Nach der Geiselnahme


Es hatte seinen Grund, dass die den Sitzungssaal stürmenden Geiselnehmer von Anfang an alles dazu taten, die Diplomaten das Fürchten zu lehren. Sie trugen schwarze Kleidung, die sie wie Partisanen aussehen ließ, Masken – die eigentlich nicht nötig gewesen wären – und gefährlich aussehende Waffen, wo doch einfache Schockpistolen gereicht hätten. Aber mit solchen hätte sich kein vergleichbarer Lärm hervorrufen lassen – die zur Decke gefeuerten Schüsse waren zweifellos ein wirksames Moment der Einschüchterung. Das alles waren zweckgerechte Maßnahmen psychologischer Kriegsführung, und so wie die Sache ablief, waren da Fachleute am Werk …

So wurde jede Hoffnung darauf, dass die angedrohte Gewalt vielleicht gar nicht ausgeübt würde, rasch im Keim erstickt. Die Geiseln mussten sich an der linken Seitenwand in einer Reihe aufstellen, und als Alvaro diesem Befehl nur zögernd nachkam, erhielt er einen Stoß in den Rücken, der ihn zu Boden warf; von da an zeigte er sich gefügig.

Jurema, oder Ezequiel, der Anführer dieser Truppe, der Einzige, der außer dem Kampfmesser am Gürtel keine weitere Waffe trug, hatte es sich auf einem Stuhl bequem gemacht. Er hielt eine Liste in der Hand und rief einen Delegierten nach dem anderen auf. Die Genannten mussten vortreten und den Inhalt ihrer Taschen in einen Korb werfen. Sie wurden nach versteckten Gegenständen abgetastet und traten dann in die Reihe zurück.

Als Owen Downfield, der aus London stammende Delegierte, aufgerufen wurde, setzte er zu einer seiner Reden an. »Im Namen meiner Regierung protestiere ich gegen diese Behandlung. Ich werde diesen Vorfall …«

Der Anführer gab einem seiner Soldaten einen Wink. Dieser entriss dem alten Diplomaten die Krücke, packte ihn am Nacken und zwang ihn in die Knie.

»Hör zu, Alter«, sagte der Anführer, ohne seine bequeme Haltung im Stuhl zu verändern. »Du hast nur zu reden, wenn du gefragt bist. Und auf deine Regierung pfeife ich.«

Er stand auf und trat vor den immer noch knienden Downfield. Eine rasche Ausholbewegung, und dann versetzte er ihm zwei Schläge links und rechts auf die Wangen. Danach wischte er sich die Hände an einem Taschentuch ab, als hätte er sich beschmutzt, und setzte sich wieder. Der alte Diplomat war zu Boden gesunken, seine Nachbarn in der Reihe richteten den Stöhnenden auf.

»Wir sind hier, um das in Ordnung zu bringen, was ihr vermasselt habt. Es geht um die Ordnung der Welt. Da war ein Antrag gestellt worden, der Vorteile für die gesamte Menschheit mit sich gebracht hätte, und ihr habt ihn abgelehnt. Ihr bekommt nun die Gelegenheit, euren Fehler zu revidieren. Ihr werdet diesen Saal nicht verlassen, ehe jeder von euch seine Stimme für die Annahme des Antrags abgegeben hat.« Er machte eine kurze Pause, während der er die an der Wand stehenden Männer fixierte. »Jetzt habt ihr Zeit, es euch zu überlegen. Habt ihr alle verstanden?«

Als er keine Antwort bekam, gab er seinen Männern einen Wink: Sie hoben ihre Waffen und richteten sie auf die Geiseln.

»Habt ihr jetzt verstanden?«, fragte der Mann, der sich Ezequiel nannte. »Ich möchte eine deutliche Antwort hören.«

Und jetzt tönte ihm laut und deutlich ein »Ja« entgegen.

»Ich übergebe das Kommando meinem Stellvertreter Rocco.«

Ein stämmiger Soldat trat vor und grinste die Diplomaten an. Das war aber kein Zeichen von Freundlichkeit – mit seinem breiten Gesicht und den schwarzen Bartstoppeln sah er bedrohlich aus.

Der Anführer stemmte sich aus dem Stuhl hoch und ging zur Tür. Bevor er den Saal verließ, drehte er sich noch einmal um und sagte: »Sobald ihr euch einig seid, lasst mich rufen, dann können wir die Sache rasch hinter uns bringen.«


*

Dass sich das Geschehen im Saal abspielte, war günstig für mich, denn so konnte ich mit meiner Abhöranlage die Gespräche zwischen den Geiselnehmern und ihren Gefangenen belauschen und aufzeichnen.

