Urgewalten des Orkans


Ich weiß nicht, was mich am nächsten Morgen geweckt hat, denn ich war noch sehr verschlafen. Irgendetwas Ungewöhnliches war geschehen, doch ich brauchte eine Weile, ehe ich wusste, was es war: Es war ganz still geworden, das Rauschen des Windes verstummt, nicht der geringste Luftzug zu spüren, als ich einen Arm aus den Hüllen schälte und vorstreckte. Und da merkte ich noch etwas anderes: Es war angenehm warm.

Es erschien mir als gute Voraussetzung, den neuen Tag zu beginnen. Ich kroch hinaus und zog mir den Anzug über – aber bei dieser Temperatur wäre das nicht nötig gewesen. Ich fürchtete, dass es mir unangenehm warm werden könnte. So kam ich auf die Idee, mich vorher ein wenig zu erfrischen. Ich schabte lockeren Schnee zusammen und rieb mir das Gesicht damit ab – ein notdürftiger Ersatz für die Waschung, die ich nötig gehabt hätte.

Während ich frühstückte, sah ich mich um. Der Boden in meiner Umgebung war nass, das Eis im Schmelzen begriffen. Da und dort hatten sich bereits Lachen gebildet. Die Farbe des Himmels spielte ins Gelbliche, gegen Süden hatten sich Wolken angesammelt, die ihre Formen rasch änderten und phantastische Figuren bildeten. Dieses Schauspiel sah ein wenig bedrohlich aus, doch das konnte mich nicht schrecken, es fand in weiter Entfernung statt. Und ein Blick auf das Display meines Ortungssystems hatte mir gezeigt, dass ich meinem Ziel schon recht nahe gekommen war. Wenn alles gut ging, könnte ich es morgen oder übermorgen erreichen.

Trotzdem hatte ich keine Zeit zu verschenken. Ich mischte mir einen kleinen Vorrat an MinMix-Lösung, packte meine Sachen zusammen und brach auf.

Zunächst einmal war ich recht zufrieden, mit den Unannehmlichkeiten des Vortags war ich gut fertig geworden, und der neue Tag versprach angenehm zu werden. Das Wetter war geradezu frühlingshaft – so hatte ich es hier nicht erwartet. Aber auch hier schienen sich die Folgen der allgemeinen Klimaerwärmung zu zeigen. Hauptsache, ich kam gut voran.

In meinem Blickfeld lag die Wolkenmasse, die jetzt schwer und kompakt aussah. Sie hatte sich vergrößert und eine dunkle Farbe angenommen. Türme wuchsen nach oben in den Himmel hinein, an der Unterseite hingen silberne Schleier. Jetzt kam auch wieder Wind auf, aber es war ein warmer Wind – fast schon unangenehm warm, weil er mich ins Schwitzen brachte, doch das schien mir immer noch angenehmer, als zu frieren.

In mir regten sich Bedenken – sollte sich da ein Unwetter zusammenbrauen? Doch ich ging darüber hinweg und versuchte nur, mein Tempo etwas zu beschleunigen.

Doch dann änderte sich die Situation unglaublich schnell. Ich konnte beobachten, wie sich die Wolken zu einer Wolkenwand verbanden, die sich rasch näherte – mir schien es sogar, dass sie sich genau auf mich zubewegte, und das mit rasant wachsender Geschwindigkeit. Auf einmal war ich von Nebel umgeben, der Wind wehte mit unglaublicher Stärke, und aus meiner Wanderung wurde ein Kampf gegen seine gewaltige Kraft. Es wurde immer schwieriger, das Gleichgewicht zu halten, denn die Windrichtung wechselte ständig, ich taumelte hin und her und konnte bald nicht mehr sicher sein, ob ich mich noch auf dem richtigen Weg befand.

Dann setzte der Regen ein: zuerst noch einige harmlose Tropfen, doch dann platzte es vom Himmel, wie ich es noch nie erlebt hatte: eine Flut von oben, die einen zu ersticken drohte.

Jetzt war an eine Fortsetzung meines Weges nicht mehr zu denken, jetzt ging es darum, mich in Sicherheit zu bringen … Ich hätte es früher tun sollen, denn es war so finster geworden, dass ich die Umgebung kaum erkennen konnte, und auch der Schein meiner Helmlampe konnte die entfesselten Elemente nicht durchdringen. Ich konnte mich nur fortbewegen, wenn zwischendurch eine kleine Pause eintrat – als müsse das Unwetter Atem holen, um dann mit verstärkter Kraft weiterzutoben.

Dann wurde es kalt. Mein erhitzter Körper registrierte es nicht gleich, und zuerst empfand ich es nicht einmal als unangenehm. Doch das änderte sich rasch, und ich fürchtete, dass die Kälte gefährlich werden könnte. Zuerst stand ich nur still und zog mir die Kleider enger um den Leib, aber der Wind schien die eisige Luft durch die Hüllen hindurchzupressen, und ich spürte, wie mein Körper auskühlte. Meinem Empfinden nach war es ein Temperatursturz von mehr als 20 Grad. Ich musste in Bewegung bleiben, um mit der Körperwärme dagegen anzukämpfen. Und ich musste eine Stelle finden, wo ich vor diesem beißenden Wind geschützt war …

Eine Zeit lang tappte ich über das Eis. Der Boden war infolge des Regens von Rinnen zerfurcht, die zum Teil zugefroren waren. Doch da und dort, wo das Wasser nicht abfließen konnte, hatten sich Pfützen gebildet, die nun mit Eis überzogen waren. Diese Decken waren noch nicht dick genug, um mein Gewicht zu tragen, immer wieder brach ich ein und stand mit den Füßen im Wasser. Und zu allem Überdruss merkte ich, dass mir das Wasser in die Schuhe rann. Was war da geschehen? Ich richtete meine Lampe auf die Schuhe … da sah ich, dass sich die Klettverschlüsse geöffnet hatten, und als ich versuchte, sie wieder zu schließen, da stellte sich heraus, dass der Kunststoff, aus dem sie bestanden, zu einer harten, brüchigen Masse erstarrt war. Sie hatten die Kälte nicht vertragen.

