Der zweite Tag der Geiselhaft


Der nächste Morgen. Es war ein piepsendes Geräusch vom ComSet her, das mich weckte. Ich hatte ein Alarmprogramm eingestellt, das auf die akustische Charakteristik menschlicher Stimmen eingestellt war, und tatsächlich hatte der Tag im Sitzungssaal begonnen. Wie ich zu meinem Erstaunen feststellte, war es sechs Uhr früh.

Offenbar hatte man die Gefangenen rüde geweckt, ich hörte die bellende Stimme von Rocco, der den Geiseln außer einigen Flaschen Wasser kein Zugeständnis machte. Er verweigerte ihnen ein Frühstück und gewährte auch keinen Zugang zu den Waschräumen. Nur beim Gang zur Toilette konnten sie sich am Waschbecken Hände und Gesicht notdürftig waschen. Dabei wurden sie von Soldaten bewacht. Leider spielte sich nun ein Teil des Geschehens außerhalb des Erfassungsbereichs meiner Kamera ab, so dass ich manches nur akustisch mitbekam.

So merkte ich nur an einer plötzlich einsetzenden Ruhe, dass sich die Situation verändert hatte. Es war Ezequiel, der Anführer, der eingetreten war und auch keine Zeit verschenkte.

»Seid ihr bereit zu unterschreiben?«, fragte er.

Dann die Stimme Mangalis: »Keiner von uns wird sich dem Zwang unterwerfen. Keiner wird seine Unterschrift geben. Wir protestieren noch einmal …«

Auf einmal war er still. Ich wusste nicht, was da geschehen war. Ich hörte Geräusche, Poltern, einen Schrei. Dann Schritte, der Schlag einer zufallenden Tür.

Dann wieder Ezequiel: »Wen nehmen wir uns als Ersten vor? Der alte Mann dort hinten ist besonders störrisch, aber Sie werden staunen, wie schnell er seine Meinung ändert.«

Wie ich später erfuhr, hatte man Downfield ausgewählt und trotz seiner Gegenwehr in einen Nebenraum gebracht.

Es war die blanke Angst, die nun die Stimmung im Saal beherrschte. Keine Gespräche, nur ein paar undefinierbare Laute. Kein Geräusch aus dem Nebenraum.

Wie lange dauerte die Wartezeit? Es waren nur wenige Minuten, aber sie kamen mir unerträglich lang vor.

Doch dann ging alles schnell. Jetzt bewegte sich wieder etwas auf dem Monitor. Downfield lag auf einer Trage, die zwei Soldaten hereinbrachten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt er die Hände an sein krankes Bein gepresst. Durch den Stoff der Hose sickerte Blut. Ich konnte es sehen, denn er befand sich jetzt wieder im Bereich der Kamera.

Downfield begann zu ächzen, aber er war bei Besinnung. Es war schwer zu verstehen, was er sagen wollte. »Ich habe unterschrieben … ich konnte nichts dagegen tun …«

»Sie sehen, ich bin kein Anhänger der modernen Verhörmethoden«, ließ sich Ezequiel vernehmen. »Auch die alten führen zum Ziel. Jetzt nehmt die da, eine Dame lässt man nicht warten.«

Vera Cherkoff, die frühere Sportlerin, setzte sich heftig zur Wehr, sie gab einem Soldaten einen Fußtritt in den Unterleib, der ihn außer Gefecht setzte, und zerkratzte einem anderen, der sie festzuhalten versuchte, das Gesicht. Dann aber unterlag sie der Übermacht und verschwand im Nebenraum.

Bei ihr dauerte es beunruhigend lang. Im Gegensatz zu Downfield kam sie auf ihren eigenen Füßen und aufrecht zurück, allerdings mit zerrissener Kleidung. »Diese Schweine«, sagte sie. »Ich wollte es nicht zulassen … aber es blieb mir nichts anderes übrig.« Sie setzte ein paar Worte hinzu, die wie ein russischer Fluch klangen, und ließ sich in einen der Sessel fallen.

Der nächste war Bonfrere. Nahezu 20 Minuten war er draußen gewesen, dann erschien er äußerlich unversehrt, doch sah man ihm den Schrecken an, den er erlitten hatte.

