Abzug der Truppen


Es war klar, dass irgendetwas geschehen musste, und tatsächlich deutete sich schon am nächsten Tag etwas an. Es war nichts Konkretes, ein paar Anzeichen, nicht greifbar, eher ein Wechsel in der Stimmung aller Beteiligten.

Diese Erwartung bestätigte sich am späten Vormittag: Von den Diplomaten erfuhr ich, dass man ihnen eine baldige Rückreise in Aussicht gestellt hatte, und das drückte sich im Verhalten der Besatzer aus, die man mit Gepäck beladen in den Gängen antraf.

Tagsüber gab es für mich nicht viel zu tun. Wenn die Räumung des Gebäudes bevorstand, dann durfte auch ich endlich hoffen, meinem unfreiwilligen Asyl zu entkommen. Dazu brauchte ich nichts vorzubereiten. Die von mir installierten Geräte ließen sich binnen einer halben Stunde abbauen, und mein Rucksack lag sowieso fertig gepackt bereit.

Zunächst war ich natürlich bestrebt, über die Ereignisse im Konferenzsaal auf dem Laufenden zu bleiben. Die Filmarbeiten vom Vortag wurden fortgesetzt, doch handelte es sich offenbar um einige wenige ergänzende Aufnahmen. Dabei wurden die Diplomaten zur Eile angetrieben, und einer Bemerkung des Regisseurs konnte ich entnehmen, dass die Arbeiten bis Mittag abgeschlossen sein sollten.

Über die Abhöranlage war nun wohl nichts Wichtiges mehr zu erfahren, trotzdem ließ ich sie weiterlaufen. Dann verließ ich mein Zimmer und suchte verschiedene Stockwerke des Hotels auf, um mir einen Überblick über die Lage zu verschaffen.

Ich kam ungehindert voran, niemand hielt mich auf. Mein erster Weg führte mich zu den Fenstern im Obergeschoss, wo Ellen gestern ihre unheimliche Beobachtung gelungen war. Die Pumpen bewegten sich nicht, aber das mit einer trüben Flüssigkeit gefüllte Schwimmbecken bewies, dass sie keiner Sinnestäuschung erlegen war. Ich blieb einige Minuten an meinem Aussichtspunkt stehen, doch derzeit rührte sich dort unten nichts.

Dann wanderte ich auf den anderen Etagen herum. Einige Male begegneten mir Soldaten, die mich nicht weiter beachteten. Hier war offenbar nichts Interessantes mehr zu beobachten. So kehrte ich in mein Zimmer zurück.

Meinen Auftrag hatte ich erfüllt, ich hatte Material, das den Betrug bewies, war Zeuge der Geiselnahme und der erzwungenen Stimmabgabe. Der kleine Speicher mit den Aufzeichnungen, den ich an eine präparierte Stelle unter dem Daumennagel meiner linken Hand schob, war das einzige Mittel, um das begangene Unrecht rückgängig zu machen und die Schuldigen aus dem Verkehr zu ziehen und ihrer Strafe zuzuführen. Aber dazu musste ich Gelegenheit bekommen, ihn beim Internationalen Gerichtshof abzugeben. Und schon aus diesem Grund musste ich alles tun, um dieser Falle zu entkommen, in der ich noch gefangen saß.

Ein Anruf von Ellen über das Mobil-Vidiphon riss mich aus meinen Überlegungen: Sie sei im Büro der Rezeption und wolle mir etwas zeigen – ob ich nicht kommen wolle?

Am Lift musste ich eine Weile warten – offenbar waren viele Leute unterwegs. Als ich unten ankam, fiel mir ein Stapel von Taschen und Koffern auf, von dem der Concierge ein Stück nach dem anderen herunterholte, um es auf einen Gepäckwagen zu laden.

Von der Seite her betrat ich das Büro, das hinter dem Tresen in der Eingangshalle lag und durch ein breites Fenster die Sicht nach außen freigab.

Als ich eintrat, blickte mir Ellen entgegen und bedeutete mir, zu lauschen … und da hörte ich auch das dunkel röhrende Geräusch, das nur von einem großen Hubschrauber stammen konnte.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte ich. »Die Ratten verlassen das sinkende Schiff«, antwortete Ellen. Mit einer Kopfbewegung wies sie hinaus in die Halle, wo eben Lester Hawk und Jiang Jafei aus dem Lift kamen. Sie trugen Mäntel und Mützen in der Hand, die sie nun eilig anlegten. Am Ausgang wartete ein Mann in Fliegeruniform, der die Tür für die beiden öffnete und sie hinausgeleitete.

Kurze Zeit später kamen eine kleine Gruppe von Offizieren und wenig später auch Jurema mit dem Regisseur an; sie alle folgten den beiden Diplomaten.

Inzwischen war auch das Wägelchen mit dem Gepäck hinausgeschoben worden.

»Es ist die gesamte Führungsriege der Verschwörer, die sich davonmacht«, stellte Ellen fest. »Und natürlich sind auch Hawk und Jafei dabei.«

Sie führte mich an ein Fenster im ersten Stock, von dem aus man die Helikopter-Landeplattform sehen konnte. Dort stand eine der großen Schwebescheiben, wie sie für die Transporte von Geschäftsleuten über Stadtregionen hinweg verwendet werden. Die Flügel standen still.

Wir konnten beobachten, wie sich vom Bohrturm zwei weitere Männer näherten. Sie trugen dicke Jacken und Pelzstiefel sowie Schirmmützen mit Ohrenschützern. Aus dieser Entfernung waren die Gesichter nur undeutlich zu erkennen, aber ich hatte den Eindruck, dass ich einen der Männer schon gesehen hatte; es konnte jener sein, den ich bei meinem Erkundungsgang auf die Bohrinsel durch das Fenster der Werkshütte beobachtet hatte. Die beiden kletterten die Stufen der metallenen Treppe hoch, die an den Eingang zum Flugkörper herangeschoben war.

