Zurück zur Eisinsel


Die Richtung war kaum zu verfehlen, und wenn ich wirklich einmal vom Weg abgekommen war, brauchte ich nicht lange zu suchen, um meine eigenen Spuren zu finden, denen ich folgen konnte – so stellte ich es mir zumindest am Beginn meines Weges vor.

In den nächsten zwei Stunden ging alles gut. Erst als sich die Sonne unter den Horizont senkte, wurde es beschwerlich. Von der Leuchtkraft her erwies sich meine Lampe durchaus als ausreichend, aber ihre Position auf meinem Helm brachte es mit sich, dass ich die von ihr beleuchteten Eispartien als schattenlose Masse wahrnahm, und das erschwerte es gewaltig, auf der optimalen Route zu bleiben. Immer wieder geriet ich mehrere Schritte weit in Sackgassen und musste dann umkehren, um einen erneuten Anlauf zu versuchen. Mit Schrecken stellte ich fest, dass die Zeit rasend schnell verging.

Besonders schwierig wurde es dann in jenem Wegstück mit den stark wechselnden Höhenunterschieden, wo ich zu kleineren Klettereien gezwungen war. Und als ich endlich über den Kamm hinweggekommen war, schlug mir ein Wind entgegen, den ich zunächst als angenehm warm empfand, doch er wehte mit solcher Kraft, dass er durch Mark und Bein drang. Zwar hätte ich die Isolation noch erheblich erhöhen können: Mein Anzug war mit einer Kapsel mit komprimiertem Argon ausgerüstet, ich hätte sie öffnen können, um das wärmedämmende Gas in die dafür vorgesehenen Poren zu pressen, aber dadurch hätte die Kleidung ihre Elastizität verloren, und das hätte jede Bewegung doppelt beschwerlich gemacht. So nahm ich die Kälte auf mich, um schneller weiterzukommen.

Aber bald war von einem schnellen Vorwärtskommen keine Rede mehr. Als hätten sich die bösen Geister gegen mich verschworen, wehte mir der Sturm auch noch Schnee entgegen. Eisgrus schlug mir ins Gesicht und setzte sich überdies am Schutzglas meiner Lampe an, so dass die Beleuchtung wiederholt ausfiel, und dann musste ich stehen bleiben, um die zähe Schicht abzukratzen. Allmählich nahmen meine Kräfte ab – jetzt machte sich doch bemerkbar, dass ich nun schon 14 Stunden ohne nennenswerte Rast unterwegs war.

Die Situation erforderte den Einsatz der letzten Energiereserven, und bald fehlte mir selbst die Kraft, vor mich hin zu fluchen. Ich kämpfte roboterhaft, immer nur auf den nächsten Schritt bedacht … ich glich wohl mehr einem Automaten als einem denkenden Menschen.

Dann war es wie ein Erwachen: Über mir ein grauer, aber nicht mehr so dunkler Himmel – das Schneetreiben hatte ausgesetzt. Vor mir wie auf einer Bühne die schwarzgrüne Scheibe des Eissees, und in der Mitte das Hotel – immer noch ein Bollwerk der Zivilisation in dieser naturhaften Umgebung und glücklicherweise unversehrt – noch schien nicht eingetreten zu sein, was Robin angedeutet hatte, und ich spürte einen Anflug von Erleichterung. Wer war dieser Robin? Es gab da eine vage Erinnerung …

Als ich den Durchgang im Stacheldraht erreicht hatte, blieb ich einen Augenblick lang stehen. Ich blickte auf die Uhr und stellte betroffen fest, wie spät es geworden war: gerade noch eine halbe Stunde bis zur angekündigten Katastrophe.

Trotz meiner Müdigkeit begann ich zu laufen. Es ging leicht bergab, und das linderte die Anstrengung ein wenig, andererseits musste ich einsehen, dass ich meine Fähigkeit zur schnellen Reaktion eingebüßt hatte. Ich setzte die Füße nicht mehr präzise auf dem Boden auf und glitt mehrmals aus. Meist konnte ich gerade noch das Gleichgewicht halten, aber einmal schlug ich einfach der Länge nach hin – wobei ich glücklicherweise keinen Schmerz spürte und am liebsten liegen geblieben wäre.

Trotz allem kam ich schließlich am Ufer an, da war das Bootshaus, daneben der Metallsteg mit dem heftig schaukelnden Boot. Ich stieg ein und wäre dabei fast über den Rand gekippt. Ich ließ mich auf dem Sitzbrett nieder und warf den Motor an. Das Boot setzte sich in Bewegung, und ich versuchte die Fahrt in Richtung auf das Hotel auszurichten. Das erwies sich aber als überraschend schwer, denn der Wind kam genau von vorn, und er trieb mir Wellen entgegen, die Wasser ins Innere schwappen ließen. Und die Fahrt wurde langsamer.

Es war ein Rennen gegen die erbarmungslos zuschlagenden Naturgewalten, und es war ein Rennen gegen die Zeit. Vergeblich versuchte ich den kürzesten Weg einzuhalten, immer wieder wurde ich abgedrängt.

Es war ein Rennen, das ich verlor.

Ich sah, dass sich die Zahlen auf meiner Uhr dem angegebenen Termin näherten, und immer noch befand ich mich weit von der Insel entfernt. Obwohl ich etwas Unheilvolles erwartete, kam das Unfassbare dann völlig überraschend: Direkt vor mir blähte sich plötzlich ein Feuerball auf, Sekunden später folgte der Donnerschlag, und dann sah ich nur noch eine in den Himmel steigende und sich über die Umgebung ausbreitende kohlschwarze Wolke.

Von da an gab es nichts mehr zu denken, ich vermochte nur noch reflexhaft zu reagieren: Das Boot wurde von einem gewaltigen Stoß erfasst, er kam von einer meterhohen Welle – ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war, ich flog in die Höhe, war von Wassermassen, Gischt und schwarzem Rauch umgeben, kämpfte darum, wieder Atem holen zu können, suchte nach Halt, der nirgends zu finden war … Und schließlich trieb ich im Wasser, und ich merkte, dass ich Schwimmbewegungen machte, Reflexe, die mich an der Oberfläche hielten. Ein wenig später war das Ärgste vorbei, ich schwamm, bewegte mich vom Herd der Explosion fort.

Dann fiel mir wieder ein, worum es ging, und ich blickte mich um: Dort, wo früher die Bauten der Eisinsel gewesen waren, schlugen nun Flammen empor, aus denen sich Massen von schwarzem Rauch lösten, die die Umgebung verdunkelten.

Erst jetzt begriff ich, dass das Hotel zerstört war, der Bohrturm in sich zusammengestürzt, die Plattform verschwunden. Und dass alle Menschen, die sich dort drüben, im Zentrum des Infernos, aufgehalten hatten, zu Tode gekommen waren.

Ich schwamm automatisch weiter, und schließlich – ich war noch ein ganzes Stück vom Ufer des Eissees entfernt – kam der Augenblick, der auch mein Ende besiegelte: Ich hatte alle Kraft verloren, die Ermattung übermannte mich, ich ließ mich treiben, drohte zu versinken. In einem kurzen lichten Moment griff ich in die Hüfttasche meines Overalls, wo sich unter einer dünnen Stoffschicht der Hebel befand, mit dem sich der Anzug aufpumpen ließ. Es sollte der Wärmespeicherung dienen, doch – und daran hatte ich gar nicht gedacht – es verwandelte meine Jacke gleichzeitig in eine Schwimmweste, die mich vor dem Untergehen bewahrte.

Ich hatte die Augen geschlossen, sah nichts mehr – wollte nichts mehr sehen. Ich bewegte mich nicht, nur der Wellengang hob mich immer wieder hoch empor und ließ mich fallen.

Ich weiß noch, dass ich keine Kälte mehr spürte, allenfalls eine angenehme Müdigkeit. Von meinem Bewusstsein war nur noch ein winziger Rest erhalten – ich hoffte nichts, und ich fürchtete nichts. Meine Gedanken irrten in unbestimmten Räumen umher, und ich empfand diese neue Umgebung als angenehm, frei von Furcht und Schmerz. Und dann, als der Aufruhr nachgelassen hatte und mich das arktische Wasser sanft schaukelte, war mein Bewusstsein erloschen.