Mit tränenerstickter Stimme sagte er: »Sie wollen sich an meinen Enkelkindern vergreifen. Sie haben sie in ihre Gewalt gebracht. Wie konnte ich mich da wehren?«

Ezequiel hatte seine Liste in der Hand und musterte jene, die noch übrig geblieben waren. »Alvaro Mir, Gewerkschaften – stimmt’s?«

»Hören Sie«, sagte Mir, als der Anführer auf ihn zeigte. »Sie brauchen sich keine Mühe zu geben: Ich werde unterschreiben.« Er drehte sich zu den Kollegen um und sprach weiter, jetzt hastig und stotternd. »Ich bin natürlich nach wie vor gegen den Antrag. Diese Unterschrift hat doch keine Gültigkeit, warum soll ich mich deswegen quälen lassen …«

Alle Blicke ruhten auf ihm, einige verächtlich, einige hoffnungsfroh. Würde man sich auf diese Weise die Tortur ersparen?

Jetzt richtete sich die Aufmerksamkeit auf den Anführer, der ein triumphierendes Lächeln erkennen ließ, aber nicht gleich antwortete. Dann erklärte er: »Ich bin Soldat und kein Unmensch. Wer freiwillig unterschreibt, braucht nicht dazu gezwungen zu werden.« Dann gab er seinen Leuten den Befehl, den Mann in der Kampfjacke in den Nebenraum zu bringen. Er sträubte sich und ließ sich jammernd durch den Saal schleifen, bis die Tür hinter ihm zuschlug.

»Was meint ihr?«, fragte Olfsson mit gedämpfter Stimme. »Wenn man auf diese Weise ungeschoren davonkommt …? Es hat wirklich keinen Sinn, sich zu wehren. Seien wir ehrlich – am Ende unterschreibt doch jeder.«

»Warten wir ab, was Alvaro berichtet«, schlug Hawk vor. »Wenn man ihm nichts antut, dann sollten wir seinem Beispiel folgen.«

Sie brauchten nicht länger zu warten. Alvaro Mir erschien an der Tür und ging, von zwei Soldaten eskortiert, zu den anderen zurück. Die Erleichterung war ihm anzusehen, und später bestätigte er, dass ihm niemand etwas Böses angetan hatte.

Mangali teilte dem Anführer mit, dass nun gegen die Abgabe der Unterschrift keine Bedenken mehr bestünden. Und so suchten jene, die noch nicht an der Reihe gewesen waren, nacheinander den Nebenraum auf, ließen sich das Protokoll vorlegen und setzten ihren Namen darunter.

Hawk, der der Letzte war, erkundigte sich, ob sie nun wieder freigelassen würden, doch Ezequiel antwortete, dass zuvor noch etwas Wichtiges zu erledigen sei. Doch als Belohnung für die erfolgreiche Zusammenarbeit würde nun ein Mittagessen vorbereitet.

Damit schien sich die Situation etwas entspannt zu haben, und mein Eindruck war, dass die Delegierten in ihrer Erleichterung über die doch noch einigermaßen glimpflich überstandene Situation etwas zu weit gingen. Die Geiselnehmer konnten doch nicht annehmen, dass von ihrer Aktion nichts an die Öffentlichkeit dringen würde. Aber wie wollten sie verhindern, dass die Gefangenen später alles offen legten?

Aus meinen Grübeleien riss mich ein Anruf Ellens – eigentlich recht ungewöhnlich um diese Zeit. Sie fasste sich auch kurz und teilte mir mit, dass unsere Isolationshaft offenbar zu Ende war. Denn von denselben Leuten, die sie seinerzeit verhängt hatten, war nun die Anweisung gekommen, für die Diplomaten ein Mittagessen vorzubereiten. So konnte sie ihre übliche Arbeit wieder aufnehmen und war damit den Rest des Tages beschäftigt. Wir vereinbarten aber, uns am Abend zu treffen.

Als ich mir den Kopfhörer wieder aufsetzte, hörte ich ein Stimmengewirr; ich musste mein semantisches Filter einsetzen, um etwas zu verstehen. Einige der Diplomaten unterhielten sich lebhaft und geradezu erleichtert, doch von jenen, die durch Misshandlungen zur Unterschrift gezwungen worden waren, gab es heftige Vorwürfe den anderen gegenüber, die sich die Sache so leicht gemacht hatten. Speziell Downfield, der sich inzwischen merklich erholt hatte, sprach von Rücksichtslosigkeit und Verrat.

