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14. Oktober 2375

Higby V


Nächste Woche brechen wir von hier aus zu einem Stern mit der Bezeichnung GGC 1145591 auf. Dort befindet sich unser Asteroid. Und mit etwas Glück befindet sich dort auch der Roboter der Erhabenen.

GGC 1145591 hat keinen richtigen Namen, nur eine Katalognummer. Dieser Stern ist zweiundsiebzig Lichtjahre von der Erde entfernt, und die Sonne, die ihm am nächsten ist und deren Namen du vielleicht kennst, heißt Aldebaran — und ist unserem Ziel eigentlich ganz und gar nicht nahe. Vor einer Milliarde Jahren jedoch waren Aldebaran und GGC 1145591 stellare Nachbarn, und das war einer der Hinweise, die es Luna City ermöglichten, unseren Stern ausfindig zu machen. Es erstaunt mich, daß die Astronomen, die eine Milliarde Jahre alte Position einer Sonne errechnen können, obwohl sie dazu nur die Daten der während der letzten vier- oder fünfhundert Jahre aufgezeichneten Beobachtungen zur Verfügung haben. Doch sie sind sich ziemlich sicher, den richtigen Stern gefunden zu haben. Es ist so, als nähmen sie eine Filmaufnahme des heutigen Sternhimmels und ließen sie so lange zurücklaufen, bis sie mit dem eine Milliarde Jahre alten Bild übereinstimmt, das uns die Erhabenen hinterlassen haben.

Luna City hat uns mitgeteilt, daß unsere Kugelsequenz vor genau 941285008 Jahren aufgenommen worden ist. Meiner Meinung nach gehört eine gehörige Portion Großspurigkeit dazu, eine solch dogmatische Feststellung zu treffen. Aber das hat ihr Computer nun einmal errechnet, und ich vermute, es stimmt. Das bestätigt einmal mehr unsere eigene Datierung der Erhabenen-Kultur.

GGC 1145591 ist von der Erde aus nicht sichtbar. Auch nicht von irgendwo anders. Vor 941285 008 Jahren war dieser Stern ein Weißer Zwerg, doch in der Zwischenzeit ist er fast ganz ausgebrannt und somit zu einem Schwarzen Zwerg geworden. Keine Wärmeausstrahlung, die der Rede wert wäre, und deshalb auch keine Leuchtkraft; eine sterbende Sonne, unsichtbar. Sie wurde vor rund vierzig Jahren von einem Scoutschiff des Dunkelstern-Forschungsprojekts entdeckt. Wenn es nicht zu diesem Glücksfall gekommen wäre, hätte sie niemand für uns ausfindig machen können, denn sie kann weder mit optischen Teleskopen noch mit Radio- oder Röntgenastronomie ausfindig gemacht werden.

Wir erhöhten unsere TP-Rechnung noch ein wenig, indem wir Zentralgalaxis von unserem Vorhaben informierten. Dr. Schein fühlte sich moralisch dazu verpflichtet, sie davon in Kenntnis zu setzen, daß wir die Arbeiten auf Higby V abbrachen. O Mann! Was für ein Aufruhr! Ich habe Dr. Schein zur Stadt gefahren, damit er die Nachricht dort weitergeben konnte. Ich war nicht bei ihm, als er die Mitteilung Nachman Ben-Dov gab, der sie an Zentralgalaxis übertragen sollte, aber als er aus dem TP- Büro zurückkam, war sein Gesicht finster und angespannt.

„Sie sind fast geplatzt vor Wut“, erzählte er mir. „Der TP meint, sie hätten praktisch Gammastrahlen verspritzt. Wie wir uns erdreisten könnten, einfach von Higby V abzuhauen! Was für Archäologen wir eigentlich wären! Ob wir verrückt geworden seien, auf Asteroidenjagd zu gehen!“ Ich hatte Dr. Schein noch nie so aufgebracht gesehen. „Zentralgalaxis verwendete den Ausdruck Pflichtvergessenheit. Ich glaube, sie nannten uns auch laienhaft. Sie können nicht begreifen, warum wir nicht die vollen zwei Jahre lang hier weitergraben wollen.“

„Haben Sie ihnen von den TP-Kosten berichtet?“ fragte ich.