Samstag, 10. Mai

Eine Forschungsstation am Rande der Arktis und Wissenschaftler, die ein U-Boot für eine Unterquerung des Eises zur Verfügung hatten! Das war der erste Hoffnungsschimmer nach einer Periode von Enttäuschungen, und er aktivierte neue Energiereserven in Robin.

Jetzt kam es darauf an, mit der genannten Forschergruppe Kontakt aufzunehmen und sie dazu zu bewegen, Robin auf dem Weg unter dem Eis zur Bohrinsel zu bringen und dort abzusetzen.

Was nun folgte, war nur Routine, doch es kostete trotzdem kostbare Zeit. Zuerst – es war drei Uhr früh – ließ Robin Vladimir Trov wecken, und der verlor kein unnützes Wort, sondern erteilte Robin sofort die nötigen Vollmachten. Nun galt es, den Leiter der Forschungsgruppe zu finden, den er um Hilfe bitten konnte. Er musste erklären, wer er, Robin, war und für welche Behörde er arbeitete, und er musste den aktuellen Fall schildern, bei dem es um die Rettung von Menschenleben ging. Dann aber – er konnte es kaum glauben – hatte er das alles erfolgreich hinter sich gebracht. Er erreichte, dass ihm ein Düsenjet seiner Dienststelle zur Verfügung gestellt wurde, und er flog ohne Zeitverlust los.

Robin bekam nichts von der unter ihm dahingleitenden Landschaft mit, und selbst den wundervollen Anblick der Berge und Gletscher nahm er kaum wahr. Er brachte es nicht über sich, die Zeit ungenutzt vergehen zu lassen. So beschaffte er sich während des Fluges über sein MobilSet Informationen über die geographischen Verhältnisse im fraglichen Gebiet, die für ihn ein Buch mit sieben Siegeln waren. Er erfuhr, dass es im zentralen Bereich der Arktis kein Festland gab und dass die Eisregion des Nordpols kein Kontinent war, sondern eine Ansammlung im Wasser schwimmender Eisblöcke, darunter solche von mehr als 100 Kilometern Durchmesser.

Es gab sogar Angaben über den Bohrturm und das Globe-Hotel. Die Insel befand sich inmitten eines der größten, langsam dahintreibenden Eismassive. Sie war durch eine künstlich induzierte Kernreaktion mit Hilfe kurzlebiger Isotope in die Eisdecke geschmolzen worden. Dabei ging es um die Suche nach Erdöl: Die Scholle befand sich nämlich über einer Gegend der unterseeischen arktischen Schichten, in denen man Erdöl vermutete, und würde nach den Berechnungen der Geologen in den nächsten Jahren weiter über erdölführende Schichten driften. Die künstliche Insel wanderte mit, wobei der Bohrturm durch eine berührungslose Verankerung auf der Basis elektronischer Sensoren in der Mitte gehalten wurde. Jedesmal, wenn er eine dafür günstige Stelle erreichte, erfolgte eine Probebohrung.

Robin merkte, dass seine Konzentrationsfähigkeit nachließ, jetzt spürte er die Folgen seiner Rastlosigkeit; er lehnte sich erschöpft im Liegesessel zurück und schloss die Augen …

Als man ihn weckte, glaubte er nur ein paar Minuten gedöst zu haben, aber es waren volle drei Stunden vergangen. Er hatte die Entfernung, die es zurückzulegen galt, erheblich unterschätzt. Und er war auch noch nicht am Ziel, sondern musste noch einmal umsteigen. Mit einem Helikopter flogen sie nun geradewegs in die Region des Polarmeers hinein. Unter ihnen lag eine Wolkendecke, doch sie hatte Lücken, und nun erregte das, was da durch sie hindurch zu erblicken war, doch Robins Aufmerksamkeit. Eine gigantische Eiswüste – das hatte er über die nun unter ihm liegenden Formationen gelesen –, doch dort unten lag keine Ebene, wie er sie erwartet hatte, sondern eine Wildnis aus emporragenden Eisbergen. Zunächst gab es noch größere Wasserflächen, doch bald schlossen sie sich zu einer zusammenhängenden Bergregion zusammen. Wo die Sonnenstrahlen hinunterreichten, präsentierte sie sich als ein Chaos aus weiß glitzernden Mustern, und wo sich die Schatten darüber breiteten, war es ein Fleckenteppich in Grau und Schwarz. Robin machte sich darauf gefasst, dass er das Bild, das er sich von der Eisinsel gemacht hatte, revidieren musste. Und er begann auch zu ahnen, wie verwegen Angelos Absicht gewesen war, ein solches Gelände auf sich allein gestellt zu durchqueren.

Draußen wanderten Wolkenschwaden vorbei, der Helikopter ging allmählich tiefer. Er durchstieß die Wolkendecke, wobei er kräftig durchgerüttelt wurde, und auf einmal war unten, am Ufer einer Wasserfläche, eine Gruppe von barackenartigen Häusern zu sehen, sowie Silos und Ölbehälter. Auf einem künstlich geebneten Platz standen Fahrzeuge, Traktoren und Motorschlitten, deren Fahrspuren nebenan im Schnee eine chaotisch verschlungene Kalligraphie hinterlassen hatten. Dazwischen erhob sich ein hoher Sendemast mit mehreren seltsam geformten Antennen.

Der mit Kufen ausgerüstete Helikopter setzte innerhalb eines mit roter Farbe auf das Eis gepinselten Kreises auf, und kurze Zeit danach konnte Robin aussteigen und ins Freie treten, wo ihm ein Schwall eisiger Kälte entgegenschlug.

Kjell Fredersen, der Leiter der Station, hatte Robin bereits erwartet. Er führte ihn in den Aufenthaltsraum und machte ihn mit einigen Mitarbeitern bekannt.

»Willst du erst deine Kammer beziehen?«, fragte er, und als Robin den Kopf schüttelte, kam er ohne Zaudern zur Sache. »Ich muss dir etwas mitteilen, was wir uns selbst nicht erklären können. Doch es könnte mit deinem Auftrag zusammenhängen.«

Sie nahmen auf Klappstühlen Platz, die in einer Ecke des Raums um ein kleines Tischchen herum standen.

»Was ist geschehen?«, fragte Robin. »Mach es nicht so spannend.«

Kjell ließ sich nicht zur Eile drängen. Er erhob sich und holte eine Teekanne von einer Kochplatte, dann goss er die dampfende Flüssigkeit in einen Papierbecher, den er dem Gast zuschob. »Wir haben eine Druckwelle im Wasser festgestellt, und auch seismische Erschütterungen, die sicher auf dasselbe Ereignis zurückgehen. Das Zentrum scheint in jener Gegend der Bohrinsel zu liegen, in die wir dich bringen sollen.«

»Und was bedeutet das?«, fragte Robin, den eine dunkle Ahnung beschlich.

»Ein Seebeben – hätte ich normalerweise gesagt. Aber das kann man in dieser Region wohl ausschließen. Ich tippe auf eine Explosion, aber eine von ungewöhnlicher Stärke.«

»Das könnte auf der Bohrinsel geschehen sein«, sagte Robin leise – eher zu sich selbst als zu den anderen. Er mochte das, was er da aussprach, selbst nicht glauben. War es möglich, dass die Verbrecher, um die Zeugen zum Schweigen zu bringen, das Hotel gesprengt hatten?

Eine Weile war es still im Raum, und auch die Forscher, die sich zu Fredersen und Robin an den Tisch gesetzt hatten, schienen das, was sich da andeutete, nicht glauben zu können. Es waren junge, sportliche Männer und Frauen in Pullovern und wasserdichten Jeans, die sonst nichts so leicht erschüttern konnte.

»Hat man etwas davon in den Nachrichten gehört?«, fragte schließlich einer von ihnen.

