Fröhliche Weihnachten
Im Asteroidengürtel
Wenn du einmal einen Asteroidengürtel gesehen hast, dann kennst du sie alle. Derjenige, in dem wir uns nun befinden, unterscheidet sich nicht sonderlich von dem in unserem Heimatsystem: Tausende von Planetenfragmenten, die sich in einem Wirrwarr von Umlaufbahnen bewegen. Bei den meisten von ihnen handelt es sich um unregelmäßig geformte Felsbrocken von einigen Kilometern Durchmesser oder weniger. (Unter ihnen haben wir einen entdeckt, der genauso aussah wie eine abgebrochene Bergspitze. Vielleicht war es das tatsächlich.) Aber diejenigen, auf denen wir die Gruft suchen, sind viel größer, recht ordentliche Kleinplaneten, die zwischen 100 und 180 Kilometern durchmessen. Die Gravitations-Zugkräfte, die an einem Asteroiden von solcher Größe wirksam werden, flachen hervorstehende Kanten ab und pressen den Asteroiden in die für Himmelskörper übliche Kugelform.
Bisher haben wir acht unserer einundzwanzig Asteroiden besucht. Ohne Erfolg.
Wir verwenden eine zweistufige Suchtechnik. Zunächst bringen wir unsere Fähre in einen Orbit um den zu überprüfenden Asteroiden. Während wir ihn umkreisen, werfen wir eine Sonde raus, die große und nahe der Oberfläche befindliche Höhlen lokalisieren soll. Unsere Instrumente sind empfindlich genug, um eine Höhle von der Größe der Erhabenen-Gruft ausfindig machen zu können. Wenn wir irgend etwas verzeichnen, gehen zwei von uns in Landekokons nieder, um es sich näher anzusehen.
Die meisten dieser Asteroiden, bei denen es sich um die Überreste eines zerbrochenen Planeten handelt, sind durch und durch massiv — keine unterirdischen Höhlen von der richtigen Größe oder in der richtigen Lage. (Denk daran, die Erhabenen bauten ihre Gruft im Hang eines Hügels. Da es auf einem atmosphärelosen Planeten oder Asteroiden keine Erosion und auf einem so kleinen Himmelskörper auch keine innervulkanische Aktivität gibt, müßte dieser Hügel noch immer so beschaffen sein wie vor einer Milliarde Jahren.)
Bisher sind wir dreimal hinuntergegangen, und es erwies sich jedesmal als blinder Alarm. Der allererste Asteroid, den wir überprüften, schien über eine Höhle an genau der richtigen Stelle zu verfügen, und wir dachten, das sei zu schön, um wahr zu sein. Das war es tatsächlich. Pilazinool und Kelly gingen runter, und als sich Kelly in den Hügelhang bohrte, entdeckte sie, daß sich im Innern des Hügels überhaupt keine Höhle befand, sondern nur ein großes Salzlager. Wir hatten die Daten unseres Sonargerätes falsch interpretiert. Drei Asteroiden später waren Saul und Steen an der Reihe, aber sie mußten feststellen, daß die geortete Höhle natürlichen Ursprungs war. Und beim siebten Asteroiden gingen Leroy Chang und Dr. Schein hinunter, nur um zu entdecken, daß wir die Signale der Sonde erneut falsch bewertet hatten. Was wir für ein Loch im Boden gehalten hatten, erwies sich als ein großer Teich aus Quecksilber, nicht mehr und nicht weniger.
Diese falsche Auslegung kam uns nicht unbedingt ungelegen. Captain Ludwig hüpfte sofort in einen Kokon und flog zur Inspektion hinab.
„Ihr habt hier Quecksilber im Werte von einer Million Krediteinheiten entdeckt“, berichtete er. „Hab’ das Zeug noch nie steinhart gefroren gesehen, aber hier ist das der Fall. Wenn ihr klug seid, macht ihr sofort euren Anspruch auf die Mine geltend.“
Wir verstanden nicht viel von der Geltungmachung solcher Ansprüche, dafür aber Ludwig, und fröhlich ließen wir uns von ihm das Verfahren erklären. Geld ist schließlich Geld. Wir funkten unseren Anspruch zum nächsten galaktischen Nachrichtendepot, das 2,8 Lichtjahre entfernt war, beschrieben die Koordinaten des Asteroiden und baten darum, uns als Entdecker der Mine zu registrieren. Natürlich wird es fast drei Jahre dauern, bis unsere Nachricht das Depot erreicht und dort aufgezeichnet wird, aber damit ist zumindest der unwiderlegbare Beweis geschaffen, daß wir unseren Anspruch am 22. Dezember 2375 angemeldet haben. Sobald wir dieses System verlassen und zu einem Planeten kommen, auf dem es ein TP-Kommunikationsbüro gibt, werden wir unsere Entdeckung natürlich unverzüglich über TP bei Zentralgalaxis anzeigen und offiziell unseren Anspruch geltend machen. Vielleicht werden noch sechs Monate oder gar mehr vergehen, bis wir eine Möglichkeit haben, das zu erledigen. Aber für den unwahrscheinlichen Fall, daß bis dahin jemand anders hierherkommt, die Mine findet und sofort wieder abdampft, um den Claim via TP registrieren zu lassen, brauchen wir bloß darauf zu warten, bis unsere Funknachricht in knapp drei Jahren beim Depot hereinkommt, um unseren älteren Anspruch zu beweisen. Es gibt keine Möglichkeit, einen solchen Anspruch zu fälschen: Eine Funknachricht braucht 2,8 Jahre, um eine Distanz von 2,8 Lichtjahren zu überbrücken, und sobald unser Anspruch verzeichnet ist, kann sich unmöglich jemand darüber hinwegsetzen.