Ich musste unbedingt eine geschützte Stelle finden, und zwar rasch …

Noch immer wehte ein starker Wind, doch immerhin ging er jetzt gleichmäßig und behielt seine Richtung bei. Die Wolkendecke war dünner geworden, und zwischen ihnen erschien ein irisierender dunkelblauer Himmel voller Sterne.

Jetzt wurde es etwas heller, und das war meine Rettung. In einer Entfernung von einigen hundert Metern begann das Gelände sachte anzusteigen, und ich wandte mich dorthin, denn dort lagen einige Eisplatten übereinander gestapelt … vielleicht fand ich an der windabgewandten Seite einen ruhigen Platz.

Die Bewegung kostete mich immer noch große Mühe, aber jetzt hatte ich wenigstens ein Ziel vor Augen. Wie lange ich dorthin brauchte, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls war jetzt das Glück wieder an meiner Seite: Unter einem der Blöcke fand ich eine Nische, und ich kroch erleichtert hinein. Welche Wohltat, ein schützendes Dach über dem Kopf zu haben!

Aus meiner liegenden Position heraus – eingezwängt zwischen Eiswänden – war es schwierig, zu tun, was notwendig war. Doch ich durfte mich nicht von meiner Erschöpfung unterjochen lassen. Ich rückte hin und her, um die Liegefläche etwas zu vertiefen, und scharrte blindlings mit den Ellenbogen, um mir auch seitlich freien Raum zu verschaffen … und schon war es ein wenig besser.

Die Taschenlampe hatte ich brennen lassen, sie erfüllte die Spalte mit Licht. Ich öffnete den Rucksack, holte meinen Schlafsack heraus und zwang mich, den völlig vereisten Anzug auszuziehen, bevor ich in die trockenen Hüllen kroch. Von hier aus setzte ich den Kocher in Funktion und schmolz einige Eiszapfen, die am Rand des Eisblocks einen Vorhang gebildet hatten und mit Händen zu greifen waren. Ich trank ein wenig vom heißen Wasser, doch den größten Teil füllte ich in einen Kunststoffbeutel. Und diese improvisierte Wärmeflasche drückte ich an meine tauben Füße.


Freitag, 11. April

Merkwürdig, wie sich Robins Situation innerhalb weniger Tage geändert hatte. Bisher hatte die Bürotätigkeit im Mittelpunkt seiner Interessen gestanden, und er fand es in Ordnung, dass er einer nützlichen, der Allgemeinheit dienlichen Beschäftigung nachging. Daneben hatte er einige Hobbys, im Sommer Schleuderball, im Winter Düsenski, und außerdem beschäftigte er sich gern mit Musik. Oft experimentierte er mit einem selbst entwickelten Programm, mit dem er Fugen und Madrigale neu arrangierte, um sie sich dann swingend oder südamerikanisch rhythmisiert anzuhören.

Er hatte ein paar Freunde gehabt, denen er nicht mehr besonders nahe stand, und war vor einigen Jahren auch schon einmal mit einer Frau registriert gewesen – eine Verbindung, die nicht lange gehalten hatte: Er hatte sich ein großes Erlebnis davon versprochen und war dann ziemlich enttäuscht. Trotzdem war er nicht unzufrieden mit seinem Leben. Und nun war es unerwartet zu Turbulenzen gekommen: Das, was ihm da widerfuhr, war etwas völlig Ungewohntes, etwas Belebendes, Aufrüttelndes, dem er trotz aller Probleme, die es mit sich brachte, auch positive Seiten abgewinnen konnte …

Am Tag nach dem Zusammentreffen mit Michèle machte er sich daran, den von ihm erfundenen Fall abzuschließen, der den Umständen gemäß ungeklärt bleiben würde. Doch darüber brauchte sich niemand zu wundern, denn schließlich handelte es sich ja nur um eine Eingabe von Unbekannt – vielleicht eine Mystifikation, ein Störungsversuch oder schlichtweg ein alberner Scherz. Zum Schein schlug Robin vor, nach dem unbekannten Absender suchen zu lassen, aber er war sicher, dass dieser Vorschlag wegen Nichtigkeit des Vorgangs abgewiesen würde. Und so war es auch.

Damit hatte er diese Aufgabe gemäß der vorgegebenen Routine abgeschlossen und würde bald mit einem neuen Fall betraut werden. In der Zwischenzeit beschäftigte er sich damit, vor längerer Zeit gespeicherte Daten zu prüfen und sie, wenn sie unwichtig waren, zu löschen.

Wie gewohnt suchte er in der Mittagszeit die Kantine auf, und er sah, dass Michèle mit einigen Kollegen zusammen an einem der Tische saß. Er nickte ihr zu, und sie antwortete mit einer Geste, die Robin nicht so ohne weiteres deuten konnte.

Als Michèle den Saal verließ und ihn dabei mit einem Blick streifte, war das ein Zeichen für ihn, das Geschirr zum Spülautomaten zu bringen und ebenfalls hinauszugehen. Dabei benutzte er denselben Ausgang wie Michèle. Und tatsächlich stand sie in einer Ecke des Vorraums und kam nun auf ihn zu.

»Komm, wir machen eine Runde«, schlug sie vor und wies auf den Gang, der einmal ganz um das Gebäude herumführte. Die Aussicht von den Brücken, die die Türme in halber Höhe miteinander verbanden, war schwindelerregend, aber die beiden achteten nicht darauf – sie hatten anderes im Sinn.