Dann begannen sich die Flügel zu drehen, der Lärm schwoll an, und zugleich erhob sich der Flugkörper, schien einen Moment in der Luft zu stehen, um schließlich in einer kühnen Kurve aufzusteigen.

Wir hatten genug gesehen, und Ellen schlug vor, in der Kantine ein wenig zu essen, dabei könnten wir die Lage besprechen.

Wir ließen uns vom Automaten ein paar Käseschnitten backen und würzten sie mit geschäumtem Karottensirup.

»Das Fußvolk ist noch da«, sagte Ellen gedehnt, und ich verstand, was sie damit ausdrücken wollte: Solange sich die niedrigrangigen Offiziere, die Soldaten und wohl auch die meisten der am Bohrturm eingesetzten Arbeiter noch hier befanden, bestand wohl keine unmittelbare Gefahr.

»Ob wir noch immer überwacht werden?«, fragte ich.

Ellen sah mich forschend an. »Was hast du vor?«

»Es ist höchste Zeit, etwas zu unternehmen«, erklärte ich. »Das Beste wäre, wenn ich mit meinen Auftraggebern Funkverbindung aufnehmen könnte. Dazu bestehen zwei Möglichkeiten. Am besten wäre es, die hoteleigene Sendeanlage zu benutzen. Und da stellt sich eben die Frage, ob die noch bewacht wird.«

»Das nehme ich an«, vermutete Ellen.

»Mit ein oder zwei Wachtposten werde ich fertig«, versprach ich ihr. »Zeigst du mir, wo eure Sendezentrale liegt?«

Wir erhoben uns von unseren Tellern und ließen die Reste liegen. Wir hatten keinen rechten Appetit gehabt.

Es ging in das oberste Geschoss, und Ellen öffnete eine der Türen. Wir brauchten gar nicht einzutreten, da sahen wir schon die Bescherung, die man uns bereitet hatte: Irgendjemand hatte hier mit einem schweren Hammer gewütet. Von den Gehäusen der elektronischen Schaltungen war nur noch eine zusammengestauchte Masse vorhanden, die Konsolen zerbrochen, die Messgeräte verbeult, die frei liegenden Leitungen zerschnitten. Von hier aus ließ sich keine Nachricht mehr verschicken.

Nachdenklich gingen wir zum Lift zurück.

»Du hast noch eine zweite Möglichkeit erwähnt«, erinnerte mich Ellen.

»Ich hoffe, dass sie nicht daran gedacht haben: Als ich hier eintraf, wurde mir mein Funkgerät abgenommen. Es müsste aber doch zu finden sein. Es ist zwar defekt, aber der Schaden sollte sich reparieren lassen. Was meinst du: Wo können sie es versteckt haben? Gibt es im Hotel einen Gepäckraum oder eine Abstellkammer?«

Ellen nickte. »Sehen wir nach.«

Wir fuhren ins Erdgeschoss, und Ellen zeigte auf eine Tür. »Gestern stand noch ein Posten da.« Sie holte den Universalschlüssel aus der Jackentasche und legte das Plättchen an den Sensor – die Tür öffnete sich.

Wir traten ein und brauchten nicht lange zu suchen: In einem Fach lag, säuberlich mit einem nummerierten Anhänger versehen, mein Kästchen mit dem Sender. Wie brachten es in die Werkzeugkammer des technischen Bereitschaftsdienstes. Zuerst überzeugte ich mich davon, dass die Batterie geladen war. Dann schraubte ich den Deckel ab und sah mir die Schaltung an. Schon glaubte ich, dass alles in Ordnung sei, da sah ich den Fehler: Eine Litze war durchschnitten. Klar, dass der Sender während meines Aufenthalts auf dem Eis nicht funktioniert hatte. Dieser Schaden war nicht von selbst entstanden, er konnte nur mit Absicht verursacht worden sein! Doch jetzt hatte ich keine Zeit, darüber nachzudenken. Wir gingen in die Werkstatt, wo ich einen Lötkolben und das zugehörige Lötzinn fand und die unterbrochene Verbindung wieder herstellte. Ich setzte den Deckel wieder auf das graue Kästchen und schaltete ein. Ein grünes Lämpchen leuchtete auf: Jetzt war das Gerät funktionsbereit …

»Vielleicht haben wir Glück?«, flüsterte ich.

Ich zog mir den Ohrenclip über, schaltete auf höchste Sendeleistung und gab durch einen Knopfdruck den Adresscode ein. Als automatisch auf Empfang umgeschaltet wurde, fuhr ich erschrocken zusammen, denn aus dem Lautsprecher kam ein ohrenbetäubendes, schmerzverursachendes Rauschen. Der Ursprung des Geräusches musste ganz nahe liegen. Ich verminderte die Lautstärke, das Rauschen wurde leiser.

»Was ist da los?«, fragte Ellen.

»Zu früh gefreut«, antwortete ich und rieb mir mein Ohr, das immer noch taub war. »Hör mal!« Ich hielt ihr den Lautsprecher in angemessener Entfernung ans Ohr. »Die haben einen Störsender in Betrieb genommen.«

»Was kann man dagegen tun?«

»Er muss ganz in der Nähe sein. Vielleicht finde ich ihn und kann ihn ausschalten.«

Wir kehrten ins Foyer zurück. Als wir es betraten, erwartete uns eine neue Überraschung: Die Halle sah wie ein Heerlager aus, da gab es herumliegende Waffen, Tornister, Blechbehälter und anderes Gerät, dessen Zweck nicht zu erkennen war. Und darum herum standen die uniformierten Angehörigen des Sicherheitsdienstes, die ungeduldig auf etwas zu warten schienen. Als sie uns bemerkten, jagten sie uns mit erhobenen Waffen davon.

