Meine Aufzeichnungen


Ich bin Sylvan Caretti. Ich bin eine der sechsundfünfzig Personen, die bei der Katastrophe auf der Eisinsel ums Leben gekommen sind.

Die Ereignisse, die dazu geführt haben, gehören der Vergangenheit an, und ich glaube nicht, dass ich noch irgendjemandem Gehorsam schuldig wäre oder irgendwelche Verpflichtungen hätte. Mein Auftrag ist erfüllt. Das Ende war so radikal, dass damit auch alles Vorausgegangene gegenstandslos geworden ist.

Ich hoffte, dass die Erinnerungen an die Katastrophe allmählich verblassen würden und ich bald meine Ruhe wiederfinden könnte, aber das Gegenteil ist der Fall: Je mehr meine Genesung fortschreitet, umso öfter kommt mir das Unrecht in den Sinn, das die Welt verändert hat, und im Zusammenhang damit kann ich mich der Tatsache nicht entziehen, dass ich der Einzige bin, der weiß, was in den verhängnisvollen sechs Tagen wirklich geschah. Und der es beweisen kann. So habe ich mich zu einem paradox erscheinenden Akt der Befreiung entschlossen. Paradox deshalb, weil er mich zwingt, in mir all das, was ich so schnell wie möglich loswerden will, erneut wachzurufen. Ich will versuchen, den Gang der Dinge, die an diesem unglücklichen Ort ihren Abschluss gefunden haben, aufzuzeichnen. Dann habe ich mehr getan, als ich tun muss, dann kann ich die jüngste Vergangenheit vielleicht endgültig begraben.

Womit soll ich anfangen? Obwohl es nichts mit den Ereignissen zu tun hatte, um die es geht, muss ich wohl ein wenig auf mein früheres Leben eingehen, dem ich so unerwartet entrissen wurde. Aber ich kann es kurz machen: jetzt, im Rückblick, erscheint mir das, was vorher mit mir geschah, nicht mehr so bedeutsam. Es liegt irgendwo jenseits einer Grenze, die ich nicht mehr überschreiten kann.

Über meine Kindheit und Jugend gibt es wenig zu berichten – beim besten Willen fällt mir nichts ein, was über eine Aufzählung banaler Ereignisse hinausginge, die wechselnden Gemeinschaftsräume, Unterricht und Spiele zusammen mit Gleichaltrigen, einige Leitpersonen am Rande, Erzieher, Trainer, der Unterricht über das Netz, wie es jeder selbst erlebt hat, der Abschluss – bei mir mit der Empfehlung, eine sportliche Tätigkeit aufzunehmen.

So begann mein Erwachsenenalter: mit der Ausbildung als Scout für Abenteuerreisen. Denn der Sport allein interessierte mich nicht, ich wollte etwas erleben, die Welt kennen lernen. Wenn ich später noch einen Sonderkurs für die geplanten Mondlandungen machen könnte … bei jenen dabei sein könnte, die in unbekanntes Land vorstoßen … so stellte ich es mir vor. Schade: Das Abenteuer habe ich gefunden, der Mond ist bis jetzt ein Traum geblieben.

Kurz und gut – ich bekam die Lizenz, wanderte mit Reisegruppen durch mühsam aufgepäppelten Urwald, durch von Mensch und Tier verlassene sibirische Steppen, durch die denkmalgeschützten Ruinenfelder des nördlichen Afrika, ich kletterte auf die höchsten Berge Asiens, paddelte über unterirdische Flüsse auf Yukatan, tauchte hinab zu versunkenen Schiffen in der Karibik …

So gingen einige Jahre dahin, und als es allmählich langweilig zu werden begann, kam für mich die erfolgreichste Zeit. Ich hatte bemerkt, dass es Möglichkeiten der Betätigung gab, die nicht nur Geld, sondern auch Ruhm einbrachten: die öffentliche Jagd nach Rekorden. Je verrückter, umso besser: mit dem Tretrad durch die Sahara, mit dem Raketenstuhl über die Anden, mit dem Luftkissengleiter den Amazonas hinauf … Für so etwas fanden sich Ausrüster, die großzügig Preise vergaben und Personality-Shows veranstalteten. Das steigerte den Bekanntheitsgrad.