»Bis jetzt ist noch nichts gemeldet worden«, antwortete Kjell. Er stand auf und rückte einen altmodischen Fernsehapparat so zurecht, dass alle die Bildfläche sehen konnten: In einem festlich beleuchteten Raum schien eine Party stattzufinden, und dann sah man Lester Hawk, der Fragen eines Reporters nach dem Ablauf der Konferenz beantwortete. Kein Hinweis auf einen Unglücksfall.

»Ist ein Irrtum möglich?«, erkundigte sich Robin, doch der Forschungsleiter verneinte entschieden.

»Ich verstehe es auch nicht«, sagte Robin. »Wenn sich dort tatsächlich eine Katastrophe ereignet hat, dann müssten es die Nachrichtendienste doch wissen. Dann sollte doch schon längst eine Rettungsaktion eingeleitet sein!«

Kjell zuckte die Achseln. »Ungewöhnlich, das Ganze. Vorhin habe ich unsere Beobachtung der Erdbebenzentrale gemeldet. Ich bin sicher, dass inzwischen alle verantwortlichen Stellen unterrichtet sind.«

»Welche Erklärungen es dafür auch immer gibt … Jedenfalls müssen wir so schnell wie möglich handeln – nach Überlebenden suchen und sie versorgen. Wir können versuchen, mit Motorschlitten an die Unglücksstelle zu kommen. Der Herd der Explosion ist nur 50 Kilometer von hier entfernt.«

»Es war doch von einem U-Boot die Rede«, warf Robin ein. Er war überzeugt davon, dass jene, die die Explosion verursacht hatten, keine Hilfsaktion mit Motorschlitten zulassen würden, und außerdem hoffte er, dass man unter dem Eis schneller vorankommen würde.

Kjell wiegte unschlüssig den Kopf. »Ein solcher Einsatz muß gründlich vorbereitet werden. Wenn die Techniker die Nacht über daran arbeiten, können wir schon morgen früh aufbrechen. Dann sind wir vielleicht schon in drei bis vier Stunden dort. Ich muss mir aber zuvor noch die Seekarten anschauen. In dieser Gegend erhebt sich der Meeresboden oft bis an die Unterseiten der Schollen heran. Es kommt darauf an, ob wir einen brauchbaren Weg finden. Ich werde gleich nachsehen. Ich schlage vor, wir treffen uns in einer halben Stunde zum Essen.«

Robin wäre am liebsten bei Kjell geblieben, aber sicher war es besser, wenn sich dieser ungestört seinem Problem widmen konnte.

Als sie dann eine halbe Stunde später wieder zusammentrafen, sagte Kjell nur: »Ich denke, wir sollten es versuchen. So wie Robin die Situation geschildert hat, bleibt uns sowieso keine andere Möglichkeit.«

Das Abendessen war einfach, aber es erfüllte seinen Zweck. Nachher führte Kjell den Gast zu einer Kammer, in der ein Matratzenlager vorbereitet war.

»Nicht sehr komfortabel«, bemerkte er. »Für die Bequemlichkeit bleibt nicht viel Geld.«

»Ist schon in Ordnung«, antwortete Robin. »Wann geht es morgen los?«

»Ich denke, es genügt, wenn du um sechs Uhr früh zum Frühstück kommst.« Er deutete auf einen alten Wecker auf dem Regal. Er wünschte eine gute Nacht und ließ Robin dann mit seinen Gedanken allein.


Sonntag, 11. Mai

Am nächsten Morgen wurde er durch den schnarrenden Wecker aus einem unruhigen Schlaf geschreckt und machte sich rasch bereit. Er ging in den Aufenthaltsraum, wo sich die Besatzung des U-Boots zu einem einfachen Frühstück eingefunden hatte, und lernte bei dieser Gelegenheit einen wichtigen Mann, den Mediziner und Biologen Dr. Vergil Gaskell, kennen. Mit einem Blick auf Robins Garderobe wies Kjell den Zeugwart an, ein Bündel wasserdichter und winterfester Kleider zu bringen, und Robin zog sich schnell um.

Gleich danach brachen sie auf und gingen hinunter zu einer eisumsäumten Bucht, wo Robin erstmals ein U-Boot aus der Nähe sah. Es war größer, als er es sich vorgestellt hatte, und es sah aus, als wäre es eben erst frisch von der Werft gekommen.

Kjell hatte Robin beobachtet und sagte mit deutlichem Stolz: »Das hast du nicht erwartet, gib es zu. Wir haben alles Geld in dieses U-Boot gesteckt und dafür bei den Unterkünften gespart. Es ist ein Typ, wie er von der Marine verwendet wird, doch wir haben es zu einem schwimmenden Laboratorium umgebaut.«

Im Moment hatte Robin wenig Sinn für die wissenschaftliche Arbeit, doch er war froh darüber, dass er in ein neues, gut ausgerüstetes Schiff steigen konnte, denn die bevorstehende U-Boot-Fahrt war ihm etwas unheimlich.

Im Innern war es dann doch beengter, als er es erwartet hatte; diejenigen, die nicht mit den Vorbereitungen zum Start zu tun hatten, saßen in einem schmalen Raum nahe nebeneinander auf einer Bank. Man hatte Robin einen Platz überlassen, von dem aus er eine gute Sicht zum Fernsehmonitor hatte, der oberhalb einer kreisförmigen und jetzt verschlossenen Türluke befestigt war. Im Moment war nur eine trübe grünliche Masse zu sehen.

Über den Lautsprecher hörten sie Stimmen – es waren für Robin unverständliche Befehle und Meldungen – und gleich darauf polternde Geräusche, die vom Schließen des Eingangsschachtes und von den anlaufenden Motoren herrührten. Kurze Zeit danach kippte der Bootskörper nach vorn, und auf dem Bildschirm waren Anzeichen von Bewegung zu erkennen – treibende, vom Strahl des Unterwasser-Scheinwerfers erfasste Teilchen, die sich auf den Betrachter zuzubewegen schienen. Sonst war von der sich rasch beschleunigenden Fahrt wenig zu bemerken. Trotzdem empfand Robin eine ungewöhnliche Unsicherheit, die einfach vom Bewusstsein kam, sich unter Wasser zu befinden …

Das konnten lange, nervenzermürbende Stunden werden, dachte Robin, doch dann begann der neben ihm sitzende Leiter der Forschungsgruppe einiges über die Arbeiten zu erzählen, die sie hier zu verrichten hatten. Ganz allgemein ging es um die Erforschung des unter dem Eis verborgenen arktischen Festlands, um Vermessung und Kartierung, um das Studium der Bodenformationen und auch um Anzeichen für technisch auswertbare Ressourcen.

»Hättest du erwartet, dass es auch in dieser Region in den Sedimenten des Meeresbodens steckende große Manganknollen gibt?«, fragte Kjell.

Robin brauchte nicht erst zu versichern, dass er es nicht erwartet hatte. Insbesondere waren die Wissenschaftler an verschiedenen fachspezifischen Phänomenen interessiert, die mit der hier alles beherrschenden Kälte zusammenhingen. So erfuhr Robin, dass sie in der Tiefe Regionen gefunden hatten, in denen die Wassertemperatur zehn Grad minus erreichte.

»Kaum zu glauben, wie viele Lebewesen es hier gibt«, sagte Kjell mit einem Blick auf den Bildschirm, der nicht viel mehr zeigte als ein strukturloses schmutziges Blaugrün. Nur selten geriet eine Partie des Meeresbodens in Sicht, und bei einer dieser Gelegenheiten schaltete Kjell die Fernsehanlage auf 100fache Vergrößerung: Da erschien plötzlich eine fremdartige Landschaft, die man eher von einem fremden Planeten erwartet hätte: Pflanzen mit langen, sich im Wasser wiegenden Stängeln, an denen längliche Blätter saßen, und schwammige Massen, aus denen sich Teile ausstülpten, um nach kurzer Zeit wieder in den Untergrund einzutauchen. Es waren aber auch Tiere dabei: Würmer, mit den Enden am Boden verankert, spinnenartige Wesen mit langen, mehrfach geknickten Stelzenbeinen und winzige Fische mit unverhältnismäßig großen Telleraugen. Und das alles in einheitlich graugrünen Farbschattierungen.