Wir zogen uns ins Treppenhaus zurück, und Ellen war neugierig genug, um in das Restaurant in der ersten Etage zu fahren, und ich kam mit ihr. Dort oben gab es ein großes Panoramafenster.

Schon als wir ins Restaurant kamen, war das Geräusch eines landenden Helikopters zu hören. Es war eine schwere Transportmaschine, und wir beobachteten, dass sich alle Soldaten samt ihrem Gerät darin unterbringen ließen. Solche Manöver schienen nichts Neues für sie zu sein, denn im Nu waren alle im Rumpf des Transporters verschwunden. Gleich darauf erhob er sich schwerfällig, aber zugleich mit sichtlicher Kraft in die Luft.

Ellen kam zu mir und lehnte sich an mich. »Jetzt wird es ernst«, flüsterte sie. »Ich glaube, die lassen uns hier einfach zurück. Es wäre gut, wenn du Funkkontakt aufnehmen könntest.«

»Ich werde alles versuchen«, antwortete ich und bemühte mich, dabei überzeugend zu wirken. Ich hatte einen Arm um ihre Schulter gelegt und hielt sie einige Sekunden lang fest. »So schnell geben wir nicht auf.«

Es gab keine Zeit zu verlieren. Wir trennten uns, Ellen wollte sich um die Diplomaten kümmern und sie aus ihren verschlossenen Zimmern befreien, und ich wollte versuchen, etwas über die Position des Störsenders herauszufinden. Ich stellte fest, dass seine Sendestärke nach oben hin zunahm. Das brachte mich auf eine Vermutung, die ich vom höchsten Stockwerk aus bestätigen konnte: Offenbar hatte man den Sender weit oben am Bohrturm angebracht.

Vielleicht konnte ich ihn ausschalten? Dazu musste ich den Hotelkomplex verlassen. Glücklicherweise war das Wetter ganz gut, nur wenige Wolken, sonst blauer Himmel, doch eisig kalt. Und so holte ich mir zunächst warme Kleidung aus meinem Zimmer und dann noch einen Hammer und ein Stemmeisen aus der Gerätekammer. Ich verstaute alles in einer Umhängetasche und zog los.

Diesmal war es nun nicht mehr schwierig, hinaus ins Freie zu kommen: Ich benutzte den Weg über die Hubschrauberplattform, die jetzt nicht mehr bewacht war, und erreichte über ein paar Stufen den zentralen Platz am Fuß des Bohrturms. Oben konnte ich Eisenleitern erkennen, die am Gerüst hinaufführten, der Zugang dürfte hier unten liegen. Ich machte mich im unübersichtlichen Gelände zwischen den begehbaren Containern auf die Suche, die offenbar als Werkstätten oder Wohnräume dienten. Doch das Gelände sah völlig verlassen aus.

Als ich um einen Stapel aus Kunststoffplatten bog, stand plötzlich eine Person vor mir, ein junger Mann in Uniform, der eine Schockpistole auf mich richtete.

»Keine Bewegung, Hände hoch!«

Der Soldat trat auf mich zu. Die Pistole immer noch auf mich gerichtet, nahm er mir die Tasche weg und tastete mich nach Waffen ab.

»Was hast du hier zu suchen?«, fragte er. Er machte einen unsicheren und gehetzten Eindruck, und ich erholte mich rasch von meinem Schrecken. Trotz seiner Waffe sah er nicht gefährlich aus.

»Das könnte ich dich auch fragen«, antwortete ich. »Warum bist du zurückgeblieben? Alle anderen deiner Truppe sind heute Mittag abgeholt worden.«

Ich sah das ungläubige Staunen in seinem Gesicht, ein wechselndes Mienenspiel, das Ratlosigkeit und Angst verriet. »Das ist nicht wahr – man kann mich doch nicht vergessen haben«, stammelte er.

Er stand so nahe vor mir, dass ich ihm die Pistole leicht hätte entreißen können, aber Gewalt war gar nicht notwendig. Ich hob meine Hand, legte sie an den Lauf und schob die Waffe etwas beiseite.

»Darüber können wir uns später unterhalten«, schlug ich vor. »Im Moment gibt es Wichtigeres zu tun. Wir alle, die zurückgeblieben sind, befinden uns in großer Gefahr. Ich muss Hilfe herbeirufen. Siehst du, dort oben …«, ich deutete zur Spitze des Mastes hinauf, »dort ist ein Störsender. Ich muss ihn ausschalten, sonst bekomme ich keine Funkverbindung.«

Der Mann starrte mich entgeistert an. »Den haben wir doch erst heute Mittag montiert.«

Ich ließ mich auf keine Erklärungen ein. »Das ist es ja eben«, sagte ich. »Wie kommt man da hinauf? Wo ist der Zugang?«

Jetzt endlich schien er zu verstehen. »Komm mit!«

Er führte mich um einen weiteren Container herum. Von dort ging es über eine schmale Treppe auf eine enge Plattform. Wir standen direkt unterhalb des turmartigen Gerüsts, in dessen Mitte eine dicke, senkrecht stehende Röhre für das Bohrgestänge eingebaut war. Durch ein Loch im Boden setzte sie sich in die Tiefe fort.

Der Soldat zog an einer Stange und klappte eine oben eingehakte Eisenleiter herunter. »Sei vorsichtig«, riet er mir. »Oben weht ein eisiger Wind.«

Ich legte mir den Riemen meiner Tasche über die Schulter und quer über die Brust und zog ihn etwas enger an. Ein Blick auf meinen Begleiter – von ihm hatte ich wohl nichts mehr zu befürchten. Er beobachtete mich mit großen Augen.