Bei all diesen Unternehmungen kam ich oft in entlegene Gegenden, über die nur wenig bekannt ist, oder auch in jene Länder außerhalb der Staatengemeinschaft, die nur mit Ausnahmegenehmigungen besucht werden dürfen. So erschien es mir ganz logisch, dass sich eines Tages Angehörige des Internationalen Informationsdienstes bei mir meldeten: ob ich bereit wäre, im Laufe dieser oder jener Reise Recherchen durchzuführen – über bestimmte Themen, die man mir von Fall zu Fall genauer beschreiben würde. Ich habe gern zugestimmt, denn auf diese Weise konnte ich meinen Etat auf erfreuliche Weise aufbessern.

Ja, ich hatte es mir ganz nach meinem Geschmack eingerichtet und so nebenbei auch einige Rekorde gebrochen. Und dann kam dieser Auftrag, von dem ich mir neuen Nervenkitzel und Stoff für Fernsehberichte versprach – und der mich dann mitten in den Brennpunkt der übelsten politischen Intrige hineingeraten ließ, die es jemals gab.

Ich werde versuchen, die Ereignisse, die dazu geführt haben, in chronologischer Reihenfolge wiederzugeben.


Mittwoch, 26. März

Der neue Fall, den man Robin übertragen hatte, war alles andere als aufregend. Routine – wie viele andere Fälle, die er in letzter Zeit zu bearbeiten hatte.

Gab es keine interessanten Aufträge mehr für ihn? Einige Male hatte Robin Gelegenheit gehabt, seine Fähigkeiten als Ermittler voll auszuspielen. Er hatte Erfolg gehabt, und der Erfolg wurde anerkannt. Das war auch der Grund dafür, dass er ein eigenes Arbeitszimmer bekommen hatte – mit einer ComSet-Einrichtung, die ihm allein zur Verfügung stand, und direktem Zugriff zum zentralen Computer und damit zum AI-System Platon. Eigentlich wartete er nur darauf, sich endlich wieder einmal an anspruchsvollen Aufgaben messen zu können. Diese alltäglichen Gesetzesübertretungen langweilten ihn grenzenlos.

Um was ging es diesmal? Ein Sportflieger hatte den Mast eines Infrarotstrahlers gestreift, am Flugkörper hatte es zwar nur ein paar Beulen gegeben, dem Piloten war nichts passiert, aber herabstürzende Teile hatten das Gartenhaus eines Musikers beschädigt, und diese einfachen Tatsachen warfen eine Lawine von Fragen auf: Warum hatte der Pilot die vorgeschriebene Flugroute verlassen? War er zu tief geflogen? Wenn ja, warum? War er gesund und nüchtern oder aber übermüdet gewesen, nahm er vielleicht Drogen? Hatte er die Automatik eingeschaltet oder war er, entgegen der Vorschrift, auf die Handsteuerung übergegangen? Entsprach der Mast der Bauanleitung, war die vorgeschriebene Höhe vielleicht überschritten worden? Waren alle betroffenen Objekte (einschließlich des Piloten) ordentlich versichert? Wie war der entstandene Sachschaden zu bewerten? Und so weiter, und so fort.

Eine einfache Situation, weil sich nahezu alles durch automatische Abfragen ermitteln ließ. Robin bekam die Ergebnisse ohne eigenes Zutun auf den Tisch. Er hatte nur wenige Male die Suchmaschinen zu Rate ziehen müssen, und schon waren alle Daten beisammen, um sie der Automatik zu übergeben. Wenn es überhaupt ein Rätsel aufzuklären gab: Der Pilot hatte seine Freundin bei sich gehabt und wollte ihr einen Badeplatz am Stausee zeigen. War er deshalb so tief geflogen? Diesen Umstand musste Robin beschreiben und den Schriftsatz der Akte zufügen. Es lief wohl auf menschliches Versagen hinaus, also würde es einen Schuldspruch geben. Aber damit hatte Robin nichts zu tun, glücklicherweise – für die Feststellung der Schuld war allein das System Platon zuständig, und dieses bestimmte auch die Strafe: schnell, unfehlbar, ohne emotionale Aberrationen und mit absoluter Gerechtigkeit. Der Fall war in den besten Händen.

