Flug über das Eismassiv


Es war nicht anders als bei meinen letzten Touren, bei denen es mir um Rekorde ging. Die Suche nach Sponsoren, Verträge mit Medienanstalten, sorgfältige Planung der Ausrüstung. Wie bei allen kommerziellen Unternehmungen der letzten Jahre hatte die Agentur Interact Adventure Tours die Organisation übernommen. Sie hat den Namen Sylvan Caretti zu einem Markenzeichen gemacht.

Diesmal hatte ich mir die Arktis vorgenommen. Über das Ziel hatte ich mit meinen Betreuern ausgiebig diskutiert, und schließlich hatten wir uns auf den Nordpol geeinigt. Zuerst war ich dagegen, denn dieser Ort ist heute für jeden Touristen erreichbar, wenn ihn die Kosten nicht abschrecken. Der Besuch mit atombetriebenen Eisbrechern hat schon Tradition, und auch Flugreisen mit Helikoptern werden laufend angeboten. Aber vielleicht sind es gerade diese Besucher, die den Nordpol populär gemacht haben, und es gibt immer wieder Abenteurer, die das ausnutzen und ihn mit Motorschlitten, auf Skiern oder auf traditionelle Art mit Hundeschlitten zu erreichen versuchen – und schon erreicht haben. Auch der Weg über das Wasser wird immer beliebter; im Zuge der weltweiten Erwärmung bleibt das Polarmeer selbst im Winter oft völlig eisfrei, und manche Extremsportler haben schon versucht, den Pol mit Ruderbooten und Kajaks zu erreichen.

Kurz und gut – wir haben uns für den Nordpol entschieden, und zwar für einen reinen Fußmarsch über das Packeis, allein und ohne technische Fortbewegungsmittel. Wir beabsichtigten, der Route von Gerald Berrenger zu folgen, der etwas Ähnliches vor zehn oder zwölf Jahren versucht hatte. Er zog mit zwei jungen Eiskletterern los und wurde aus der Luft versorgt. Trotzdem ist das Unternehmen kläglich gescheitert: Alle drei sind während eines Unwetters verschollen, bis heute wurden keine Spuren gefunden, der Grund für dieses Drama blieb ungeklärt. Vielleicht ein Orkan, vielleicht ein Eisbruch, jedenfalls etwas, das mit den extremen Witterungsverhältnissen dieser Gegend zusammenhing. In den letzten Jahren war das Wetter völlig unberechenbar geworden. Trotz aller modernen Technik – wenn die Naturgewalten zuschlagen, ist der Mensch immer noch klein und hilflos.

So ging es bei meiner Tour also auch darum, nach Spuren und Materialien zu suchen, die von diesem missglückten Unternehmen zurückgeblieben sein mochten, und damit vielleicht zur Aufklärung beizutragen. Bei der geplanten Suche wollte ich mich auf die gefunkten Daten und Fotos der Berrenger-Expedition stützen, vor allem auf die letzten, die noch empfangen wurden. Das war ein Aspekt, der meine Aktion für die Medien interessant machte, und darauf kam es meinen Beratern von der Agentur an.

Dass wir damit das Richtige getroffen hatten, ließ sich schon bald aus den vielen Meldungen ersehen, die in Fernsehen und Presse verbreitet wurden, ehe das Abenteuer überhaupt begonnen hatte. Zur Freude meiner Ausrüster erschienen so eine Menge Aufnahmen von mir, auf denen ich – dick in ihre grellfarbenen Kleidungsstücke verpackt – zu sehen war. Es gelang mir aber, auch ein paar Fotos aus dem Fitnessraum unterzubringen, wo man die Muskeln an meinem freien Oberkörper bewundern konnte.

Nun endlich saß ich im Flugzeug, das die Agentur bereitgestellt hatte. Wir ließen die bewohnten Gebiete hinter uns, eine lange Strecke über eine blaugrüne, scheinbar unbewegt daliegende Wasserfläche, dann schob sich ein weißer Fleck langsam ins Gesichtsfeld und nahm bald die gesamte Breite des Fensters ein.

Während wir bisher in ungetrübtem Sonnenschein geflogen waren, gab es hier harmlos aussehende Wölkchen, die sich, sobald man ihnen näher kam, als Nebelschwaden entpuppten – eine graue Masse, die an die Fenster zu drücken schien.