Einigen Bemerkungen entnahm ich, dass der Imbiss im Sitzungssaal eingenommen werden sollte, eine Rückkehr in die Gasträume war erst für später angekündigt worden.

Da das Personal erst zusammengerufen werden musste, um Anweisungen für den Speisezettel zu bekommen, ließ die Mahlzeit lange auf sich warten. Im Übrigen hatte Ellen veranlasst, dass auch das Personal, soweit es nicht im Einsatz war, etwas von den Speisen abbekam. So klopfte auch bei mir ein Kellner und brachte mir Algenwürfel aus der Dose, Brötchen, Endiviensalat, roten Spargel sowie einige Süßigkeiten zum Kaffee.

Nach dem Essen saß ich wieder am ComSet und kam gerade rechtzeitig, um Ezequiel zu sehen und zu hören, der mitteilte, was in den nächsten Tagen noch zu erledigen sei.

»Sie werden sicher verstehen, dass wir das zwischen uns bestehende Einvernehmen noch dokumentieren müssen. Sie müssen also noch für ein paar Filmaufnahmen zur Verfügung stehen. Ihre Weisheit und Entschlusskraft sollen schließlich auch gewürdigt werden. Beispielsweise wollen wir zeigen, mit welcher Begeisterung der Antrag von Lester Hawk aufgenommen wurde. Und so weiter. Ich rechne fest damit, dass Sie uns dabei behilflich sein werden. Mit den Videoaufnahmen ist ein Fachmann betraut.« Er deutete auf einen schmächtigen Mann mit Schirmkappe und Megaphon, der aus dem Hintergrund vortrat, und mit ihm die Mitglieder eines Aufnahmeteams. »Das ist der Regisseur, Bill Balthasar, der euch fortan die Anweisungen gibt. Ihm ist ebenso zu gehorchen wie mir selbst. Ich ziehe mich nun mit meinen Leuten ein wenig in den Hintergrund zurück, aber wir sind sofort wieder da, wenn jemand übermütig wird.«

Der Regisseur schien nichts Ungewöhnliches an der Situation zu finden.

»Nehmen Sie Ihre Plätze ein –«, rief er, »so wie gestern bei der Abstimmung. Und ich bitte um Beeilung.« Wenn jemand vorgehabt hatte, sich zu widersetzen, so genügte ein Blick auf Rocco, um ihn davon abzubringen. Er hatte sich hinter die Kamera gestellt und spielte mit seinem Kampfmesser. Er warf es hoch, ließ es kreisen und fing es wieder auf, ganz auf dieses Spiel konzentriert …

Diese unerwartete Wendung verdüsterte die eben noch recht gute Stimmung der Diplomaten, die schon geglaubt hatten, nun bald wieder in die Freiheit entlassen zu werden.

Inzwischen hatten die Fernsehleute Kameras und Scheinwerfer in den Saal gebracht. Kurze Zeit danach lag heller Lichtschein über dem Auditorium, die Crew war aufnahmebereit.

»Wir halten uns nicht an die chronologische Reihenfolge«, verkündete der Regisseur. »Also konzentrieren Sie sich bitte – es geht darum, sich den gespielten Szenen entsprechend zu verhalten. Ich werde vor jedem Take erklären, worauf es ankommt. Als Erstes drehen wir jene Szene noch einmal, in der Herr Hawk seinen Antrag stellt. Es beginnt mit der Worterteilung durch Herrn Mangali, dann folgt der Auftritt von Herrn Hawk. Sobald ich die Hand hebe, wünsche ich spontanen Beifall. Besonders am Schluss seines Vortrags muss Begeisterung aufkommen. Die Einstellung dauert fünf Minuten und 20 Sekunden ohne Unterbrechung. Nachher bleiben Sie bitte auf Ihren Plätzen, denn dann müssen wir noch einige Zwischenschnitte drehen. Ich bitte die Herren Mangali und Hawk, sich bereitzuhalten. Zunächst ein Probelauf. Herr Mangali, warten sie auf die Klappe – dann können Sie beginnen.«

Die Scheinwerfer wurden auf die beiden Akteure gerichtet, und währenddessen kam auch noch eine Friseuse mit Schminke und Wattebäuschchen, die sich bemühte, den beiden ein frisches Aussehen zu geben, und sich dann auch noch darum kümmerte, bei den anderen die Spuren der rauen Behandlung zu überschminken.