»Hinter diesen Formationen steckt ein Rätsel, das wir lösen wollen: Wie können diese Pflanzen und Tiere Temperaturen unter null Grad ertragen?« Kjell wies auf die praktische Bedeutung dieser Frage hin und kam damit auf medizinische Problemfelder zu sprechen: »Es geht darum, Erfrierungen zu verhindern. So kennen wir heute die Enzyme, die die peripheren Gefäße erweitern, ohne dass der Sauerstoffgehalt reduziert wird. Menschen, die in arktischen Regionen zu tun haben, können sich so mit Injektionen vor Erfrierungen schützen. Davon haben wir natürlich auch Gebrauch gemacht. Später wird man vermutlich gentechnische Methoden anwenden.«

Inzwischen waren die lukenartigen Türen an beiden Enden ihres Raums geöffnet worden, und einige der Wartenden standen auf, um ihren Pflichten nachzugehen. Kjell forderte Robin zu einer Besichtigungstour auf, dabei konnte er die Laboratorien betreten und mehr über die Arbeiten der Forscher erfahren. Robin nahm es als Gelegenheit, die quälende Wartezeit zu überbrücken.

Danach setzten sie sich wieder vor den Monitor. Immer noch bewegten sie sich in einer grünen Dämmerzone, aber gelegentlich erschienen vor ihnen in die Tiefe reichende Ausläufer der Eisdecke, die das Boot zu Kursänderungen zwangen. Es wich zur Seite aus oder stieß kopfüber in dunklere Bereiche, die nur noch von den Scheinwerfern am Bug aufgehellt wurden.

Eine Weile ging es so dahin, dann wurde es plötzlich unerwartet hell – eine Strecke, bei der es nur eine dünne Eisdecke war, die sie von der Welt über Wasser trennte.

Einer der Forscher brachte zwei Becher mit Tee – es war unangenehm kalt geworden, und das heiße Getränk tat gut.

Unversehens ging ein Ruck durch das Boot … »O weh – das sieht nicht gut aus!« Kjell war besorgt wegen der Erhebungen des Untergrunds, die sie zu einem Bremsmanöver gezwungen hatten. Zwischen Boden und Decke war es eng geworden, an manchen Stellen stieß das Eis bis zur Schicht der Ablagerungen hinunter und bildete Pfeiler, die im Gewölbe lediglich torartige Passagen offen ließen.

Und dann schien der Weg völlig versperrt zu sein – die frei bleibende Öffnung reichte nicht für eine Durchfahrt.

Das Boot hatte wieder abgebremst und lag nun bewegungslos im Wasser. Robin beobachtete über den Monitor, dass der Strahl des Scheinwerfers hin- und herwanderte, auf der Suche nach einer anderen Möglichkeit, die Fahrt fortzusetzen.

Aus dem Lautsprecher kam eine Stimme. »Da müssen wir durch! Es gibt keinen anderen Weg – soll ich es versuchen? Was meinst du?«

»Versuch es!«, antwortete Kjell nach kurzem Zögern. Robin hatte nicht verstanden, um was es dabei ging, und wartete mit gewissem Unbehagen auf die Dinge, die da kommen sollten: Es war, als nähme das Boot einen Anlauf. Es setzte ein Stück zurück, dann ein Moment des Stillstands, und schließlich ein Aufheulen der Turbinen: ein Anlauf auf die enge Lücke zu, verbunden mit einem bedrohlichen Poltern und Knirschen … Die Insassen des Bootes hatten Mühe, nicht von ihren Sitzen geschleudert zu werden.

»Keine Sorge«, beruhigte Kjell, »das Boot ist so gebaut, dass es Eisbarrieren durchbrechen kann.«

Unwillkürlich zog Robin den Kopf ein, als es über seinem Kopf prasselte und jaulte.

»Was geschieht, wenn es noch enger wird?«

»Mach dir keine Gedanken – auf dem Ultraschallbild war ja zu erkennen, dass sich der Raum hinter der Engstelle wieder öffnet.«

Robin hätte noch einige Fragen gehabt: Was geschah, wenn ein Leck entstand? – Oder wenn sie stecken blieben? Aber er sagte nichts …

Dann wurde es ruhig. Sie befanden sich im nächsten Raum, der etwas größer war, als Robin befürchtet hatte, und dann folgte sogar eine weit ins Dunkel hinauslaufende Halle, in die sie langsam einfuhren. Zugleich senkte sich jäh der Boden, unter ihnen ein dunkler Schlund, doch die Fahrt ging nun ungehindert weiter. Robin atmete auf, und auch Kjell war die Erleichterung anzumerken. Von da ab kamen sie ohne Schwierigkeiten vorwärts, und Robin merkte, dass er etwas ruhiger wurde.

Wie angekündigt, waren etwa drei Stunden vergangen, als durch die Lautsprecheranlage endlich die ersehnte Meldung kam: »Bereitmachen zum Auftauchen!«

Die Luken wurden wieder geschlossen, und die durch das Fernsehsystem vermittelte Szene wechselte die Farben. In das Grün mischten sich Blautöne, und zuletzt fuhren sie durch blendende Lichtstreifen in Orange und Gelb: das durch das Wasser einfallende Sonnenlicht. Die Kamera vermochte den raschen Schwankungen der Lichtintensität nicht mehr zu folgen, der Bildschirm flackerte, bis schließlich ganz überraschend ein stilles und friedliches Bild auftauchte: eine leicht bewegte Wasserfläche und dahinter ein leicht ansteigender Hang aus blinkendem Eis. Sie waren aufgetaucht.

Für den ungeduldigen Robin schien es endlos zu dauern, bis er mit den Wissenschaftlern, die dafür vorgesehen waren, durch den Einstiegsschacht nach außen klettern durfte. Und da verkehrte sich nach wenigen Augenblicken der friedliche Eindruck in das krasse Gegenteil: Aus der Mitte des Sees ragte eine riesenhafte, schwarze Rauchsäule in die Höhe, und von unten wütete ein Feuer, aus dem lodernde Flammen tanzten … Nur gelegentlich, wenn sie der Wind auf die Seite drückte, tauchten für kurze Zeit Ruinen der Bohrinsel auf: Teile der Plattformen, der Pontons, der Gerüste und der Treppen. Vom Kugelbau des Hotels war nur noch ein kugelförmiges Stahlskelett übrig geblieben. Ein paar undefinierbare Trümmer trieben im Wasser. Von Menschen keine Spur.

»Es tut mir leid«, sagte Kjell; seine Stimme klang heiser. »Wir sind zu spät gekommen. Aber wir hätten das Unglück nicht verhindern können. Es ist das Öl, das da brennt, sonst wäre das Feuer längst erloschen. Aber dieses allein hätte keine so umfassenden Zerstörungen hervorgerufen – es muss eine schwere Explosion gegeben haben, durch die das Öl in Brand gesteckt worden ist. Das hat keiner lebend überstanden.«

Aber noch war in Robin der letzte Funken Hoffnung nicht erloschen: Immer noch bestand die Chance, dass Angelo davongekommen war. Bei ihrer kurzen Unterhaltung über Funk hatte ihm Robin dringend ans Herz gelegt, nicht zur Eisinsel zurückzukehren. Hatte Angelo diesen Rat befolgt? Soweit Robin sich erinnern konnte, hatte sein Gesprächspartner seltsam indifferent darauf reagiert. Was für einen Grund hätte er haben sollen, in die gefährdete Region zurückzukehren? Es bestand also noch die Möglichkeit, dass er irgendwo im Landesinneren festsaß und auf die versprochene Hilfe wartete. Robin beschloss, eine Suchaktion zu organisieren.

Jemand zupfte ihn am Ärmel. Es war einer der Männer, der neben ihm stand und mit einem Feldstecher die Umgebung absuchte … Jetzt war ihm etwas aufgefallen. »Dort drüben treibt etwas im Wasser.«

Er reichte Robin den Feldstecher, und nun sah er es auch … es stimmte, da schaukelte etwas Dunkles, Längliches nahe am Ufer im Wasser auf und ab.