Zunächst brauchten wir nur kurze Zeit, um diese Stellen zu durchqueren, dann kam die Sonne wieder zu ihrem Recht. Da wir nicht besonders hoch flogen, konnte ich die Eisformationen gut erkennen. Es waren Ansammlungen von Eisblöcken, die sich da und dort zu Hügeln und Mauern fügten, dann wieder folgten flache, von dicht stehenden Stelen besetzte Täler. Dazwischen bemerkte ich größere und kleinere Wasserflächen, Folgen der Schmelzprozesse, die von Jahr zu Jahr früher einsetzten.

Als wir wieder einmal aus einer Nebelwolke auftauchten, bot sich uns ein überraschender Blick: Wir befanden uns über einem dunklen See, nahezu kreisförmig, rund einen Kilometer im Durchmesser. In der Mitte lag eine Insel mit einem silbrig glänzenden kugelförmigen Gebäude, daneben ein hoch aufragender Bohrturm.

Der Pilot hatte offenbar mein Erstaunen bemerkt, denn er drehte eine Kurve, die mir bessere Sicht ermöglichte. »Das ist das bekannte Globe-Hotel«, erklärte er. »Es steht auf einer Bohrinsel. Sie suchen Erdöl. Eine verrückte Idee, dort ein Hotel hinzusetzen – für Gäste, die den Zauber des ewigen Eises genießen wollen, ohne auf den gewohnten Luxus zu verzichten. Da ist es schon ein wenig bequemer als in deinem Eisbiwak. Sollen wir dich nicht lieber hier absetzen?« Er lachte noch eine Weile in sich hinein.

Wir schlugen wieder die ursprüngliche Richtung ein, der dunkle See verschwand hinter grauem Dunst.

Bald darauf gerieten wir in eine Wolkenschicht, die kein Ende nahm – Blindflug, bei dem man sich nicht von der Stelle zu bewegen schien.

Der Kopilot drehte sich um und sagte: »Das sieht nicht gut aus, alter Kumpel, aber da müssen wir durch. Es ist noch ziemlich weit bis zum Ziel – mindestens noch zwei Stunden. Dann lassen wir dich raus.«

Das Flugzeug war von der Agentur bereitgestellt worden, und die beiden Piloten benahmen sich so, als wären wir gute Bekannte. Obwohl ich mich an die beiden nicht erinnern konnte, ließ ich es mir nicht anmerken. Diese bei mir auftretenden Aussetzer waren mir äußerst peinlich, aber das ging die beiden nichts an. Noch zwei Stunden, dann war ich sie los.

Wieder einmal machte ich mir Gedanken über die Ursachen und die Konsequenzen meiner Gedächtnisschwäche. Sie erwies sich als schlimmer, als ich zunächst angenommen hatte. Schon einige Male hatten mich Personen angesprochen, die vertraut taten, mir aber fremd waren. Irgendwie war ich mir langsam selbst fremd geworden. Natürlich sprach ich nicht darüber, sonst hätte man mir womöglich die Tour vermasselt.

Diese Psychologen können unangenehm werden. Ein paar dumme Bemerkungen, und die Versicherung spielte nicht mehr mit.

Diesen Zustand habe ich einem Unternehmen im Massiv des Taurus in der Türkei zu verdanken. Dort, auf einer Karsthochfläche, gibt es einen der tiefsten Schächte der Welt, und ich hatte mich zu einem Gleitschirmflug überreden lassen, der bis zum tiefsten Punkt des Schachtes führen sollte. Mit einem Raketenstuhl ließ ich mich 300 Meter hoch tragen, dort koppelte ich mich ab. Ich öffnete den Gleitschirm – eine Spezialkonstruktion, die sich auf die Funktion eines lenkbaren Fallschirms umstellen ließ –, visierte die Schachtöffnung an und flog dann in eleganten Kurven darauf zu. Mit Genugtuung sah ich eine Menge Zuschauer, die von einer provisorisch errichteten Seilbahn hierher gebracht worden waren, außerdem hatten sich rund um die Schachtmündung herum mehrere Fernsehteams niedergelassen, die ihre Kameras auf mich gerichtet hatten.

Exakt in der Mitte tauchte ich in die Mündung ein. Nun waren es noch genau 14 Meter, bis ich aktiv werden musste. Genau im richtigen Augenblick betätigte ich den Hebel, der vom passiven Sinkflug zur Gleitschirmfunktion wechselte, und legte mich unverzüglich steil in die Kurve. In einer engen Schraubenlinie sollte es weitergehen, und das forderte meine volle Konzentration.