Die darauf folgenden Dreharbeiten entbehrten nicht einer komischen Note. Besonders schwer fiel es den Diplomaten, die von ihnen erwartete gute Laune aufzubringen, und der Regisseur erwies sich als penibler Vertreter seines Faches, der auf jede Kleinigkeit achtete und Aufnahmen, die ihm nicht gefielen, unerbittlich wiederholen ließ.

Ich hielt es nicht für nötig, die Ereignisse im großen Saal die ganze Zeit über zu verfolgen, sondern begnügte mich mit kurzen Stichproben. Dabei konnte ich mich davon überzeugen, dass die Videoaufnahmen ohne Pause weitergingen. Da alle wesentlichen Teile der Konferenz dem veränderten Aspekt gemäß nachgestellt wurden, dehnten sich die Dreharbeiten über viele Stunden.

Gegen fünf Uhr nachmittags ertönte ein Klingelzeichen an der Tür; durch das Guckloch sah ich einen Angestellten des Hotels. Ich öffnete, und der junge Mann in der Uniform eines Pagen bat mich im Namen der Direktorin zu einer Versammlung aller Mitarbeiter in der Kantine.

Es hatten sich bereits an die dreißig Angestellte eingefunden, ich war einer der Letzten, die dort ankamen. Ich hätte erwartet, sie in lebhafter Diskussion anzutreffen, stattdessen standen sie schweigend und bedrückt herum. Erst als ich durch die Tür getreten war, erblickte ich die beiden Soldaten – wenn man sie überhaupt noch so bezeichnen konnte –, die mit erhobenen Schockpistolen rechts und links am Eingang standen. Und weiter hinten sah ich einen Herrn in Zivil an der Wand lehnen – Ezequiel, der sich wieder in Oberstleutnant Jurema zurückverwandelt hatte. Leute in Partisanenkleidung sah man nicht mehr – diese war offenbar nur für den ersten Auftritt, die Besetzung des Konferenzsaals, eingesetzt worden.

Kurze Zeit danach trat Ellen ein. »Ich habe Sie hierher gebeten, um Ihnen einige Informationen zu geben. Ich muss aber betonen, dass ich von den Ereignissen ebenso überrascht wurde wie Sie alle. Die Ursache für das Eingreifen des Sicherheitsdienstes waren mehrere Pannen bei der im Hause ablaufenden Konferenz. Inzwischen ist alles wieder in Ordnung, und die Situation hat sich so weit beruhigt, dass wir, die Belegschaft des Hotels, ab sofort wieder unserer Arbeit nachgehen können.«

Jurema schaute wie unbeteiligt vor sich hin, eine Zigarette lässig in der Hand, aber wie man aus gelegentlichen Seitenblicken erkennen konnte, hörte er sich Ellens Ausführungen aufmerksam an.

Ellen fuhr fort: »Zunächst haben wir den Betrieb der Küche wieder aufgenommen, wie auch alle Aktivitäten, die für die technischen Abläufe nötig sind. Wer damit zu tun hat, darf sich frei im Hotel bewegen. Alle anderen haben vorderhand in ihren Räumen zu bleiben und auf weitere Anweisungen zu warten. Über die Abwicklung der Arbeiten im Einzelnen werde ich mit den zuständigen Fachkräften sprechen. Im Übrigen hat der Sicherheitsdienst die Leitung übernommen, den Anordnungen der Milizen ist unbedingt Folge zu leisten. Aktuelle Anweisungen werden stündlich über das Hausfernsehen ausgegeben; sie zu verfolgen ist Pflicht.«

Ellen warf Jurema einen Blick zu, und dieser antwortete mit einem unauffälligen Nicken.