»Wir müssen nachsehen, vielleicht ist es ein Mensch.«

Sie holten das eng zusammengefaltete Schlauchboot aus einem am Geländer befestigten Behälter und pumpten Luft ein. Dann warfen sie es ins Wasser. Robin bemühte sich, ohne Sturz hinüberzukommen. Kjell folgte ihm. Er ließ sich von den anderen den kleinen, aber kräftigen Außenbootmotor samt der zugehörigen Katalyt-Batterie reichen und befestigte beides mit Flügelschrauben am Heck des Bootes. Es setzte sich so rasch in Bewegung, dass Robin fast doch noch ins Wasser gefallen wäre.

Kjell hatte sich am Steuer niedergelassen. Es kostete Kraft, das plumpe Boot im Seitenwind auf Kurs zu halten, doch in einem schlingernden Zickzackkurs kamen sie schließlich ganz gut voran.

Es mochten zehn oder fünfzehn Minuten vergangen sein, dann waren sie an Ort und Stelle. Kjell stellte den Motor ab, und das Boot bewegte sich nun umso heftiger auf und ab. Robin zog das treibende Bündel ans Boot heran. Tatsächlich: Es war ein Mensch, er steckte in dicken Kleidern, der Kopf von einer Kapuze verborgen …

Robin zog die Kapuze beiseite – hatte sich seine Hoffnung erfüllt: War das Angelo? Der Mann sah Angelo ähnlich. Robin musste daran denken, was mit Angelo geschehen war, und nun glaubte er zu verstehen: Es war Angelo, doch sein Gesicht war jenes von Sylvan.

Soweit es Robin beurteilen konnte, war er tot. Die Augen waren geschlossen, er bewegte sich nicht, er atmete nicht.

Mit vereinten Kräften zogen ihn die beiden ins Boot, Robin hockte sich neben den leblosen Körper und brauchte alle seine Kraft, um ihn festzuhalten. Er konnte es kaum erwarten, zum U-Boot zurückzukommen – als gäbe es doch noch eine Hoffnung, den Freund zu retten.

Schließlich hatten sie Angelo ins Labor des Arztes und Biologen Gaskell gebracht und den Körper auf die Liege gebettet.

Gaskell beugte sich zu Angelo herunter, er suchte nach dem Herzschlag, maß die Körpertemperatur und prüfte zuletzt die Aktivität des Gehirns. Dann richtete er sich auf: »Es tut mir leid: Er ist tot …« Doch er zögerte ein wenig, als wäre das letzte Wort noch nicht gesprochen. Und tatsächlich fügte er nachdenklich hinzu: »Es fällt mir allerdings auf, dass das Blut noch flüssig ist, die Totenstarre ist noch nicht eingetreten. Er ist wie ein Polarforscher gekleidet, der aufblasbare Stoff hat ihn vor dem Untergehen bewahrt. Wenn er ein erfahrener Mann war, dann hat er sich vor der Reise eine Injektion mit Enzymen geben lassen, die Erfrierungen verhindern. Seit Kurzem sind sie im Handel. Und dann …« Er sprach langsam, als müsste er sich jedes Wort genau überlegen. »Ich will keine verfrühten Hoffnungen wecken, aber es besteht eine gewisse Möglichkeit, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Das ist ja unser Spezialgebiet: wie Organismen, bei denen über lange Kälteperioden hinweg der Metabolismus ausgeschaltet war, es fertig bringen, wieder zu erwachen.«

Jetzt hatten seine Worte längst nicht mehr so zurückhaltend geklungen wie vorher, als er von verfrühten Hoffnungen sprach. Robin spürte plötzlich, wie sein Herz heftig zu schlagen begann – und diesmal war es nicht aus Sorge, sondern aus neu geschöpfter Zuversicht. Er wollte etwas fragen, aber der Arzt bat dringend darum, den engen Laborraum zu verlassen: Er wollte sich unverzüglich und ungestört an die Arbeit machen.

Während der Fahrt zurück zur Station befand sich Robin in einer seltsam zwiespältigen Gemütslage; einerseits schwebte er zwischen Hoffen und Bangen und hätte sich am liebsten ins Labor des Arztes geschlichen, als könnte er etwas zum Erfolg des Eingriffs beitragen. Andererseits kämpfte er selbst gegen eine lähmende Erschöpfung an, die nicht körperlich, sondern geistig bedingt war – denn seine Aufgabe war gelöst, und das bedeutete, dass er nichts mehr tun konnte: Er war zu spät gekommen. Er war nahe daran, sich seiner Verzweiflung zu überlassen.

Erst später besann er sich darauf, dass doch noch etwas Entscheidendes zu tun war, und das belebte ihn wieder: Er war ja immer noch nicht in den Besitz der Daten gelangt, die Angelo so mühsam erarbeitet hatte, und wenn dessen Opfer einen Sinn gehabt haben sollte, dann bestand er in diesen Daten. Sie allein waren der Beweis für das begangene Verbrechen. Sobald sie erst an die Öffentlichkeit kämen, müsste sich daraus eine Welle der Empörung entwickeln, die die Mafia samt ihren Machtgelüsten beiseite fegen würde. Auf diese Weise ließ sich zwar der Massenmord nicht rückgängig machen, aber es war möglich, den Erfolg des teuflischen Plans zu verhindern: Letztlich würde das Recht siegen.

Kjell, der wieder neben Robin saß, war nicht entgangen, dass dieser zunächst einmal mit sich selbst ins Reine kommen musste, und er hatte geschwiegen. Doch als er bei seinem Gast später einen Stimmungswandel festzustellen glaubte, zog er ihn in ein Gespräch, und Robin zögerte nicht, ihm – Geheimhaltung hin oder her – ein wenig über die Hintergründe jener Ereignisse zu sagen, die schließlich mit der Explosion ihr Ende gefunden hatten. Und umgekehrt erzählte auch Kjell einiges von seiner Existenz auf der einsamen Forschungsstation, von den Erkenntnissen, den unerwarteten Ergebnissen aus mehreren Wissensbereichen, die alle aufgewandten Mühen aufwogen, aber auch vom Verzicht auf Annehmlichkeiten des Lebens, die den meisten Zeitgenossen selbstverständlich waren: so einfache Dinge wie ein Zuhause oder die Bindung an eine Frau. Unwillkürlich musste Robin an Michèle denken, an seine Empfindungen und seine Träume, die zerstoben waren, ehe sie sich erfüllt hatten. Und dann erschien Gaskell an der Luke, und schon seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er eine gute Nachricht zu verkünden hatte. »Jetzt bin ich sicher, dass wir ihn durchbringen: Er atmet wieder, und sein Herz schlägt.«


Montag, 26. Mai

Vierzehn Tage befand sich Angelo nun schon auf der Station der Arktisforscher. Dort bestanden die besten Voraussetzungen für die Spezialbehandlung, die er benötigte – denn im Gegensatz zu den einfachen Unterkünften der Forscher waren ihre Laboratorien bestens ausgerüstet.

Robin hatte sich entschlossen, zunächst einmal in der Station zu bleiben – zumindest so lange, bis man ihm Genaueres über Angelos Zustand sagen konnte, nicht zuletzt aber auch, um ihn nach der Dokumentation zu fragen. Einmal hatte man Robin in die zum Labor gehörige Kammer geführt, die nun als Krankenzimmer diente. Er fand ihn bewusstlos vor, die Haut war grau und von einer ölartigen Schicht überzogen, er lag in einer Wanne, die in Abständen von zehn Minuten kurzfristig mit einer Mineralstoffe und Vitamine enthaltenden Flüssigkeit gefüllt wurde. Er war von Röhren und Schläuchen umgeben, die sein Blut austauschten und Nährlösungen zuführten. Von oben richtete sich ein Instrument auf ihn, das wie eine gefährliche Waffe aussah. Dr. Gaskell erklärte, dass es sich um ein Injektionsspray handelte, mit dem die neu entdeckten, den Kreislauf revitalisierenden Enzyme mit Hochdruck in den Körper geschossen wurden.