Wir beteiligen Ludwig mit 10 und seinen Kumpel Webber Registratur mit 5 Prozent am Gewinn. Dadurch werden sie beide weitaus reicher, als sie dies als Charterpiloten jemals geworden wären. Der Rest des Geldes fällt an uns, nicht an die einzelnen Personen, sondern an die Expedition als Ganzes. Wir werden es dazu verwenden, das enorme finanzielle Loch zu stopfen, das wir aufgerissen haben. Zentralgalaxis kann uns jetzt nicht länger des Betrugs, der Veruntreuung, der Überziehung unseres Budgets oder anderer Scheußlichkeiten bezichtigen.
Doch die Gruft der Erhabenen würden wir nach wie vor gerne finden.
27. Dezember
Wieder sind zwei Tage vergangen. Wir haben drei weitere Asteroiden überprüft und dabei erneut einen möglichen Standort der Gruft entdeckt. In einer halben Stunde werden Jan und ich hinuntergehen.
Nick Ludwig programmiert die Landekokons mit den Daten der hinunterführenden Flugbahn. Webber Registratur tankt sie auf. Wir anderen sitzen nervös und aufgeregt herum und fragen uns — zum vierten Mal —, ob wir diesmal ins Schwarze treffen. In zehn Minuten klettern Jan und ich in unsere Druckanzüge. In zwanzig Minuten steigen wir in die Landekokons. Und in dreißig Minuten geht’s runter. Ich habe wieder das Gefühl, als erklinge eine Ouvertüre… als beginne sich der Vorhang zu heben…
Teufel auch, wir haben sie gefunden!
Nein, das ist nicht die richtige Art und Weise, es zu erzählen, nicht mit wildem Geheul und Jubelgeschrei. Ich sollte nüchterner sein, reifer. Ich sollte es ganz ruhig erzählen, Schritt für Schritt, von dem Augenblick an, in dem wir in die Landekokons stiegen.
Die Landekokons…
Ein Landekokon stellt im wesentlichen ein Miniaturraumschiff dar, das für den Einsatz in einer Region mit geringer Schwerkraft konstruiert ist, wie etwa in einem Asteroidengürtel. Es ist eine zigarrenförmige Röhre, rund fünf Meter lang und an seiner breitesten Stelle zwei Meter dick. Aus diesem Grund kann sie nur einen Passagier aufnehmen, der während des ganzen Flugs stehenbleiben muß. Mirrik ist aufgrund seines Volumens von der Benutzung der Kokons ausgeschlossen. Dr. Horkkk ist zu klein und somit nicht in der Lage, die Kontrollen zu erreichen. Und 408b hat den falschen Körperbau: Es ist breiter als groß und paßt deshalb nicht hinein. Damit bleiben noch acht von uns übrig, die mit Kokons zur Untersuchung eines Asteroiden hinuntergehen können. Es war reine Glücksache, daß Jan und ich als viertes Team für den Abstieg eingeteilt wurden.
Wir benutzen deshalb die Landekokons, anstatt mit der ganzen Fähre hinunterzugehen, weil es Treibstoff spart. Ein Landekokon hat praktisch keine Masse, und diese Asteroiden haben praktisch keine Anziehungskraft, und deshalb ist nur ein ganz kleiner Anstoß dazu notwendig, die Fluchtgeschwindigkeit zu erreichen. Warum soll man sich die Mühe machen, ein großes Schiff in eine Landebahn zu steuern, wenn ein paar Forscher in Kokons runtersausen, sich umsehen und wieder hochsausen können? Besonders dann, wenn man nicht sicher ist, ob man das Gesuchte auch wirklich gefunden hat.
