uns bereit erklärt, ihn freizulassen«, berichtete Josz. »Seit er enttarnt ist, kann er uns nicht mehr schaden, die Gesundheit von Jan van der Steegen hat Vorrang. Es geht jetzt nur noch um die Umstände des Austausches.«
Robin sah ein, dass es in dieser Situation keine Alternative gab.
»Da ist noch etwas, was du wissen solltest …«, sagte Josz ein wenig stockend. »Auch Michèle ist verschwunden. Sie hat sich eine Woche Urlaub genommen, ist aber am Montag nicht ins Büro gekommen, sondern hat sich telefonisch krank gemeldet. Ihr Fernbleiben scheint aber doch andere Gründe zu haben, denn wir können keine Verbindung mit ihr aufnehmen – sie ist nicht in ihrer Wohnung. Ich glaube nicht, dass auch sie entführt wurde, denn von ihr war bei den Verhandlungen keine Rede. Wir wissen noch nicht, was mit ihr passiert ist, aber wir gehen der Sache nach.«
Eigentlich sollte ich es ihm sagen, dachte Robin, aber das kam nicht infrage, solange Jan noch gefangen gehalten wurde. Oben in der Skihütte war Michèle in Sicherheit.
Nun endlich entschloss sich Josz, seinen Platz am Fenstersims zu räumen; er ließ sich auf dem Besuchersessel nieder. »Wir haben ja noch andere Probleme. Die Konferenz … bist du auf dem Laufenden?«
»Ja – soweit es sich um offizielle Meldungen handelt«, antwortete Robin. »Doch das ist nicht gerade viel. Ist denn schon etwas Genaueres darüber bekannt, was eigentlich zu befürchten ist? Und wer die Drahtzieher sind?«
»Es sind mafiaähnliche Gruppierungen, die verschiedene gewinnträchtige Industriezweige in ihre Hand bringen wollen. Es besteht der Verdacht, dass sich unter den Diplomaten auch solche befinden, die im Auftrag dieser Leute handeln und die freie Wirtschaft zu untergraben versuchen. Aber wir wissen eben nicht, mit welchen Mitteln sie dieses Ziel zu erreichen versuchen. Womöglich handelt es sich bloß um die üblichen diplomatischen Tricks, aber da müssen Politiker eben selbst darauf achten, dass sie nicht über den Tisch gezogen werden.«
»In die Verhandlung können wir nun einmal nicht eingreifen«, sagte Robin ein wenig süffisant. »Und mit Gewalt von außen, mit Demonstrationen, Aufmärschen und Revolten ist wohl auch nicht zu rechnen.«
»Es ist alles für die Sicherheit getan. Darum hat man ja diesen abgeschiedenen Tagungsort gewählt. Und trotzdem … irgendetwas stimmt da nicht, ich habe das im Gefühl.«
»Aber dafür muss es doch Verdachtsmomente geben.«
Josz schwieg ein paar Sekunden. Wahrscheinlich überlegte er, wieweit er die Karten auf den Tisch legen sollte.
»Schließlich haben wir ja auch Agenten, von denen wir einiges darüber erfahren, was auf der Gegenseite geplant ist. Daher wissen wir beispielsweise, dass sich die leitenden Persönlichkeiten in den letzten Monaten auffällig oft zu geheimen Besprechungen getroffen haben. Doch zu einigen von unseren Mitarbeitern, die in diesem Sektor eingesetzt sind, ist der Kontakt vor Kurzem abgebrochen – bei allen fast zur selben Zeit.«
Josz schwieg und wartete auf die Reaktion von Robin, der ihm zustimmte: »Das kann kein Zufall sein.«
»Im Übrigen betrifft es auch einen unserer wichtigsten, mit einer Sonderaufgabe betrauten Agenten. Wenn alles wie geplant abgelaufen ist, befindet er sich bereits am Schauplatz des Geschehens. Er hatte die Order, die Verbindung mit uns aufrechtzuerhalten, wenn es irgendwie möglich ist. Nun, von ihm haben wir ebenfalls seit zwei Wochen nichts gehört. Das ist auch der Grund, weshalb ich mich an dich gewandt habe: Du sollst alle anderen Aufträge hintanstellen und nach Funksprüchen von ihm suchen. Vielleicht sind sie gestört, vielleicht sind nur Fragmente angekommen, die man nicht identifiziert hat. Es kann auch sein, dass an anderen Stellen etwas aufgefangen und nicht weiter beachtet wurde. Schließlich sind seine Nachrichten verschlüsselt – hier habe ich die Code-Nummer notiert.«
Josz holte einen Zettel aus seiner Jackentasche und schob ihn zu Robin hinüber.
»Unter welchem Namen meldet er sich?«, fragte Robin.
»Sein Codewort ist ›Schneemann‹«, antwortete Josz und stand auf, als hätte er es plötzlich eilig. »Ich hoffe, dass du etwas findest. Es wäre wichtig.«
Er hob die Hand zum Abschied und ging hinaus. Für Robin war jetzt der Vorhang, hinter dem sich nach allem, was sie wussten, eine üble Verschwörung vorbereitete, ein wenig durchsichtiger geworden.