»Wann wird er das Bewusstsein wiedererlangen?«, fragte Robin, und in Gedanken fügte er hinzu: Wann wird er wieder sprechen können? Denn sosehr er sich um den Freund sorgte, so wusste er bisher noch nicht, ob es Angelo gelungen war, die Aufzeichnungen in Sicherheit zu bringen, und davon hing es schließlich ab, ob all die Anstrengungen und Opfer, die man diesem abverlangt hatte, sinnvoll gewesen waren – oder umsonst. Trotz gewisser Hemmungen hatte Robin alles geprüft, was sich in Angelos Kleidern befunden hatte – aber nichts gefunden, was einen Chip enthalten könnte. Selbst sein Sensor zum Aufspüren versteckter Gegenstände nutzte ihm dabei nichts. Es war damit zu rechnen, dass alles verloren war, was Angelo so mühsam in Erfahrung gebracht hatte.

Der Biologe konnte über die Zeit, die Angelo zur Genesung brauchte, keine schlüssige Antwort geben. »Schwer zu sagen – wir müssen Geduld haben.«


Mittwoch, 28. Mai

Zwei Tage später wurde Robin mit der Nachricht überrascht, dass Angelo Anzeichen von Bewusstsein erkennen ließ. Jetzt ließ sich Robin durch nichts zurückhalten und stand schon eine Minute später an Angelos Lager. Der Fortschritt war deutlich zu erkennen, der Genesende hielt die Augen zwar noch geschlossen, aber er veränderte häufig seine Haltung, sein Gesichtsausdruck änderte sich wie unter dem Einfluss von handlungsreichen Träumen, und von Zeit zu Zeit murmelte er auch ein paar Worte vor sich hin.

Von da an machte Angelo rasche Fortschritte, und schon am nächsten Tag wurde Robin gebeten, ins Krankenzimmer zu kommen, um vielleicht ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Bevor er die Kammer betrat, nahm ihn Gaskell beiseite und gab ihm noch ein paar Instruktionen.

»Unser Patient hat sich körperlich gut erholt«, sagte er. »Was mir Sorgen macht, ist seine Psyche. Er hat Gedächtnisstörungen und scheint auch an einer Art Persönlichkeitsspaltung zu leiden. Manchmal spricht er auf den Namen Angelo an, bezeichnet sich aber selbst als Sylvan. Das ist eine Erscheinung, die bei Reanimierungsversuchen leider oft auftritt; das Gehirn ist der empfindlichste Teil des menschlichen Körpers, und wenn die Durchblutung zu lange ausgesetzt hat, dann sind Schädigungen möglich.«

»Besteht Hoffnung, dass sein Gedächtnis wieder in Ordnung kommt?«, fragte Robin.

»Bis zu einem gewissen Grad schon, aber so etwas lässt sich schwer vorhersagen.«

Robin hatte dem Arzt nichts darüber erzählt, aufweiche Weise Angelo auf seinen Auftrag vorbereitet worden war, und daher machte er sich seine eigenen Gedanken über die diagnostizierte Persönlichkeitsspaltung. Er überlegte kurz, ob er genauer auf die von ihm vermuteten Eingriffe in Angelos Gehirn eingehen sollte, doch vielleicht war es besser, sich zunächst selbst ein Bild von Angelos Befinden zu machen. Es war ein wenig heikel, über die besonderen Methoden zu sprechen, die in Geheimdienstkreisen seit Neuestem angewandt wurden.

Mit einem flauen Gefühl im Magen trat Robin ans Bett des Patienten und atmete zunächst etwas auf, denn Angelo sah wieder frisch und munter aus. Aber schon die Art, wie ihn der Freund anblickte, fachte seine Bedenken wieder an: Da war kein Zeichen von Wiedererkennen zu entdecken, eher Unsicherheit und Abwehr.

»Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte Robin vorsichtig. »Kannst du dich noch erinnern, ich bin Robin.«

»Robin«, wiederholte Angelo. »Robin …«

»Vor Kurzem haben wir uns über Funk unterhalten. Du bist ins Eis hinausgewandert und hast einen Hilferuf durchgegeben. Da hat man mich mit dir verbunden.«

»Ja, doch, jetzt erinnere ich mich. Es war schwer, Verbindung zu kriegen. Man hat mich mit dir verbunden.«

»Du hast mir von einem Anschlag auf die Bohrinsel erzählt. Von den Leuten im Hotel …«

»Sie alle sind zurückgeblieben. Ich bin vorher aufgebrochen … wollte Hilfe holen … und Ellen … auch Ellen habe ich verlassen … Wo ist sie? Wo ist Ellen?«

Robin bemerkte, dass Angelo unruhig wurde. Wie sollte er auf diese Frage antworten, ohne den Kranken aufzuregen? »Ich kenne Ellen nicht. Wer ist sie?«

Der Arzt, der dem Gespräch im Hintergrund zugehört hatte, trat vor und legte Angelo beruhigend die Hand auf die Schulter. »Robin kennt Ellen nicht. Ihr könnt euch später darüber unterhalten, du wirst ihm von Ellen erzählen. Doch nun bekommst du wieder ein Bad. Mach die Augen zu – Robin wird dich wieder besuchen.« Er gab Robin ein Zeichen, den Raum zu verlassen.

Später, als sie sich über den Besuch unterhielten, erkundigte sich Robin, ob er alles richtig gemacht hätte.

»Ist schon in Ordnung«, antwortete der Arzt. »Das Gespräch hat Erinnerungen in ihm wachgerufen, das ist ein gutes Zeichen. Diese Ellen muss sehr wichtig für ihn sein.«

»Ich habe den Namen noch nie gehört«, sagte Robin. »Aber wenn sie zu den Personen im Globe-Hotel gehörte …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.

»Du solltest Angelo von nun an öfter besuchen. Es stimuliert sein Gedächtnis. Aber sei bitte vorsichtig.«

Robin versprach es.

Schon am nächsten Tag saß er wieder an Angelos Bett.

»Wie geht es dir? Erkennst du mich wieder?«

»Du bist Robin«, antwortete Angelo nach kurzem Nachdenken. »Wir haben uns über Funk unterhalten.«

»Wir kannten uns auch schon vorher. Wir waren beide im Internationalen Gerichtshof beschäftigt. Wir waren befreundet, während der Ausbildungszeit. Du warst damals der Beste im Lehrgang. Weißt du noch: Angelo, der Engel …«

»Ich glaube, ich habe ihn gekannt«, antwortete Angelo. »Ja, jetzt fällt mir einiges ein, ich muss ihn gekannt haben.«

»Du selbst bist Angelo«, sagte Robin mit Nachdruck. »Damals, vor deinem Auftrag …«

Jetzt reagierte Angelo prompt. Er versuchte sich aufzusetzen, sein Gesicht wurde starr: »Der Auftrag, ja, ich habe einen Auftrag – ich muss ihn zu Ende bringen. Ich habe alles getan, was ich konnte. Aber dann …«

»Bleib liegen, kein Grund zur Aufregung. Du hast deine Aufgäbe gelöst. Du hast alles richtig gemacht. Jetzt brauche ich nur noch die Aufzeichnungen. Wenn du mir den Speicherchip übergibst, ist alles vorbei.«

Angelo war ins Kissen zurückgesunken. »Der Chip, ich soll ihn dir geben? Dann ist meine Aufgabe abgeschlossen. Ist sie dann wirklich abgeschlossen? Ich muss darüber nachdenken.« Jetzt hielt er die Augen geschlossen, doch sein Gesicht war nicht entspannt, sondern sah konzentriert, ja geradezu erstarrt aus.

Da er schwieg und sich nicht mehr rührte, verließ Robin leise den Raum.

Robin riskierte es, ihn am Abend desselben Tages noch einmal aufzusuchen.

Angelo war wach und sah geradezu heiter aus.