Zuerst gab der als Befehlshaber eingesetzte Rocco einige praktische Anweisungen. Er wies den Diplomaten eine Ecke des Saals zu, wo sie es sich auf den Stühlen einigermaßen bequem machen konnten. Sie durften auch einige auf einem Seitenbord aufgereihte Mineralwasserflaschen und Teller mit Keksen mitnehmen – von weiterer Versorgung war keine Rede. Wer die Toilette aufsuchen musste, wurde von zwei Soldaten begleitet und bewacht – die Tür musste offen bleiben.

Glücklicherweise hatte ich meine Mikrophone so geschickt im Raum verteilt, dass ich das meiste von dem mitbekam, was unter den Diplomaten besprochen wurde.

Zunächst versuchten sie sich über die Lage klar zu werden – und kamen zu keinem schlüssigen Ergebnis. Wer steckte hinter der Aktion? Es musste eine Gruppe von Leuten sein, denen der beantragte Zusammenschluss sehr wichtig war und die vermutlich auch die Führung an sich reißen wollten. Damit richteten sich die Mutmaßungen ebenso auf Staaten wie auf mächtige Industrieverbände, und auch die Mafia wurde genannt.

Es war die Russin Vera Cherkoff, die die müßige Debatte unterbrach. »Im Grunde genommen ist es für uns von untergeordneter Bedeutung, wer dahintersteckt. Viel wichtiger ist die Frage, wie wir uns verhalten sollen. In mir persönlich sträubt sich alles dagegen, den Forderungen nachzugeben.«

Sie erhielt spontane Zustimmung, nur Bonfrere warf schüchtern ein, dass mit Zwangsmaßnahmen zu rechnen sei.

»Damit hast du sicher Recht«, sagte Alvaro Mir, der Repräsentant der Gewerkschaften. »Einer ernsthaften Folter kann keiner von euch widerstehen.«

»Was ich nicht verstehe«, sagte Hawk, »was nützt diesen Leuten ein erzwungenes Einverständnis? Die Umstände, unter denen es zustande gekommen ist, wären doch leicht aufzudecken.«

»Wer sollte diesen Betrug denn bezeugen? Vergiss nicht, dass keine Reporter von Presse und Fernsehen zugelassen wurden«, meldete sich jemand aus dem Hintergrund.

Jetzt sprachen mehrere durcheinander.

»Es stimmt: Es gibt keine Zeugen.«

»Aber wir selbst sind doch Zeugen!«

»Sobald wir das hinter uns haben, kommt das alles an die Öffentlichkeit.«

»Es gibt Mittel und Wege, das zu verhindern«, sagte Bonfrere. »Ich weiß nicht, wie, aber ich habe ein ungutes Gefühl.«

Hawk versuchte sie zu beruhigen. »Vielleicht ist das nur eine Gruppe von Verrückten, die in der Weltgeschichte mitmischen möchte. Am besten, man tut, was sie verlangen, später wird sich alles klären.«

Jetzt griff Mangali in die Diskussion ein. »Gerade du brauchst dir doch keine Gedanken zu machen – du kannst deinem eigenen Antrag zustimmen und bist fein raus.«

Hawk wehrte sich gegen diesen Einwand, der sich wie ein Vorwurf anhörte: »Du bist ja auch nicht betroffen, denn du stimmst nicht mit. Im Übrigen lehne ich Gewalt ebenso ab wie alle anderen. Selbstverständlich werde ich mich mit euch solidarisch erklären. Ich werde protestieren und keine Stimme abgeben.«

Damit hatte sich die Diskussion den Fragen zugewandt, die auch mich beschäftigten und die ich ebenso wenig beantworten konnte wie die gefangenen Diplomaten: Wie wollten die Geiselnehmer verhindern, dass später alles ans Licht kam? Sie stritten noch längere Zeit herum, ohne einen Ausweg aus der Misere zu finden. Die meisten waren sich einig, dass man dem Druck nicht nachgeben durfte, ein paar andere schlugen vor, mit dem Anführer zu verhandeln. Schließlich meldete sich Mangali bei Rocco und bat, mit Ezequiel sprechen zu dürfen.

Rocco schickte einen Soldaten hinaus, um den Anführer zu holen.