„So weit bin ich gar nicht gekommen“, seufzte Dr. Schein.

Er fiel in ein düsteres Schweigen, als wir zum Lager zurückfuhren. Auf halbem Wege fragte ich: „Was sollen wir jetzt machen?“

„Wir fliegen nach GGC 1145591 und suchen die Asteroidengruft.“

„Trotz Zentralgalaxis?“

„Trotz Zentralgalaxis“, antwortete Dr. Schein. „Es gibt jetzt kein Zurück mehr für uns.“

Seine Stimme klang entschlossen.

Während der nächsten paar Tage waren Dr. Schein, Dr. Horkkk und Pilazinool mit fast permanent tagenden Konferenzen ausgelastet, und Dr. Schein unternahm einige weitere Ausflüge zur Stadt, um via TP mit Zentralgalaxis zu diskutieren. Zu uns Handlangern sickerten praktisch keine Informationen über diese Vorgänge durch. Manchmal ließ Dr. Schein seinem Chauffeur gegenüber ein paar Worte fallen, manchmal nicht. In der Zwischenzeit gruben wir tiefer, datierten, sahen uns die Kugelprojektionen an und führten auch all die anderen Arbeiten wie gewöhnlich weiter. Dies war die Mischung aus Tatsachen und Gerüchten, die wir zusammensetzten:

— Pilazinool ist ganz entschieden dafür, nach 1145591 zu fliegen, ungeachtet aller möglichen Konsequenzen.

— Dr. Horkkk furchtet nach reiflicher Überlegung um seine berufliche Reputation und würde es nun vorziehen, so lange auf Higby V zu bleiben, wie es unsere Finanzen zulassen.

— Dr. Schein schwankt zwischen diesen beiden Positionen, ist im allgemeinen aber der Auffassung, wir hätten unserem Ruf bereits irreparablen Schaden zugefügt und könnten die Reise deshalb ebensogut unternehmen.

Und weiter:

— Alle unsere Zuschüsse sind gestrichen, und wir werden zu einer ordentlichen Abreibung nach Zentralgalaxis zurückbeordert. (Dies ist von Dr. Schein dementiert worden.)

Zentralgalaxis besteht darauf, daß wir unsere Ausgrabungen hier fortsetzen, schickt aber eine separate Expedition nach 1145591. (Das macht noch immer die Runde, unbestätigt.)

— Wir sind von unserer finanziellen Unterstützung abgeschnitten, aber Dr. Schein versucht, private Gelder für eine sofortige Expedition nach 1145591 aufzutreiben. (Am gleichen Tag von Dr. Horkkk bestätigt und von Dr. Schein dementiert. Wer von beiden lügt?)

Das einzige, was wir sicher wissen — und dessen wir uns dennoch nicht sicher sind —, ist das, was ich zu Beginn dieses Hörbriefes gesagt habe: Nächste Woche brechen wir von hier aus nach 1145591 auf. Im Laboratorium ist eine offizielle Anordnung mit diesem Inhalt ausgehängt worden. Wir sollen die Ausgrabungsarbeiten morgen beenden, die Fundstelle wieder zuschütten und unsere Sachen packen.

Es ist alles ein einziges Durcheinander.


Einen Tag später: Das Durcheinander hat sich zu einer Katastrophe ausgewachsen. Zumindest für dein liebes Brüderchen.

Nach dem Frühstück sind alle drei Chefs zur Stadt gefahren und haben den ganzen Morgen damit verbracht, via TP mit Zentralgalaxis zu sprechen. Wir anderen begannen in halbherziger und ungewisser Art und Weise damit, die Einstellung aller Arbeiten vorzubereiten. Die meisten von uns rechneten damit, daß man uns einige Stunden später sagte, wir flögen nirgendwohin und sollten die Fundstelle besser wieder ausheben, und aus diesem Grund verwendeten wir nicht viel Mühe auf die Stillegung.

