5. September 2375
Higby V
Heute morgen habe ich ganz persönlich etwas von größter Wichtigkeit entdeckt. Und wäre deshalb fast rausgeworfen worden. Wir wissen noch immer nicht genau, um was es sich bei meinem Fund handelt, aber wir wissen, er ist bedeutend. Möglicherweise die bedeutendste Sache in der bisherigen Erhabenen-Archäologie. Folgendes ist geschehen… Nach dem Frühstück gingen fünf von uns zur Fundstelle, um mit der Ausgrabung weiterzumachen: Jan, Leroy Chang, Mirrik, Kelly und ich. So wie die Dinge zur Zeit liegen ist ein Fünf-Mann-Team groß und leistungsfähig genug. Die anderen hielten sich im Laboratorium auf, untersuchten Artefakte, datierten, erstellten Computeranalysen und waren mit anderen Arten von Routinearbeiten beschäftigt.
Wir sind nun ziemlich tief im Hügel und haben einen beträchtlich größeren Zugang zu dem Gebiet, in dem die Erhabenen ihr Lager hatten. Überall sind Artefakte verstreut. Wir haben bereits mehr als hundert Inschriftsknoten und einen großen Karton voller Plaketten und Rätselkästen zusammen. Aber alles nur gewöhnliche Gegenstände. Nur einfach mehr als sonst.
Es war ein kühler, regnerischer Morgen. So wie immer. Wir drängten uns unter dem Wetterschild zusammen und begannen mit der Arbeit. Zunächst schaufelte Mirrik die Zuschüttung beiseite, mit der wir abends üblicherweise die tatsächliche Ausgrabungsschicht bedeckten. Dann kam Kelly mit ihren Unterdruck-Bohrkernen zum Einsatz. Unserer Arbeitsaufteilung entsprechend stieg ich in die Grube hinein, um die Grabung zu leiten; Kelly kauerte über mir und bohrte nach meinen Anweisungen den Fels an. Mirrik stand neben mir und baggerte den Schutt mit seinen Stoßzähnen zur Seite. Jan bediente die Kamera und hielt alles in drei Dimensionen fest. Und Leroy trug in seiner Eigenschaft als Senior-Archäologe dieses Teams alle Vorgänge in ein Verzeichnis ein.
Eine Stunde lang verlief die Arbeit ergebnislos. Dann stießen wir auf eine Schicht aus weichem, rosafarbenen Sandstein, in der eine ganze Menge Rätselkästen eingebettet waren. Wenn man hart und intensiv genug arbeitet, dann wird man manchmal zu einer Art Maschine, und man bewegt sich in einem automatischen, mechanischen Rhythmus. Kelly, Mirrik und ich arbeiteten auf diese Weise. Ich suchte die Stelle aus, Kelly bohrte, Mirrik räumte beiseite. Dadurch wurde ein Artefakt freigelegt, das Jan fotografierte, Leroy verzeichnete und ich vorsichtig aufhob und in die Sammelkiste legte. Zeigen, bohren, wegräumen; fotografieren, verzeichnen, aufheben. Zeigen, bohren wegräumen; fotografieren, verzeichnen, aufheben. Zeigen bohren wegräumen…
Irgend etwas Seltsames leuchtete mir aus dem Sandstein entgegen.
Es war eine hell glänzende, gewölbte Metallmasse. Aufgrund des geringen Krümmungswinkels der Wölbung schätzte ich, daß es eine Kugel mit einem Durchmesser von mindestens einem Meter war. Sie bestand aus einer der üblichen goldfarbenen Legierungen, die die Erhabenen für größere Apparaturen verwendeten. An einigen Stellen war ihre Oberfläche glatt, an anderen mit zentimeterhohen Vorsprüngen bedeckt.
„Setz den Bohrer hier an, Kelly!“ rief ich. „Wollen doch mal sehen, was wir hier gefunden haben!“
Ich wies ihr den Weg zum Rand des eingebetteten Artefakts. Sie bohrte es geschickt und feinfühlig frei, enthüllte ein paar weitere Zentimeter, dann ein bißchen mehr und noch ein bißchen. Mit den Fingern kratzte ich den Sand weg, scharrte ihn einfach zur Seite. Leroy achtete überhaupt nicht darauf, womit wir beschäftigt waren. Er war fleißig dabei, die Übersicht zu erstellen. Oder er versuchte vielleicht, Jan biologisch näherzukommen. Jedenfalls hielten sich beide ein ganzes Stück über mir am Rand der Grube auf, und ich war zu sehr ins Graben vertieft, um eine Pause einzulegen und festzustellen, ob Leroy eine bestimmte Anweisung für mich hatte.