Ich sank rasch abwärts, ich näherte mich einer Verengung im Schachtverlauf, die ich sehr präzise ansteuern musste. Ich glaubte schon, das Schwierigste sei überstanden … Mit einem Mal Dunkelheit um mich, meine Augen noch voll an das sonnendurchflutete Tageslicht angepasst, doch jetzt war ich von einer grauen Masse umgeben, und eine Sekunde lang fühlte ich mich wehrlos und hatte beschämende Angst. Doch der Spuk war rasch vorbei, noch befand ich mich im oberen Drittel des ungewöhnlich geräumigen – und daher für unsere Unternehmen gut geeigneten – Schachtes, schon 120 Meter unter der Mündung. Das Licht kam nun von einem Scheinwerfer, den wir vorher auf einer Stufe in mittlerer Höhe des Höhlenraums montiert hatten. Es reichte aus, um die Felspartien plastisch hervorzuheben. Zwar kam ich bedenklich nahe an eine Wand heran, aber nun konnte ich gezielt reagieren und über die Lenkschnüre die Richtung bestimmen, wie ich es gewohnt war.

Jetzt fühlte ich mich wieder sicher, im Überschwang der Gefühle vielleicht sogar ein wenig mehr, als empfehlenswert war. Das Ziehen der engen Kurven, die mich in der Mitte des Schachtes hielten, war ein Vergnügen, das ich genoss. Gelegentlich verengte sich der Schachtraum, und deshalb geriet ich mehrmals unversehens in dunkle Bereiche, die ich notdürftig mit der Helmlampe ausleuchtete, aber das waren immer nur kurze Strecken.

»Männer, ich komme!«, rief ich meinen unten postierten Helfern von der Agentur zu. »Stellt den Champagner warm!«

Rasch näherte ich mich meinem Ziel – dem Grund des Schachtes. In dieser Tiefe traten zum ersten Mal Tropfsteinformationen auf, ganze Reihen von Stalaktiten schimmerten als weiße Vorhänge im Dunkel. Es war eine Freude, diese seltsamen Gebilde aus der Nähe zu sehen. Manche waren mit Kristallen besetzt, die im Licht meiner Lampe wie Diamanten glitzerten.

Zur Markierung hatten wir an sorgfältig ausgesuchten Stellen der Felswände mit Leuchtfarbe ein paar Richtungspfeile aufgemalt, an die ich mich bei meinen Steuermanövern halten konnte, und seitlich in der Tiefe war schon das blinkende Lichtsignal des Landungsplatzes zu erkennen: ein Dutzend Lampen, in einem Kreis aufgestellt, innerhalb dessen ich aufkommen sollte. Also noch ein paar Lenkimpulse in seitliche Richtung knapp unter der Decke entlang … und da geschah es. Eine Felsnase, vielleicht ein Tropfstein … Ein dröhnender Schlag auf den Kopf, zum Glück durch den Helm gedämpft, aber doch stark genug, um mir die Besinnung zu rauben.

Was dann geschah, erlebte ich in einem seltsamen Dämmerzustand. Wie man mir berichtet hatte, landete ich zwar nicht im Zielkreis, aber doch weich und ungefährdet in einer lehmgefüllten Mulde. Ein Arzt, den meine Agentur vorsorglich am Schachtgrund postiert hatte, verabreichte mir eine Injektion, und so gelang es ihm, mich wieder einigermaßen in den Wachzustand zurückzubringen – es war wichtig, vor den Journalisten, die oben warteten, in die übliche Begeisterung auszubrechen. Niemand durfte von meinem Missgeschick erfahren – das hätte die Werbewirkung beeinträchtigt. Der Pressesprecher der Agentur hatte sich zuerst aufseilen lassen und verkündet, dass sich der Held etwas mitgenommen fühle und nur kurz zur Verfügung stehen könne.

Das Interview ging einigermaßen reibungslos vorüber, aber inzwischen hatten bei mir schwere Kopfschmerzen eingesetzt, und als ich im Luftkissenboot saß, das uns zu Tal brachte, verlor ich wieder die Besinnung.