Ich warf noch einen Blick nach oben – es war kein einladender Weg, der da vor mir lag, und es kostete mich einige Überwindung, auf der schmalen Leiter hochzuklettern. Zuerst war es nicht schwierig, doch dann wurde der Wind immer stärker, und ich musste mich mit aller Kraft an den Sprossen festhalten, um nicht fortgerissen zu werden.

Es waren einzelne Leitern von etwa fünf Metern Länge, die zu kleinen, umgitterten Terrassen führten. Keine war größer als einen Meter im Durchmesser, aber sie gaben immerhin Gelegenheit, kurz auszuruhen. Bald befand ich mich so weit oben, dass ich das ganze Hotel überblicken konnte, und der Rundblick über den See bis zu den weiß blinkenden Ufern war schwindelerregend, aber prächtig. Leider war das nicht der richtige Zeitpunkt, um die Schönheit der Natur zu genießen. Ich musste schnell vorankommen.

Nun hatte ich schon jene Höhe erreicht, wo der Flaschenzug für das Bohrgestänge hing, als ich wieder einmal nach oben blickte: Wie weit war es noch bis zur Spitze? Doch dann schlug meine Zuversicht jäh um. Sollte ich mich täuschen? Noch einige Sprossen höher, und dann die traurige Gewissheit: Etwa zehn Meter weiter oben war die Strecke unterbrochen – es fehlten die Leitern zwischen den Plattformen. Drei oder vier von ihnen hatte man entfernt.

Ich kletterte noch ein Stück aufwärts, kam bis zur nächsten Plattform und sah mir die Situation genau an, aber schließlich musste ich mir eingestehen, dass da nichts zu machen war … Dabei war ich meinem Ziel so nahe gekommen! Wenn ich hinaufblickte, konnte ich an der Spitze des Turms ein Kästchen erkennen; ich war sicher, dass es den Störsender und wohl auch eine Katalyt-Batterie enthielt. Wie enttäuschend, so kurz vor dem Ziel umkehren zu müssen! Das hätte mir der Soldat eigentlich sagen können.

Fluchend kletterte ich wieder hinunter.

Unten angekommen, stellte ich fest, dass der Soldat nicht mehr da war. Er hatte die Gelegenheit genutzt, sich davonzumachen.

Während meiner Exkursion auf den Bohrturm hatte Ellen die Diplomaten ohne Schwierigkeiten befreien können. Sie hatten sich schon einigermaßen von den Strapazen der letzten Tage erholt und sich zunächst aus den Vorräten der Gefriertruhen versorgen können. Übrigens hatten sie eine Nachrichtensendung von WWNews empfangen und waren bestürzt über die Meldungen von einem glücklichen Abschluss der Konferenz. Man hatte angekündigt, dass Hawk und Jafei an diesem Abend in London ankommen und über den großen Erfolg berichten würden, während die übrigen Diplomaten noch ein paar Tage auf der Eisinsel bleiben würden – um ergänzende Gespräche zu führen, vor allem aber, um den großen Erfolg gemeinsam zu feiern. Dann sei jedoch, so berichteten sie, der Empfang von einem Moment auf den anderen abgebrochen.

Ellen hatte die Diplomaten zu einem Imbiss eingeladen. Dabei informierte sie ihre Gäste über die Situation, doch hatte ich den Eindruck, dass diese sich der Gefahr, in der sie schwebten, nicht bewusst waren. Als wir uns schließlich von den Tischen erhoben, war es später Nachmittag geworden.

Ellen war noch immer von den Diplomaten umringt; sie bedrängten sie mit Wünschen, die sie nicht erfüllen konnte. Ich befreite sie aus dieser misslichen Lage, indem ich ihr auch für die anderen hörbar zuflüsterte, dass sie dringend im Büro gebraucht wurde. Sie reagierte sofort, entschuldigte sich bei den Gästen und zog sich mit mir in ihre Arbeitsräume zurück.

Ellen machte einen ziemlich gestressten Eindruck, immerhin hatte sie jetzt wieder die Verantwortung für die aufgeregten und verwirrten Diplomaten zu tragen. Wir setzten uns auf die Couch in der Ecke hinter dem Schreibtisch. »Hast du schon eine Idee?«, fragte sie, aber es klang so niedergeschlagen, dass es mich traurig machte. Für einen privaten Gedankenaustausch war jetzt keine Zeit, trotzdem ergriff ich ihre Hand.

»Es gibt nur einen Weg«, sagte ich. »Ich muss mich mit meinem Sender so weit aus dem Bereich des Störsenders entfernen, dass wieder Senden und Empfangen möglich ist. Sobald ich Verbindung mit meiner Dienststelle kriege, sind wir gerettet.«

»Du musst weg von hier?«, fragte Ellen. »Wohin gehst du? Wie lange wirst du fort sein?«

»Nicht sehr lange«, sagte ich etwas unbestimmt. »Ich nehme das Boot, das ich schon einmal benutzt habe. Und dann nehme ich den Weg, den ich gekommen bin – den kenne ich schon ganz gut. Es kommt ja nur darauf an, dass ich mich wirklich weit genug vom Störsender entferne. Ich denke, ein paar Kilometer genügen, ich gebe meine Nachricht durch und komme dann zurück. In einem Tag kann ich wieder da sein. Morgen früh breche ich auf.«

Ich merkte, dass mein Vorschlag Ellen in große Besorgnis gestürzt hatte, und versuchte sie zu beruhigen. »Es kann eigentlich gar nichts schief gehen. Es ist ja nur ein kurzes Stück, und ich kenne die Strecke.«

»Willst du allein gehen?«

»Wer könnte schon mitkommen? Es ist niemand da, der an Eistouren gewöhnt ist. Und meine Ausrüstung ist nur für eine Person ausgelegt.«

»Es wird mir schwer fallen, dich da allein draußen zu wissen«, flüsterte Ellen. »Du musst zurückkommen, hörst du? Du darfst mich nicht allein lassen.« Sie lehnte sich an mich.