»Ich war heute früh schon aktiv«, berichtete Michèle. »Ich habe mich in Angelos Wohnung umgesehen. Du weißt ja, dass ich zwei Jahre mit ihm zusammen war. Als es zu Ende war, hat er die Räume behalten, und ich bin ausgezogen. Aber ich erinnerte mich noch an den Code, ich nahm an, dass er ihn nicht geändert hat.«

»Hast du ihn dort oft besucht?«, fragte Robin, dem erst, als er sie ausgesprochen hatte, auffiel, dass das eine sehr persönliche Frage war – die ihm eigentlich nicht zustand.

Michèle warf ihm einen kurzen Blick zu, gab aber dann doch Antwort: »Nein, wir haben uns ja getrennt – ohne Vorbehalte. Das war nicht ganz einfach, und ich wollte es möglichst bald vergessen.« Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter. »Kurz und gut. Ich weiß, dass sich Angelo stets sehr sorgfältig auf seine Einsätze vorbereitet, und so kam ich auf die Idee, nach Unterlagen zu suchen: Ausdrucke, Notizen und so fort. Doch ich fand nichts. Aber es ist mir etwas Ungewöhnliches aufgefallen: dass nämlich nichts von all dem zu sehen war, was sich normalerweise in jedem Haushalt so ansammelt. Keine Rechnungen, kein Mailausdruck, nicht einmal ein Notizzettel. Er muss alles sorgfältig weggeräumt oder vernichtet haben – oder jemand hat es für ihn getan.«

»Und sein Rechner – ist dort vielleicht etwas gespeichert?«

»Genau das dachte ich auch. Der Rechner ließ sich sogar ohne Passwort in Betrieb setzen, und ich habe auch keine gesperrten Dateien gefunden. Aber ich weiß, dass Angelo einen versteckten und gesicherten privaten Speicher angelegt hat. Und ich dachte …«

»Du dachtest, ich sollte mich dort einmal umsehen?«

Jetzt blieb Michèle stehen und wandte sich Robin zu. »Willst du es tun?«

Robin lächelte. »Warum nicht? Gleich heute, nach Dienstschluss?«

»Um diese Zeit sind zu viele Leute unterwegs. Ich schlage vor, wir warten lieber, bis es dunkel ist. Vielleicht bis neun Uhr? Treffen wir uns einfach vor dem Haus. Hier ist die Adresse.« Sie reichte ihm einen Zettel. »Und jetzt gehe ich – es ist besser, wenn man uns nicht zusammen sieht. Ich danke dir.«

Robin steckte automatisch den Zettel ein, während er der jungen Frau nachblickte, die sich mit raschen Schritten entfernte.


*

Als er um neun Uhr abends am Treffpunkt ankam, hielt ein City-Car am Straßenrand, die Tür öffnete sich, Robin erkannte Michèle, die aber nicht ausstieg, sondern ihm mit der Hand ein Zeichen gab, einzusteigen. »Rasch«, rief sie in gedämpfter Lautstärke, und als er ihrem Wink zögernd folgte, packte sie ihn am Arm und zog ihn hinein. »Weiterfahren!«, befahl sie dem Autopiloten, »um den Häuserblock!« Und schon setzte sich das Taxi wieder in Bewegung.

Robin war etwas verwirrt. »Was ist denn?«

»Ein Sicherheitsbeamter. Er stand dort drüben, auf der gegenüberliegenden Seite. Ich habe ihn schon einige Male gesehen, er gehört zu jenen, die das Eingangstor bewachen. Ich hoffe, er hat mich nicht bemerkt.«

»Dann geben wir für heute auf?«

Michèle überlegte kurz. »Ich kenne einen Hintereingang«, antwortete sie. »Sollen wir das versuchen? Schließlich tun wir nichts Verbotenes.«

»Wenn es möglich ist, ohne dass er uns sieht …?«

»Das werden wir sehen.«

Michèle diktierte das Taxi um den Block herum und ließ es vor einem Waschsalon halten, in dem sich um diese Zeit kein Personal aufhielt.

»Ich war hier Kunde«, erklärte Michèle und gab einen Code in das Ziffernblatt am Eingang ein. Die Tür ging auf.

Sie gingen an der Reihe der Waschautomaten vorbei; nur an einem saß ein junger Mann mit Kopfhörern, der sich im Takt der Musik wiegte und keinen Blick für die beiden hatte. Von der Hinterseite führte eine Tür ins Kellergeschoss. Sie stiegen eine Treppe abwärts bis zu einer Lifttür.

Michèle holte per Tastendruck die Kabine heran. »Wir müssen in das achte Geschoss. Ich schlage vor, du steigst schon im siebenten aus. Dort kannst du über die Treppe weitergehen. Inzwischen bin ich dann längst oben. Aber warte bitte, bis ich dich rufe. Nur für den Fall, dass dort auch eine Wache steht. Sollte das so sein, dann geh zurück ins Erdgeschoss, dort würden wir uns später treffen.«

Robin brauchte nicht lange zu warten, da forderte sie ihn schon auf zu kommen.

»Hier ist es«, sagte Michèle. »Komm herein!« Sie war vorgegangen und wartete im Vorraum auf Robin. »Es ist eine schöne Atelierwohnung. Angelo hat ganz gut verdient.«

Sie sahen sich ein wenig um, doch es war nichts Auffälliges zu erkennen. Trotzdem blieben sie vorsichtig, sie begnügten sich zunächst mit dem spärlichen Licht, das von außen einfiel, und überzeugten sich davon, dass sich niemand in der Wohnung versteckt hatte. Dann erst schaltete Michèle die Lampen ein, und die Spannung fiel von ihnen ab.

Robin musste daran denken, dass Michèle hier mit Angelo gelebt hatte. »Ist es dir unangenehm? – ich meine, wieder hierher zu kommen?«

»Es ist doch schon lange vorbei«, sagte Michèle, was genau genommen keine Antwort war.