Ich erwachte in einem Krankenzimmer, wo ich zwei Tage ohne Bewusstsein verbracht hatte. Man hatte mich operiert, ein Bluterguss im Gehirn, so hieß es, als ich mich nach der Wunde erkundigte: An meinem rasierten Schädel war eine Stelle mit Pflaster verklebt. Ich hatte keine Schmerzen mehr und fühlte mich schon einige Tage später kräftig und unternehmungslustig. Was mich dagegen störte, waren die ersten Anzeichen von Gedächtnisverlust, die sich nicht leugnen ließen, wenn ich versuchte, mich an das zu erinnern, was geschehen war. Merkwürdigerweise bezog sich das nicht nur auf die Vorgänge vor dem Unfall, sondern es betraf meine gesamte Vergangenheit. Einige wichtige Daten fielen mir sofort wieder ein, aber wenn ich Einzelheiten wachrufen wollte, dann blieb alles trüb und unbestimmt. Der Arzt erklärte, dass das die normale Folge einer Schädel-Hirn-Verletzung sei, wie ich sie erlitten hatte, und dass das im Laufe der Zeit wieder verschwinden würde.

Diese Fragen gingen mir immer wieder durch den Kopf, und so geschah es auch auf dem Flug ins Zentrum des Ewigen Eises. Der Pilot und sein Kopilot – ich weiß nicht, warum sie mir unsympathisch waren, vielleicht lag es an dieser plump vertraulichen Art, in der sie mich schon vor dem Antritt dieser Reise behandelt hatten. Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, mit ihnen Freundschaft geschlossen zu haben.

Doch dann entwickelte sich die Situation in einer Weise, die solche Fragen unwichtig erscheinen ließen. Der Flug wurde nämlich unruhig, einer der beiden Motoren schien von Zeit zu Zeit auszusetzen, und ich fragte mich, warum man eine so altmodische Düsenmaschine für mich ausgesucht hatte.

Ich beobachtete den Mann am Steuerknüppel, der sichtlich beunruhigt an seinen Instrumenten hantierte.

Ich zog den Kopiloten am Ärmel und fragte: »Was ist los?«

Er antwortete, ohne die Augen von den Anzeigen zu lösen. »Der eine Motor setzt zeitweise aus, und nun beginnt auch der zweite zu stottern.«

»Wie ist so was möglich?«, fragte ich, aber es sah nicht so aus, als hätte er darauf eine Antwort.

Nun mischte sich sein Kollege ein. »Es kann sein, dass wir aussteigen müssen. An eine Notlandung ist hier nicht zu denken. Halt dich bereit.«

Da ich ohnehin darauf vorbereitet war, die Maschine mit einem Fallschirm zu verlassen, brauchte ich keine großen Vorbereitungen. Der Rucksack war gepackt, der Schirm einsatzbereit, und meine Montur zog ich mir nun eilig über. Noch den Helm auf den Kopf, fertig.

Ich warf einen Blick zum Fenster, wo graue Massen wogten, nur hin und wieder von einem hellen Schein unterbrochen. In diesem Moment hatte ich plötzlich den Eindruck zu schweben, und erst als ein Schwindelgefühl einsetzte, merkte ich, dass die Maschine absackte.

Dann ein Ruck, einer der Motoren hatte sich gefangen und hielt das Flugzeug in einer besorgniserregenden Schieflage.

»Nichts wie raus«, rief der Pilot. Er hob den Arm und gab mir ein Zeichen. »Zuerst du. Mach schnell.«

Der Kopilot entriegelte die Tür und zog sie auf, ein eisiger Luftschwall fegte ins Innere der Maschine. Ich stemmte mich mit aller Kraft dagegen. Ich wollte irgendetwas fragen, aber es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm, der jedes Wort übertönte. So hob ich kurz die Hand und ließ mich dann mit dem Rücken voran in ein grundloses graues Meer fallen.


Donnerstag, 27. März

Als Robin am nächsten Morgen das Institut betrat, musste er sich gegen ein gewisses Unbehagen wehren: Seine Herzschlagfrequenz erhöhte sich merklich, als er die Sperre durchschritt. Aber niemand hielt ihn auf. Er empfand die Erleichterung wie ein belebendes Stimulans.

Doch schon beim ersten Blick auf seinen Arbeitstisch war es mit der guten Stimmung vorbei. Dort lag ein Brief, ein Umschlag, zugeklebt, gestempelt, mit einem roten Aufkleber versehen. Es musste sich um etwas Ernstes handeln, denn solcher papierenen Hilfsmittel der Kommunikation unter Umgehung des Netzes bediente man sich nur noch, wenn es um wichtige Angelegenheiten ging.

Er überzeugte sich, dass sein Name und seine Dienstnummer korrekt auf der Hülle eingetragen waren, dann riss er sie mit Hilfe des Fingernagels ungeschickt auf. Eine Chipmarke fiel ihm entgegen, mit der er nichts anzufangen wusste, dagegen war der Text auf dem Papierbogen ebenso nichtssagend wie deutlich. Er hatte sich pünktlich um neun in der Abteilung für »Experimentelle Psychologie« zu melden. Der beigefügte Chip würde ihm den Zutritt in die gesperrten Geschosse im Kellerbereich ermöglichen, dazu waren eine Code-Nummer vermerkt sowie einige Anweisungen als Kleingedrucktes auf der Rückseite.