Kurz nach Mittag kehrten unsere Chefs zurück. Zum erstenmal seit Beginn der Krise machten sie einen einigermaßen ruhigen und zufriedenen Eindruck. Dr. Schein lächelte sogar. Als sie aus dem Renner stiegen, sagte Dr. Horkkk: „Es ist alles klar. Wir haben die Genehmigung von Zentralgalaxis, und wir werden planmäßig nach GGC 1145591 abreisen.“

Sie verschwanden im Laboratorium. Und kurz darauf ließen sie Saul Shahmoon und Leroy Chang zu einer Besprechung zu sich kommen. Es herrschte Verschwiegenheit.

Als es Zeit zum Abendessen war, wurde folgende Mitteilung in unseren Unterkünften ausgehängt:


AN DIE MITGLIEDER DER EXPEDITION!

Wir haben mit Zentralgalaxis die Übereinkunft getroffen, die Arbeiten auf Higby V einzustellen und unsere Aufmerksamkeit unmittelbar darauf dem Sonnensystem des Schwarzen Zwergs GGC1145591 zuzuwenden. Ein Ultraraumkreuzer im Linienverkehr wird uns hier am 21. Oktober aufnehmen. Folgende Mitglieder der Expedition werden dann nach GGC 1145591 abfliegen:

Dr. Schein

Pilazinool

408b

Professor Chang

Kelly Wachmann

Mirrik

Jan Mortenson

Steen Steen


Folgende Mitglieder der Expedition werden auf Higby V bleiben, gehen am 27. Oktober an Bord eines zweiten Ultraraumkreuzers und fliegen nach Zentralgalaxis, wo sie die Kugel und andere Artefakte übergeben und über unsere bisherigen Funde berichten sollen:

Dr. Horkkk

Professor Shahmoon

Tom Rice


Wir geben unserer Hoffnung Ausdruck, daß diese Personen zu einem späteren Zeitpunkt wieder mit der Expedition zusammentreffen.


Ich las die Notiz sechsmal, und ich konnte es immer noch nicht fassen. Wie konnten sie mir das antun? Mich nach Zentralgalaxis zurückschicken? Mich von der Expedition trennen, wenn es am aufregendsten war? Ist das fair? Ich bin derjenige, der die Kugel fand. Ich bin derjenige, der den Weg aufzeigte, wie man den gesuchten Asterioden finden kann. Und jetzt… nach Zentralgalaxis davongejagt, während die anderen dem Unbekannten entgegentreten…

Jan zum Beispiel…

Ich schwankte zur anderen Aufblashütte hinüber und trat zu ihr. „Hast du die Notiz gesehen?“ fragte ich, aber ich brauchte sie nur anzusehen, um mir die Frage selbst beantworten zu können.

Sie nickte. „Ist das nicht furchtbar?“

„Jan, wie konnte das passieren?“

„Es ist eine Gemeinheit, ja, das ist es wirklich!“

„Was ist mit dieser Sache, die Kugel nach Zentralgalaxis zu schicken? Ich dachte, wir hätten uns dagegen entschieden. Und daß ich sie begleiten muß, anstatt… anstatt…“

„Ich habe mit Pilazinool darüber gesprochen“, sagte Jan. „Er meinte, das sei ein Köder für Zentralgalaxis.“

„Da komme ich nicht ganz mit.“

„Zentralgalaxis ist wütend auf uns, weil wir Higby V verlassen, nachdem für die Planung dieser Expedition so viel Mühe aufgewandt wurde.“

„Ich weiß, aber…“

„Die Chefs mußten sie irgendwie beruhigen. Pilazinool sagte, sie hätten alle Verhandlungsmethoden ausprobiert und dann schließlich die Kugel erwähnt. Zentralgalaxis will die Kugel haben. Unsere Unterhändler willigten ein, die Kugel an sie abzuschicken, unter der Bedingung, daß sie uns den Asteroiden suchen lassen.“

„Ach so“, sagte ich. „Politik also. Daran habe ich nicht gedacht. Aber warum ich? Ich habe die Kugel gefunden, oder etwa nicht? Ich habe ein Recht darauf, diese Gruft zu sehen. Ich… ich…“