„Hier entlang“, sagte ich zu Kelly. „Folge der Kurve. Siehst du? Setz den Bohrer hier unten an und dann…“
Kelly nickte. Sie machte einen gespannten und sehr aufgeregten Eindruck, und wenn ein Androide nervös wird, dann muß das schon einen besonderen Grund haben. Sie umfaßte beide Griffe des Gerätes und begann, sich von der Seite her hineinzubohren. Der Bohrkopf stieß auf eine große Sandsteinmasse und zersplitterte sie gründlich. Ich wollte den Schutt wegräumen, doch Mirrik meinte: „Das ist zuviel für dich, Tom. Geh zur Seite.“ Und er schob seine Stoßzähne in die Öffnung und schleuderte eine halbe Tonne Erdreich davon.
Zeigen, bohren, wegräumen. Zeigen, bohren, wegräumen. Ich war in Schweiß gebadet. Kelly konnte nicht schwitzen, aber auch sie schien erhitzt zu sein und zu glühen. Zehn Minuten lang machten wir hektisch und verbissen weiter, bis die Hälfte der Kugel freigelegt war. Ich konnte eine Schalttafel mit einer Vielzahl von Knöpfen und Tasten ausmachen.
Das war nicht die richtige Art und Weise, etwas Wichtiges auszugraben. Wir drei arbeiten mit überstürzter Hast, denn die Aufregung, einen bedeutenden Fund zu machen, hatte uns mitgerissen; wir waren nicht willens oder nicht in der Lage, vorsichtiger zu Werke zu gehen. Ich kann nicht für Mirrik und Kelly sprechen, aber ich gebe zu, daß ich die Ausgrabung dieser mysteriösen Kugel zu Ende bringen wollte, bevor einer der Senior-Archäologen mich dabei unterbrechen konnte. Ein unehrenhaftes Motiv! Und eine große Dummheit und die Zurschaustellung kolossaler Ignoranz darüber hinaus, denn ein unwissender Lehrling wie ich hätte die ganze Sache leicht vermasseln und sich damit die Verdammung der ganzen Innung einhandeln können.
Ich habe an all diese Dinge gedacht. Aber wir arbeiteten dennoch wie besessen weiter. Zeigen, bohren, wegräumen. Zeigen, bohren, wegräumen. Zeigenbohrenwegräumen. Zeigenbohrenwegräumen. Zeigenbohrenwegräumen.
Ich legte eine Pause ein, um Atem zu schöpfen, und sah hinauf. Leroy und Jan achteten nicht auf uns. Sie waren damit beschäftigt, sich körperlich näherzukommen. Zumindest Leroy, der in seiner zurückhaltenden Art und Weise die Hand auf Jans… äh, Hüfte gelegt hatte… und mit der anderen nach den Magnetknöpfen ihrer Bluse grapschte. Er versuchte, seinen Mund auf ihren zu pressen, und sie wehrte ihn mit geballten Fäusten ab. Die ganze Angelegenheit sah nach einer Vergewaltigungsszene im Film aus. Ich hätte jetzt ritterlich sein, mit einem Satz zum Grubenrand hinaufspringen, „Laß sie los, du Schuft!“ schreien und ihm alle Zähne einzeln aus dem grinsenden Maul schlagen müssen. Doch ich sagte mir folgendes: a) Jan kann sehr gut auf sich selbst aufpassen, und b) während Leroy sich mit ihr abplagt, kann er sich nicht in das einmischen, mit dem wir hier beschäftigt sind. Deshalb war ich unritterlich. Schande! Schande!
Sie bohrte ihm die Faust in die Magengrube. Leroys Gesicht lief purpurfarben an. Er faltete sich zusammen und warf sein Verzeichnis in die Grube. Jan nahm die Beine in die Hand und lief durch den Regen davon. Leroy folgte ihr und rief Worte wie: „Jan! Jan! So laß mich doch erklären!“
„Wir sind ungestört“, sagte ich zu Kelly und Mirrik. „Graben wir weiter!“
Also gruben wir weiter, unbehindert. Kelly bohrte nun unterhalb der Kugel, und ich überprüfte sie vorsichtig und versuchte, sie aus ihrer Einbettung freizurütteln. Aber es klappte nicht. Mirrik gab ihr ebenfalls einen behutsamen Stoß. Daraufhin neigte sie sich ein wenig zur Seite, verblieb ansonsten aber an Ort und Stelle. Wir konnten sehen, daß es sich um ein Prachtexemplar von Artefakt handelte, so groß, daß ich es kaum mit den Armen umspannen konnte, und an der einen Seite mit allerlei Kontrolleinrichtungen bedeckt. Weitere fünf Minuten, schätzte ich, und wir hatten die Kugel freigelegt.