Sie zeigte Robin die Zimmer. Durch die große, zylindrisch gekrümmte Spezialglasscheibe, die Licht nur in eine Richtung durchließ, hatte man freie Sicht zur Stadtmitte, in der sich die Lichtpunkte der im Wind leicht schwingenden Hängelampen zu einem leuchtenden Schwarm konzentrierten. Die wenigen aus vorigen Jahrhunderten erhaltenen Gebäude waren orangefarben beleuchtet.

Robin hielt sich nicht lange am Fenster auf. Er sah sich im Zimmer um, das neben einigen Holzmöbeln auch das ComSet sowie – zu einer Einheit zusammengefasst – den Screen und den Holo-Sockel enthielt. Michèle schaltete ein, und dann setzte sich Robin in den Kontrollstuhl und sah sich zuerst die leicht zugänglichen Browser an – wo, wie erwartet, nichts Interessantes zu finden war. Dann holte er aus seiner Hüfttasche eine MiniDisk und schob sie in das Laufwerk.

Er rief ein Programm auf, mit dessen Hilfe sich versteckte Dateien finden und öffnen ließen. Erschien auch schnell ans Ziel zu kommen, doch als er einen Blick auf die Angaben warf, die da zum Vorschein kamen, schloss er sie rasch.

»Es sind E-Mails und Bilder von einigen Mädchen. Etwas intim, wie mir scheint. Willst du sie sehen?«

Michèle schüttelte stumm den Kopf.

Robin versuchte, rasch über diesen peinlichen Moment hinwegzukommen, und arbeitete 20 Minuten ebenso konzentriert wie erfolglos. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass in den Speichern sonst nichts versteckt ist.«

»Nun gut, wir haben es versucht«, sagte Michèle. »Dann können wir gehen.«

Die ganze Zeit über war sie etwas unruhig gewesen und hatte immer wieder nach verdächtigen Geräuschen gelauscht. Sie schien froh zu sein, diese Stätte verlassen zu können.

Robin hielt sie zurück. »Nicht so schnell, da wir schon einmal hier sind, sollten wir uns die Wohnung gründlich ansehen. Hast du eine Ahnung, wo er etwas versteckt haben könnte?«

»Nein«, sagte Michèle, »ich habe schon gestern alles durchsucht. Es war nichts zu finden.«

Robin kramte in seiner Tasche und holte ein Gerät heraus, das aus einem zigarettenschachtelgroßen Gehäuse und einem damit über ein Kabel verbundenen Plättchen bestand.

»Hast du etwas dagegen, wenn ich es trotzdem versuche?«

»Was hast du da?«, fragte Michèle.

»Das ist ein Sensor, er hat mir in einigen meiner Fälle schon gute Dienste erwiesen. Er zeigt Inhomogenitäten im Inneren von Materialien an. Arbeitet auf der Basis von Ultraschall.«

»Dann solltest du es versuchen«, schlug Michèle vor.

Eine halbe Stunde lang stöberte Robin in allen Ecken des Raums herum, legte die Platte an die Mauern und Böden, an die Verkleidung der Möbel, doch erfand nichts. Dann wiederholte er seine Arbeit in den anderen Räumen. Schließlich richtete er sich auf und lockerte seine schmerzenden Gliedmaßen.

»Gibst du auf?«, fragte Michèle.

Robin sah sich um. »Wohin führt diese Tür?«

»Ins Schlafzimmer«, antwortete Michèle.

»Das ist doch ein Ort, den man gern benutzt, um etwas zu verstecken. Darf ich?«

Michèle öffnete ihm die Tür, er trat ein und setzte seine Suche fort, während sie sich auf einem Stuhl niederließ und wartete.

Es dauerte ziemlich lange, denn Robin wollte gründlich sein. Doch dann rief er Michèle und zeigte auf einen Spiegel, den er von der Wand genommen hatte. »Hier, im Rahmen ist ein Hohlraum, und da steckt etwas drin …« Er zog eine kleine Rolle heraus.

»Lass sehen«, bat Michèle. Robin rollte die eng zusammengedrehten Papierblätter auf und reichte sie ihr.

»Hoffentlich kannst du damit etwas anfangen«, sagte er missmutig. »Ich kann es nicht lesen, es ist in Handschrift geschrieben.« Robin vermochte seine Enttäuschung nicht zu verbergen, doch als er einen Hoffnungsschimmer im Gesicht Michèles bemerkte, sah er ihr interessiert zu.

Michèle warf einen Blick auf die Schrift. »Ich glaube, dass ich das entziffern kann«, sagte sie. »Ich habe einmal einen Schreibkurs mitgemacht. Auf Anregung von van der Steegen – damit ich seine Notizen lesen kann. Er hat das Schreiben noch in der Schule gelernt. Ich bin nicht gut damit zurechtgekommen, aber vermutlich reicht es, um herausfinden, worum es hier geht.«

»Großartig«, sagte Robin. »Dann nimm du es an dich. Wirst du mir sagen, was darin steht?«

Da trat Michèle auf ihn zu und küsste ihn auf die Wange. »Aber natürlich, du erfährst alles«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Es war ihrer beider Geheimnis.


Dienstag, 15. April

Die Durchsuchung von Angelos Wohnung lag nun schon mehrere Tage zurück, Michèle hatte einige Male kurz mit Robin telefoniert, mit ihrer Entzifferung von Angelos Denkschrift kam sie nur langsam voran, aber schließlich kündigte sie an, dass sie vermutlich am nächsten Wochenende bereit sein würde, Robin ihre Erkenntnisse vorzulegen.

»Von einer Lösung der Probleme kann noch keine Rede sein«, sagte sie, »aber meiner Meinung nach haben wir trotzdem einen beachtlichen Fortschritt erzielt.« Damit stellte sie Robins Geduld auf eine harte Probe.

Und nun hatte sie Robin in ihre Wohnung eingeladen. Sie lag in einem teuren Viertel, stattliche Häuser inmitten von Gärten, die meisten durch hohe Gitter von der Außenwelt getrennt. Das Haus lag etwas abseits vom Zentrum, jenseits der Brücke, die über das Bett eines derzeit recht bescheidenen Wasserlaufs führte. Während der Schneeschmelze konnte er allerdings zu einem mächtigen Fluss anschwellen.