Jan und ich kletterten in unsere Druckanzüge und schwankten schwerfällig den Korridor hinunter in Richtung Kokonraum. Die Kokons lagen auf den Katapultschienen mit entriegelten und aufgeklappten oberen Hälften bereit. Ich stieg in meinen Kokon, Jan in ihren, und Pilazinool und Steen schwangen die Deckel auf uns herunter. Eine Folge von rasselnden Geräuschen zeigte mir an, daß die Kokons versiegelt wurden. Einige tausend Jahre verstrichen. Einen Teil dieser Äonen verbrachte ich mit dem Studium der Schalttafel, die direkt vor meinem Gesicht untergebracht war. Der runde und grüne Knauf öffnete den Kokon. Die rote quadratische Taste schloß ihn. Der dreieckige schwarze Knopf verriegelte ihn. Der lange gelbe Hebel zu meiner Rechten diente zur manuellen Zündung der Düsen. Der lange weiße Hebel zu meiner Linken stellte den Steuerknüppel dar.
Man sagt, es sei nicht schwieriger, einen Landekokon manuell zu fliegen, als einen Wagen mit eigener Hand zu steuern. Vielleicht. Aber das letztemal, als ich einen Wagen mit eigener Hand gesteuert habe, war während meiner Führerscheinprüfung, und ich habe nicht viel Wert auf diese Erfahrung gelegt. Mir wird ganz schwindelig bei der Vorstellung, daß vor ein paar Jahrhunderten Millionen von Autofahrern auf die Straßen losgelassen wurden und ihre Wagen selbst fahren mußten, anstatt das von den Verkehrskontroll-Computern erledigen zu lassen. Und als ich in den Landekokon stieg, brannte ich auch nicht gerade darauf, ihn ganz allein vom Asteroiden zurückzusteuern. Aber natürlich rechnete ich auch nicht damit. Ludwig kontrolliert die Kokons von der Fähre aus per Fernsteuerung. Aber wenn die Telemetrieverbindung irgendwie unterbrochen wurde…
Wie dem auch sei, sie schossen uns über die Katapultschiene ins All.
Jans Kokon kam zuerst dran. Ich wurde von meinem Katapult zwanzig Sekunden später hinausgeworfen. Als ich die Instrumente überprüfte, spürte ich nahe meinen Schulterblättern eine schwache Vibration: Der Kokoncomputer hatte die Stickstoff-Triebwerke gezündet, um uns in die von Ludwig programmierte Landebahn hineinzusteuern. Mit den Füßen voran sauste ich dem Asteroiden entgegen.
Als ich mich innerhalb des Kokons ein wenig vorbeugte und an meiner Nase entlang auf den Bildschirm starrte, konnte ich einen flüchtigen Blick auf die silberfarbene Röhre werfen, in der Jan steckte und die unter mir dahinraste. Die Geschwindigkeit der beiden Kokons war identisch, so daß wir wie mit einer unsichtbaren Kette verbunden zu sein schienen. Doch es hatte den Anschein, als stürze uns der Asteroid mit phantastischer Geschwindigkeit entgegen. Da läuft irgend etwas verkehrt, sagte ich mir. Wir sind zu schnell. Wir werden wie zwei Meteoriten auf dem Asteroiden aufschlagen. Wir werden ihn in zwei Hälften brechen.
Ganz pünktlich zündeten die Heckdüsen meines Kokons. Er verlangsamte sich und schwebte sanft dem berechneten Landepunkt auf dem Asteroiden entgegen. Die Landung selbst machte sich mit einem leichten Ruck bemerkbar. Sofort sprangen die vier Landeklinken vor und verankerten den Kokon. Ich wartete etwa zehn Sekunden lang, um ganz sicher zu sein, daß die Lage stabil war. Dann zog ich heftig an dem runden, grünen Knauf. Der Kokon klappte auf.
Ich stand mitten in einer finsteren, scheußlichen Landschaft. Hier hat nie ein Wind geweht. Hier ist nie ein Regentropfen gefallen. Hier ist nie etwas Lebendiges, nicht einmal eine Mikrobe, zu Hause gewesen. Links von mir neigte sich die Ebene, auf der ich niedergegangen war, eilig dem in unmittelbarer Nähe liegenden Horizont entgegen. Rechts von mir und dann weiter geradeaus erhob sich eine Kette von Hügeln, die wie geschrumpfte Berge aussahen, schroff und zerklüftet. Die Oberfläche des Asteroiden war kahl: keine Pflanzen, kein Erdreich, kein Eis — nur nackter Fels, pockennarbig durch die über eine Milliarde Jahre hinweg eingeschlagenen Meteoriten. Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich den Mond besuchte, Lorie. Ich war zwölf Jahre alt und hatte nie geglaubt, daß irgendein Ort so öde aussehen konnte. Aber im Vergleich mit diesem Asteroiden ist der Mond ein lieblicher Garten.