»Wer soll ich sein? Angelo? Ich bin Sylvan – daran besteht doch wohl kein Zweifel. Aber Angelo? Da gibt es Erinnerungen … Kann es sein … früher? Da war etwas … ich habe einen Auftrag bekommen, es ist lange her. Du sagst, dass alles vorüber ist, wenn ich dir den Chip gebe?«

Robin nickte. »Auch ich habe eine Aufgabe: Ich soll den Chip mit deinen Aufzeichnungen in unsere Behörde bringen. Erst wenn ich ihn dort übergeben habe, kann alles, was du getan hast, seinen Zweck erfüllen.«

Angelo blickte ihm in die Augen, als wollte er etwas lesen, was dahinter verborgen stand.

»Du bist mein Freund«, sagte er dann. »Ich weiß es. Da ist der Chip – er ist alles, was mir geblieben ist.« Er streckte die Hand unter der Decke hervor und klappte die künstliche Abdeckung des Daumennagels hoch. Er zog das Plättchen heraus und hielt es Robin entgegen. Noch ein kurzes Zögern … dann legte er das winzige Ding auf Robins Handfläche.

Robin Herz schlug ihm bis zum Hals – es war so plötzlich gekommen! War es tatsächlich gelungen, die Daten zu retten? Plötzlich fühlte er sich wie ausgeleert. Doch dann besann er sich des Ziels, das er sich schon früher gegeben hatte: Angelo zu finden. Und diese ganz persönliche Pflicht konzentrierte sich nun auf den kranken Mann, der da vor ihm lag. Inmitten einer Maschinerie, die ihn wieder zu einem normalen Menschen machen sollte.


Donnerstag, 26. Juni

Robin war in die kleine Stadt im Talkessel des Gebirges zurückgekehrt. Als er angekommen war, hatte sie im Sonnenschein gelegen, und am nächsten Tag hatte es ein wenig geregnet. Es war still hier und langweilig, aber Robin war zufrieden.

Inzwischen hatte er den Chip mit Angelos Aufzeichnungen abgegeben. Er würde seine Wirkung nicht verfehlen: zur Aufdeckung eines unglaublichen Verbrechens und damit als einziges Mittel, um die politischen Ereignisse rückgängig zu machen und die Schuldigen ihrer Strafe zuzuführen. Die Verantwortung für die dazu nötigen Maßnahmen lag nun in anderen Händen, und Robin hatte wieder seinen angestammten Platz im Büro eingenommen. Es kam ihm ein wenig verstaubt vor. Und die Fälle, mit denen seine Kollegen beschäftigt waren, schienen immer noch so einschläfernd wie vor den Ereignissen, als er einige Tage lang aus seinem Schattendasein herausgetreten war und ins Räderwerk des Weltgeschehens eingegriffen hatte.

Zum Lohn für seine erfolgreiche Arbeit war er befördert worden, von Seiten des Vorstands hatte man angedeutet, dass er noch Aussagen vor verschiedenen Gremien zu machen hatte und auch gebraucht würde, um bei der Auswertung von Angelos Dokumentation zu helfen. Danach würde er mit Sonderaufgaben betraut werden, vorerst aber war er froh, dass er wieder seine Ruhe hatte.

Natürlich stand er in Kontakt mit der Forschungsgruppe in der Arktis und hatte erfahren, dass die Heilung der Kälteschäden des Freundes gut voranging. Schon zwei Wochen nach seiner Rückkehr durfte er mit Angelo über eine Vidiphon-Verbindung sprechen und sich davon überzeugen, dass es immer besser gelang, sich mit ihm auf normale Weise zu unterhalten.

»Meine Behandlung ist noch nicht zu Ende«, teilte ihm Angelo mit, »aber es geht nur noch um die völlige Beseitigung der Zellschäden. Ich hatte Glück im Unglück: Hier sind die fortschrittlichsten Spezialisten der Welt versammelt. Seit ich wieder aufstehen darf, habe ich die Leute in der Station besser kennen gelernt. Sie sind ausgesprochen freundlich, und sie kümmern sich in rührender Weise um mich.«


Samstag, 12. Juli

Nach weiteren zwei Wochen meldete sich Kjell bei Robin und teilte ihm mit, dass Angelo körperlich wiederhergestellt sei und abgeholt werden könne.

»Und psychisch?«, erkundigte sich Robin.

Kjell suchte nach Worten. »Nicht so ganz«, sagte er. »Noch immer hat er große Lücken in den Erinnerungen – er weiß nicht, wer er wirklich ist. Aber da sind wir keine Spezialisten, er müsste von Fachleuten weiterbehandelt werden.«


Dienstag, 15. Juli

Als Robin drei Tage später in der Station ankam, fand er die Auskünfte von Kjell bestätigt. Äußerlich war Angelo wieder der weltoffene, sportliche Typ, offenbar hatte er auch längere Zeit im Freien zugebracht, denn seine Gesichtsfarbe war von gesundem Braun.

Es war noch früh am Tag, Robin war von einem Wissenschaftler, der das Haus hütete, in Empfang genommen worden, und auch Angelo hatte den Gast erwartet. Die anderen befanden sich bei Messungen draußen im Gelände. Mit ihnen konnte er sich am Abend unterhalten, dann würde er hier übernachten, um danach, so dachte er, diese Oase der Zivilisation gemeinsam mit Angelo endgültig zu verlassen.

Angelo hatte Robin zu einer Tasse Tee eingeladen, und so setzten sie sich in den Gemeinschaftsraum und warteten ab, bis das Wasser im Topf zu brodeln begann. Es war friedlich hier, in diesem auf einfachste Weise ausgestatteten Raum fühlte man sich auf merkwürdige Weise geborgen.

Angelo erzählte ein wenig davon, wie er die Tage verbracht hatte, seit er das Bett verlassen durfte. Er hatte unverzüglich mit einem Wiederaufbautraining angefangen und war stolz darauf, wie schnell seine Muskeln die gewohnte Stärke zurückgewonnen hatten. Robin erzählte ihm, dass er den Chip mit den Aufzeichnungen abgegeben hatte und dass Angelos Einsatz vor der obersten Leitung der Behörde große Anerkennung gefunden hatte. Er sollte zunächst nach »Sanssouci« gebracht werden, um sich unter ärztlicher Betreuung vollständig zu erholen, dann würde man weitersehen. Er merkte, dass Angelo unangenehm berührt aufschaute, als er den Namen der Erholungsstätte erwähnte, und er konnte ihn gut verstehen.

Robin hatte eine Papierkopie jener von Angelo verfassten Aufzeichnungen mitgebracht, die er gemeinsam mit Michèle in der früheren gemeinsamen Wohnung der beiden gefunden hatte. Als er sich nun überzeugt hatte, dass Angelo offenbar auch psychisch wieder ins Gleichgewicht gekommen war, holte er die zusammengefalteten Blätter heraus und reichte sie dem Freund. »Nicht jetzt«, riet er ihm, »lies dir das später in Ruhe durch. Vielleicht gibt es dir noch einige Aufschlüsse über dein früheres Leben.«

Angelo blickte ihn etwas erstaunt an, dann bedankte er sich und verwahrte die Blätter in seiner Jackentasche.

»Vielleicht kann ich dir auch noch etwas geben, das dir hilft, meine Lage zu verstehen – ich meine: aus meiner eigenen Sicht heraus. Ich denke, du sollst wissen, dass ich jetzt wieder imstande bin, mich und meine Lage einzuschätzen. Ich weiß, was ich noch zu erwarten habe und was nicht.«

»Du hast Recht: Ich bemühe mich, mir vorzustellen, wie du dich selbst empfindest«, sagte Robin nach einer kleinen Pause. »Doch es fällt mir schwer. Dabei meine ich nicht die Folge der Ereignisse – dafür gibt es sachliche Erklärungen. Ich meine eher die Gefühle, die sich an Erinnerungen knüpfen – die du ja nicht mehr hast. Da hat es doch Menschen gegeben, die dir nahe standen … mit denen dich etwas verbunden hat: Freundschaft, Zuneigung, Liebe … Selbst wenn du dich an diese Personen erinnerst – ohne die damit verbundenen Gefühle verlieren sie ihre Bedeutung.«

»Das hast du gut beschrieben«, antwortete Angelo. »Gelegentlich fällt mir dies oder jenes ein, was weit zurückliegt. Da gab es eine Frau, die ich sehr geliebt habe … Ich erinnere mich an sie – aber ich empfinde nichts mehr dabei.«

Robin fühlte plötzlich eine fiebrige Unruhe. »Michèle?«, fragte er unwillkürlich.