Robin brachte ihr Blumen mit. Er wusste, dass das altmodisch war, und bei seinen bisherigen wenigen Frauenbekanntschaften wäre ihm das auch niemals eingefallen. Er war aber überzeugt davon, dass sich Michèle über die orange und gelb gesprenkelten Rosen freuen würde, und offensichtlich hatte er Recht gehabt.

Die Wohnung war beträchtlich luxuriöser als jene von Robin, sie enthielt mehrere Aufenthaltsräume, einige etwas altmodisch, andere modern eingerichtet, und in jedem gab es etwas Besonderes zu bewundern: Vitrinen mit antikem Silber, eine aus Leuchtstoffröhren zusammengesetzte Skulptur, die von ständig wechselndem, farbigem Licht durchflutet war, und eine holographische Bildwand mit zugehöriger Echtklanganlage. Beeindruckend war auch die vollautomatische Küche in einer Ausstattung, die einem Feinschmeckerlokal zur Ehre gereicht hätte.

Michèle hatte einen Imbiss mit verschiedenen Leckerbissen vorbereitet. Sie setzte sich neben Robin auf die Couch, von wo sie einen schönen Blick hinüber zu den Bergen hatten. Vor ihnen, auf dem Glastisch, lagen einige bedruckte Papierbögen und die nun sorgfältig geglätteten Blätter mit Angelos Aufzeichnungen. Damit kamen sie endlich zum Thema.

»Hast du die Schrift entziffern können?«, fragte Robin.

»Er muss das in höchster Eile geschrieben haben, deshalb waren die Buchstaben nicht leicht zu erschließen. Es hat mich einige Zeit gekostet. Aber nach und nach kam ich immer besser zurecht, und hier ist das Ergebnis.« Michèle wies auf die bedruckten Blätter.

»Was hast du herausgefunden? Gibt es irgendeine Erklärung für diesen geheimnisvollen Auftrag, den er übernehmen sollte?«

Michèle zögerte mit der Antwort. »Der Auftrag ist nicht erwähnt. Jedenfalls nicht direkt. Aber offenbar hat er versucht, den Grund dafür zu beschreiben – die Situation, die Maßnahmen besonderer Art erforderte. Und zu diesen Maßnahmen scheint eben sein Auftrag zu gehören.«

»Und für wen hat er das geschrieben?«

»Das ist ja das Merkwürdige daran: Es ist eine Nachricht an ihn selbst.«

Robin war anzumerken, dass er nicht verstanden hatte.

»Ich habe auch keine Erklärung«, gestand Michèle, »aber es gibt eine Andeutung, dass Angelo etwas festhalten wollte, was seine Handlungsweise erklärt. Vielleicht als eine Art Rechtfertigung.«

»Seltsam«, sagte Robin, und noch immer begriff er nicht so recht. »Wofür sollte sich Angelo rechtfertigen müssen?«

»Ich denke, es ist am besten, wenn du dir meinen Ausdruck durchliest«, schlug Michèle vor. »Es hat wenig Sinn, vorher darüber zu diskutieren.«

Und Robin begann zu lesen:


In den letzten Wochen hat man mich über Aspekte der politischen Situation aufgeklärt, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen dürfen. Diese Informationen brauche ich, um meinen Sonderauftrag, für den ich ausgewählt wurde, zu planen. So wie sich die Dinge entwickeln, geht es dabei um ein Projekt, das unter besonderer Geheimhaltung steht. Die Vorsichtsmaßnahmen, die dabei nötig sind, sind umfassender als alles, was ich in dieser Beziehung bisher kennen gelernt habe. Einiges davon erscheint mir stark übertrieben, aber offenbar gibt es da Umstände, über die man mich nicht informieren will oder kann. Man hat aber mehrfach betont, dass diese Mission von allerhöchster Bedeutung sei.

Bisher liegt der Plan erst in groben Umrissen vor, aber es sieht so aus, als ob meine eigenen Kenntnisse unter bestimmten Umständen zu einer Gefahrenquelle werden könnten, die die Durchführung infrage stellen würde. Einiges von dem, was ich in letzter Zeit erfahren habe, wird man also aus meinem Gedächtnis löschen müssen, bevor mein Einsatz beginnt. Und das ist der Grund für diese Aufzeichnungen. Sie sind nur für mich bestimmt, niemand anderer darf davon etwas wissen. Aber mir selbst steht wohl das Recht zu, zu erfahren, warum ich getan haben werde, was dann schon Vergangenheit sein wird.

Das also sind die Hintergründe meines Einsatzes:

Äußerlich scheint die weltpolitische Lage in Ordnung: Die EU wurde zu einer weltumspannenden Gemeinschaft (WU) erweitert – gemeinsame Währung, gemeinsame Gesetze, gemeinsame Gerichtsbarkeit, Aufhebung der Ländergrenzen und eine für alle übergeordneten Belange verantwortliche Weltregierung. Diese Maßnahmen richten sich nach dem allgemein anerkannten Prinzip der Globalisierung. Es gibt aber auch konservative Kräfte, die sich dagegen wehren, und das vor allem in den Landesregierungen, die ihre Kompetenzen nicht verlieren möchten. Das hat in einigen Bereichen, die sich der Globalisierung bisher entzogen haben, zu Unruhen geführt. Einer der Gründe dafür ist in der Wirtschaftspolitik zu suchen: unausgewogene Finanzpläne, als Wahlgeschenke eingegangene Verpflichtungen, dilettantische Steuerpolitik, immer stärkere Tendenzen zu Verschuldung und Bankrott. Dadurch verlagert sich die Macht in den Ländern immer nachhaltiger auf Banken und Industrieverbände, ohne deren Zustimmung keine politischen Entscheidungen mehr möglich sind.