„Warte“, sagte Mirrik. „Ich glaube, genau in diesem Augenblick sollte ich für den Erfolg unserer Arbeit beten.“
Mirrik machte das oft. Er ist sehr religiös, weißt du. Als Paradoxist verehrt er die gegensätzlichen Kräfte des Universums, und er platzt immer dann mit Gebeten heraus, wenn diese Kräfte besänftigt werden müssen, was ziemlich oft der Fall ist. Kelly zog ihren Bohrer zurück, und Mirrik kniete sich demütig in der Grube nieder, faltete seine riesigen Beine unter seinem massigen Körper zusammen und lehnte seine Stoßzähne an die Kugel. Er begann, in Dinamonianisch zu seufzen und zu stöhnen. Später bat ich ihn, mir das Gebet zu übersetzen, und er nannte mir diese Version:
„O Herr der Konfusionen und des Kummers, steh uns bei.
O Du, dessen Sein wir bezweifeln, bezweifle uns nicht gerade jetzt.
O Regent des Unregierbaren, o Schöpfer des Unschöpfbaren,
o Sprecher der Wahrheit, der Du lügst, laß unseren Geist wachsam sein und unsere Augen scharf.
O enthülltes Mysterium, o tugendhafte Schlechtigkeit,
o Dunkelheit im Licht, tröste uns und führe uns und geleite uns.
Laß uns keine Fehler machen.
Auf daß wir kein Bedauern empfinden.
Sei nun bei uns wie am ersten und am letzten aller Tage.
Du Hüter von Schicksalen und Zerschmetterer von Mustern,
gib uns Deine Gnade,
denn im Haß liegt die Liebe, in Blindheit liegt
Sehen, in Falschheit liegt Aufrichtigkeit.
Amen. Amen. Amen.“
Du stimmst sicher mit mir überein, daß dies eine seltsame Art von Gebet ist. Und eine seltsame Art von Religion ebenfalls. Das Problem mit den Fremden besteht darin, daß sie dazu neigen, so fremdartig zu sein. Aber ich habe Mirrik darum gebeten, mir an einem der nächsten Tage den Paradoxismus zu erklären, und vielleicht macht er das.
Als er sein Gebet beendet hatte, schob er sich zurück, bohrte seine Stoßzähne unter die große Kugel, gab ein enthusiastisches Ächzen von sich und stieß zu. Die Kugel zitterte ein wenig. Er stieß erneut zu. Die Kugel zitterte stärker.
„Her mit dem Bohrer!“ schrie ich. „Kratz einfach diese kleine Steinkruste weg, und wir haben’s geschafft!“
Mit einer Art von glücklichem Wahnsinn, der uns drei am Boden der Grube erfaßt hatte, zerrten wir, gruben mit den Stoßzähnen und bohrten. Wir behinderten uns gegenseitig, rangen um den besten Platz und grapschten nach der Kugel, was zusammen ein idiotisches Bild erster Güteklasse ergab. Wir glaubten, die Kugel nun freizubekommen, doch sie war fester eingebettet, als wir angenommen hatten, und wir waren erschreckend nahe daran, sie zu beschädigen in unserer verrückten Hast, sie freizulegen.
Plötzlich sagte eine frostige und dünne und wütende Stimme:
„Was macht ihr da? Ihr Idioten! Ihr Vandalen! Ihr Verbrecher!“
Ich sah hinauf. Dr. Horkkk starrte zu mir herunter. Seine Augen waren rot unterlaufen vor Zorn und fünfmal so groß wie sonst. Er gestikulierte mit allen seinen Armen zugleich und hüpfte auf drei Beinen herum, während er sich mit dem vierten selbst heftige Tritte versetzte: ein Verhalten, das bei den Bewohnern von Thhh helle Aufregung zum Ausdruck bringt. Sowohl sein Eß- als auch sein Sprechmund waren vor Wut weit aufgesperrt.