Angelo schaute ihn erstaunt an. »Du kennst sie? Sie ist die Tochter meines früheren Vorgesetzten im Gerichtshof, Jan van der Steegen. Michèle und ich – wir haben ein paar Jahre zusammengelebt.«

»Ja, ich kenne sie …«, flüsterte Robin. Michèle … die Tochter des Direktors! Es war völlig unerwartet gekommen, eine kurze Bemerkung, nebenbei, aber sie hatte wie ein Blitz gewirkt, ihm war, als hätte sich eben seine innere Perspektive verändert, und mit ihr seine Hoffnungen, seine Ziele.

»Ja, ich kenne sie«, wiederholte er. Robin sprach so leise, dass ihn Angelo kaum verstehen konnte. Einen Moment lang hatte Robin das Bedürfnis, dem Freund von Michèle zu erzählen: wie er ihr begegnet war und aus welch haarsträubendem Irrtum heraus er sich von ihr gelöst hatte. Aber dann wurde er sich der Situation bewusst, in der es nicht um sein, sondern um das Schicksal des anderen ging.

Angelo hatte nicht bemerkt, dass Robin kurzfristig aus der Fassung geraten war. Er war zu stark mit seinen eigenen Problemen beschäftigt.

Er hatte inzwischen weitergesprochen, aber es war nicht zu Robin gedrungen.

»Du brauchst aber nicht zu glauben, ich wüsste nicht, wie man Gefühle empfindet«, sagte er gerade. Es war das erste Mal, dass er über das sprach, was ihn in den letzten Tagen am allermeisten bewegt hatte, und es kostete ihn offenbar gewisse Überwindung. »Es war erst in jüngster Zeit – die Zeit, die ich als Sylvan verbrachte. Was auf der Eisinsel geschehen ist, ist mir in ganz anderer Weise gegenwärtig. Und dazu gehört noch etwas, etwas sehr Wichtiges: Ich habe eine Frau getroffen. Sie war Geschäftsführerin im Hotel auf der Eisinsel, sie hieß Ellen …« Angelo sprach nicht weiter, jetzt saß er stumm und unbewegt da. Dann fügte er leise hinzu: »Sie ist gemeinsam mit den anderen umgekommen.«

Wieder brauchte er einige Sekunden, um die Beherrschung zurückzugewinnen. Schließlich fuhr er äußerlich unbewegt fort: »Nun, das alles ist vorbei, und es lässt sich nicht mehr ungeschehen machen. Aber ich möchte nicht mehr zurück. Nicht mehr in diese kleine, langweilige Stadt, und nicht mehr an die alte Arbeitsstätte. Und vor allem möchte ich nicht, dass die Ärzte in ›Sanssouci‹ erneut an mir herumdoktern. Ich komme nicht mit dir, ich bleibe hier. Die einzigen Momente, in denen ich mich uneingeschränkt wohl fühle, sind jene, die ich in den letzten Tagen zusammen mit den anderen im Eis verbracht habe. Diese endlose Landschaft ist eine Herausforderung für mich. Vielleicht sind das die Antriebe und Vorstellungen, mit denen man mich für meine Rolle als Sylvan ausgestattet hat, aber ich habe eben keine anderen … Also bleibe ich hier, in dieser Region, die wundervoll friedlich ist.«

Robin hatte keinen Versuch unternommen, Angelo von seinem Plan abzuhalten. Was für Argumente hätte er auch schon gehabt? Er konnte verstehen, dass der Freund keine Lust hatte, sich einer erneuten Behandlung in »Sanssouci« zu unterziehen. Einer Behandlung, die wahrscheinlich erfolglos geblieben wäre. Und er verstand auch, dass er alles Vergangene endgültig hinter sich lassen wollte.

Robin hatte sich noch am Abend nach seinem Gespräch mit Angelo mit Gaskell, dem Arzt, unterhalten, und dieser war der gleichen Meinung: Er fand es richtig, dass sein Patient zunächst einmal in dieser friedlichen Umgebung blieb, um seine Ruhe zu finden. Dann würde man weitersehen …

Und nun saß Robin bei Kjell an dessen Arbeitsplatz im Laboratorium, wo dieser auch seine Verwaltungsarbeit erledigte. Es gab noch einige Formalitäten zu regeln. Die Hilfsaktion, die das Forscherteam für den Internationalen Gerichtshof durchgeführt hatte, musste ja bezahlt werden. Und auch für Angelos Absicht, bei den Arktisforschern zu bleiben, musste eine Basis gefunden werden. Doch Kjell bat ihn, sich darüber keine Gedanken zu machen. »Einerseits sind wir darüber froh, wenn wir Angelo noch weiterhin beobachten können – immerhin haben wir bei seiner Wiederbelebung neue Methoden angewandt. Und andererseits hat Angelo angeboten, die Forschungsstation finanziell zu unterstützen – für die Erlaubnis, sich hier weiterhin als Gast aufzuhalten.«

Robin bedankte sich noch einmal für die Hilfe und die Gastfreundschaft und zog sich in seine Kammer zurück. Früh am nächsten Tag würde er die Rückreise antreten. Und später, am Abend, saß er noch einige Zeit mit den Mitgliedern der Besatzung beisammen, und diesmal war auch Angelo dabei, und es sah so aus, als wäre er schon als festes Mitglied der Besatzung anerkannt.

Am nächsten Tag war der Himmel strahlend blau. Kjell und Angelo brachten Robin zum bereitstehenden Helikopter. Als er später aus dem Fenster blickte, sah er sie noch unten stehen, bis sie als kleine Pünktchen aus seinem Blickfeld verschwanden.

Der erste Teil des Flugs führte über die im Licht der Morgensonne glitzernden Eismassen. Es war der Eindruck eines unberührten Zauberlands von makelloser Schönheit. Robin hatte Verständnis für Angelos Wunsch, sich dorthin zurückzuziehen. Zum Abschied hatte ihm Angelo eine MiniCD gegeben – sobald er den Text gelesen hätte, würde er die Entscheidung seines Freundes besser verstehen.

Sosehr ihn Angelos Schicksal bewegte, so stark drängten sich ihm immer wieder Gedanken an Michèle auf. Er hatte sie so lange nicht gesehen, hatte die Verbindung mit ihr abgebrochen. Wie dumm war er doch gewesen! Würde sie ihm verzeihen?

Inzwischen war er vom Helikopter in ein Flugzeug umgestiegen; sie befanden sich schon hoch in der Luft, die Landschaft glitt gemächlich unten vorbei, sie flogen viel zu langsam für seine Ungeduld.

Es war Abend geworden, als der Pilot endlich zur Landung ansetzte … und noch einmal folgte eine zermürbende Wartezeit, bis die Passagiere aussteigen durften. Im Flughafengebäude lief Robin auf das erste im Gang stehende Vidiphon-Gerät zu und rief bei Michèle an. Es knackte in der Leitung … war sie zu Hause? Da erschien sie auf dem Bildschirm und blickte ihn erstaunt an.

»Ich komme gerade von einer Reise zurück. Ich muss dir viel erzählen. Können wir uns heute noch treffen? In einer Stunde im Palmengarten?«

Michèles Gesichtsausdruck blieb unbewegt, Robin überlief ein beklemmendes Gefühl, und er dachte schon, sie würde ablehnen.

Doch dann sagte sie leise: »In Ordnung, in einer Stunde.«

Jetzt saß er in der Ecke auf ihrer Bank, wo sie sich schon früher getroffen hatten, und konnte es kaum erwarten, sie zu sehen.

Endlich war sie da – plötzlich tauchte sie zwischen den Büschen auf und kam mit raschen Schritten näher. Robin stand auf und ging ihr entgegen. Als er auf ihrem Gesicht ein Lächeln sah, wusste er, dass nun alles gut werden würde.

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