Tief in Gedanken versunken ging Robin in sein Arbeitszimmer zurück. Vorderhand war er wieder mit Arbeit eingedeckt, die einige Verantwortung mit sich brachte und ihn unter anderen Umständen voll beansprucht hätte.
Andererseits stand einiges, was ihm Josz mitgeteilt hatte, in direktem Zusammenhang mit Michèle. Eigentlich sollte er ihr so rasch wie möglich von Jans Entführung berichten, aber sie hatten vereinbart, tagsüber keinen Kontakt miteinander aufzunehmen – schließlich wurden alle über das Netz hergestellten Verbindungen registriert, und so bestünde die Gefahr, dass sich auch Unbefugte darüber informieren und den Aufenthaltsort von Michèle herausfinden konnten. Außerdem wollte ihr Robin die Neuigkeit lieber persönlich überbringen – wer wusste, wie sie darauf reagieren würde. So machte sich Robin an die Arbeit, aber seine Gedanken schweiften immer wieder zu ihr ab.
Tagsüber bemühte sich Robin, eine Spur von Angelo ausfindig zu machen – doch trotz einiger Anstrengung ohne Erfolg. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als alle Außenstationen anzuweisen, auf Funkmeldungen von Angelo zu achten und ihn im Falle eines Falles umgehend zu verständigen. Er sehnte den Abend herbei, um die Arbeit abschließen zu können, und dann galt es, keine Minute zu versäumen, um möglichst schnell zu Michèle zu kommen.
Für Robin hatte sich ein Traum erfüllt: Da gab es jemanden, der ihn so glücklich machen konnte, wie er es noch nie erlebt hatte.
Die Sonne stand schon tief, als er an der Bergstation des Skilifts ankam. Michèle hatte in der Hütte gewartet, und als sie ihn durch das Fenster kommen sah, lief sie ihm entgegen.
Dann lag sie ihm in den Armen. »Wie gut, dass du endlich hier bist – es war ein langer Tag«, flüsterte ihm Michèle ins Ohr. Erst nach einer Weile lösten sie sich voneinander und gingen zurück zur Hütte.
Während sie dahinstapften, berichtete Michèle, wie sie die langen Stunden in der ungewohnten Umgebung verbracht hatte. Es war ein schöner, sonniger Tag gewesen, die Einsamkeit auf der schneebedeckten Hochfläche hatte sie tief beeindruckt, sie hatte sich sogar hinaus ins Freie gewagt und einen kurzen Spaziergang durch den Schnee unternommen. Aber natürlich hatte sie die Ereignisse der letzten Tage nicht vergessen und ihre Unruhe nur mühsam unterdrücken können.
Erst als sie am Tisch saßen und Tee tranken, erzählte ihr Robin, was geschehen war.
Robin konnte beobachten, wie sich der eben noch fröhliche Gesichtsausdruck der jungen Frau innerhalb von Sekunden zu einer starren Maske verdüsterte.
»Entführt –«, sagte Michèle, »das also ist die Erklärung für Jans Nachricht. Wie kam es dazu? Ist ihm etwas passiert?«
»Darüber ist nichts bekannt«, antwortete Robin bedrückt. »Josz berichtete, dass es auf der Fahrt mit einem Schwebetaxi geschehen ist. Es war offenbar ein nicht registriertes CityCar. Wahrscheinlich hat Jan, als er bemerkte, dass etwas nicht in Ordnung war, dir noch rasch die Nachricht geschickt – so erkläre ich es mir.«
Michèle dachte eine Weile nach, und Robin unterbrach sie nicht. Dann sagte sie: »Ich muss mich selbst darum kümmern. Ich muss zurück.«
Robin runzelte die Stirn. »Denk an das, was dir van der Steegen geraten hat: Du solltest dich in Sicherheit bringen, er hält dich für gefährdet …« Aber Michèle ließ das nicht gelten.
»Du hast ja gehört, um was es geht – Jan ist in einer gefährlichen Situation. Jetzt sind die Dinge ins Laufen gekommen, dazu werde ich gebraucht. Ich muss mich darum kümmern, dass es zum geplanten Austausch kommt.«
Alle Einwände von Robin nutzten nichts. Michèle bestand darauf, ohne Zeitverzug zurückzukehren. So traurig er auch darüber war, blieb Robin nichts anderes übrig als zuzustimmen. Sie brachten die Hütte notdürftig in Ordnung, nahmen ihr Gepäck und trugen es zur Station. Der Gleitzylinder stand bereit, sie stiegen ein und fuhren hinunter.
Es war dunkel geworden, der Parkplatz war leer. Mit seinem Miniphon rief Robin ein CityCar. Zwei Minuten später war es da, er stieg ein und gab Michèles Adresse an.
Dort angekommen, brachte er sie zur Tür und fragte, ob er mitkommen solle, doch Michèle bat ihn, nach Hause zu fahren: Es ginge ihr so viel im Kopf herum.
»Sei mir nicht böse«, bat sie und küsste ihn flüchtig zum Abschied. Dann war sie im Flur verschwunden, die Tür glitt zu, und Robin kehrte wie vor den Kopf gestoßen zum CityCar zurück.