Damit hatte Robin sein Tagwerk beendet. Er rief noch seine Notizen auf, um zu prüfen, ob er vielleicht etwas vergessen hatte. Es war nichts mehr zu tun, aber er stutzte, als er das Datum las: 26. März. Ein Tag wie jeder andere, aber doch mit einem persönliehen Bezug: An diesem Tag vor zehn Jahren hatte er seine Aufnahme als fester Mitarbeiter des Internationalen Gerichtshofs bestätigt bekommen. Es war der erfolgreiche Abschluss einer vierjährigen Ausbildung, und diese Zeit war alles andere als leicht gewesen: kausale Logik, Ermittlungsmethodik, Rechtsprechung mit AI-Systemen, Suchmaschinenpraxis, das waren die wichtigsten Fächer, aber die Kandidaten waren auch körperlich hart drangenommen worden: Fitnessübungen, Krafttraining, Mutproben, praxisnahes Verhalten im Simulator. Dabei ging es oft an die Grenzen ihrer Reserven. Der 26. März war also wirklich ein Tag der Erleichterung, den zu feiern er berechtigt war.

In den letzten drei Monaten des Unterrichts waren sie in kleineren Gruppen in verschiedene ungewöhnliche Umgebungen gebracht worden, in die Vorstädte von Mexico City, in die Katakomben von Paris, in die Sümpfe des Amazonasdeltas, und sie hatten sich dort mit angemieteten Stuntmen herumgeschlagen, manche von ihnen frühere Söldner: Leute, die keine Gnade kannten und Spaß daran hatten, die unerfahrenen Kandidaten in peinliche Situationen zu bringen.

Von den aus diesen Manövern stammenden Erfahrungen hatte Robin bisher nicht besonders profitiert – genau genommen hatte er dabei auch nicht gerade überragende Leistungen erbracht. Es gab einige, die da weitaus besser abgeschnitten hatten. Sie wurden später in ganz anderer Weise eingesetzt als Robin mit seinem Schreibtischjob, bei dem es eher um logisches Kombinieren ging. In diesen Belangen war Robin gut, und auf dieser Fähigkeit beruhten auch seine erfolgreich abgeschlossenen Ermittlungen. Im Geheimen hätte er sich aber gewünscht, auch zu jenen Typen zu gehören, die man in die Welt hinausschickt.

Robin dachte dabei vor allem an Angelo. Angelo Brugger, den sie den »Engel« nannten. Natürlich leitete sich diese Bezeichnung aus seinem Namen ab, aber sie entsprach auch seinem Aussehen und seinem Wesen. Er war groß gewachsen, trug die leicht gelockten blonden Haare lang und hatte markante Gesichtszüge, die die Mädchen faszinierten. Überdies war er auch noch freundlich und hilfsbereit.

Er war einer der Besten des Lehrgangs gewesen. Das galt sicher für die Theorie, aber ganz besonders auch für die Einsätze im Außenbereich, wo es auf Kraft und Zähigkeit ankam und man sich in Auseinandersetzungen Mann gegen Mann zu bewähren hatte. Hierin war er einsame Spitze, und das wurde auch von allen Teilnehmern anerkannt. Umso ungewöhnlicher war es, dass er sich ein wenig mit dem unauffälligen Robin angefreundet hatte, und so war ein wenig von Angelos Ruhm auf Robin abgefallen.

Wo mochte Angelo jetzt sein? Vielleicht bei einem seiner geheimnisvollen Einsätze? In einem spontanen Entschluss rief Robin Angelos Com-Nummer auf – vielleicht hatte er Glück und konnte ihn dazu überreden, den Jahrestag ihrer Beförderung zusammen zu feiern. Aus dem Lautsprecher ertönte das Besetztzeichen – woraus immerhin zu schließen war, dass sich Angelo an seinem Arbeitsplatz befand.