„Beruhige dich“, murmelte Jan. „Mich brauchst du nicht anzuschreien, verrückter Kerl! Ich bin bereits auf deiner Seite. Du mußt mit Dr. Schein sprechen und ihm deutlich machen, wie unfair dies ist. Vielleicht hat er sich nicht die Mühe gemacht, darüber nachzudenken — vielleicht ist er nur einfach so auf dich gekommen. Geh jetzt zu ihm. Wir werden dir alle den Rücken stärken, Tom. Wir setzen eine Bittschrift auf oder so.“ Sie gab mir einen kleinen Kuß auf die Wange, nichts Leidenschaftliches, eine Art Wir-sind-auf-deiner-Seite-Kuß. Dann drehte sie mich um und schob mich in Richtung Laboratorium.

Steif schritt ich hinüber und spähte hinein. Dr. Horkkk und 408b diskutierten miteinander. Aus irgendeinem Grund wollte ich keine Aliens um Gnade bitten, deshalb fragte ich: „Ist Dr. Schein da?“

„Zur Stadt zurückgefahren“, antwortete Dr. Horkkk scharf. „Worum geht’s?“

„Pilazinool vielleicht…?“

„Begleitet Dr. Schein.“ Noch schärfer diesmal.

„Nun“, sagte ich schwach, „ich wollte nur eine Frage stellen. In Hinsicht auf die drei Personen, die die Kugel nach Zentralgalaxis bringen sollen. Falls es möglich ist, Dr. Horkkk, dann wäre ich gern von diesem Auftrag entbunden. Ich meine, wenn ich nach Zentralgalaxis fliegen muß, dann bedeutet das doch, daß ich fast ein Jahr lang nicht an der Expedition teilnehmen kann, und…“

Dr. Horkkk winkte mit seinen Armen barsch ab. „Besprechen Sie das mit jemand anders!“ schnappte er. „Diese Einteilungsfragen fallen nicht in mein Ressort.“

Abgeblitzt. Verschwinden Sie, Rice, ich habe keine Zeit für Sie.

Dr. Schein und Pilazinool kehrten erst am späten Abend ins Lager zurück, rund eine Stunde vor diesem Diktat. Sie gingen geradewegs ins Laboratorium, und dort halten sie sich immer noch auf. Ich weiß nicht, was dies alles zu bedeuten hat, Lorie. Aber ich lasse mich nicht einfach so abschieben, ohne mich dagegen zu wehren. Ich habe mir einen Platz in dieser Expedition verdient!


16. Oktober


Ich wartete die halbe Nacht darauf, daß Dr. Schein zu unserer Unterkunft kam, aber er zeigte sich nicht, und schließlich schlief ich ein. Während des Frühstücks am nächsten Morgen ging ich zu ihm hinüber und sagte versuchsweise: „Dr. Schein, wenn ich Sie in Hinsicht auf einen bestimmten Aspekt der gestern ausgehängten Notiz stören dürfte…“

„Später, Tom, später. Im Augenblick habe ich nicht die Zeit, Nebensächlichkeiten zu diskutieren.“

Wieder eine Abfuhr. Alle zu beschäftigt für den kleinen, armen Tom. Ich ging zur Fundstelle und trat zu den anderen, die dabei waren, die Grube wieder zuzuschütten. Mirrik versuchte, mich mit paradoxistischen Sprichwörtern zu trösten. „Wer Schmähung und Zurückweisung erleidet“, sagte Mirrik, „lernt die Wurzeln des Meeres zu erfassen.“ Und weiter: „Die Hohen Mächte belohnen uns äußerst liebevoll, indem sie sich nicht um uns kümmern.“ Und außerdem: „Er allein übt Gnade dem gegenüber, dem niemand gnädig ist.“

„Sehr tröstlich, Mirrik.“

„Meditation und Konzentration führen zu Verständnis, mein Freund. Vielleicht erweist sich dieser Kummer als hilfreich für dich.“

„Davon bin ich überzeugt“, gab ich zurück.

Dann kam Jan zu mir: ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch, eine überkritische Masse unmittelbar vor der Explosion. „Weißt du, was ich gerade herausgefunden habe?“ fragte sie mich herausfordernd.