»Die Besprechung ist beendet. Ich werde anschließend die Anweisungen für die einzelnen Abteilungen ausgeben. Ich bitte den Küchenchef und den Cheftechniker zur Besprechung zu mir ins Büro. Außerdem brauche ich auch noch meinen Assistenten Sylvan Caretti.«

Wir gingen schweigend an Jurema vorbei. Zwei Minuten später waren wir in ihrem Büro. Ellen wies auf die Sitzgelegenheiten und unterhielt sich zuerst mit dem Gastronomen über den Speiseplan und die Vorräte, sodann mit dem Betriebsingenieur über Fragen der Heizung und der Stromversorgung. Diese Gespräche waren rasch beendet, und damit waren die beiden Bediensteten entlassen.

Ellen verschloss hinter ihnen die Tür, dann war sie mit ihrer Beherrschung am Ende. Sie kam auf mich zu, legte mir die Arme auf die Schultern und zog mich an sich.

»Ich habe solche Angst«, sagte sie.

Ich spürte ihre Tränen. Und ich spürte ihre Schwäche. War das die beherrschte Frau, als die ich sie kennen gelernt hatte? Was war geschehen? Ich legte die Hände an Ellens Schläfen und schob ihren Kopf ein wenig zurück, so dass ich ihr Gesicht sehen konnte. Dann sagte ich: »Warum hast du Angst? Bitte, erzähl mir, was ist passiert?«

Ellen brauchte ein bisschen Zeit, ehe sie sprechen konnte. »Kurz nach Mittag … da habe ich es bemerkt. Zuerst ist mir der Geruch aufgefallen. Normalerweise ist die Luft, die aus der Klimaanlage kommt, frisch und rein. Doch da war auf einmal ein leichter Petroleumgeruch im Haus. Riechst du es nicht?«

Jetzt, da sie mich darauf aufmerksam machte, roch ich es auch … ganz leicht … oder spielte mir meine Phantasie einen Streich? Ich war mir nicht sicher.

Ellen sah mir meine Zweifel an.

»Ich irre mich nicht«, sagte sie mit etwas festerer Stimme. »Ich war an einem Fenster im Obergeschoss … ich habe hinausgeschaut. Und da sah ich die Pumpen, die jetzt eigentlich still stehen sollten, in Bewegung. Das kommt nur vor, wenn eine Probebohrung im Gang ist. Aber davon weiß ich nichts.«

Die Ölpumpen in Funktion … War das die Aufgabe jenes Bautrupps gewesen, auf den ich bei meinem Erkundungsgang ins Freie gestoßen war? War es ein Grund zur Besorgnis? Warum machte es Ellen solche Angst?

»Ich habe noch etwas gesehen. Sie haben das Öl nicht in den Tank fließen lassen, wo es hingehört, sondern in das Schwimmbecken für die Hotelgäste. Es war schon halb voll.«

»Das ist doch aberwitzig«, sagte ich. »Was hat es zu bedeuten?«

Ellen zitterte, und ich führte sie zu einer in der Ecke stehenden Couch. Wir setzten uns und hielten uns an den Händen.

»Das ist es ja gerade, was mich so unruhig macht. Diese Unsicherheit …« Sie löste ihre Hand aus meiner und machte eine unbestimmte Bewegung. Sie atmete, als bekäme sie keine Luft – mit schnell aufeinander folgenden Atemzügen. »Dieser Geruch macht mich ganz verrückt. Das Öl … Es hängt irgendwie zusammen … mit alldem … Ich weiß nicht, was es für eine Bedeutung hat, aber es kann nur etwas Schlimmes sein.«

Jetzt konnte ich ihre Verzweiflung auf einmal nachvollziehen. Ihre Angst hatte mich angesteckt. Trotzdem versuchte ich, beruhigend auf Ellen einzureden – mit recht geringem Erfolg. Stattdessen überkam allmählich auch mich immer stärker dieses unerklärliche und quälende Gefühl der Unruhe, eine Vorahnung von drohendem Unheil.

Ich glaubte selbst nicht an das, was ich da zu ihr sagte … Aber Worte waren wohl auch nicht das, was sie brauchte. Dass wir in dieser Stunde, als ihre Nerven versagten, zusammen sein konnten, war ein Glücksfall – für uns beide.