Robin wartete kurze Zeit und versuchte es ein zweites Mal – mit demselben Ergebnis –, und als er nach zehn Minuten noch einmal anrief, war wieder das Besetztzeichen zu hören.

Eigentlich war Robin bereit zu gehen, aber so rasch wollte er nicht aufgeben, und er stellte die Anrufautomatik auf Wiederholung im Minutentakt. Um sich die Zeit zu vertreiben, rief er die News-Seite aus dem Netz auf, las kurz über die politischen Meldungen hinweg und vertiefte sich dann eine Weile in den Sport. Er hörte, wie die Automatik mehrmals anschlug, und zwar immer wieder vergebens. Auf dem Bildschirm blinkte ein Link-Button, und obwohl das einige Credits kostete, folgte er der Aufforderung und blickte eine Weile in die Life-Übertragung des Schleuderball-Matches vom Nachmittag hinein. Doch schon bald meldete sich in ihm erneut die Ungeduld und störte seine Konzentration. Er zwang sich, die halbe Stunde, die er sich vorgegeben hatte, zu warten, dann schaltete er die Rufanlage ab, dachte kurz nach und wählte eine Nummer, die sich von jener von Angelo nur in der letzten Stelle unterschied; er hoffte, dadurch einen in dessen Nähe untergebrachten Kollegen zu erreichen, und tatsächlich meldete sich jemand.

Robin erkundigte sich, ob Angelo tatsächlich in ein Dauergespräch vertieft war, und der Unbekannte erbot sich, im Nebenraum nachzusehen. Nach kurzer Zeit rief er zurück: »Niemand da. Es muss sich um eine Fehlschaltung handeln, denn das ComSet ist betriebsbereit. Allerdings habe ich Angelo schon lange nicht mehr gesehen.«

Robin bedankte sich, schüttelte den Kopf und meldete sich in der Netzzentrale ab. Da war wohl nichts zu machen. Er zog sich die Träger seines Rucksacks über. Den Mantel klemmte er unter den Arm, in diesem hoch gelegenen Tal war es im März noch kühl, er würde ihn brauchen, wenn er ins Freie kam.

Über einen freitragenden Gang verließ er seinen Büroturm und ging ohne besondere Eile in den ringförmigen Trakt, der das Gebäude der Justizbehörde umschloss. Von hier stieg er in den Lift, der ihn ins Erdgeschoss führte, und dort stellte er sich in eine Reihe von Angestellten, die auf den Zug warteten. Er fand gerade noch einen Platz im nächsten, der hier anhielt, und suchte einen Haltegriff, denn die Fahrt lief auf einem Kreis um das Gebäude herum, und dabei verlor man leicht das Gleichgewicht, wenn man keine freie Rückenstütze gefunden hatte. Drei Minuten später war Robin in der großen Eingangshalle.

Als er durch einen der Sensorrahmen der elektronischen Sperrzone trat, ertönte das Alarmsignal, und zwei maskierte Beamte des Sicherheitsdienstes traten mit erhobenen Schockpistolen auf ihn zu. Der eine entriss ihm Mantel und Tasche, der andere schob ihn in die Ultraschallkabine, wo sich weiche, schwammige Matten von allen Seiten her auf ihn zuschoben und ihn festhielten.

Die Durchleuchtung begann mit einem leisen Klicken, dann drehte sich der als Drehscheibe ausgebildete Boden mit beträchtlicher Geschwindigkeit einmal rundherum. Es hatte nicht mehr als drei Sekunden gedauert, aber Robin blieb noch ein paar Minuten zwischen den Matten eingepresst. Nur der Kopf ragte oben heraus. Als Folge der raschen Rotation hatte ihn ein Schwindelgefühl erfasst, und er glaubte schon, sein Magen würde sich umdrehen. Doch schon durfte Robin die Kabine wieder verlassen. Er wollte einen Blick auf das Ultraschallbild werfen, aber der eine der Beamten, eine Frau, packte ihn wieder am Arm und schob ihn durch eine schmale Tür.