»Was sind das für Gedanken? Ich werde zurückkommen – du kannst dich darauf verlassen.«

Wir blieben noch ein oder zwei Minuten in Gedanken versunken nebeneinander sitzen. Dann stand ich auf, winkte Ellen noch einmal zu und ging.

Ich hatte eine Menge zu tun. Wenn es auch nur ein kurzer Ausflug in die kalte weiße Wüste werden sollte, so musste ich das Unternehmen doch so sorgfältig vorbereiten wie eine wochenlange Expedition. Ich nahm mir jedes Stück der Ausrüstung einzeln vor und überzeugte mich davon, dass es einsatzfähig war. Die Lampen, der Heizkocher, die Nahrungsmittel und die dazugehörigen Behälter und Bestecke, der Schlafsack, Kleidung, Schuhe und Helm, Kletterhilfen, Verbandskästchen, Kompass, Toilettenpapier und natürlich das Sendeaggregat – Mikrophon und Lautsprecher, der USB-Adapter und die Batterien. Die Schuhe waren noch nicht repariert – ich hatte nicht damit gerechnet, sie hier noch einmal zu brauchen; ich beschloss, das Problem weiterhin so zu lösen wie bisher: sie mit Klebeband zu verschließen, das sich nach Gebrauch leicht wieder entfernen ließ.

Nachher ging ich noch zur Anlegestelle, um das Boot zu inspizieren: den Motor, den Treibstoffvorrat, die Steuerung, die Verkleidung. Nach menschlichem Ermessen war alles in Ordnung.

Bevor ich mich für eine kurze Nachtruhe niederlegte, fertigte ich ein Backup meiner Aufzeichnungen an und legte den Chip in den Tresor – zur doppelten Sicherung. Wer wusste schon, ob ich wohlbehalten zurückkommen würde.

Ellen hatte es sich nicht nehmen lassen, mich am Morgen zur Anlegestelle zu begleiten. Und so standen wir dann, als das Gepäck verstaut war, in einer leicht dunstigen Dämmerung beieinander und nahmen Abschied. Wir brauchten nur wenige Worte, »Leb wohl«, »Komm wieder«, »Ich denk an dich« … Dann stieg ich hinunter ins Boot.

Es war fast so wie bei meiner Ankunft, nur in umgekehrter Reihenfolge. Die Entfernung vom Pier vergrößerte sich, ich nahm Ellen nur noch als vage umrissene Gestalt wahr, der Bohrturm verschwand im Nebel … Dann war ich allein mit dem Boot und den merkwürdigen Gefühlen, die da in mir aufkamen. »Komm wieder«, »Ich denk an dich« … – zum ersten Mal kam mir die Bedeutung dieser Worte in den Sinn. Mir war, als hätte ich alle Brücken hinter mir abgebrochen.


Mittwoch, 7. Mai

Robin hatte eine Weile darüber nachgedacht, ob er mit einem großen Aufgebot an Polizeikräften vor Goroschs Grundstück auffahren sollte, doch inzwischen war er nicht mehr so optimistisch, und er beschloss, es zunächst ohne jedes Aufsehen allein mit Fay zu versuchen.

Aus dem Fundus der Behörde besorgte er sich einige Geräte, die ihm nützlich sein mochten: eine Schockpistole, einen Handscheinwerfer, einen Geruchssensor für die Verfolgung von Spuren, eine Mini-Kamera und einen winzigen Universalspeicher mit einem großen Satz an Zwischensteckern. Dazu kam noch ein Hilfsmittel, das ihm auf Wunsch extra angefertigt worden war: ein Kabel mit isolierten Klemmen, mit dem man einen Elektrozaun kurzschließen konnte – denn einen solchen hatte Fay noch erwähnt, als sie ihre Unternehmung geplant hatten. Robin mochte nicht noch einmal in Berührung mit einer solchen Einrichtung kommen.

Den Nachmittag nutzte er, um sich mit den Geräten vertraut zu machen, und Fay erzählte ihm ein bisschen aus ihrem Leben. Sie war in ärmlichen Verhältnissen in den USA aufgewachsen, hatte eine gute Ausbildung in Büroelektronik und war nach Europa gekommen, um besser zu verdienen und ihre zurückgebliebenen Geschwister zu unterstützen. Wenn es so war, wie sie es schilderte, dann konnte man verstehen, dass ihr zusätzliche Verdienstmöglichkeiten willkommen waren.

»Wenn man die Anklage gegen dich fallen lässt, dann kannst du vielleicht sogar dein Geld behalten«, sagte Robin.

Als die Dämmerung einsetzte, fuhren sie los. Sie parkten das CityCar in angemessener Entfernung von Goroschs Anwesen. Hier begann das ansteigende Sträßchen, das sie über zwei Serpentinen ans Ziel führte. Robin trug einen Rucksack, so dass man sie für verspätete Wanderer halten konnte. Sie gingen ohne anzuhalten am Haus vorbei, am Elektrozaun entlang, wo die Straße in einen Fußweg überging. Dann war der Zaun zu Ende, und an seiner statt lief der Zaun in rechtem Winkel dazu den Berg hinauf.

Dort verließen auch Robin und Fay den Weg und stiegen über die Felsen des Hangs aufwärts, in angemessener Entfernung zu den unter Spannung stehenden Drähten. Robin hatte den Fährtenleser ausgepackt und hielt den Sensor in Kniehöhe gegen den Boden gerichtet. Wenn Gorosch hier öfter vorbeikam, sollten sie seine Spuren finden.