Als ich mich umsah, war ich mir plötzlich ganz sicher: Dies ist genau der richtige Ort! Vor meinen inneren Augen spielte ich zum millionsten Mal die Kugelsequenz ab. Ich sah die Ebene, auf der das Schiff der Erhabenen gelandet war, ich sah die niedrigen Hügel, die Krater, alles. Und alles paßte zusammen. Der einzige fehlende Faktor war das rosafarbene Glühen an den Hügelhängen, das blasse Licht der weißen Zwergsonne. Diese Sonne, die dem Tod nun viel näher ist, ließ nur ein Rinnsal purpurfarbenen Lichts herabtropfen. Es reichte kaum aus, die Finsternis vor mir zu durchteilen, und auch der kalte Glanz der Sterne schaffte dies nicht. Ich schaltete meinen Helmscheinwerfer ein.
Jans Kokon war etwa tausend Meter von mir entfernt gelandet, näher an den Hügeln. Sie hatte ihn ebenfalls verlassen und wartete nun auf mich. Ich winkte. Sie winkte zurück. Ich setzte mich in ihre Richtung in Bewegung. Mit dem ersten raschen Sprung legte ich zwanzig Meter zurück.
„Denken Sie an die Gravitation!“ mahnte Nick Ludwigs Stimme im Funkempfänger meines Druckanzugs.
Er überwachte mich also. Ich blickte auf und salutierte. Aber ich bewegte mich nun vorsichtiger. Da die Schwerkraft auf diesem Asteroiden so niedrig war, konnte ein richtiger, ordentlicher Sprung ausreichen, um mich ein paar tausend Meter hinaus ins Weltall zu bringen. Mit bedächtigen Schritten schloß ich zu Jan auf, und zur Begrüßung berührten wir uns gegenseitig mit den Helmen.
Zusammen gingen wir dann den Hügeln entgegen.
Jan transportierte das tragbare Sonar-Gerät, ich das Neutrino-Magnetometer. In einer becherförmigen Senke in der Ebene, nahe den Hügeln, blieben wir stehen und stellten unsere Gerätschaften auf. Wir schalteten das Sonar-Gerät ein, schwenkten es langsam kreisförmig und parallel zum Horizont herum und sandten damit so lange Lautimpulse zu den Hügeln, bis uns das registrierte Echo die Höhlung anzeigte, nach der wir suchten. Sorgfältig verzeichneten wir die Position.
Dann schritten wir näher an die Höhlung heran. Ich erspare dir die Beschreibung all des pochenden Herzklopfens, der aufgeregten und wissenden Blicke, die wir gegenseitig austauschten. Es sei hier nur erwähnt, daß Jan und ich aufgedreht und nervös waren, als wir das Neutrino-Magnetometer einschalteten und den Hügelhang damit abzutasten begannen. Als ich die Höhlung mit den Abtaststrahlen berührte, zuckte die Anzeigenadel bis ins blaue Ende des Spektrums hinein. Metall!
„Hier sind wir richtig“, funkte ich ruhig zur Fähre hinauf. „Wir haben die Gruft direkt vor uns!“
„Woher wissen Sie das?“ fragte Dr. Schein.
„Ich bekomme zwei verschiedene Dichte-Anzeigen für diesen Hügelabschnitt“, sagte ich. „Sie müssen die Tür der Gruft mit lamelliertem Fels getarnt haben. Die Neutrinos durchdringen eine etwa einen Meter dicke Felsschicht und verzeichnen dann eine große Metallplatte, die sich direkt dahinter befinden muß.“
„Und was befindet sich hinter der Tür?“
„Einen Augenblick“, gab ich zurück und justierte den Strahl des Abtasters neu. Jetzt drangen die Neutrinos tiefer in die Gruft ein. Die Nadel verblieb im blauen Bereich. Und als ich den Strahl bewegte, beschrieb mir die Anzeige mit einer Umriß-Skizzierung ein Bild von dem Inhalt der Gruft. Sie zeigte mir die Rückwände — dunkel, voller fremdartiger Maschinerie — und die Seiten, und sie kopierte dabei das sechseckige Muster der Kugelsequenz. Und sie offenbarte ein dunkles und massives Metallobjekt, das in der Mitte der Kammer auf dem Boden saß.
Der Roboter.