In dem Raum standen nur ein Tisch und zwei an den Breitseiten angeordnete Stühle. An einer Wand befand sich ein großer Spiegel; Robin nahm an, dass es eine halbdurchlässige Scheibe war, durch die man ihn beobachtete.

Robin blieb hinter einem der Stühle stehen. Während er wartete, ließ er sich alle möglichen Ereignisse der letzten Tage durch den Kopf gehen – auf der Suche nach einem Hinweis für den Grund dieser Überprüfung –, aber es fiel ihm nichts ein. Es dauerte ziemlich lange, bis er ein Geräusch an der Tür hörte. Sie öffnete sich, und ein kleiner, rundlicher Mann mit einer DigiBox unterm Arm kam herein. Er trat auf Robin zu und schüttelte ihm die Hand. »Setzen Sie sich doch!«

Dieser unerwartet freundliche Empfang verunsicherte Robin mehr, als wenn ihn jemand angeschrien hätte, doch er folgte der Aufforderung.

»Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten«, bat der Mann. Er hatte ein weiches, rundes Gesicht. »Hoffentlich hat man Sie höflich behandelt. Diese unteren Chargen sind manchmal ein wenig rau.«

»Nein, nein«, antwortete Robin, »es ist alles in Ordnung. Doch warum hat man mich festgenommen?«

»Ich bin Intendant Gorosch, Sicherheitsdienst«, erklärte der Mann und ließ sich in den freien Stuhl sinken. »Sie sind doch nicht festgenommen! Nur eine Routineüberprüfung.«

Robin glaubte ihm nicht – der Name »Gorosch« war im Haus bekannt: der Leiter des Sicherheitsdienstes, über dessen harte Art des Eingreifens einige Geschichten in Umlauf waren. Er hatte sich Gorosch etwas anders vorgestellt.

»Und warum gerade bei mir?«, fragte Robin.

»Das wird nicht von uns bestimmt: eine Stichprobe, Auswahl nach dem Zufallsprinzip. Und dennoch – es bewährt sich. Was glauben Sie, wie oft wir dabei auf interessante Dinge stoßen.« Der Security-Beamte lächelte freundlich und ein wenig stolz. Er klappte den Deckel seiner DigiBox auf und richtete den Blick auf den Bildschirm, den Robin von seinem Standort aus nicht sehen konnte.

»Ich zweifle nicht daran, dass bei Ihnen alles in Ordnung ist«, bemerkte Gorosch. »Trotzdem muss ich natürlich alle Punkte durchgehen, und ich wäre dankbar, wenn wir das reibungslos und schnell abwickeln könnten – umso rascher kommen Sie zu Ihrer wohlverdienten Freizeit.« Er hob seinen Induktionsstift und schien irgendetwas auf dem Screen zu markieren.

»Bitte, Ihren vollen Namen.«

Was blieb Robin anderes übrig, als das Spiel mitzuspielen. »Robin Sebastian Landt.«

»Alter?«

»Sechsunddreißig.«

»Ist Blond Ihre natürliche Haarfarbe?« Gorosch deutete auf Robins Kopf.

»Ja.«

»Und die Farbe der Iris?«

»Graublau, ungefärbt.«

Der Beamte hantierte mit dem Stift auf seinem Bildschirm. »Diese Werte stimmen überein …«, murmelte er. Dann blickte er wieder auf.

»Besondere Kennzeichen?«

»Keine«, antwortete Robin. Er hatte keine Lust, auf seinen Haarwirbel am Hinterkopf oder auf sein Muttermal am Rücken hinzuweisen.

Die Befragung konzentrierte sich jetzt auf persönliche Daten.