Der Aufstieg war ein wenig beschwerlich, vor allem, weil sie beide keine festen Schuhe trugen. Sie arbeiteten sich zwischen aus dem Boden ragenden Felsen weiter aufwärts, der mit Grasbüscheln bewachsene Untergrund bot keinen festen Halt, und mehrmals blieben sie an den Dornen hängen, die ihre Spuren an Gesicht und Händen hinterließen. Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt, aber sie benutzten die Handlampe noch nicht, deren Schein von weitem zu sehen gewesen wäre. Trotzdem kamen sie gut voran.

Und dann schlug das Vibratorsignal des Sensors an … In der Tat, an der felsigen Stelle konnte man einige undeutliche Spuren erkennen. Hier schien es auch leicht, über den Zaun zu kommen, denn auf beiden Seiten ragten Felsen aus dem Boden, über die man ohne besondere Mühe steigen konnte. Das war wohl der Zugang, den Gorosch benutzt hatte. Von nun an folgten sie dem Weg, den ihnen der Spurenleser wies.

Als sie um eine Felsnase bogen, erblickten sie vor sich einen mit Flechten überzogenen, im Verfall begriffenen Betonsockel, davor verteilt einige zusammengerollte rostige Drahtseile und einen zerbrochenen Holztrog.

»Das war wohl mal eine Drahtseilbahn«, meinte Fay.

»Ja, könnte sein. Hier ist eine Rolle, da war der Trog aufgehängt. Und hier liegt das Führungsseil. Damit wurden Erze transportiert – schau, da sind noch ein paar Brocken.« Robin hob einen mit einer braunen Kruste überzogenen Stein auf und zeigte ihn Fay.

Sie schien nicht besonders interessiert. »Komm, wir sollten keine Zeit verlieren!«

Noch ein paar Schritte, eine Einebnung, teils mit Steinplatten gepflastert, und dann standen sie vor einer dunklen Öffnung in der Felswand.

»Ein Bergwerk! Das könnte das Versteck von Gorosch sein«, sagte Robin.

Jetzt schaltete er den Handscheinwerfer ein, denn nach wenigen Schritten wurde es völlig dunkel – selbst am Tag hätten sie eine Lampe gebraucht. Noch ein paar Meter, dann erreichten sie eine schwere Metalltür. Sie sah zwar alt aus, aber es war zu erkennen, dass sie vor nicht allzu langer Zeit erneuert worden war. Sie war durch einen Querbalken aus Stahl verschlossen, an dem ein schweres Schloss hing.

Robin suchte zuerst nach Alarmeinrichtungen, doch dann zögerte er nicht lange und holte die Nadelpistole heraus. Er schaltete den Laserstrahl ein, der mit einem glatten Schnitt den Bügel des Schlosses durchtrennte. Er bog ihn noch ein Stückchen auf, dann ließ er sich aus der Lasche ziehen. Gemeinsam hoben sie den schweren Querbalken an … die Tür ließ sich mühelos öffnen.

Vor ihnen führte ein Stollen leicht abwärts, der Strahl der Lampe reichte nicht bis ans Ende – er verlor sich in einem dünnen Nebel, der regungslos im Gang lag. Der Boden war feucht und glitschig, es roch modrig. Der helle Lichtstrahl stach wie eine Nadel ins Dunkel hinein und blendete mehr, als dass er erhellte. Erst als Robin auf Streulicht umgestellt hatte, wurde die Orientierung leichter.

Sie gingen langsam und vorsichtig voran und folgten dem Hauptgang, in dem Schleifspuren von Schuhen oder Stiefeln zu erkennen waren. Seitliche Öffnungen zu quer liegenden Stollen ließen sie unbeachtet.

Es gab ein paar Hindernisse zu überwinden, beispielsweise einen mit Wasser überschwemmten Gangabschnitt und einen Haufen von Steinen, die von der Decke heruntergebrochen waren. In einigen Abschnitten war die Decke durch Balkenkonstruktionen gestützt, doch diese wirkten wenig vertrauenerweckend. An einer Stufe kamen sie an einem wackeligen Geländer vorbei; als Fay es versehentlich berührte, brach es in sich zusammen.

Fast wären sie vorbeigegangen: Die Spuren bogen in einen Seitengang, der nach wenigen Schritten verschlossen war. Vor ihnen ein Gitter, an Querbalken befestigte Metallstäbe, und als Robin die Lampe darauf richtete, glaubten sie, ein Gespenst zu erkennen: Augen, die sie durch die Stäbe hinweg anstarrten, zerzaustes weißes Haar.

»Wer seid ihr?«, fragte eine heisere Stimme.

Robin trat näher …

»Jan van der Steegen! Sind Sie es wirklich?«

»Was wollt ihr von mir! Habt ihr mir die Kerzen gebracht?«

Robin merkte, dass er den Mann mit seiner Lampe blendete, und richtete sie kurz auf sein eigenes Gesicht. »Ich bin Robin Landt. Erinnern Sie sich nicht an mich? Ich gehöre zu Ihrer Abteilung. Und das ist Fay McCain …« Er ließ die Lampe wieder sinken und griff nach der Nadelpistole. »Wir holen Sie raus, haben Sie einen Moment Geduld. Das werden wir gleich haben.«

In der Tat war es leicht, die Stäbe zu durchtrennen. Mit einem Zischen schnitt sich der Laserstrahl durch das rostige Eisen.

»Ich dachte, man bringt mir das Essen. Einmal am Tag, am Abend … sie haben mir die Uhr gelassen.« Van der Steegen schien gesund, aber etwas verwirrt. »Ich habe um Kerzen gebeten. Wo bringt ihr mich hin?« Robin musste ihn auffordern, aus dem Verschlag herauszutreten.