Robin blickte auf die Uhr – er hatte noch etwas Zeit, die er mit Grübeln verbrachte. Abteilung für »Experimentelle Psychologie« … er kannte nur eine ihrer Aufgaben: die wissenschaftlich unterstützte Wahrheitsfindung. Im Notfall hätte auch er das Recht, störrische Angeklagte oder vergessliche Zeugen dorthin zu schicken. Er selbst hatte noch nicht davon Gebrauch gemacht, aber er hatte gehört, dass die Kollegen, bei denen das öfter vorkam, mit den Resultaten äußerst zufrieden waren. Wenn ihnen ihre Schutzbefohlenen zurückgebracht wurden, bekamen sie das Protokoll einer automatischen Befragung mitgeliefert, in dem die Antworten auf alle von ihnen vorher eingetragenen Fragen eingetragen waren. Davon war – soweit es sich hatte prüfen lassen – ein Prozentsatz von über 98% richtig beantwortet. Nicht wenige dieser neuen Methoden des Brain Engineering waren hier im Institut entwickelt worden.

Nun, Robin war kein Angeklagter und kein Zeuge – was wollte man von ihm? Ging es schon wieder um Angelo, von dem er nun einmal nicht mehr wusste außer einigen weit zurückliegenden Nichtigkeiten?

Es war Zeit aufzubrechen, Robin wusste ja nicht, wie umständlich die Übertrittsformalitäten sein würden.

Wie angegeben, suchte er einen bestimmten der vielen Aufzüge auf. Die erste Irritation: Dort gab es keine Tasten für Ebenen unterhalb des Erdgeschosses. Inzwischen waren zwei ihm fremde Mitarbeiter eingetreten, und schon befand ersieh auf dem Weg ins 21. Stockwerk, wie auf dem Display abzulesen war.

Jetzt erinnerte sich Robin an den Code, dessen Gebrauch nicht weiter erklärt war, und als die beiden Mitfahrer die Kabine verlassen hatten, gab er die sechsstellige Zahl ein, indem er für das Erdgeschoss eine Null, für die erste Ebene eine Eins usw. verwendete. Und tatsächlich setzte sich der Lift in Bewegung, es ging abwärts, am Erdgeschoss vorbei – und dann noch tiefer, wobei die Zahl der Ebenen offen blieb. Dann öffnete sich die Kabinentür, und Robin trat hinaus.

Wenn er hier saubere Gänge wie im oberen Bereich mit Silberstahl und anthrazitfarbenem Kunststoff erwartet hatte, dann erwies sich das als Irrtum. Decken und Wände bestanden aus roh verstrichenem Beton, der Boden aus von Rillen durchzogenem Hartgummi, als müssten hier oft Flüssigkeiten ablaufen, alles das machte einen schmutzigen Eindruck: Abfälle in den Raumecken, mit Farbe hingepinselte Hinweise auf den Wänden.

Neben einer Metalltür stand in kaum lesbarer Schrift: »Experimentelle Psychologie«. Robin suchte nach einer OPEN-Taste oder einer Klinke, doch es gab nichts dergleichen. Schließlich entdeckte er in Bodennähe einen schmalen Spalt. Er versuchte, den Chip einzustecken, was nach einigen vergeblichen Versuchen endlich gelang, worauf die Metalltür zur Seite glitt. Robin zögerte, denn der sich ihm eröffnende Anblick sah alles andere als einladend aus, doch dann riss er sich zusammen und trat ein.

Der Raum war trüb beleuchtet und erinnerte an eine Werkhalle. Ein großer Teil war mit Apparaten voll gestellt, deren Zweck sich schwer entschlüsseln ließ. Dazwischen waren enge Wege frei geblieben, und auf übereinander getürmten Kisten lag gelblicher Lichtschein. Und dort hockte jemand auf einem Stuhl und winkte Robin zu. »Kommen Sie! Kommen Sie!«

Robin folgte der Einladung und bahnte sich einen Weg zwischen den Werkzeugen am Boden. An der Hinterwand ein Idyll, das man hier nicht erwartet hätte: ein halb aufgezogener Vorhang aus rotem Samt, ein bunt gepolsterter Lehnstuhl, eine Schreibtischlampe mit grünem Glasschirm, ein Computer-Bildschirm hinter Bücherstapeln versteckt.