Robin gab an, dass er von anonymen Eltern abstammte, in einem staatlich zugelassenen Heim aufgezogen worden war und dann die übliche Standard-Ausbildung mitgemacht hatte. Er berichtete, dass er Single-Status hatte, nannte seine bisherigen temporären Bezugspersonen und erwähnte, dass ihm von einer illegalen Schwängerung nichts bekannt war. Dann richteten sich die Fragen auf seine Tätigkeit in der Behörde, wobei es vor allem um seine Einschätzung der neuen digitalisierten Methode der Rechtsprechung ging. Im Übrigen war er damit durchaus einverstanden: Die früher von Menschen gefällten Urteile waren willkürlich und oft genug falsch gewesen, so dass die Übergabe der Justiz an das weltumspannende AI-System Platon jedem rechtsbewussten Menschen wünschenswert erscheinen musste.

Robin vermutete, dass es bei der Überprüfung genau um diese Thematik ging; er hatte schon von solchen Gesinnungsanalysen gehört und wusste, dass er sich da keinen Fehler leisten durfte. Aber anscheinend war er gut durchgekommen. Als sich die Fragen auf seine Tätigkeit im Einzelnen bezogen, hatte er keine Bedenken mehr und konnte den weiteren Ablauf gelassen über sich ergehen lassen. Im Übrigen verhielt sich Gorosch bemerkenswert freundlich – von seiner sprichwörtlichen Härte war nichts zu bemerken.

Gorosch kam nun zu den Fragen der Kooperation mit Kollegen und ging die Telefongespräche durch, die Robin an diesem Tag geführt hatte. In einigen Fällen ließ er mitgeschnittene Aufnahmen ablaufen und erkundigte sich nach den Hintergründen dieser und jener Aussagen. Endlich kam er zum letzten Gespräch – es war jenes mit dem Zimmernachbarn Angelos, was Robin wieder etwas beunruhigte, denn man konnte es als Privatgespräch auffassen, und er hatte nicht damit gerechnet, dass seine Unterhaltungen am Telefon aufgezeichnet wurden. Er berichtete von den missglückten Versuchen, Angelo zu erreichen, zog sich aber dann geschickt aus der Affäre, indem er angab, dass er diesen nach einem Anleitungs-Script aus ihrer gemeinsamen Unterrichtszeit hätte fragen wollen.

Gorosch blickte ihn über den Rand des Bildschirmrahmens hinweg an und lächelte sanft. »Und das war’s dann auch schon«, verkündete er. Wieder reichte er Robin die Hand und trat dann zur Tür, die sich selbsttätig öffnete. Ohne sich umzusehen, verließ Gorosch den Raum. Draußen standen die beiden uniformierten Beamten, denen er einen Speicherchip überreichte.

»Der Mann kann gehen«, sagte er und winkte Robin noch einmal zu. Einer der Beamten geleitete Robin hinaus, in den Raum hinter der Sperre. Robin verließ ungehindert das Gebäude.

Jetzt, am Abend, war es tatsächlich unangenehm kühl, und Robin zog den Mantel an. Er beschloss, den Weg zu seinem Apartment zu Fuß zurückzulegen, und machte sich mit eiligen Schritten auf den Weg.

Natürlich ging ihm das Gespräch mit Gorosch durch den Kopf. Er hatte solche Überprüfungen schon einige Male über sich ergehen lassen, aber diesmal war sein Gesprächspartner doch ein wenig weiter gegangen als sonst. Wenn sich Robin den Verlauf noch einmal durch den Kopf gehen ließ, dann konnte er den Eindruck gewinnen, dass die Fragen systematisch auf sein letztes Telefongespräch abzielten. Und dann fiel ihm eine unangenehme Möglichkeit ein: Hatte sich Angelo vielleicht etwas zuschulden kommen lassen? War er, Robin, dadurch in Verdacht geraten, dass er sich nach ihm erkundigt hatte?