„Wir haben diese Kugel gefunden“, erklärte ich, „und jetzt versuchen wir, die Sandsteinschicht beiseite zu schaffen, und…“
„Ihr werdet alles zugrunde richten! Dummköpfe! Mörder!“
„Nur noch einen Augenblick, Dr. Horkkk, dann haben wir’s geschafft.“
Du mußt wissen, daß während meiner Diskussion mit Dr. Horkkk Mirrik und Kelly und ich unsere Bemühungen, die Kugel freizulegen, fortsetzten. Womöglich noch eiliger und hastiger, als hinge das Schicksal des Universums davon ab, ob wir die Kugel innerhalb der nächsten zwei Minuten aus dem Gestein herausholten. Dr. Horkkk kreischte und schrie und sprang herum. Ich hörte ihn undeutlich sagen: „… oder ich werde Sie alle drei rauswerfen!“
Andere Gesichter starrten nun in die Grube hinab. Ich warf einen Blick über die Schulter und erkannte Pilazinool, 408b, Saul Shahmoon und Jan. Halb verrückt vor Zorn, konfiszierte Dr. Horkkk Pilazinools Bein und zeigte damit auf uns, während er sich mit einem Schwall von Worten ereiferte, bei denen es sich, wie ich vermute, um die thhhianische Sprache handelte. Pilazinool versuchte ihn zu beruhigen.
Dr. Schein tauchte auf, erfaßte die Lage und sprang zu uns in die Grube herab.
Die seltsame, berserkerartige Besessenheit, die uns überwältigt hatte, löste sich in dem Augenblick auf, als er auf der Bildfläche erschien. Kelly ließ ihren Bohrer sinken, Mirrik kroch von der Kugel fort, und ich richtete mich auf und wischte mir den Schweiß von der Stirn.
„Was haben wir denn hier?“ fragte Dr. Schein freundlich.
„Ein… äh, Artefakt, Sir…“ murmelte ich.
„Höchst ungewöhnlich. Höchst ungewöhnlich. Aber warum deshalb die Eile?“
„Ich weiß nicht, Sir. Wir wurden einfach… mitgerissen…“
„Nun, wir wollen doch aber nicht mitgerissen werden, oder? Wir müssen nach einem systematischen Verfahren vorgehen, wie Dr. Horkkk bereits sagte. Ich verstehe Ihre Begeisterung, aber dennoch…“ Er runzelte die Stirn. „Wer führt das Verzeichnis bei dieser Schicht?“
„Leroy Chang“, antwortete ich.
„Wo ist er?“
Ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollte, also sagte ich gar nichts. Ich starrte zu Jan hinauf, und sie lächelte grimmig. Ihre Kleidung war ein bißchen zerknittert, und sie war durchnäßt von ihrer Flucht durch den Regen, aber sie blinzelte mir zu. Wie ich bereits erwähnte: Jan kann sehr gut auf sich selbst aufpassen.
„Wo ist Professor Chang?“ wiederholte Dr. Schein.
„Er hat die Fundstelle vor etwa zehn Minuten verlassen“, gab ich zurück Dr. Schein sah sich verwirrt um, dann tat er diesen Umstand mit einem Achselzucken ab und hob das Verzeichnis auf. „Dann lassen Sie uns jetzt weitermachen“, sagte er. „Ich führe die Aufsicht. Beenden Sie die Freilegung der Kugel… in aller Ruhe.“
Unter den aufmerksamen Blicken aller anderen und einem Dr. Schein, der das Tempo bestimmte, brachten wir die Arbeit auf fachgerechtere Weise zu Ende. Ich war verlegen und fühlte mich schuldig für die verrückte Hast, und als Dr. Horkkk in die Grube hüpfte, um die Kugel näher zu betrachten, brachte ich es nicht fertig, ihm in die Augen zu sehen. Es dauerte eine weitere halbe Stunde, die Kugel aus dem Gestein herauszulösen. Pilazinool, Dr. Schein und Dr. Horkkk diskutierten an Ort und Stelle über den Fund. Sie waren sich darin einig, es mit einer Art Maschine der Erhabenen zu tun zu haben, aber sie wußten genausowenig wie ich, welchem Zweck sie gedient hatte. Niemand beglückwünschte mich dafür, den seit der Entdeckung der ersten Lagerstätte von Erhabenen-Artefakten wichtigsten Fund auf diesem Gebiet gemacht zu haben. Ich selbst bin auch nicht gerade stolz auf mich, wenn ich an die idiotische Art und Weise denke, mit der ich die Ausgrabungsarbeit vorangetrieben habe.