»Ich bin Dr. Occoroni«, sagte der Inhaber dieses Platzes, ein schlanker Mann mit blassem Teint und hoher Stirn, vielleicht fünfzig, vielleicht auch schon sechzig. Er wies Robin eine Sitzgelegenheit zu, einen wackligen Hocker mit Aluminiumbeinen und einer schwarzen Plastikkappe als Sitzfläche.

»Haben Sie den Laufzettel dabei?«, fragte er. Er sprach mit leicht näselnder Stimme und einem Akzent, der Robin an einen populären Opernsänger erinnerte.

Robin schob sich vorsichtig auf den Hocker und reichte Dr. Occoroni die Vorladung. Dieser verglich die Angaben mit einigen Daten, die ersieh auf dem Bildschirm ausgeben ließ.

»In Ordnung«, bestätigte er. Von unten herauf musterte er Robin und bemerkte, dass dieser bemüht unauffällig im Raum umherblickte. »Sie wundern sich über unsere Ausstattung. Nun, alles Psychologie. Was glauben Sie, wie das die Stimmung unserer Besucher hebt, die hier aussagen sollen. Bald werden Sie es selbst bestätigen können.«

»Ich habe nichts verbrochen«, erklärte Robin nachdrücklich. »Ich weiß gar nicht, was ich hier soll. Und ich protestiere gegen eine solche Behandlung.«

»Es handelt sich um eine der Untersuchungen, die vor Befragungen vorgeschrieben sind. Eine Vorschrift des Gesundheitsdienstes – wir müssen uns gegen Vorwürfe der Folter absichern. Damit nicht nachher einer kommt und uns für Gebrechen verantwortlich macht, die er schon vorher hatte. Ist Ihnen das jetzt klar?«

»Bei mir ist alles in Ordnung«, sagte Robin. »Davon werden Sie sich gleich überzeugen. Sie verschwenden Ihre Zeit.«

»Na, kommen Sie schon«, mahnte der Arzt. »Ich bereite Sie lediglich auf die Befragung vor. Das ist vorgeschrieben. Konstitution, Konzentrationsvermögen, Ausdauer …«

»Da brauchen Sie nur in meinen Sportprotokollen nachzusehen –«

»… Belastbarkeit, Überempfindlichkeiten, psychische Stabilität, Gedächtnisblockaden … Es ist doch nur zu Ihrem Besten.«

»Und weshalb werde ich befragt?«

»Das ist nötig, weil sich bei Ihnen Verdachtsmomente ergeben haben.«

»Es muss ein Irrtum sein, ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.«

Dr. Occoroni musterte ihn von der Seite her. »Nun, dann möchte ich doch wissen, warum Sie gestern falsche Angaben gemacht haben.«

Robin musste sich erst besinnen, dann fiel ihm ein, dass er am Vortag tatsächlich ohne besonderen Grund sein Muttermal und den Haarwirbel verschwiegen hatte. Das konnte doch nicht die Ursache für eine strenge Befragung sein!

»Das ist doch Unsinn …«, rief Robin, aber Occoroni ließ sich nicht unterbrechen.

»Warum haben Sie dann Ihre besonderen Kennzeichen verschwiegen?«

Als Robin noch nach einer Antwort suchte, schob ihm Dr. Occoroni einige Papiere zu. »Beginnen wir mit einem einfachen Test. Schreiben Sie bitte unter diese Bilder, was Ihnen spontan dazu einfällt.«

»Und wenn ich das ablehne?«

Jetzt schien Occoroni die Geduld zu verlieren. Er legte die Hand auf einen roten Alarmknopf und sagte: »Wenn ich darauf drücke, dann ist zehn Sekunden später ein Trupp Sicherheitsleute da …«

Robin schüttelte den Kopf, aber er sagte nichts mehr. Warum sollte er es auf eine Auseinandersetzung ankommen lassen? Er sah sich den Bilderbogen an … Er wusste, was da zu tun war, und notierte »Nachtfalter«, »Fledermaus«, »Orchidee«, »Bärenfell« usw.

»Fertig?« Dr. Occoroni nahm das Bündel Papiere und ließ es in einen Papierkorb fallen.