Still saßen wir zusammen, dicht aneinander geschmiegt …

Ellen war es, die sich als Erste besann. Sie blickte auf die Uhr und sagte: »Wir müssen uns zusammennehmen. Es ist schon spät. Ich nehme an, du hast noch einiges zu tun.«

Ich hatte einiges zu tun. Richtig, durch die Ereignisse der letzten Zeit hatte meine Dokumentation erst eine entscheidende Bedeutung gewonnen. Ich empfand es fast als Schuld: für eine kurze Weile hatte ich es vergessen.

Ich zog Ellen noch einmal an mich, dann machte ich mich auf den Weg zu meinem Zimmer. Die Gänge waren leer.


Dienstag, 6. Mai

Die überraschende Befreiung Jans und die aufwühlenden Stunden danach – es war ein langer und aufregender Tag gewesen. Als Robin am nächsten Morgen aufwachte, war es schon spät, und Fay schlief noch fest. Ihr Haar kitzelte ihn an der Wange, und er strich sanft darüber. Sie hatte sich als zärtlich und leidenschaftlich zugleich erwiesen. Trotzdem musste Robin an Michèle denken – seltsam: Noch nie hatte er so große Sehnsucht nach ihr gehabt wie gerade jetzt.

Robin stand leise auf, um Fay nicht zu wecken, und bereitete ein Frühstück. Als sie wenig später am Tisch saßen, waren sie beide ein wenig schweigsam und kamen nicht mehr auf die Erlebnisse der Nacht zurück. Beide waren sich im Klaren darüber, dass es jetzt noch etwas Heikles zu besprechen gab. Sie räumten den Tisch auf, dann ließ sich die Auseinandersetzung nicht mehr verschieben.

Es war Fay, die das Gespräch begann. »Ich weiß nicht, warum du mir geholfen hast. Aber ich danke dir dafür«, sagte sie. »Ich war wohl etwas zu leichtsinnig.«

»Du brauchst mir nicht zu danken, es war nicht ganz selbstlos. Es geht um eine Aufgabe, die ich lösen soll, und ich hoffe sehr, dass auch du mir nun behilflich sein willst. Damit hilfst du natürlich auch dem Gerichtshof – und dann ist es vielleicht möglich, die Anklage gegen dich fallen zu lassen.«

»Was soll ich tun?«

»Am besten, du erzählst mir nun einmal ganz offen, was du angestellt hast. Die Story mit dem Journalisten kann doch nicht stimmen.«

»Sie stimmt schon, denn so hat es angefangen. Doch du hast natürlich Recht, später habe ich gemerkt, dass da etwas anderes dahintersteckt, und trotzdem habe ich weitergemacht. Der angebliche Journalist teilte mir mit, dass die Redaktion mit meinen Unterlagen sehr zufrieden gewesen sei. Er bezahlte gut und gab mir gleich einen neuen Auftrag.«

»Um welche Themen ging es denn?«

»Zuerst nur um die Arbeitsweise der Behörde und um die Organisation. Besonders interessierte er sich für einige Leute aus der Führungsspitze – mit welchen Arbeiten sie beschäftigt sind und so weiter. Dann verlangte er von mir Material über aktuelle Einsätze des Werkschutzes. Und schließlich sollte ich etwas über ein geheimes Projekt herausfinden, das im Rahmen der Internationalen Konferenz geplant sei – jene, die vor Kurzem begonnen hat.«

»Was weißt du darüber?«

»Es ging um eine Ermittlung, die ein gewisses Fingerspitzengefühl erforderte. Angeblich wollten zwei Agenten des Gerichtshofs die Absichten der Delegierten ausspionieren, ob sie bestechlich waren, ob sie sich etwas hatten zuschulden kommen lassen und dadurch erpressbar geworden waren und so weiter. Ich sollte Näheres darüber in Erfahrung bringen. Doch damit wollte ich nichts zu tun haben. Als ich mich weigerte, teilte mir der Verbindungsmann mit, dass er im Auftrag des Internationalen Gerichtshofs arbeitete und dass es um Intrigen innerhalb der Behörde ginge. Meine Arbeit könnte dazu beitragen, Schlimmeres zu verhindern. Doch mir erschien diese Sache zu riskant, und ich blieb bei meiner Weigerung.«

Fay machte eine kurze Pause, und Robin wartete geduldig. Aus dem Eisschrank holte er eine Flasche Mineralwasser und schenkte zwei Gläser voll.