„Vor Schrecken gerann mir das Blut in den Adern“, heißt es immer in diesen alten Horrorgeschichten. Bis zu diesem Augenblick war ich nie in der Lage zu begreifen, wie Blut in den Adern gerinnen kann, aber jetzt weiß ich es, denn es gerann mir tatsächlich in den Adern, von den Zehenspitzen bis zur Kopfhaut. Ich hatte einen eine Milliarde Jahre alten Film vom Bau dieser Gruft gesehen. Und ich hatte gesehen, wie der Roboter der Erhabenen seine Position auf dem Boden einnahm, vor einer Milliarde Jahren, als Trilobiten und Quallen die Erde beherrschten. Und hier stand ich nun, sandte einen Neutrinostrahl in diese Gruft und stellte fest, daß der Roboter noch immer den gleichen Platz einnahm. Und ich sage dir, Lorie, ich war vor Ehrfurcht wie gelähmt.
Ich beschrieb die Anzeigen des Abtasters den anderen in der Fähre. Mein Funkgerät übertrug mir von oben herab die undeutlichen Geräusche von Freudengeheul und Jubelrufen.
„Rührt euch nicht von der Stelle“, sagte Dr. Schein. „Wir kommen runter!“
Kurz darauf verließ die Fähre ihren Parkorbit und schwenkte in eine Landebahn. Ludwig machte eine Bilderbuchlandung. Die Fähre schwebte langsam näher und setzte ganz weich in der nahen Ebene auf. Dann öffneten sich die Luken, und Menschen strömten heraus, und wir inszenierten erneut ein albernes Festival und tanzten wie Verrückte um das Neutrino-Magnetometer herum.
Jetzt müssen wir die Gruft nur noch öffnen. Das ist alles.
30. Dezember
Während ich dies diktiere, drei Tage später, versuchen wir es noch immer.
Die lamellierten Felsplatten zu entfernen, die die Tür bedeckten, war einfach. Kelly bohrte sich durch, bis sie auf Metall stieß, und Mirrik räumte den Schutt mit seinen Stoßzähnen beiseite. Die beiden brauchten fast sechs Stunden, um die ganze Tür freizulegen, die sieben Meter hoch, vier Meter breit und, unseren Messungen entsprechend, einen Meter dick ist. Die Erhabenen haben nicht daran gedacht, Platz für ein Schlüsselloch zu lassen. Aber wir hätten den Schlüssel ohnehin nicht gehabt.
Wir wagen es nicht, die Tür einfach aufzusprengen, nicht in Anbetracht all der Maschinerie der Erhabenen, die sich im Innern befindet. Und wir haben auch keinen Laser, der leistungsstark genug wäre, um damit eine einen Meter dicke Metallschicht durchschneiden zu können. Dafür haben wir aber eine Motorwinde an Bord der Fähre, und damit haben wir es heute morgen versucht. Wir befestigten Magnethaken an der Tür, die wir durch Kabel mit der Winde verbanden, und zogen. Aber die Tür rührte sich nicht, und es bestand die erhebliche Gefahr, daß die Kabel unter der Spannung zerrissen.
Heute nachmittag hat 408b einige Zeit mit der Untersuchung der Türangel verbracht. Er glaubt, unsere beste Möglichkeit bestünde darin, es von dieser Seite aus zu versuchen: Wir sollten irgendwie den Bolzen aus der Angel ziehen und die Tür dann aufschwingen. Aber die Angel ist ungefähr fünf Meter lang, und der Bolzen allein sieht aus, als wöge er einige Tonnen. Darüber hinaus ist dieses Ding seit einer Milliarde Jahren nicht mehr bewegt worden, und man kann davon ausgehen, daß es selbst auf einem luft- und wasserlosen Asteroiden zu Materialermüdung von Metall kommen kann. Vielleicht haben sich Bolzen und Angel sogar fest miteinander verbunden. In diesem Fall hätten wir ernste Probleme. Morgen früh wird es sich herausstellen.
31. Dezember
Ein düsterer, merkwürdiger und geschäftiger Tag.
Wenn wir nicht völlig durcheinandergekommen sind, ist es durchaus möglich, daß dies der letzte Tag des Jahres 2375 ist. Aber nach den heutigen hektischen Ereignissen erscheint uns eine Silvesterfeier am heutigen Abend unangebracht.
Heute morgen haben wir sofort die Angel in Angriff genommen. Bevor wir irgendeinen Versuch unternahmen, sie zu entfernen, haben wir sie durch und durch untersucht — mit einer Tridem-Abtastung, mit Messungen und Hologrammen. Wir arbeiteten, als handelte es sich um den Tragebalken eines Hauses oder irgend etwas anderes, das infolge einer Ausgrabung zerstört werden müßte. Nicht etwa, daß die Wissenschaft der Paläotechnik viele neue Erkenntnisse daraus hätte gewinnen können. Es war keine besonders fremdartige Art von Türangel. Offenbar gibt es nur eine rationelle Art und Weise, die Angel einer Tür zu konstruieren, und die Erhabenen haben das gleiche Schema wie auch auf der Erde und überall sonst verwendet. Somit bestand der interessanteste Aspekt dieser Angel darin, wie uninteressant sie war.