Jan wurde langsam wieder klarer. »Wo ist Michèle?«, fragte er. »Wie geht es ihr?«

Was für ein Zufall! Dass gerade ich als Befreier von Jan auftreten muss, dachte Robin. »Sie ist in Sicherheit, es geht ihr gut«, antwortete er. Doch jetzt sollte er lieber an den Zweck seines Vorhabens denken als an Michèle … »Wir suchen nach Aufzeichnungen, Speicherplatten oder Chips. Wo könnten sie sein?«

Van der Steegen deutete auf eine Stelle in der Wand. »Dort ist eine Kiste. Einmal habe ich gesehen … jemand hat etwas darin verstaut. Aber wir müssen uns beeilen, die beiden Männer können jeden Moment kommen.«

Als hätte er es vorausgesehen, hörten sie nun ein Geräusch – aus dem Gang, durch den sie selbst auch gekommen waren.

Robin bückte sich schnell zur angegebenen Stelle – da war die Kiste. Er hob den Deckel … hier lagen ein paar Chips, ein dünner Stoß Papier. Er öffnete seinen Rucksack, holte eine Kunststofftüte heraus und verstaute das Material in seiner Jackentasche.

»Kommt schnell«, rief er den anderen mit gedämpfter Stimme zu. Er lief mit ihnen zur Kreuzungsstelle, wobei er Jan stützte und mit sich zog. Wild entschlossen warf er den Rucksack in den weiterführenden Gangabschnitt, den sie nicht benutzten – und zwar so, dass er gut zu sehen war. Dann zog er sich mit den anderen in die gegenüberliegende Seite des Quergangs zurück und schaltete seine Lampe aus. »Ganz ruhig«, flüsterte er.

Ein paar Sekunden irrte ein Lichtstrahl über die Wände, dann tauchten zwei Männer mit gezogenen Pistolen auf. An der Kreuzung hielten sie kurz an.

»Da, ein Rucksack. Sie sind tiefer in den Stollen gelaufen. Komm!«

Die beiden verschwanden in der Fortsetzung des Hauptstollens.

Das war es, was Robin gehofft hatte. Vorsichtig schlich er vor, blickte kurz in die Gangfortsetzung hinein …

»Jetzt aber schnell!«, rief er mit unterdrückter Stimme.

Fay lief voran, Jan hinter ihr, und Robin leuchtete von hinten die Wegstrecke aus.

Zunächst kamen sie ganz gut voran, doch bald war Jan am Ende seiner Kräfte und musste sich von Robin stützen lassen. Als sie einige Sekunden Pause machten, hörten sie Stimmen aus dem hinteren Stollenabschnitt. Die Verfolger waren umgekehrt und kamen näher.

»Nur noch ein kleines Stück«, rief Robin. »Gleich haben wir es!«

Sie liefen wieder los, doch das Geräusch der Schritte hinter ihnen wurde immer lauter.

Da war die Öffnung ins Freie, sie rannten hinaus ins Dunkle, und Jan ließ sich zu Boden sinken. Robin zog die Tür hinter sich zu und legte den Balken vor. Er sah sich auf dem Boden nach dem Hängeschloss um und fand es auch sofort. Zwar war der Bügel durchschnitten, aber er fädelte den übrig gebliebenen Stumpf in die Lasche. Und schon wurden von der Innenseite Schläge hörbar – aber so schnell würde es ihren Verfolgern nicht gelingen, die Tür zu öffnen. Die Flüchtenden konnten das restliche Stück des Weges ohne besondere Eile zurücklegen. Noch immer kümmerte sich Robin um Jan, und Fay sorgte für die Beleuchtung. Zehn Minuten später standen sie unten am Weg.

»Würdest du den Wagen holen?«, fragte Robin. »Ich bringe van der Steegen bis zum Ende der Straße, dort sammelst du uns dann auf.«

Es kostete Fay einiges an Überwindung, allein in die Nacht hinauszulaufen – man sah es ihr an. Robin gab ihr die Handlampe mit auf den Weg. Er folgte ihr langsamer mit Jan; inzwischen hatte sich über ihnen ein heller Sternenhimmel ausgebreitet, der genügend Licht spendete, um den Weg zu erkennen.

Als Robin und Jan in die Nähe des Gebäudes kamen, sahen sie das Fahrzeug als dunklen Umriss am Parkplatz stehen. Sie stiegen ein, und Fay mochte keine Sekunde mehr verlieren. Sie startete – jetzt erst waren sie endgültig in Sicherheit.

Gleich nachdem sie losgefahren waren, hatte Robin seine Kontaktstelle angerufen und um ärztliche Betreuung für Jan gebeten. Sie vereinbarten einen Treffpunkt, wo sie eine Ambulanz erwartete. Jan war erschöpft auf die Rücksitze gesunken, sofort eingeschlafen und musste geweckt werden. Zwei Sanitäter halfen ihm beim Umsteigen und betteten ihn auf eine Liege im Fond des Krankenwagens. Dann setzte sich Robin wieder ins CityCar und brachte Fay in seine Wohnung. Sie war sehr enttäuscht, als er ihr erklärte, dass die Auswertung des erbeuteten Materials unverzüglich beginnen musste und er dabei in seiner Dienststelle gebraucht wurde.


Donnerstag, 8. Mai

Robin fuhr ins Gerichtsgebäude, wo ihn Josz mit drei Mitarbeitern erwartete. Sie arbeiteten die ganze Nacht hindurch, dann lag ein Ausdruck mit einer Menge unzusammenhängender Textfragmente und Zahlenreihen vor ihnen – das war die gesamte Ausbeute des mühevollen Unternehmens. Von irgendwelchen Dokumenten, die über geplante Aktionen Auskunft geben würden, konnte keine Rede sein. Am wertvollsten waren noch einige in ein Diktiergerät gesprochene Stichworte; der Chip war von Gorosch offenbar als Erinnerungshilfe aufbewahrt worden.