„Natürlich“, sagte ich bitter. „Da ich ein TP bin, macht es mir überhaupt keine Schwierigkeiten, deine Gedanken zu lesen und…“

„Sei still, Tom. Ich habe gerade erfahren, wer die Liste aufgestellt und festgelegt hat, wer nach 1145591 und wer nach Zentralgalaxis fliegt. Es war Leroy Chang.“

„Leroy Chang“, sagte ich. „Das ist eigenartig. Warum hat er sie angefertigt?“

„Dr. Schein hat ihn darum gebeten“, antwortete Jan. „Unsere drei Chefs waren zu beschäftigt. Er hat die Notiz runtergetippt und dann vervielfältigt. Aber begreifst du denn nicht, Tom? Leroy Chang! Leroy Chang!“

„Leroy Chang“, sagte ich noch einmal. „Ja, ich habe dich verstanden.“

„Aber du denkst nicht nach! Die Liste legt fest, daß du nach Zentralgalaxis fliegst und ich nach 1145591… und daß Professor Chang ebenfalls nach 1145591 fliegt! Leroy hat das mit Absicht so arrangiert…“

„Jetzt funktioniert die Übertragung, Jan. Ich habe alles empfangen!“

„Ist das nicht wirklich alles?“

„Wo hält sich Leroy jetzt auf?“

„Im Laboratorium; er packt Inschriftsknoten zusammen.“

Ich sprintete zum Laboratorium. „Das Universum ist ein umkehrbares Wunder, Tom!“ rief Mirrik mir nach. „Paradoxistisches Sprichwort!“

„Danke!“ rief ich zurück.

Seit einigen Wochen nun schon — seit Leroy Jan nachgestellt hatte — gebe ich mir alle Mühe, die Gegenwart Professor Changs zu meiden. Und Leroy hat mich seinerseits ebenfalls nicht angesprochen, aus gutem Grund. In der letzten Zeit ist er eine Art zwielichtige, umherschleichende Gestalt gewesen, hat irgendwo am Rande meines Blickfeldes herumgeschnüffelt und gelegentlich einen verlangenden Blick auf Jan oder Kelly geworfen. Ich hatte eher Mitleid mit ihm, als daß ich ihn haßte: nur ein finsterer Typ von jener Art, der man in heruntergekommenen Sensikinos großer Städte begegnet. Jetzt aber war ich drauf und dran, ihn auseinanderzunehmen.

Ich sah ins Laboratorium hinein und entdeckte ihn im Hintergrund; er war tatsächlich damit beschäftigt, Inschriftsknoten zusammenzupacken. Dr. Schein und Pilazinool waren ebenfalls anwesend, und in ihrer Gegenwart wollte ich keine Szene machen. „Professor Chang“, sagte ich deshalb ganz ruhig. „Könnte ich Sie kurz sprechen?“

„Hat es noch etwas Zeit?“

„Ich fürchte, nein.“

„In Ordnung. Um was geht’s?“

„Wir haben drüben bei der Fundstelle etwas entdeckt, das Sie vielleicht untersuchen sollten. Wir wissen nicht so recht, was wir damit anfangen sollen, und bevor wir alles wieder zuschütten, hielten wir es für besser, wenn Sie es sich einmal ansähen.“

Er fiel darauf herein.

Schweigend gingen wir zur Fundstelle. Aber wir betraten die Grube nicht. Vor einem Hügel aus Ausgrabungsschutt, den wir bisher noch nicht wieder abgetragen hatten, hielt ich an. Es begann zu nieseln. „Bleiben wir hier stehen, Leroy“, sagte ich. „Laß uns ein bißchen plaudern.“

„Ich verstehe nicht.“

„Das wirst du. Man hat mir erzählt, du hättest die Liste aufgestellt, in der festgelegt wird, wer die Kugel nach Zentralgalaxis begleitet.“

„Ja.“ Wachsam.