Danach schafften wir den leistungsfähigsten Laser der Fähre heran und begannen zu schneiden. Es nahm einige Stunden in Anspruch, die Angel über die ganze Länge aufzuschlitzen. Schließlich gelang es uns aber, sie auseinanderzuschälen und den Bolzen herauszuziehen. Daraufhin befestigten wir erneut die Magnethaken an der Tür, verkabelten sie mit der Motorwinde und begannen zu ziehen.
Die Kabel spannten sich, und wir traten zur Seite, damit wir ihnen nicht zu nahe waren, wenn sie rissen. Aber die Kabel hielten stand. Und die Tür ebenfalls. Captain Ludwig drehte die Motorwinde voll auf, so daß sie mit ihrer ganzen Kraft von fünfzig Tonnen zog, aber das Tauziehen blieb unentschieden. „Was machen wir“, fragte Steen Steen, „wenn die Winde die Fähre der Tür entgegenzieht anstatt die Tür der Fähre?“ Und es war ein guter Hinweis, denn die Zugkraft, die die Winde jetzt ausübte, reichte dazu aus, die Masse der Fähre selbst zu bewegen und sie nach vorn zu kippen.
Die Tür gab zuerst nach.
Sie öffnete sich etwa einen Zentimeter breit an der Angelseite. Ludwig veränderte die Justierung der Winde. Widerstrebend glitt die Tür einen weiteren Zentimeter auf. Dann noch einen. Und noch einen.
Was Ludwig — und uns anderen ebenfalls — Sorgen bereitete, war folgendes: Was geschah, wenn die Tür abrupt nachgab und mit einem Ruck aus der Fassung flog? Und um die Spannung noch zu steigern: Es war sehr gut möglich, daß die Winde die Tür so schnell der Fähre entgegenzog, daß eine Kollision unvermeidlich war und die Fähre beschädigt wurde. Wie ein Virtuose, der in einem galaktischen Musikwettbewerb eine chromosonische Orgel spielte, klebte Ludwig an den Kontrollen der Winde.
Ganz langsam zerrte er die Tür auf.
Erst jetzt stellten wir fest, daß von der Tür aus ein Bolzen tief in den Fels des Hügelhangs hineingetrieben war. Dieser Bolzen bog sich, während die Winde an der Angelseite der Tür zog. Und plötzlich löste sich der Bolzen aus dem Fels; Ludwig schaltete die Winde sofort herunter und nahm den Kabeln damit die Zugspannung. Die gewaltige Tür kippte aus ihrer Fassung, stellte sich schräg auf eine Seite, stürzte nach vorn und gab damit den Weg frei in die Gruft.
408b war der erste, der sich auf den nun offenen Zugang hin in Bewegung setzte. Es kletterte auf die umgestürzte Tür, blieb dort einen Augenblick stehen, starrte in die Gruft hinein und winkte aufgeregt mit seinen Tentakeln. Dies war der Höhepunkt der Laufbahn von 408b: Der Spezialist für Paläotechnologie blickte in eine Kammer, die vollgestopft war mit bestens erhaltenen Maschinen der Erhabenen. Gerade als Jan und ich die Tür erreichten, stürmte 408b begeistert in die Gruft hinein.
Ein blendender Blitz aus gelblichem Licht leckte aus dem oberen Bereich des offenen Zugangs. Einen Augenblick lang stand die ganze Öffnung in Flammen. Jan und ich stolperten zurück und bedeckten die Augen. Als wir die Hände wieder sinken ließen, war der Glanz verschwunden. Und 408b ebenfalls. Nur zwei verkohlte Tentakel, die direkt im Eingang lagen, waren von ihm übriggeblieben.
Ich bin noch nie zuvor mit dem Tod — einem dauerhaften Tod — konfrontiert worden. Ich habe einmal ein Unglück auf einer Baustelle gesehen und mehrere Unfälle, in die Fußgänger verwickelt waren, aber jedesmal kam innerhalb weniger Minuten ein Einfrierwagen an, und die Opfer wurden rasch zur Behandlung in ein Wiedererweckungs-Laboratorium gebracht. So etwas betrachtet man nicht als Tod, nur als eine Art Zwischenspiel. 408b aber war verschwunden. Jenseits aller Hoffnung auf Wiedererweckung — verstreute Atome können nicht wieder zusammengesetzt und mit neuem Leben erfüllt werden. All seine Fähigkeiten, sein Wissensschatz, seine Hoffnung auf zukünftige, neue Erkenntnisse… verschwunden.