Es dauerte eine Weile, bis dieser erschien. »Seid ihr vernünftig geworden?«, fragte er.

»Ich bin beauftragt, mit Ihnen zu verhandeln. Was Sie von uns verlangen, verstößt gegen alle Regeln der Diplomatie. Wir sind verpflichtet, nach unserem Gewissen zu handeln, und einige von uns sind nicht bereit, dem Antrag des Kollegen Hawk vorbehaltlos zuzustimmen. Wir sind aber bereit, über eine schrittweise Koordination der Wirtschaftszweige nachzudenken, die schließlich zu einer Situation führen könnte, die dem Ziel des bewussten Antrags nahe kommt.«

Mangali sprach zwar in wohldurchdachten Sätzen, doch seiner Stimme hörte man die Aufregung an. Als er wieder einmal zwischendurch stockte, um hörbar Atem zu holen, sagte Ezequiel: »Schluss mit dem Geschwätz. Ich gebe euch eine letzte Frist für eine bedingungslose Zustimmung, und zwar bis morgen früh. Zur Strafe, dass ihr mich grundlos hierher zitiert habt, gibt es in dieser Nacht nichts zu essen.«

»Wo sollen wir schlafen?«, rief Downfield.

»Es sind genug Stühle da«, sagte Ezequiel im Hinausgehen und schlug die Tür hinter sich zu.

Es war eine Weile still. Ich hatte den Eindruck, dass die Gefangenen nicht mehr weiterwussten. Es gab nur wenige Bemerkungen, die die akute Lage betrafen, und meist waren es Klagen über die missliche Lage. Natürlich ließ ich auch nach dieser Episode meine Aufzeichnung weiter laufen, aber ich nahm den Kopfhörer ab – es war nichts Interessantes mehr zu erwarten.

Meine Lage war merklich günstiger als die der im Sitzungssaal festgehaltenen Menschen: Ich hatte ein Zimmer für mich, noch genügend Vorräte im Kühlschrank – und zusätzlich die Möglichkeit, mit Ellen zu sprechen. Natürlich konnte unsere Verbindung jederzeit unterbrochen werden, und es war auch nicht ausgeschlossen, dass man uns abhörte, aber als ich Ellen anrief, meldete sie sich sofort.

Wir vereinbarten, uns nicht um die Vorschriften der Miliz zu kümmern und uns etwas später an diesem Abend noch zu treffen – es zumindest zu versuchen.

Als ich gegen neun Uhr abends die Zimmertür öffnete und mich umblickte, war der Gang leer, ich kam ungehindert in Ellens Suite. Trotz der widrigen Umstände wurde es ein sehr schöner Abend, an dem uns niemand störte.


Freitag, 2. Mai

»Warst du schon mal im Genfer Autodrom?«, fragte Josz. Sie waren über das Vidiphon miteinander verbunden. Josz hatte sich bei Robin für den Einspruch bei der Exekutivabteilung der Polizei bedankt, der zu seiner Entlassung aus dem Gefängnis beigetragen hatte, und nun waren sie dabei, die nächsten Aktivitäten zu besprechen.

Robin wunderte sich über die an ihn gerichtete Frage, aber er kannte inzwischen Joszs Vorliebe für effektvolle Gesprächsführung. Natürlich hatte Robin schon vom Autodrom gehört und auch einige Fernsehberichte gesehen, aber die berühmt-berüchtigten Rennen hatten ihn nicht so sehr interessiert, dass er dafür die sündteuren Eintrittspreise bezahlt hätte. Er schüttelte den Kopf, was Josz offenbar auch erwartet hatte, denn er sprach auch schon weiter: »Morgen ist ein Rennen. Wir sind eingeladen.«

Wieder schien er sich über Robins Erstaunen zu freuen. »Wir werden vom Rennen nicht viel mitbekommen – es handelt sich um eine inoffizielle Besprechung mit zwei leitenden Angestellten.«

»Worum geht es?«, fragte Robin.

»Na, um was schon! Die Situation muss ernst sein, sonst hätten sie es nicht so eilig. Morgen ist Samstag. Ich habe mir einen Helikopter bestellt. Wenn du willst, kannst du mit mir kommen.«

Robin stimmte gern zu, und sie vereinbarten einen Termin auf dem Dach des IGH-Bürogebäudes, wo auch ein Landeplatz für Helikopter eingerichtet war.