„Wieso?“

„Weil mich Dr. Schein darum gebeten hat. Es war nur eine Routineangelegenheit.“

„Dann hast du mich also ganz routinemäßig von den anderen Expeditionsmitgliedern getrennt“, sagte ich. „Und gleichzeitig dafür gesorgt, daß du beim Flug zum Asteroiden mit von der Partie bist. Und Jan ebenfalls.“

„Du hast die Kugel entdeckt, Tom“, antwortete Leroy. „Ich habe einfach angenommen, daß du sie begleiten und dich persönlich um ihre Sicherheit kümmern möchtest.“

Diese Art von Begründung beeindruckte mich nicht. „Was würdest du davon halten, wenn ich dich in die Ausgrabungsgrube schmeiße?“ fragte ich.

Leroy trat von mir zurück. „Was sind das für Worte? Was ist das für ein Ton?“

„Primitives und altmodisches Kriegsgeheul. Du dreckiger Schweinehund! Ich sollte wohl ruhig zusehen und gute Miene zum bösen Spiel machen, während du mich ganz elegant in eine Flugbahn schießt, die geradewegs zur Sonne führt?“

„Ich verstehe nicht.“

„Das sagtest du bereits. Ich werde dir ein altes paradoxistisches Sprichwort nennen: Das Universum ist ein umkehrbares Wunder. Weißt du, was du für mich tun sollst?“

„Ich mag die Art und Weise nicht, in der du mit mir sprichst, Tom“.

„Halt die Klappe, Mensch! Ich will, daß du dich der Gruppe zuteilst, die nach Zentralgalaxis fliegen soll. An meiner Stelle.“

„Aber…“

„Ich fliege mit zum Asteroiden. Und du wanderst mit dem Kopf voran in die Grube, wenn du nicht mitspielst.“

Ich trat einen Schritt auf ihn zu. Er gab ein gurgelndes Geräusch von sich und wurde blaß. Ich verabscheue Brutalität und brutale Kerle, aber in jenem Augenblick hatte ich kein Mitleid mit ihm — vor allem, als ich daran dachte, wie er Jan belästigt hatte.

Chang setzte an: „Diese Androhung physischer Gewaltanwendung…“

„… wird in die Tat umgesetzt…“

„… ist widerlich, Tom.“

„In die Grube!“ schrie ich und führte einen Scheinangriff auf ihn aus. Er quiekte ängstlich. Ich packte ihn bei den Schultern, warf ihn aber nicht hinein. Statt dessen beugte ich mich vor und sagte nahe seinem Ohr: „Was würde Dr. Schein von dir halten, Leroy, wenn sich Jan bei ihm über deinen Versuch, sie zu vergewaltigen, beschwerte?“

Leroy schauderte. Er ließ die Schultern hängen.

Ich bezweifle sehr, ob die Beschwerde über eine versuchte Vergewaltigung, Wochen nach dem Vorfall eingereicht und unter solchen Umständen, vor Gericht viel hergegeben hätte. Aber Leute mit ausgeprägtem Schuldbewußtsein sind leicht zu erpressen. Leroy starrte mich an, tobte ein wenig, murmelte, ich würde ihn quälen und verleumden, und kapitulierte bedingungslos. „Was genau soll ich für dich tun?“

Ich sagte es ihm.

Er tat es.

Heute abend wurde eine überarbeitete Einteilungsliste ausgehängt. Mein Name steht nun bei denen, die sich auf die Suche nach dem Asteroiden machen werden. Professor Leroy Chang ersetzt mich in der Gruppe, die nach Zentralgalaxis zurückkehrt. Ich werde ihn nicht vermissen. Und Jan auch nicht.


17. Oktober


Es geht noch weiter mit diesem Marathonbrief. Die heutige Neuigkeit besteht darin, daß ich mich selbst aufs Kreuz gelegt habe. Aber ich hatte keine andere Wahl.

Weißt du, wie es ist, wenn man so auf eine Nebensache fixiert ist, daß man etwas von wirklicher Bedeutung einfach übersieht? Altes paradoxistisches Sprichwort: Wer die Hauptsache aus den Augen verliert, wird den Beginn des Goldenen Zeitalters verschlafen. Ich war ganz damit beschäftigt, mich aus dieser Zentralgalaxis-Angelegenheit herauszumanövrieren, und habe übersehen, was mir sofort hätte auffallen müssen. Was uns allen sofort hätte auffallen müssen.