Als Folge davon verstärkt sich der Trend zur industriellen Globalisierung. Alle bedeutenden Unternehmen wurden in Wirtschaftsimperien integriert, die nicht mehr lokal gebunden sind. Im Rahmen dieser internationalen Verflechtung kommt es erneut zu einer entscheidenden Verschiebung der Machtverhältnisse. So wiederholt sich nun in globalem Maßstab, was schon früher zur Entmachtung der Länderregierungen geführt hat. Die wirklichen Potentaten befinden sich in den Aufsichtsräten der Konzerne und nicht mehr in den Parlamenten.


Nach wie vor sind es die uralten tradierten Regeln, denen sich jede Art von menschlichem Handeln unterzuordnen hat. Eine wichtige Rolle spielen dabei die generell gültigen Menschenrechte, auf die sich die internationale Gemeinschaft schon im Jahr 2038 geeinigt hat. Die Überwachung der rechtlichen Situation, gegebenenfalls auch Aufklärung, Rechtsprechung und Bestrafung, obliegt dem Internationalen Gerichtshof, der dank der modernen Logik-Systeme als neutrale und unabhängige Instanz fungiert.

Im Laufe dieser Entwicklung ist es nicht gelungen, Rechtsbrüche völlig auszuschalten. Abgesehen von niemals völlig eliminierbaren Kleindelikten hat sich auch das große Verbrechertum nicht nur halten, sondern ausbreiten können. Es macht sich die modernen Entwicklungen zunutze – insbesondere profitiert es vom Wegfall der Grenzen. Dazu kommt, dass es von der rasanten technologischen Entwicklung enorm profitiert. Internationale Banden werden zunehmend zu einem Machtfaktor, der inzwischen so stark geworden ist, dass sich die finanziellen Transaktionen auch im weltweiten Verkehr zu einem bedenklichen Einflussfaktor entwickelten.

Bei den internationalen Banden handelt es sich heute um bestens organisierte und wirtschaftlich einwandfrei geführte Firmen. Dem offiziellen Unternehmertum gegenüber haben sie den entscheidenden Vorteil, dass sie sich nicht an rechtliche Vorschriften halten. Es lässt sich nachweisen, dass dabei schon seit Jahrzehnten eine besondere Zielvorstellung im Vordergrund steht: Die Einnahmen werden nämlich in großem Umfang in den Erwerb seriöser Großunternehmen investiert, eine Methode, die speziell vom organisierten Verbrechertum der Jahrtausendwende, vor allem der Mafia, angewendet wurde. Eingeweihten Kreisen ist bekannt, dass bereits eine Vielzahl potenter Firmen unerkannt von mafiaähnlichen Gremien dominiert wird. Seit Neuestem versuchen diese auch Einfluss auf die Weltregierung zu nehmen.


Eine besonders gefährliche Situation entsteht dadurch, dass zu den klassischen Unternehmen, etwa jenen der Energieversorgung, des Verkehrs und des Handels, in letzter Zeit noch einige dazugekommen sind, die früher dem Staat unterstellt waren, zum Beispiel die Polizei, durch die ein direkter Eingriff in das Rechtswesen angestrebt wird. Selbst unsere Behörde, der Internationale Gerichtshof, hat sich gegen den Versuch zu wehren, den neutralen Werkschutz durch Kräfte zu ersetzen, die der Internationalen Polizei unterstellt sind.

Wie es scheint, ist für die nächste Zeit eine entscheidende Initiative des internationalen Verbrechertums geplant. Worauf unsere Kenntnisse darüber beruhen, will ich diesem Papier nicht anvertrauen, aber die Situation ist so gefährlich, dass ein unverzögertes Eingreifen nötig ist. In dem verbrecherischen Plan spielt der schon seit Jahren vorbereitete Weltwirtschaftsgipfel eine tragende Rolle. Offiziell geht es dabei um die Koordination der wirtschaftlichen Aktionen und um die gerechte Verteilung der Ressourcen. Diese Gelegenheit soll dafür benutzt werden, eine grundlegende Machterweiterung der Unterwelt zu erreichen. Speziell sollen die noch gesetzestreuen Industriegruppen entmachtet und der Weisungskraft der Mafia unterstellt werden. Die Art und Weise, wie das geschehen soll, liegt noch völlig im Dunkeln.

Ich werde diese Aufzeichnungen an einer Stelle unterbringen, die nur mir bekannt ist und die ich für sicher halte. Es lässt sich aber nicht völlig ausschließen, dass sie dennoch gefunden werden. Aus diesem Grund habe ich alles weggelassen, was meinen Auftrag gefährden könnte. Es ist mir klar, dass ich mich dennoch nicht korrekt verhalte, andererseits bin ich nach wie vor für mich selbst verantwortlich. Es könnten Umstände eintreten, die mich zwingen, zu begründen, was ich getan habe. Oder, um es deutlich zu sagen: Es besteht auch die Möglichkeit, dass unser Unternehmen scheitert. Ich nehme mir das Recht, mich auf diese Eventualität einzustellen.


Während Robin las, machte sich Michèle im Zimmer zu schaffen, doch als sie merkte, dass Robin das letzte Blatt auf den Tisch zurücklegte, setzte sie sich wieder zu ihm.

»Was sagst du dazu?«, fragte sie.

»Du hast Recht«, meinte er. »Obwohl er keine konkreten Angaben über seine Aufgabe macht, kann man zwischen den Zeilen lesen.«

»… und daraus geht hervor, dass sein Auftrag sehr gefährlich ist«, fügte Michèle hinzu.