Fay trank und fuhr dann fort: »Ich glaube, jetzt wird es für dich interessant. Am nächsten Tag, nach dem Mittagessen, als ich in mein Arbeitszimmer zurückkehren wollte, hielt mich ein Mann des Sicherheitsdienstes auf und sagte, sein Vorgesetzter wolle mich sprechen. Er führte mich in ein großes, aber spartanisch eingerichtetes Zimmer, in dem nur eine mannshohe Projektionsfläche in Kugelform auffiel. Darauf war eine Weltkugel zu sehen, auf die von innen Linien und Netze projiziert wurden.

Der Mann am Schreibtisch, der nur kurz aufsah, als ich hereinkam, war Gorosch, der Leiter der Security-Abteilung. Mein Begleiter verließ den Raum, und ich wartete eine Weile, bis sich Gorosch aufrichtete und mich längere Zeit schweigend musterte.

Dann sagte er: ›Ich habe eine Sonderaufgabe für dich. Du bekommst eine Extraprämie dafür, doch du bist zu absoluter Geheimhaltung verpflichtet. Wir werden hier im Haus keinen Kontakt mehr aufnehmen. Wenn ich dich brauche, bekommst du eine Anweisung von meinem Mitarbeiter, der sich als Journalist ausgegeben hat. Er wird sich schon bald melden. Du kannst gehen‹.«

Da Fay wieder schwieg, forderte Robin sie auf, weiterzureden. »Und dann hat er dich rufen lassen?«

»Man hat mich in einem fensterlosen Wagen in sein Haus gebracht. Es liegt etwas abseits an einem Berghang …«

»Was hast du dort erfahren?«

»Ich war bisher acht- oder zehnmal dort. Ich bekam Anweisungen. Als Volontärin arbeitet man zeitweise in verschiedenen Abteilungen, und das sollte auch so weitergehen. Aber von jetzt an musste ich dort, wo man mich gerade hingeschickt hatte, bestimmte Informationen sammeln. In einer Abteilung musste ich den Chef beobachten, seine Kontaktpersonen notieren und seine Gespräche mitschneiden. In einer anderen ging es um Verschlüsselungsmaßnahmen, ich versuchte, die Codes und Passwörter herauszufinden …«

»… und was solltest du auskundschaften, als du bei mir gearbeitet hast?«

Fay blickte Robin ein wenig verlegen an, dann sagte sie: »Ich sollte herausfinden, ob du Verbindung mit einigen früheren Kollegen aus der Zeit der Schulung hast – vor allem sollte ich deren Aufenthaltsort ermitteln.«

»Und hast du etwas herausgefunden?«, fragte Robin.

»Nur einige alte Geschichten aus deiner Schulungszeit. In diesem Fall war Gorosch nicht sehr zufrieden mit mir.«

Robin suchte Fays Blick, aber sie schaute zu Boden. Schon während Fays Erklärungen hatte sich Robin gefragt, ob Fay wirklich so offen war, wie es den Anschein hatte. Warum hatte sie sich auf diese bedenkliche Zusammenarbeit eingelassen? Nur, weil sie etwas hinzuverdienen wollte? Oder hatten sie ihre Auftraggeber mit dem Hinweis auf ein gutes Werk, für das man sie brauchte, bei der Stange gehalten? Er kannte sie zu wenig, um das zu beurteilen, und war sich deshalb noch längst nicht darüber im Klaren, wie er sie am besten zur Zusammenarbeit bringen könnte und ob er ihr vertrauen durfte.

Und nun, als es um die Frage ging, ob sie auch Robin ausspioniert hatte, hatte sie natürlich noch eher Grund dafür, ihr Verhalten zu beschönigen. Selbst wenn sie bisher bei der Wahrheit geblieben war – hatte sie vielleicht doch etwas über Robins Interesse an Angelo herausgefunden – und weitergegeben?

Robin ließ sich seine Zweifel nicht anmerken und ermunterte Fay, weiterzusprechen.