Robin versuchte, diese störenden Gedanken zu vertreiben und an etwas anderes zu denken. Jetzt schenkte er der Umgebung wieder seine Aufmerksamkeit. Der Himmel über ihm war dunkelblau, nur am Westrand des Gebirgskamms erstreckte sich ein Saum aus strahlendem Orange. Es hatte seinen Grund, dass die Behörde diesen Ort im alpinen Raum für ihren Sitz gewählt hatte – er lag nicht weit von den großen europäischen Städten, war aber doch abgeschieden genug, um vor überraschenden Angriffen sicher zu sein. Mit solchen Möglichkeiten musste man rechnen, denn es gab mächtige Personengruppen, die an einer neutralen Rechtsprechung nicht interessiert waren. Die Speichereinheiten vom AI-Standard wie auch die digitalen Nano-Raster-Archive waren in tiefen Kellerschächten untergebracht, so dass sie auch durch einen schweren Bombenangriff nicht zu zerstören waren.

Robin war mit diesem Standort zufrieden. Die Landschaft mit ihren Bergschroffen und den vereisten Nordhängen war von einer wilden Schönheit. Im Winter gab es Gelegenheit zu waghalsigen Fahrten mit Düsenskis und Raketenschlitten, im Sommer konnte man mit Gleitschirmen zu Tal fahren. Bei alledem war die Sicherungstechnik so weit fortgeschritten, dass man sich kaum noch echten Gefahren aussetzte.

Robin beobachtete, wie sich das im Tal liegende Licht verdünnte. Ein silberner Nebel breitete sich aus, und fast schlagartig, wie es sonst nur in den Tropen der Fall war, brach die Dunkelheit herein, und die auf Ballonen über dem Stadtzentrum befestigten Lampen begannen zu leuchten. Allerdings weniger in den etwas abgelegenen Vierteln.

Robin war schon nahe an das einstöckige, in zwölf kleine Wohneinheiten parzellierte Haus herangekommen, in dem er sich eingemietet hatte. Mit der Fernsteuerung öffnete er das Gittertor und ging den Weg zwischen den Büschen entlang.

Gerade wollte er die erste der zur Haustür führenden Stufen betreten, da ergriffen ihn von hinten zwei kräftige Arme und legten sich ihm um Schulter und Hals, zogen ihn mit einem Ruck ins Gebüsch, und als er einen Schrei ausstoßen wollte, presste sich schon eine Hand auf seinen Mund.

»Ganz ruhig … wir kennen uns doch – ich will dir nur etwas mitteilen. Wenn du ruhig bleibst, lasse ich dich los.«

Robin versuchte zu nicken, was ihm aber in dieser Situation nur schwer gelang. Doch der Angreifer deutete seinen Versuch richtig und ließ los. Robin drehte sich um: Vor ihm stand ein hünenhafter Mann, ein wenig älter als er, mit schütterem, aber auffällig langem Haar. Das Gesicht war im Schatten der Sträucher nicht zu erkennen, doch nun trat der Fremde etwas näher an die Hausmauer heran, wo ihn das reflektierte Licht erreichte.

Ja, ging es Robin durch den Kopf, ich habe ihn schon einmal gesehen. Aber bei welcher Gelegenheit? »Was willst du von mir?«, fragte er.

»Du erkennst mich nicht? Ich bin Henrik. Wir haben heute telefoniert …«

Jetzt ging Robin ein Licht auf. Tatsächlich, es war der Kollege, dessen Gesicht er am Bildschirm gesehen hatte, als er sich nach Angelo erkundigte.

»Was fällt dir ein, mich so zu erschrecken«, sagte Robin, jetzt nicht mehr ängstlich, aber ziemlich verärgert.

Henrik trat wieder ins Dunkel und bedeutete Robin, seinem Beispiel zu folgen.

»Ich will dir Ärger ersparen«, erklärte er. »Es geht um Angelo. Ich habe mich nämlich auch einmal nach ihm erkundigt, und das hatte unangenehme Konsequenzen. Darum will ich nicht, dass mich jemand sieht.«

»Das kommt mir recht merkwürdig vor«, antwortete Robin, doch dann unterbrach er sich. »Willst du nicht zu mir hereinkommen? Ich werde das Licht über der Tür ausschalten, dann ist es dunkel, niemand kann dich erkennen.« Er hatte sich daran erinnert, dass er mit Henrik vor Jahren schon einmal in einem Fall von Scheckkartendiebstahl zusammengearbeitet hatte. Er war kooperativ und nett.