Samstag, 3. Mai

Als sie sich am nächsten Tag kurz vor zwei Uhr nachmittags dem Ziel näherten und im Blickfeld die Aufbauten des Autodroms erschienen, war Robin beeindruckt. Die Anlage ähnelte einer Achterbahn, doch die Fahrstrecke war kein Schienenzug, sondern eine Straße. Ein bizarres Bauwerk, das an eine für den schwerelosen Raum bestimmte Weltraumarchitektur erinnerte. Es gab kühn geschwungene Schleifen, nahezu senkrechte Steilabfahrten, haushohe Loopingkreise – Ausgeburten einer verrückten Mathematik –, und all dies, um letzten Endes zum Startplatz zurückzukehren.

»Es geht nicht mehr darum, von hier nach dort zu kommen – es geht um die Fahrt selbst: Sie ist das Ziel. Diese Bahn ist so etwas wie ein interaktives Kunstwerk«, erklärte Josz, »in den Benutzern entfacht es Emotionen, die sonst nur Raumfahrer erleben. Und selbst die Zuschauer peitscht es an die Grenze ihrer Empfindungsfähigkeit.«

Eine solche Aussage hätte Robin nicht von Josz erwartet, und dieser gestand dann, dass er schon bei mehreren Rennen zugesehen habe und aus eigener Erfahrung sprach.

Aber diesmal waren sie nicht zum Vergnügen da, sondern zum Zweck einer geheimen Besprechung – geheim selbst vor den Kollegen in den höchsten Etagen. Der Ort war raffiniert gewählt. Es war die Prominentensuite eines Informatik-Unternehmens, in das man nach mehrfachen Kontrollen und Ausweisprüfungen nur mit persönlicher Einladung hineinkam: ein versteckter Winkel inmitten eines Stadions mit einem Fassungsvermögen von 600.000 Personen. Wie geschaffen für konspirative Treffen – ein Teilnehmer, der unerkannt bleiben wollte, konnte jederzeit unauffällig aus dem Zuschauerraum dazustoßen, andererseits aber auch jederzeit im Gewühl untertauchen und sich für Verfolger unsichtbar machen.

Ein Angestellter mit einer respekteinflößenden Schockpistole nahm Josz und Robin in Empfang und führte sie in einen Nebenraum mit halbkreisförmigem Grundriss. Die geschwungene Rückwand war mit schwarz eloxiertem Aluminium verkleidet, und in die gegenüberliegende flache Wand war ein Fenster in Superbreitformat eingelassen, durch das man die dahinrasenden Autos beobachten konnte. Die Ausstattung des Raums machte deutlich, dass die Szenerie, die man durch das Fenster sah, lediglich ein Aperçu war. Das Zentrum bildeten vier feudale Lehnstühle, die um einen runden Tisch mit goldgefasster Glasplatte herum angeordnet waren. Um die Sitzgarnitur zu erreichen, mussten die beiden Besucher über einen Teppich gehen, der wie eine aus Wolle bestehende Spielwiese anmutete. Und als sie sich setzten, versanken sie tief in der Polsterung der Sitze.

Die beiden mussten warten, ihre Gesprächspartner waren noch nicht da. Der Angestellte brachte dampfenden Mokka und eine Schachtel mit überlangen Zigarren, dazu ein Schneidinstrument, dessen Zweck Robin nur erraten konnte: Diente es dazu, die Zigarren in kleinere Stücke zu zerlegen?

Das Rennen war schon in vollem Gang. Durch das Fenster sah man die dahinflitzenden Boliden; im Vordergrund war ein besonderes Spektakel zu verfolgen: ein Abgrund, den die Autos mit einem Salto überquerten. Aber alles das wirkte wie eine Miniatur, weit entfernt, unwirklich, und auch das Heulen der Motoren und das Geschrei der Zuschauer drangen nur gedämpft durch das dicke Glas.

»Draußen ist der Eindruck viel stärker«, erklärte Josz und versuchte erst gar nicht, sein Bedauern zu verbergen.

Die Führungskräfte, mit denen es Josz und Robin zu tun hatten, waren zwei Angehörige des Vorstands, Beatrice Reneau und Vladimir Trov, über deren Aufgaben nichts bekannt war. Als die beiden endlich eintrafen, erwiesen sie sich als eloquente Persönlichkeiten um die vierzig, denen man ihre Fähigkeiten und den darauf beruhenden Rang nicht ansah. Erst während des Gesprächs zeigte sich, dass sie doch von anderem Kaliber waren als die meist überalterten Führungskräfte des Gerichtshofs, die noch von der früheren nationalen Behörde übrig geblieben waren.