Mit der langwierigen Tüftelarbeit waren die fünf Männer beschäftigt. Um auch das Letzte aus den Daten herauszuholen, war noch eine computerunterstützte logische Analyse nötig, darunter auch ein Vergleich mit allen anderen bereits vorliegenden Unterlagen. Eine Gruppe von spezialisierten Fachleuten übernahm diesen abschließenden Teil der Arbeit. Es dämmerte schon, als einer der Beamten bei Robin erschien: Ihm war es gelungen, eine verschlüsselte Nachricht zu dechiffrieren: Es handelte sich um die Organisation eines Transports, mit dem Truppen aus einem »Katastrophengebiet« herausgebracht werden sollten. Es war weder klar, um welche Truppen es sich handelte, noch, wo dieses Katastrophengebiet lag. Das Auffällige daran war aber die Tatsache, dass dafür ein konkretes Datum angegeben war: 13. Mai, 9 Uhr vormittags – eine Katastrophe, die auf Tage hinweg vorausgeplant war! Und dieses Datum stand unmittelbar bevor!

Robin dachte angestrengt nach, doch es fehlten einfach zu viele Informationen. Und er geriet in noch größere Verwirrung, als ein Kollege ins Zimmer gelaufen kam und ihn darauf hinwies, dass es sensationelle Neuigkeiten von der Internationalen Konferenz gäbe: Erstmals sei die Nachrichtensperre aufgehoben, es habe einen entscheidenden Durchbruch gegeben. Einige Delegierte würden sich demnächst zur Lage äußern, und so schaltete Robin den Kanal von WWNews ein. Sollte die Tagung wider Erwarten zufriedenstellend verlaufen sein?

Was dann bekannt gegeben wurde, machte die Konfusion in Robins Kopf perfekt. Da war von einer Einigung die Rede, von der Zustimmung aller Teilnehmer zu einem bahnbrechenden Vorschlag, und auch die um Stellungnahmen gebetenen Diplomaten zeigten sich optimistisch, sie seien über die Fortschritte hocherfreut und rechneten mit einem raschen Abschluss der Verhandlungen. In Kürze würden Einzelheiten über diesen gewaltigen Schritt in eine bessere Welt verkündet werden. Das klang alles sehr positiv. Fast zu positiv …

Robin fiel etwas Merkwürdiges an den Kommentaren der Delegierten auf: Dem Sinn nach zeigten sich alle von den Ergebnissen begeistert, doch in den Klang der Stimmen mischte sich ein merkwürdiger Ton, der nicht zu den Aussagen passte. Was wurde da gespielt?

Robert beschloss, sich bei nächster Gelegenheit im internen Netz nach Hinweisen umzuschauen, die seine Bedenken bestätigen oder entkräften könnten, aber zunächst musste er bei seinen Auswertungsarbeiten bleiben.

Der neue Tag hatte schon begonnen, als Robin sich schließlich zurückzog, doch an Schlaf war trotzdem nicht zu denken. Er musste sich um Fay kümmern. Sie hatte ihren Teil der Abmachung erfüllt, und nun war er ihr auch die Belohnung schuldig.

Es dauerte wieder ein paar Stunden, bis alle Formalitäten erledigt waren. Und als Robin schließlich die Entlassungspapiere in der Hand hielt, machte ihn der Beamte auf einen Umstand aufmerksam, den Robin bisher übersehen hatte: Die Anklage von Fay war zwar zurückgezogen worden, und sie konnte wegen desselben Vergehens nicht mehr belangt werden. Andererseits hatte sie gegen mehrere Vorschriften ihres Arbeitgebers, des Gerichtshofs, verstoßen, und somit stand ihr ein zivilrechtlicher Prozess bevor. Robin war zumute, als hätte er Fay mit falschen Versprechungen hinters Licht geführt.

Fay hatte Robin in seiner Wohnung erwartet, und da blieb ihm nichts anderes übrig, als die Karten auf den Tisch zu legen. Sie war weniger enttäuscht, als er befürchtet hatte. »Ich habe so etwas erwartet«, meinte Fay. »Es ist doch klar, dass ich nicht mehr an meine Arbeitsstelle zurückkehren kann. Ich werde in die USA zurückkehren und nicht erst warten, bis ein Prozess gegen mich angestrengt wird. Ich reise heute noch ab.«

Fay hatte die paar Sachen, die sie schon im Gefängnis bei sich gehabt hatte, in ihre Tasche gepackt und sie im Flur bereitgestellt.

Robin musste ihr zustimmen: Er würde sie nicht aufhalten. Was konnte er noch für sie tun? Er steckte ihr einen Umschlag mit Creditscheinen zu – anstelle des Geldes, das bei ihrer Verhaftung beschlagnahmt worden war. »Nimm das, du wirst es brauchen.«

Die Situation hatte sich auf merkwürdige Weise geändert. In den letzten zwei Tagen hatten sie aufregende Stunden miteinander verbracht, waren sich nahe gekommen, und Fay war wieder in Freiheit. Und nun, ganz plötzlich, stand ihnen der Abschied bevor. Sie umarmten sich noch einmal, dann nahm Fay ihre Tasche und ging die paar Schritte zum Aufzug. Robin begleitete sie. Das letzte Mal sah er sie durch das Fenster der Liftkabine, die sie unwiderruflich forttrug. Irgendetwas daran erinnerte ihn an eine ähnliche Situation, aber das wühlte Erinnerungen in ihm auf, an die er jetzt nicht denken wollte.

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