»Zweifellos«, bestätigte Robin. »Aber ganz so abstrakt finde ich Angelos Ausführungen gar nicht. Jedenfalls wird einigermaßen klar, worum es geht. Und wer die Gegner sind.«

Michèle nickte. »Ich kann mir denken, was du meinst. Aber bei der Suche nach Angelo hilft uns das wenig. Keine konkreten Antworten auf unsere Fragen, kein Hinweis darauf, wo wir ihn suchen sollen. Es ist ihm wirklich gelungen, alle Angaben über seinen Einsatz zu vermeiden – das macht unsere Bemühungen so schwer. Sicher ist nur, dass er etwas mit dieser Konferenz zu tun hat … Sie dürfte übrigens bald stattfinden, ich habe davon gehört …«

»Soviel ich weiß, in vierzehn Tagen«, sagte Robin. »Es sind die Repräsentanten der mächtigsten Nationen der Welt, die sich da treffen.«

»Ich hatte in den letzten Wochen nicht viel Zeit, politische Meldungen zu lesen oder Nachrichtensendungen zu hören. Wo findet die Konferenz denn statt?«

»Der Ort wird noch geheim gehalten. Die Teilnehmer wollen ungestört sein. Keine großen Delegationen, keine Pressevertreter. Keine Demonstrationen. Höchste Sicherheitsstufe, aber mit einem Minimum an Sicherheitskräften.«

Es trat eine kurze Pause ein, in der Michèle Gläser mit Kiwisaft und Meersalzbrezeln brachte.

Dann sagte Robin: »Obwohl wir nichts Konkretes in Erfahrung gebracht haben, wissen wir jetzt doch erheblich mehr als früher.

Jedenfalls hat sich bestätigt, dass Angelo nicht auf geheimnisvolle Weise verschollen ist, sondern ganz offiziell an einem ganz besonderen Auftrag arbeitet. Ich frage mich, ob wir uns damit nicht zufrieden geben sollten.«

»Du meinst: aufgeben?« Michèle schien darüber nachzudenken – und gewisse Zweifel zu haben.

»Hat es denn Sinn, weiterzumachen?« Robin war nicht davon überzeugt, und es war ihm anzumerken. »Angelo hat ja an dem Plan selbst mitgearbeitet, und er steht im Schutz der Behörde.« Er blickte Michèle an, und ein anderer Gedanke schoss ihm durch den Kopf: »Machst du dir Sorgen um ihn?«

Er musste an die Beziehung zwischen Michèle und Angelo denken. Es war vorbei, hatte sie gesagt. Vielleicht stimmte das nicht … vielleicht liebte sie ihn immer noch?

Michèle hatte bemerkt, dass sich Robins Stimmung plötzlich geändert hatte, und sie glaubte den Grund zu wissen.

»Sorgen …? Man könnte es so nennen, aber nicht so, wie du denkst.« Sie rückte an Robin heran und nahm seine Hand. »Du magst mich, nicht wahr?«

Als er verlegen nickte, legte sie den Arm um ihn, zog ihn an sich heran und küsste ihn. »Ich mag dich auch«, flüsterte sie, »aber lass mir ein wenig Zeit. Im Moment habe ich so viele andere Dinge im Kopf. Ich muss noch einiges in Ordnung bringen. Willst du dich ein wenig gedulden?«

Robin war fassungslos und versuchte es zu verbergen. Es war so plötzlich gekommen, so unerwartet.

Michèle blickte ihn fragend an, und er nickte. Als er ihr noch einen Kuss geben wollte, entzog sie sich ihm sanft und rückte wieder ein wenig von ihm ab.

»Mach dir keine Gedanken wegen Angelo«, sagte sie wieder in sachlichem Tonfall. »Unsere Liaison ist vorbei, und ich trauere ihr nicht nach. Trotzdem will ich natürlich nicht, dass er ins Unglück läuft. Wir haben uns im Guten getrennt.«

Robin versuchte, sich wieder auf das Thema zu konzentrieren, das ihn hierher geführt hatte. »Und warum machst du dir Gedanken?«, fragte er. »Angelo ist doch offenbar mit dem einverstanden, was mit ihm geschieht. Wieso sollte er in sein Unglück laufen?«

»Du hast ja selbst schon festgestellt, dass im Gerichtshof eine neue Abteilung, der Sicherheitsdienst, eingerichtet wurde. Sie ist in die Internationale Security eingebunden. Das geschah aufgrund eines Regierungsbeschlusses, und wir mussten uns fügen. Es ist so gut wie sicher, dass auf diese Weise Leute eingeschleust wurden, die in Wirklichkeit für den Untergrund arbeiten. Denk doch nur daran, wie es dir ergangen ist: Diese Leute wollten aus dir Informationen über Angelo herauspressen. Erst aus Angelos Aufzeichnungen wissen wir, um was es bei seinem Einsatz geht. Ich vermute, Gorosch und seine Leute müssen schon früher irgendetwas über seinen Sonderauftrag gehört haben, und vermutlich werden sie alles daransetzen, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen.«

»Gewiss, das könnte für Angelo gefährlich werden«, stellte Robin fest. »Kann dir denn van der Steegen nicht etwas über Angelos Auftrag sagen?«

Michèle lächelte ein bisschen traurig. »Ich habe ihn gefragt. Angeblich weiß er nichts. Das Projekt, in dem Angelo seine Rolle spielt, unterläge strengster Geheimhaltung. Nur ganz wenige seien eingeweiht. Es kann aber auch sein, dass er es einfach vergessen hat.«

Robin war anzumerken, dass er das nicht glauben konnte.