Es war die Frau, die sprach; sie wusste, was sie wollte, und verstand es auch, ihre Meinung kurz und bestimmt vorzutragen. Der etwas ältere Mann hörte zu, nickte gelegentlich und schaltete sich nur ein, um ihm wichtig scheinende Ergänzungen anzubringen.

»Wir haben ein Problem«, erklärte Beatrice. »Es ist noch kaum an die Öffentlichkeit gedrungen, und somit muss ich mich einige Zeit bei der Vorgeschichte aufhalten. Es begann vor etwa drei Jahren. Damals war beschlossen worden, eine internationale Konferenz mit den wichtigsten Repräsentanten der Weltwirtschaft abzuhalten. Es sollte um engere, über Grenzen hinwegreichende Kooperationen gehen … Und dann erfuhren wir, dass eine Gruppe von Unternehmern diese Gelegenheit zur Stärkung der eigenen Macht missbrauchen wollte. Es handelte sich um jene Leute, die wir unter uns als ›Erben der Mafia‹ bezeichnen. Das Geld, das ihre Vorfahren durch illegale Machenschaften erworben hatten, wurde längst gewaschen. Sie steckten es in Wirtschaftsunternehmen, die sich gesetzestreu verhalten, so dass es keinen Grund gibt, gegen sie einzuschreiten.«

Beatrice machte eine kleine Pause, in der sie eine der Zigarren auswählte. Sie schnitzelte mit dem bereitliegenden Werkzeug an der Spitze herum und hielt schließlich ein Feuerzeug daran. Dann nahm sie einen tiefen Zug und blies dichten weißen Rauch in die Luft.

»Es zeigte sich allerdings«, fuhr sie fort, »dass im Hintergrund noch immer die alten, vom Verbrechen profitierenden Strukturen lebendig waren. Ihre neue Aufgabe war es, die sich im Besitz der sogenannten Familien befindlichen Wirtschaftsunternehmen mit Methoden zu unterstützen, die etwas effektvoller sind als die gesetzlich erlaubten. Wie in alten Zeiten stützten sie sich auf Zwangsmaßnahmen, Erpressung, Entführung, Geiselnahme und so weiter bis hin zum Mord, daneben aber nutzten sie auch die Errungenschaften der modernen Wirtschaftskriminalität wie Industriespionage, Datendiebstahl, Abhörtechnik, elektronische Überwachung und so fort. Diese Unterstützung erbrachte den Unternehmen erhebliche Vorteile gegenüber ihren Konkurrenten, so dass sie ihre Macht immer weiter ausbauen konnten. Inzwischen sind sie längst in Bereiche der Politik eingedrungen. Was dort geschieht, ist heute bereits weitgehend von der Mafia diktiert. Mehr und mehr gelingt es ihr, auch Institutionen des öffentlichen Rechts in die Privatisierung einzubeziehen und sich in ihnen festzusetzen.«

Jetzt gab Vladimir Trov ein Zeichen, und seine Kollegin überließ ihm das Wort. »Zu diesen Institutionen gehören Militär, Polizei und das Unterrichtswesen, also jene Stellen, die für die staatliehe Ordnung sorgen. Als ein ganz wichtiges Instrument in den Händen dieser Kräfte haben sich die Informations- und Massenmedien erwiesen. Es ist klar, dass eine solche Umschichtung außerordentlich bedenklich ist. Inzwischen hat es ja sogar einen Versuch gegeben, unsere Justizbehörde zu unterwandern.«

»Ich weiß«, warf Josz ein. »Wir haben erst kürzlich …«

»Unter diesem Aspekt ist auch die Konferenz zu sehen«, unterbrach Beatrice ihn. »Für uns bestand höchstes Interesse daran, zu prüfen, ob es in der Konferenz zu irgendwelchen Arten betrügerischer Beeinflussung kommen würde. Bald stellte sich heraus, dass für uns keine Chance bestand, einen offiziellen Beobachter zu delegieren, denn die Konferenz sollte unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Doch darauf brauche ich nicht näher einzugehen – das ist ja jetzt allgemein bekannt.«

Sie machte eine kleine Pause, um wieder an ihrer Zigarre zu ziehen. Es war still, nur gelegentlich drang von außen schwach der Lärm der außer Rand und Band geratenen Zuschauer herein.