»Solltest du dich um die Arbeit kümmern, mit der wir damals beschäftigt waren?«

Fay schüttete den Kopf. »Nein, diese Suche nach langweiligen Daten kam mir recht unwichtig vor. Inzwischen weiß ich es besser, denn bei einer ähnlichen Aktion bin ich ja dann selbst in euer Netz geraten. Habe ich Recht?«

Robin sagte weder ja noch nein, aber die Art, wie er lächelte, konnte Fay als Bestätigung ihrer Vermutung nehmen.

Er versuchte noch eine Weile, weitere Einzelheiten zu erfahren, doch ohne Erfolg. Aber darauf kam es ja gar nicht so sehr an, wichtiger war, dass ihm Fay bei der Aktion helfen konnte, die er sich ausgedacht hatte.

Fay hatte bemerkt, dass er bei ihren letzten Worten nicht mehr so recht bei der Sache war, und darum brach sie ihren Redefluss ab und kam gleich auf den wesentlichen Punkt: »Wie auch immer du über mich denkst, so kannst du dich darauf verlassen: Ich will dir helfen.«

»Ich werde dir nun etwas darüber sagen, worum es geht«, kündigte er an und erzählte ihr ein wenig über den Verdacht, dass illegale Kräfte möglicherweise Einfluss auf die Internationale Konferenz nehmen könnten. »Wir wissen eben nicht, auf welche Weise Einfluss genommen werden soll, aber es besteht durchaus die Möglichkeit, dass sich daraus Gefahren für die Teilnehmer ergeben. Und darum ist es so wichtig, dass wir Informationen darüber bekommen.«

Fay zog die Stirn in Falten, es war ihr anzusehen, dass sie sich verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf gehen ließ.

»Du hattest Verbindung mit einem einflussreichen Vertreter der Gegenseite, mit Gorosch. Wir haben ihn im Verdacht, an der Planung einer Verschwörung beteiligt zu sein. Im Moment befindet er sich mit den anderen im Gefängnis und wird verhört.«

»Was kann ich tun?«

»Du hast sein Haus von innen kennen gelernt. Wir haben es bereits durchsucht – und nichts gefunden. Aber es muss doch irgendetwas geben: Dokumente, Mitschnitte, Notizen. Vielleicht hast du eine Ahnung, wo wir suchen könnten?«

Fay verzog das Gesicht, als kostete sie das Nachdenken einige Anstrengung. Nach einer Weile sagte sie: »Ich hab’ eine Beobachtung gemacht … sie könnte dir nützlich sein. Einmal, als ich wieder zu Gorosch gebracht wurde, kamen wir zu früh an und mussten warten. Da war ich neugierig und versuchte, das abgedunkelte Fenster einen Spalt breit zu öffnen.«

Sie unterbrach ihre Schilderung und nahm einige kleine Schlucke vom Mineralwasser. Robin merkte, dass sie ihn heimlich beobachtete, und lächelte darüber, dass Fay selbst in dieser Situation nicht vergaß, ihre Erzählung noch etwas spannender zu machen.

»Es ist dir vermutlich gelungen. Also – was hast du beobachtet?«

»Ich sah Gorosch mit einer Mappe im Garten. Er kam von der Seite, vom Berghang – aus einer Richtung, wo es außer ein paar Felsen, Grasbüscheln und Gestrüpp nichts gab.«

»Und was hat das zu bedeuten?« Robin hatte schon eine Vermutung, doch er wollte Fays Ansicht hören.

Sie sah ihn triumphierend an: »Es bedeutet, dass Gorosch dort oben, zwischen den Felsen, ein Versteck hat. Habt ihr davon bei eurer Untersuchung nichts bemerkt?«

Bisher hatte Robin keine große Hoffnung gehabt, aber nun war er plötzlich hellwach und tatendurstig. »Du bist eine gute Beobachterin«, sagte er. »Wir werden der Sache nachgehen, und du kommst mit.«

»Wann geht es los?«

»Wir brauchen noch ein bisschen Zeit zur Vorbereitung. Doch es wird nicht lange dauern.«

»Und wann bin ich wieder frei?«

»Wenn wir Erfolg haben, sind dir die Entlassungspapiere sicher«, antwortete Robin. Und er ließ es sich gefallen, dass Fay zu ihm trat und ihn küsste.

Загрузка...