Michèle ließ sich mit der Antwort Zeit. »Das liegt an den besonderen Verhältnissen.« Sie schien darüber nachzudenken, ob sie mehr dazu sagen sollte. »Du hast doch sicher bemerkt, dass van der Steegen nicht gesund ist. Er ist nicht nur körperlich geschwächt … In letzter Zeit hat er sich völlig verändert. Noch vor kurzem stand er mit beiden Füßen auf dem Boden. Er war realistisch eingestellt, dabei ein Optimist, der auch andere überzeugen konnte. Das hat sich völlig geändert: Er schwebt in höheren Regionen, spricht von globaler Politik und von den großen Aufgaben der Menschheit. Was sich um ihn herum im Alltag ereignet, kümmert ihn nicht mehr.«

»So etwas kommt doch nicht von heute auf morgen. Kannst du dir das erklären?«

Michèle zögerte wieder mit der Antwort. Es war ein heikles Thema, das Robin da angeschnitten hatte. »Nein, aber ich habe mir meine eigenen Gedanken gemacht. Mir ist aufgefallen, dass die Veränderung kurz nach unserem Aufenthalt in ›Sanssouci‹ aufgetreten ist. Diese Kur, von der ich dir erzählt habe, hat ihm nicht gut getan. Schon während der Behandlung hat er sich darüber beklagt: Kopfschmerzen, Schwindelgefühle, Konzentrationsstörungen … Ich habe ihm geraten, die Kur abzubrechen.«

Robin hatte mit wachsender Bestürzung zugehört. »Warum hat er es nicht getan?«

»Führungskräfte sind dazu verpflichtet: Alle fünf Jahre werden sie untersucht, und wenn es angezeigt erscheint, müssen sie sich behandeln lassen.«

»Hast du denn damals schon einen Verdacht gehabt … dass sie dort etwas Schlimmes mit ihm gemacht haben könnten?«

»Keinen Verdacht, nur so ein Gefühl. Ich habe den Psychologen kennen gelernt, der Jan behandelt hat. Er hat es mir erklärt: Es ging um vorbeugende Maßnahmen gegen Alterungserscheinungen des Gehirns. Und da hatte ich den Eindruck …«, Michèle sprach nicht weiter, es war, als suchte sie nach Worten.

»Was war mit diesem Psychologen?«, hakte Robin nach.

Es fiel Michèle nicht leicht, es zu erklären. »Schwer zu sagen … Wie er sich ausdrückte … Es klang so bemüht: als wollte er mich beruhigen. Aber er hat dabei so übertrieben, und es schien mir, dass er nicht die Wahrheit sprach. Vielleicht lag es einfach daran, dass er mir unsympathisch war. Vielleicht war es diese näselnde Stimme, diese Aussprache – ich habe das noch im Ohr … Aber vielleicht tue ich ihm Unrecht …«

Eine näselnde Stimme … eine fremdländische Aussprache … – mit einem Mal war für Robin alles klar.

»Das tust du nicht«, sagte er nachdrücklich, und Michèle sah ihn erstaunt an.

»So, wie du ihn beschreibst … Ich habe da einen Verdacht … Hieß der Psychologe vielleicht Occoroni?«

»Ja, du hast Recht … Woher weißt du das? Kennst du ihn?«

»Ja, ich kenne ihn. Es ist der Arzt, der im Keller des Gerichtshofs zusammen mit Gorosch seine besonderen Tests mit mir gemacht hat.« Und Robin erzählte Michèle nun in allen Einzelheiten, was er ihr bisher nur flüchtig geschildert hatte.

»Für mich besteht kein Zweifel mehr«, sagte er abschließend. »Man hat versucht, van der Steegen auszuschalten. Und es ist nun natürlich auch klar, wer dahintersteckt.«

Michèle blickte zu Boden, bestürzt und ratlos. »Ich habe bisher noch mit niemandem darüber gesprochen«, flüsterte sie und zitterte leicht.

Robin fasste ihre Hand und hielt sie fest. Er wartete, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. Er dachte darüber nach, was er tun könnte, um sie auf andere Gedanken zu bringen. »Jetzt wissen wir doch schon ein bisschen mehr«, sagte er dann. »Das ist die Voraussetzung dafür, etwas zu unternehmen. Ich will der Sache nachgehen. Aber einiges ist mir noch nicht klar. Jan muss doch seine Arbeit weiterführen, Anordnungen geben, Entscheidungen fällen. Wie bringt er das zustande?«

Michèle blickte Robin an und sagte leise: »Er überlässt es mir.«

»Er überlässt es dir?«, wiederholte Robin erstaunt. »Aber wie kann er das von dir verlangen? Das ist doch eine gewaltige Bürde! Du musst etwas dagegen tun! Es gibt doch eine übergeordnete Instanz, an die du dich wenden kannst.«

Michèle schüttelte entschieden den Kopf. »Das wäre der Vorstand«, sagte sie. »Zum Vorstand gehen, um etwas Negatives über Jan zu sagen … Nein, das ist unmöglich, das kann ich nicht.«

»Du trägst eine riesige Verantwortung«, wandte Robin ein.

»Bisher bin ich gut damit fertig geworden. Doch diese Sache mit Angelo, der geheime Auftrag, die Verwicklung mit dem Sicherheitsdienst … das alles wird mir jetzt ein bisschen zu viel.«

Sie blieben eine Weile stumm nebeneinander sitzen. Dann fragte Michèle leise: »Ich fühle mich sehr einsam. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wirst du mir weiterhin helfen?«

»Aber ja«, sagte Robin. »Ich will dir helfen.«

Inzwischen war es draußen dunkler geworden, und da Michèle die Beleuchtungsautomatik ausgeschaltet hatte, lag auch das Zimmer in der Dämmerung. Es war einer jener seltsamen Momente, in denen der Eindruck entsteht, die Zeit stünde still.

Es war Michèle, die sich zuerst dieser Stimmung entzog. Sie hatte sich aufgerichtet und wirkte ernst, aber nicht mehr so bekümmert. Robin bewunderte ihre Willenskraft. »Ich werde mir überlegen, was da zu machen ist«, kündigte sie an und wirkte mit einem Mal wieder ruhig und gelassen. »Ich melde mich bei dir, bald …«

Robin erhob sich. »Ich werde dann wohl gehen.«

Michèle zögerte ein wenig, tat aber nichts, um ihn zurückzuhalten. Dann entsann sie sich und drückte Robin die Papiere in die Hand. »Du kannst sie mitnehmen«, sagte sie. Als sie sich an der Tür verabschiedeten, gab sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

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