Beatrice legte die Zigarre auf den Aschenbecher. Eine dünne Rauchfahne schlängelte sich in die Höhe. »Natürlich haben wir uns damit nicht zufrieden gegeben, wir haben mehrere Versuche unternommen, unsere Mitarbeiter und Agenten in die Umgebung der Konferenz einzuschleusen. Bei dem, was wir heute zu besprechen haben, geht es nur noch um einen davon – er ist der Einzige, der noch im Spiel ist: die einzige Aktion, die sich als erfolgversprechend erwiesen hat.«

»Und jetzt haben wir auch noch den Kontakt mit diesem Mitarbeiter verloren«, sagte Trov. »Es ist ein Kollege von euch, und darum hoffen wir, dass ihr die Verbindung wiederherstellen könnt. Die Situation ist viel ernster, als wir angenommen hatten – es wäre außerordentlich wichtig.«

Er schwieg wieder, beide blickten uns an, als ob wir diese Frage jetzt schon beantworten könnten.

Schließlich sagte Josz: »Die Aufgabe übernehmen wir gern, doch wir brauchen Hintergrundinformationen.«

»Die sollt ihr bekommen«, versprach Trov und blickte Beatrice auffordernd an.

»Es handelt sich um eine Mission«, sagte Beatrice, »die unter strengster Geheimhaltung vor sich ging. So nehme ich an, dass ihr auch nichts davon wisst. Der Kollege von euch, den wir damit betraut haben, heißt Angelo Brugger; vielleicht kennt ihr ihn. Wir haben ihn monatelang auf seine Aufgabe vorbereitet. Vor allem ging es darum, ihn auf unverdächtige Weise in das Globe-Hotel einzuschleusen. Ihr habt es sicher schon in den Nachrichten gesehen, es liegt völlig einsam mitten im Eismeer der Arktis. Wir hatten uns genau darüber informiert, welche Methoden der Kontrollen der Sicherheitsdienst anwenden würde, um Unbefugte zu entlarven. Neben den üblichen Methoden der Identifikation sollten auch moderne Lügendetektoren eingesetzt werden. Wir mussten also dafür sorgen, dass unser Agent ein neutrales Alias nicht nur äußerlich annimmt, sondern auch daran glaubt, diese Person zu sein. Dabei haben wir die neuesten Methoden der Schönheitschirurgie und der Gedächtnisneurologie angewandt. Wir fanden eine unverdächtige Person, deren Identität Angelo annehmen konnte. Es war ein Abenteurer, der kurz zuvor tödlich verunglückt war: Sylvan Caretti. Es ist uns gelungen, seinen Tod zu verheimlichen. Angelo wurde operiert, so dass seine Gesichtszüge jenen von Sylvan glichen. Von der Statur her gab es keine auffälligen Unterschiede. Weitaus schwieriger war es, seine Gedankenwelt so zu manipulieren, dass er als Sylvan auftreten konnte …«

»… und sich auch als Sylvan fühlte«, fiel ihr Trov ins Wort. »Es war eine Meisterleistung unserer Mitarbeiter aus der neurologischen Abteilung. Sie unterdrückten seine bisherigen Erinnerungen und speicherten stattdessen Sylvans Vergangenheit ein. Für die Übergangszeit ließen wir von einem bekannten Autor ein Drehbuch schreiben, und wir sorgten auch dafür, dass der neue Sylvan, um seinen Bekanntheitsgrad zu steigern, einen spektakulären Auftritt in der Öffentlichkeit hatte. Diese Aktion ging durch die Medien und machte ihn weithin bekannt. Noch wichtiger allerdings war es, ihn auf seine Aufgabe einzustellen, die in seinem Bewusstsein höchste Priorität haben musste. Wir wandten das an, was man früher als posthypnotischen Befehl bezeichnet hat; heute kennen wir weitaus bessere Mittel, um diesen Effekt hervorzurufen. Wir erreichten damit, dass er die Anfangskontrollen überstehen konnte, sich aber später – ausgelöst durch ein Schlüsselsignal – auf seine eigentliche Aufgabe einstellen konnte. Und dass diese Aufgabe in all seinen Gedanken absolute Priorität hatte.«

»Kann man diese Eingriffe wieder rückgängig machen?«, fragte Robin und hatte gleich danach den Eindruck, dass er diese Frage besser nicht aufgeworfen hätte. Er war tief bewegt, denn der Bericht von Beatrice war die erste Bestätigung für das, was bisher nur ein unbestimmter Verdacht gewesen war. War der phantastische Einsatz, den Beatrice da beschrieb, tatsächlich nach Plan verlaufen?