»Was soll das?«, fragte Robin. »Ich dachte, Sie wollten meine Assoziationen überprüfen.«

»Es ist längst bekannt, dass der alte Rorschach keine brauchbaren Ergebnisse liefert, jedenfalls nicht im Sinn seines Erfinders. Und trotzdem habe ich ein erstes Ergebnis.«

»Welches?«

»Sie haben mich zu betrügen versucht. Sie kennen den Test ganz genau, denn Sie haben die Standardantworten gegeben. Sie haben so getan, als wäre er Ihnen unbekannt.«

Dr. Occoroni hatte Recht, Robin fühlte sich übertölpelt und wusste nicht, was er dazu sagen sollte.

»Stehen Sie auf«, befahl der Arzt und begann mit einigen einfachen Untersuchungen. Robin musste mit den Augen dem Licht einer Taschenlampe folgen, er musste sich mehrmals um sich selbst drehen, er musste mit geschlossenen Augen den Mittelfinger auf seine Nase führen und noch einiges mehr. Dann kam eine medizinische Assistentin herein, die Robin Blut abnahm. Sie füllte ein wenig davon in ein Röhrchen, das sie in einen auf dem Nebentisch stehenden Apparat steckte. Auf dem Display erschienen Worte und Zahlen, und schließlich schälte sich ein bedruckter Papierstreifen von einer Rolle. Dr. Occoroni nahm ihn an sich, warf einen flüchtigen Blick darauf und steckte ihn in seine Brusttasche.

»Da gäbe es noch einen Test, der Sie vor gewissen Schäden schützen kann, aber Sie müssen sich freiwillig dazu bereit erklären. Es geht um Ihre Empfindlichkeit gegenüber Schmerzen. Sie müssen versuchen, die Zunahme des Schmerzes möglichst lange auszuhalten. Es geht um die Grenzbelastung. Aber – ich weise Sie speziell darauf hin – Sie können jederzeit abbrechen.«

Robin überlegte kurz, dann fragte er: »Und wenn ich nicht dazu bereit bin?«

»Dann machen wir es trotzdem«, antwortete Dr. Occoroni.

Robin musste sich in einen Metallstuhl mit breiten Lehnen setzen und wurde angeschnallt. Dann holte die Assistentin von seitlich hinten zwei Bügel heran, die in stumpfe Enden ausliefen. Sie setzte sie unterhalb der Ohren an, in die ans Kinn anschließenden Mulden.

»Wir beginnen«, kündigte sie an.

Robin merkte, wie der Druck zunahm, was ihm nicht weiter wehtat, und erst als sich die angewandte Kraft verstärkte, setzte von einem ganz bestimmten Moment an die Schmerzempfindung ein und nahm überraschend schnell zu. Noch war es erträglich, aber wo begann die Grenze zum Unerträglichen? Noch hielt er es aus, allerdings nur mit großer Willensanstrengung, doch der Schmerz stieg weiter an, aber wenn Robin alle seine mentalen Kräfte darauf konzentrierte, vermochte er auch diesen Grad noch zu ertragen.

Es wurde langsam schlimmer. Ich kann mich immer noch beherrschen, sagte er sich, aber dann meldeten sich Bedenken: Warum solltest du dich so sehr darum bemühen, etwas völlig Unsinniges zu tun? Der Test diente doch sicher dazu, die Erträglichkeitsgrenze festzustellen, und da war es sicher klug, ein wenig früher aufzugeben als unbedingt nötig.

Und so gab Robin plötzlich nach, er ächzte, stöhnte und wimmerte. Und er musste sich dabei nicht einmal allzu sehr verstellen.

Der Test wurde sofort abgebrochen. Die Assistentin lockerte die Halterung der Druckbügel und kippte sie beiseite. Sie half Robin aus dem Stuhl und führte ihn zu Dr. Occoroni. Dieser sah ihn eine Weile mit einem schwer interpretierbaren Gesichtsausdruck an. Mitleid? Enttäuschung? Verachtung? Spott?

»Selbst jetzt haben Sie versucht, mich hereinzulegen. Sie hätten es noch eine Weile ausgehalten und haben Theater gespielt. Kommen Sie, ich bin fertig mit Ihnen.«

Er ging voran, Robin folgte ihm benommen. Er rieb sich die schmerzenden Stellen am Hals. Jetzt erst tat es richtig weh.

Sie benutzten eine zwischen zwei Schränken eingekeilte Tür. Der Raum, in den ihn der Arzt führte, schien einer anderen Welt anzugehören. Er war hell, sauber, blitzblank, die Geräte aus Metall und Kunststoff, einige waren wohl medizinischer Art, andere erinnerten eher an ein Fitness-Center.