Henrik überlegte kurz. »Einverstanden.«

Wenig später saßen sie in einem Raum mit Kochnische, der einfach, aber wohnlich eingerichtet war. Robin hatte sich die Möbel aufgrund seines Psychogramms zusammenstellen lassen und war mit dem Erfolg zufrieden. Erzog die Vorhänge zu, regelte die Beleuchtung hoch und holte aus dem Eisschrank eine Flasche mit Tomatenwein, der gerade in der Werbung als besonders gesund angepriesen wurde.

»Ich muss dich noch einmal um Entschuldigung bitten«, erklärte Henrik. »Ich wollte dich möglichst schnell warnen …«

»Warum hast du nicht angerufen?«

»Gespräche, die über das öffentliche Netz geführt werden, können abgehört werden. Und schließlich haben wir uns beide verdächtig gemacht.«

Robin versuchte nicht, sein Erstaunen zu verbergen. »Wieso verdächtig …? Das verstehe ich nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte Henrik. »Aber es muss mit Angelo zusammenhängen. Er ist vom letzten Außendiensteinsatz nicht zurückgekommen, das ist jetzt schon über ein Jahr her. Vor einigen Wochen habe ich mich im Sekretariat nach ihm erkundigt. Dort konnte man mir keine Auskunft geben. Am nächsten Tag wurde ich einem strengen Verhör unterzogen.«

»Das habe ich auch schon hinter mir«, warf Robin ein und erzählte knapp, was er erlebt hatte, als er das Bürogebäude verlassen wollte.

»Also hatte ich Recht – es tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin. Aber es bestätigt meinen Verdacht, dass Angelos Verschwinden offenbar um jeden Preis geheim gehalten werden soll. Ich würde dir raten, diese Geschichte möglichst rasch zu vergessen. Wenn es nötig ist, dann wird sich die Personalabteilung sicher darum kümmern.«

Sie saßen eine Weile still beisammen und tranken Wein.

»Ich war mit Angelo nicht gerade befreundet«, sagte Henrik ein wenig später, »doch in einigen Fällen haben wir gemeinsam gearbeitet. Ich mochte ihn gern, er war immer sehr freundlich, vielleicht manchmal etwas selbstbewusst, aber ich kam gut mit ihm aus. Andererseits gibt es keinen Grund, mich zu weit aus dem Fenster zu lehnen – ich habe die Sache auf sich beruhen lassen. Trotzdem interessiert es mich, was dahintersteckt. Als du heute angerufen hast, habe ich wieder daran denken müssen. Ich dachte mir, dass du vielleicht mit ihm befreundet warst und mehr über sein Verschwinden weißt.«

»Wir haben uns in der Zeit unserer Ausbildung kennen gelernt«, sagte Robin. »Wir waren oft beisammen. Ich habe ihn ein bisschen bewundert, er war einer der Besten des Lehrgangs – und ich war stolz darauf, dass er sich mit mir abgegeben hat. Wir spielten Gruppenschach und waren in derselben Mannschaft beim Düsenski – das war damals groß in Mode. Nachher habe ich den Kontakt mit ihm verloren.«

»Aber es könnte doch sein, dass du aus dieser Zeit noch etwas weißt, was uns auf seine Spur bringen könnte …«, insistierte Henrik. »Hatte er Verwandte? War er mit einem Mädchen liiert? Vielleicht gab es auch Freunde, mit denen er weiterhin in Verbindung stand?«

Robin dachte kurz nach, dann sagte er: »Wir haben uns kaum über private Dinge unterhalten. Ich bedaure, aber ich kann dir nicht helfen.«

Sie rauchten noch eine Menthol-Zigarette, dann verabschiedete sich Henrik und ließ einen sehr nachdenklichen Robin zurück. Er hatte nicht die Absicht, ein Risiko einzugehen, aber – und dessen war er sich bewusst – jetzt war er neugierig geworden.

Загрузка...