In einer Zivilisation, in der die meisten Todesfälle nur zeitweilig sind, ist der wirkliche und endgültige Tod schrecklich und erschütternd. Wir anderen versammelten uns, traten vor der Gruft bestürzt und benommen aufeinander zu. Jan begann zu schreien. Ich nahm sie in die Arme, entdeckte dann, daß mir selbst nach Schreien zumute war, beherrschte mich aber. Mirrik betete. Pilazinool schraubte etwa zwanzigmal innerhalb von zwei Minuten seinen rechten Arm ab und wieder an. Dr. Schein fluchte leise. Steen Steen zitterte wie Espenlaub. Und Leroy Chang wandte sich ab und ließ sich als ein Häufchen Elend auf den Rand der Tür sinken. Dr. Horkkk war der einzige, der sich völlig in der Gewalt zu haben schien. „Weg vom Zugang!“ rief er, und während wir zurückwichen, nahm er einen Stein auf und warf ihn in die Gruft hinein. Erneut flackerte der Blitz auf.
Wir waren nicht ohne weiteres in der Lage, die Kammer zu betreten. Das war ziemlich klar.
Der Tod von 408b hatte uns zu sehr aus der Fassung gebracht, als daß wir sofort weitermachen konnten. Wir zogen uns in die Fähre zurück, wo Mirrik auf Dr. Scheins Bitte hin einen Gedächtnisgottesdienst für den Paläotechnologen durchführte. Nicht einmal Mirrik hatte eine Vorstellung davon, welche Art von Religion sie drüben auf Bellatrix XIV haben, und deshalb veranstaltete er eine paradoxistische Messe, knapp und irgendwie bewegend. Ich will nicht versuchen, an dieser Stelle alles zu wiederholen. Ich kann mir nur eine Stelle davon ins Gedächtnis zurückrufen, die paradoxistischste von allen: „Deine Zeit hat ein Ende, uns zu lehren, daß die Zeit endlos ist. Du verkürzt unsere Tage, auf daß unsere Tage länger werden. Du machst uns sterblich, auf daß die Ewigkeit unser sei. Vergib uns, o Vater, wie auch wir Dir vergeben. Amen.“
Eine Stunde später kehrten wir vorsichtig zur Gruft zurück.
Unsere Stimmung war natürlich düster und niedergedrückt. Doch wir bezweifelten, ob 408b gewollt hätte, daß wir lange über ihn trauerten, wenn wichtige Arbeit auf uns wartete. Wir hatten Scheinwerfer in der Ebene aufgestellt, damit wir beim Aufschneiden der Angel genügend Licht hatten. Jetzt brachten wir sie näher heran, so daß sie das Innere der Gruft ausleuchteten. Wir blickten hinein, wahrten dabei aber vorsichtig Distanz. Ich zitterte ein wenig, als der Schock des Wiedererkennens wie ein frostiger Schauer über meinen Rücken lief: Ganz deutlich sah ich die Szene vor mir, die in der Kugelsequenz veranschaulicht worden war.
Eine sechseckige Kammer. Fremdartige, rätselhafte Geräte, die an der Rückwand angebracht waren: Bildschirme und Hebel und Knoten und Schalttafel. Und der riesige Roboter saß genau in der Mitte, so massig wie ein gewaltiges Götzenbild, ein Koloß, den die Erhabenen vor zehn Millionen Jahrhunderten hier zurückgelassen hatten, damit er diese Höhle bewachte.
Die Zeit hatte dem Mechanismus im Innern dieser Gruft nichts anhaben können. Der Feuerschein, der dem Leben von 408b ein Ende gesetzt hatte, war ausreichender Beweis dafür.
Und auch dem Roboter hatte die Zeit keinen Schaden zugefügt. Es war unglaublich, aber er funktionierte noch immer. Durch die Kombination der Konstruktions-Fertigkeit der Erhabenen und einer konservierenden, luftlosen Umgebung hatte er allem Zerfall widerstehen können. Als das Licht unserer Scheinwerfer über seinen kugelförmigen Kopf blitzte, sahen wir, wie sein Sichtband als Reaktion darauf die Farbe wechselte — vielleicht das Äquivalent des Roboters zu einem Augenzwinkern. Andererseits aber gab er durch nichts zu erkennen, daß er uns wirklich bemerkte. Eine ganze Weile standen wir ihm schweigend gegenüber, vor der Gruft nebeneinander aufgereiht, und wir wagten es nicht, näher heranzugehen.
Was nun? Wir konnten nichts weiter unternehmen.