An einem Net-Com-Platz saß Gorosch und sah den beiden Ankommenden entgegen. Er verhielt sich so, als hätte er Robin nie zuvor gesehen, und Robin war inzwischen in eine Stimmung geraten, in der ihn nichts mehr wunderte. Der Security-Chef kam ihm jetzt nicht mehr so nett und freundlich vor.

»Das hat aber lange gedauert«, sagte Gorosch vorwurfsvoll.

Dr. Occoroni zuckte die Schultern. »Ich habe noch ein paar zusätzliche Tests gemacht«, erklärte er.

»Und was ist mit ihm?«

»Der Mann gibt sich ganz schön renitent. Sonst ist alles in Ordnung, er verträgt die volle Dosis.«

Gorosch wandte sich an die Assistentin: »Die Injektion vorbereiten.«

Während sich diese an die Arbeit machte, wandte sich Gorosch noch einmal an den Psychologen. »Glaubst du, dass er …?« Er führte die Frage nicht zu Ende.

»Vermutlich unschuldig«, antwortete der Arzt. »Harmlos. Aber man kann ja nie wissen …«

»Ich find’s heraus«, sagte Gorosch betont. »Bleibst du noch?«

»Der Mann interessiert mich nicht mehr«, sagte Dr. Occoroni. Er warf Robin einen verächtlichen Blick zu und zog sich wieder in seinen Kellerraum zurück.

Robin stand scheinbar teilnahmslos daneben, aber natürlich hörte er jedes Wort, das da gesprochen wurde. Mein Vorteil ist, dachte er, dass ich in der Tat nichts über Angelo weiß, was die Security interessieren könnte. Aber schon meldete sich in ihm eine Gegenstimme: Was ist, wenn Gorosch immer schlimmere Mittel einsetzt, um das vermutete Wissen herauszupressen? Wenn er Schmerzen bis ins Unerträgliche steigert? Ist man in solchen Fällen nicht bereit, alles zu sagen, was der andere hören will? Aber, und das war wieder eine andere Schlussfolgerung, was hätte Gorosch von einem solchen Geständnis? – Lässt er es später vom Computernetz analysieren, dann löst sich alles wie eine Seifenblase auf.

Jetzt trat eine streng blickende Frau in Schwesterntracht mit einem Injektionsspray an seine Seite, dahinter tauchten zwei stämmige Männer in grünen Kitteln auf.

Mir kann nichts geschehen, sagte sich Robin, trotzdem hatte er Angst. Doch sich zu wehren hatte keinen Sinn, und so ließ er alles mit sich geschehen. Mit einem blaffenden Geräusch wurden die feinen Tröpfchen der Chemikalie unter seine Haut geschossen, und schon Sekunden später spürte er, dass sich sein Denken und Empfinden änderten …

Später hatte er Mühe, den Zustand zu beschreiben, in den man ihn versetzt hatte. Am ehesten ließ er sich noch mit einem jener Fieberträume vergleichen, die immer wieder um dasselbe Thema kreisen – etwas, das man sucht und das einem stets von Neuem entwischt; ein Problem, das man lösen muss, und eine Lösung, die man schon in der Hand zu haben glaubt … worauf das Ganze von Neuem beginnt.

In diesem Fall war es eine Erinnerung, der er nachjagte. Es war alles in Ordnung, erstand nicht unter Zwang. Er wäre gern behilflich gewesen, und er versuchte unzählige Male, jenen Zipfel zu fassen, mit dessen Hilfe es oft gelingt, das Vergessene dem Dunkel zu entreißen. Dabei herrschte nicht der geringste Zweifel, dass es in der Vergangenheit tatsächlich das gegeben hatte, was er so verzweifelt suchte. Nein, es war kein Schmerz, der ihm zusetzte, keine körperliche Qual, die den Willen tötete, aber Verzweiflung … ja, dieses Gefühl war beteiligt, und es wirkte so stark, dass es sich durch nichts mehr steigern ließ.

Allmählich wurde er sich der Vergeblichkeit seiner Bemühungen bewusst und begann unter seinem Unvermögen zu leiden. Der psychische Druck steigerte sich ins Unerträgliche – Robin schrie diese Verzweiflung aus sich heraus … Aber es gab keine Möglichkeit, dem gestellten Befehl zu folgen. Ich kann dem Befehl nicht folgen, klagte eine Stimme tief in seinem Inneren. Und es wiederholte sich ständig: Ich kann dem Befehl nicht folgen, beim besten Willen – ich kann es einfach nicht …

Загрузка...