»Ich nehme es an«, antwortete Beatrice sichtlich irritiert, und es war leicht zu erkennen, dass sie sich für dieses Problem bisher nicht interessiert hatte. Sie fing sich aber schnell und gab im Folgenden eine genaue Beschreibung der ersten Schritte Sylvans, die ihn schließlich zum Einsatz in der Arktis bringen sollten. Durch eine vorgetäuschte Gefahrensituation wurde er zum Absprung bewegt, und dann sollte er so reagieren, wie es der Logik nach vorauszusehen gewesen war. Der vorausberechnete Weg sollte ihn direkt zum Hotel führen, in dem er seiner Aufgabe nachzukommen hatte.

»Von diesem Zeitpunkt an haben wir nichts mehr von Sylvan gehört«, berichtete Trov. »Inzwischen verstärkt sich für uns der Eindruck, dass es bei der Konferenz tatsächlich nicht mit rechten Dingen zugeht. Das muss aufgeklärt werden – wir müssen die Verbindung mit Sylvan unbedingt wiederherstellen.«

Wieder entstand eine Pause. Trov rief nach dem Bediensteten und ließ Getränke bringen. Ein Kellner servierte Gläser mit einer goldgelben Flüssigkeit, die würzig schmeckte und nach getrockneten Blumen roch. Josz und Robin lehnten sich in die Stühle zurück und ließen sich durch den Kopf gehen, was ihnen eben eröffnet worden war.

Durch das Glasfenster hindurch sah man die Autos in voller Fahrt auf ihren gewundenen Wegen, umgeben von der Masse des Publikums – eine Masse, die sich in Wellen bewegte wie ein aufgepeitschtes Meer. Manchmal drang ein Rauschen durch die Glaswand, das an einen Sturm denken ließ. Selbst in diesem abgeschiedenen Raum mit seinem sinnlosen Luxus waren Josz und Robin ein wenig betäubt von den aufwühlenden Eindrücken aus einer Welt künstlich erzeugter Gefahr.

Die ihnen gestellte Aufgabe war schwierig und verlangte großes Verantwortungsgefühl. Sie würden sie übernehmen, daran bestand kein Zweifel. Einerseits weil es ohnehin keine Möglichkeit zum Widerspruch gegen einen erhaltenen Auftrag gab, andererseits weil es eine Aufgabe war, von deren Gelingen das Gleichgewicht der Welt abhing. Doch für Robin kam noch etwas hinzu: weil er dadurch endlich erfahren hatte, was mit Angelo geschehen war.

Es fragte niemand, ob sie den Auftrag annehmen wollten. Beatrice hatte angekündigt, dass die beiden Ermittler die notwendigen detaillierten Daten bekommen würden, sie sollten sie studieren und sich dann ihr weiteres Vorgehen genehmigen lassen.

Damit waren sie entlassen.


Sonntag, 4. Mai

Der von den beiden Vorstandsmitgliedern erteilte Auftrag war alles andere als einfach – ging es doch um Informationen, die strengster Geheimhaltung unterlagen. Noch am selben Abend hatten sich Josz und Robin im Büro noch einmal zusammengesetzt und nach Ideen gesucht. Als sie dann kurz nach Mitternacht ein Resümee zogen, war allerdings nicht viel Brauchbares zusammengekommen. Josz wollte versuchen, das Hauptquartier ihrer Gegner zu finden und dann mit einer internationalen Sondereinheit der Polizei eine Durchsuchung durchzuführen.

Robin wollte sich an eine ganz andere Fährte heften. Erst am Tag zuvor hatte er sich nach dem Stand der Ermittlungen bei Fay erkundigt und erfahren, dass die Beträge, um die es bei ihr ging, doch erheblich höher waren als erwartet – so hoch, dass eine Festnahme durchaus berechtigt war. Und da erschien die Geschichte, die sie Robin erzählt hatte, längst nicht mehr so glaubhaft.

Da sich Fay auffällig von den übrigen Verhafteten unterschied, hatte man in ihrem Fall unverzüglich mit der weiteren Untersuchung begonnen, und dabei waren einige bemerkenswerte Fakten ans Tageslicht gekommen: vor allem, dass Gorosch zu ihren Kontaktpersonen gehörte. Da bestand also tatsächlich eine direkte Verbindung zur Mafia, und das bestärkte Robin in der Hoffnung, mit Hilfe von Fay zu den gewünschten Informationen zu kommen.