Nach meinem morgendlichen Lichtblick stöberte ich Dr. Schein auf. „Sir“, sagte ich in meinem demütigen Lehrlings-Tonfall, „ich habe eine hypothetische Frage. Was ist, wenn wir den Asteroiden gefunden haben und sich herausstellt, daß der Roboter noch immer funktionsfähig ist und so? Wie können wir uns mit ihm in Verbindung setzen? Wie können wir ihm mitteilen, wer wir sind und wieviel Zeit vergangen ist?“

„Das wird wahrscheinlich nicht möglich sein, Tom.“

„Aber es könnte möglich sein! Wir haben einen Ausweis. Ein Beglaubigungsschreiben. Wir haben uns nur dazu entschlossen, es nicht mitzunehmen.“

„Da komme ich nicht ganz mit, Tom“

„Ich meine die Kugel, Sir!“

Dr. Schein runzelte die Stirn. Schürzte die Lippen. Dachte nach. Strahlte.

„Natürlich! Natürlich, die Kugel, die Kugel!“

Und er eilte davon, um sich mit Dr. Horkkk und Pilazinool zu beraten.

Die Konferenz dauerte eine Stunde. Dann bestellten sie uns alle zu einer für die Mittagszeit angesetzten allgemeinen Besprechung ins Laboratorium. Dr. Horkkk führte den Vorsitz. Dr. Schein saß neben ihm und schenkte mir liebevolles Lächeln. Ich war erneut der Lieblingsschüler des Lehrers.

Dr. Horkkk verflocht seine Arme, öffnete und schloß in rascher Folge seine drei vorstehenden Augen, schob einige seiner langen und vielgelenkigen Finger in den Eßmund und zeigte auf noch andere Art und Weise das ganze Spektrum der Verhaltensmuster, die die thhhianischen Äquivalente eines einleitenden Räusperns darstellen. Dann sagte er mit seiner aufgeregten und aufbrausenden und dünnen Stimme: „Ich möchte eine Planänderung vorschlagen. Sie wird einmütiges Einverständnis erfordern, denn die Konsequenzen sind möglicherweise ernsthafter Natur. Wie Sie wissen, haben wir uns einverstanden erklärt, die Kugel unverzüglich zur Analyse und Konservierung an Zentralgalaxis zu schicken. Heute wurde jedoch der Vorschlag gemacht, wir sollten die Kugel hierbehalten, als Kommunikationsmittel für den Fall, daß wir den Roboter der Erhabenen finden. Sie könnte uns sozusagen als Beglaubigungsschreiben dienen und unseren Ausweis darüber darstellen, daß wir Archäologen einer weit in der Zukunft liegenden Ära sind.“

Ich bewunderte die geschickte Übernahme meiner eigenen Worte.

„Das bedeutet“, fuhr Dr. Horkkk fort, „wir könnten dem Roboter damit demonstrieren, daß wir durch den Fund der Kugel zu ihm gelangt sind und ziemlich viel Zeit verstrichen ist, seit er auf dem Asteroiden zurückgelassen wurde. Ich kann mir vorstellen, die Kugel als Vermittler zu verwenden, so daß eine Kommunikation möglich wird. Wenn wir sie allerdings mit uns nehmen, dann begeben wir uns in direkten Gegensatz zu unserer Übereinkunft mit Zentralgalaxis. Und deshalb…“

Er rief uns zur Abstimmung auf.

Alle dafür, Zentralgalaxis zu sagen, sie könnten sich zum Teufel scheren? Elf Hände oben.

Dagegen? Niemand.

Einmütige Zustimmung. „Natürlich besteht nunmehr für keinen von uns ein Anlaß, nach Zentralgalaxis zu fliegen“, sagte Dr. Schein daraufhin. „Die ursprüngliche Anordnung wird hiermit widerrufen. Wir fliegen alle gemeinsam zum Asteroiden.“

Verdammt. Ich hatte geglaubt, ich wäre Leroy Chang für eine Zeitlang losgewesen.

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