Dann fiel mir die Kugel ein und unsere Absicht, sie als Hilfsmittel für eine Verständigung zu verwenden. Ich erinnerte Dr. Schein daran, und er schickte mich zur Fähre zurück, um sie zu holen.
Die Kugel war jetzt auf Rollen montiert. Ich schob sie bis auf zwanzig Meter an den Gruftzugang heran.
„Schalten Sie sie ein“, ordnete Dr. Schein an.
Meine Hand berührte den Knauf. Um uns herum formte sich die Sphäre aus grünlichem Licht und dehnte sich so weit aus, bis ihr Umfang über die Eingangsschwelle der Gruft hinüberreichte. Bilder der Erhabenen begannen durch das Vakuum zu schweben. Ihre Luftstädte wurden gezeigt, ihre Räume, ihre Straßen, sogar die Sequenz, die den Bau genau dieser Gruft veranschaulichte. Das Sichtband des Roboters flackerte nervös. Rasch aufeinanderfolgend nahm das Glühen alle Farben des sichtbaren Spektrums an, wechselte von hellem Purpur zu Dunkelrot und ging dann in den infraroten Bereich über. Das konnte ich nicht mehr sehen, doch ich spürte eine plötzliche Hitze, die von der Gruft ausstrahlte.
Der Roboter bewegte sich.
Langsam und unbeholfen, wie eine ägyptische Mumie, die aus einem tausendjährigen Schlaf erwachte, erhob sich der sitzende Roboter, neigte sich erst nach vorn in eine Art hockende Position und faltete dann seine pfeilerartigen Beine auseinander. Wie gelähmt, erschrocken und fasziniert, sahen wir zu, wie sich das riesige Ding zu seiner vollen Größe von mindestens dreieinhalb Metern aufrichtete. Etwa eine Minute lang stand der Roboter hoch erhoben, testete seine vier Arme und streckte sie aus, als recke er sich. Er betrachtete die Szenen, die die Kugel zeigte.
Dann setzte er sich würdevoll in Bewegung und begann, aus der Gruft heraus und uns entgegenzuschreiten.
Alle um mich herum verloren den Kopf und rannten davon. Ich blieb an Ort und Stelle, mehr aus Verblüffung als aus Tapferkeit. Und so stand ich ganz allein, als der Roboter die Gruft verließ und sich an mich heranschob, ein funkelnder Metallkoloß, der fast zweimal so groß ist wie ich.
Zwei seiner Arme senkten sich. Aus Hohlräumen in den faustartigen Verdickungen am Ende jedes Arms glitten gewebeartige Finger, die die Kugel vorsichtig umfaßten. Der Roboter nahm sie auf und hob sie hoch über seinen Kopf, als wollte er sie mit zerschmetternder Wucht auf mich schleudern.
Ich wandte mich um und rannte der Fähre entgegen. Ich dachte überhaupt nicht daran, mich der niedrigen Schwerkraft anzupassen, sondern hüpfte und sprang den ganzen Weg über. Besorgte Hände streckten sich nach mir aus und zogen mich in die Fähre hinein.
Ich sah zurück. Der Roboter hatte sich nicht gerührt. Wie ein Titan, der eine Welt in seinen Klauen hält, stand er da, die Kugel noch immer hoch erhoben. Regungslos starrte er zu ihr hinauf, gefangen in einem eine Milliarde Jahre alten Traum.
Seit ich in die Fähre zurückgekehrt bin, sind nun zwei Stunden vergangen. Der Roboter hat sich während dieser Zeit nicht einmal gerührt. Wir haben uns in der Fähre zusammengedrängt, verwirrt, ängstlich, aber auch außerordentlich neugierig. Dr. Horkkk, Dr. Schein und Pilazinool beraten sich einmal mehr, vorn in der Pilotenkanzel. Ich habe keine Ahnung, was wir als nächstes unternehmen sollen. Unsere wildesten Vorstellungen sind noch übertroffen worden. Wir sind geradewegs zum Asteroiden geflogen, auf dem die Erhabenen ihre Gruft bauten; wir haben die Gruft gefunden; und wir haben auch den Roboter gefunden, in noch immer funktionsfähigem Zustand. Dies alles ähnelt der Art von Träumen, die Süchtige in Kifferpalästen kaufen können. Doch inzwischen ist der Traum von der Realität abgelöst worden. Dort draußen wartet der Roboter auf uns. Einer von uns ist bereits tot. Sollen wir es wagen, die Herausforderung anzunehmen? Oder stehlen wir uns wie Feiglinge davon, obwohl wir die größte archäologische Entdeckung aller Zeiten gemacht haben?
Ich weiß es nicht.
Und der Roboter wartet noch immer. So wie er bereits seit einer Milliarde Jahren wartet.