Montag, 5. Mai

Schon am Montag kurz nach Dienstbeginn wurde Robin aktiv. Zuerst besorgte er sich eine Vollmacht vom Vorstand, die ihn dazu ermächtigte, Fay aus dem Gefängnis zu holen.

Robin beabsichtigte, diese Aktion eindrucksvoll zu inszenieren. Er erschien eine Stunde vor Mitternacht im Gefängnis, ließ sich in Fays Zelle führen und deutete an, dass höchste Eile geboten war – so dass Fay annehmen musste, dass diese Aktion nicht ganz legal war, obwohl auch diesmal eine Beamtin dabei war und das Geschehen mit misstrauischem Gesichtsausdruck verfolgte.

Als Untersuchungsgefangene trug Fay ihre eigene zivile Kleidung. Sie raffte ihre wenigen persönlichen Dinge, die in einem Schrank verstaut waren, zusammen, warf sie in eine Tasche, und dann machte sich Robin mit ihr auf den Weg hinaus. Um die verschiedenen Kontrollen zu passieren, hatte er Dokumente vorbereitet, und so kamen sie ohne Schwierigkeiten ins Freie. Als sie um die Ecke gebogen waren und der hässliche Bau hinter ihnen verschwunden war, schlang Fay die Arme um Robin und küsste ihn.

Dann standen sie ein wenig unschlüssig da. »Wo wohnst du?«, fragte Robin.

»Dort fühle ich mich nicht sicher«, erklärte Fay, und sie wirkte dabei ungewohnt ängstlich. »Du wirst mich doch jetzt nicht allein lassen. Darf ich nicht bei dir bleiben?«

»In Ordnung«, sagte Robin, »Komm mit, es ist nicht weit – wir können zu Fuß gehen.« Er wollte Fay sowieso nicht aus den Augen verlieren – vielleicht hätte sie sich einfach davongemacht.

Als sie in Robins Apartment angekommen waren, servierte er eine Dose mit Ingwerschnitten und eine Flasche Traubennektar, und sie setzten sich zusammen an den Tisch. Fay wollte sich gerade bei Robin für die Befreiung aus dem Gefängnis bedanken, doch der winkte ab.

»Es ist schon spät, und du wirst müde sein. Wir haben einiges zu besprechen, doch das hat Zeit bis morgen.«

So schnell konnte Fay die letzten Tage nicht vergessen, und sie schilderte Robin die Unannehmlichkeiten, denen sie ausgesetzt war. Und sie fügte schließlich hinzu: »Das Schlimmste war die Ungewissheit. Ich wusste nicht, warum man mich verhaftet hat und wie lange man mich festhalten wollte.«

»Denk jetzt nicht mehr daran«, riet Robin. Er fragte sie, ob er ihr noch etwas zu essen oder zu trinken bringen könnte, und zeigte ihr dann die Einrichtungen. »Ich werde auf der Couch schlafen«, schlug er vor. »Du kannst das Bett nehmen.«

»Kommt gar nicht infrage – für mich genügt die Couch«, widersprach Fay, und Robin war schließlich einverstanden. Er suchte Bettwäsche und ein Kissen im Schrank und reichte Fay einen Bademantel.

»Darf ich duschen?«, fragte sie, und Robin hatte nichts dagegen.

Während sich Fay im Bad aufhielt, legte er sich ins Bett. Er hörte das Wasser rauschen und später das Geräusch des Föhns. Wie lange ist es her, dass ich ein Mädchen zu Gast hatte, fragte er sich.

Als Fay aus dem Bad kam, verbreitete sie einen zarten Geruch von Seife und Parfüm. Sie wünschte ihm eine gute Nacht, legte sich auf die Couch und zog sich die Decke bis zum Hals. Die Beleuchtung war auf Dämmerlicht heruntergeregelt, trotzdem konnte er erkennen, dass Fay unter dem Bademantel nackt war.

Obwohl es für Robin ein anstrengender Tag gewesen war, konnte er nicht einschlafen. Er lauschte den leisen Atemzügen von Fay. War sie schon eingeschlafen?

Nach einer Weile hörte er leise Schritte. Fay kam an sein Bett heran und sagte: »Auf der Couch ist es doch nicht so bequem, wie ich gedacht hatte.« Sie schlüpfte neben ihm unter die Decke und schmiegte sich wie selbstverständlich an ihn …

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