Als die Konferenz vertagt wurde, hob Mirrik die Kugel ehrfurchtsvoll mit seinen Stoßzähnen an — sie sei so schwer wie ein Mensch, behauptet er — und trug sie ins Laboratorium. Das war vor drei Stunden. Dr. Schein, Dr. Horkkk und Pilazinool sind während der ganzen Zeit drüben gewesen. 408b ist ebenfalls bei ihnen. Saul Shahmoon geht ein und aus. Jedesmal, wenn er wieder herauskommt, macht er einen aufgeregteren Eindruck als vorher, aber er verrät überhaupt nichts und sagt nur, bisher habe man noch nichts Bestimmtes herausgefunden.
Mirrik, Kelly, Steen Steen und Leroy Chang sind zur Ausgrabungsstelle zurückgekehrt. Leroys Gesicht ist ein bißchen verbeult, und er scheint ziemlich sauer darüber zu sein, wie die Dinge gelaufen sind. Jan und ich sind beauftragt worden, bis zum Nachmittag alles aufzuräumen, sie in ihrer Hütte und ich in meiner.
Das ist eine großartige Belohnung dafür, einen bedeutenden Fund gemacht zu haben, nicht wahr?
Zwei Stunden später. Die Konferenz im Laboratorium dauert noch immer an. Ich würde zu gern wissen, was dort drüben vor sich geht, aber wenn sie Lehrlinge dabeihaben wollten, dann hätten sie uns gerufen. Saul ist eine ganze Zeitlang nicht mehr herausgekommen. Die Gräber sind noch bei der Arbeit, aber sie haben nichts Ungewöhnliches mehr entdeckt. Wenn wir sie ließen, würden Kelly und Mirrik die ganze Nacht weitergraben. Als ich mit dem Aufräumen fertig war, ging ich zur anderen Aufblashütte, um mit Jan zu sprechen.
Sie war weniger an einer Diskussion über die seltsame, uralte Kugel interessiert als daran, über Leroy Chang und sein unschickliches Verhalten zu sprechen. Ich würde sagen, so sind die Mädchen eben, aber damit beleidigte ich dich wahrscheinlich, und außerdem bin ich mir dessen nicht ganz sicher.
„Du hast gesehen, wie er an mir herumgetätschelt hat“, warf mir Jan vor. „Warum hast du nicht irgend etwas unternommen?“
„Mir ist nicht aufgefallen, daß er dich ernsthaft bedrängte.“
„Ernsthaft? Hätte es überhaupt noch ernsthafter sein können? Er hat mir praktisch die Kleidung vom Leib gerissen!“
„Der gute, alte Leroy. Er kennt sich wirklich damit aus, wie man ein Mädchen rumkriegt.“
„Sehr witzig. Angenommen, er hätte mich vergewaltigt…“
„Er kam dir nicht nahe genug, um das zu bewerkstelligen, oder?“
„Nein. Ich danke dir vielmals. Während ich um Hilfe geschrien habe, warst du unten in der Grube nur wie verrückt am Graben.“
„Weißt du“, gab ich zurück, „man sagt, eine Vergewaltigung sei eigentlich nicht möglich, es sei denn, das Opfer kooperiert. Ich meine, die Frau muß sich nur verteidigen, und wenn sie über normale Körperkraft verfügt und es sich bei ihrem Angreifer nicht gerade um eine Art Supermann handelt, dann sollte sie in der Lage sein, ihn abzuwehren. Wenn es also zu einer Vergewaltigung kommt, dann deshalb, weil die Frau entweder vor Angst gelähmt ist oder sie insgeheim vergewaltigt werden möchte. Übrigens kann ich mich nicht daran erinnern, dich schreien gehört zu haben.“
„Ich finde deine Sandkasten-Psychologie nicht sonderlich überzeugend“, sagte Jan. „Ich weiß nicht, woher du diese blöde Theorie hast, aber du kannst mir glauben, so einfach ist es nicht. Wie die meisten Männer hast du nicht die blasseste Ahnung davon, wie eine Frau solche Dinge sieht.“
„Ich vermute, du bist schon ein paarmal vergewaltigt worden, so daß du alles darüber weißt.“
„Können wir das Thema wechseln? Ich kann mir einige hunderttausend Dinge vorstellen, über die ich lieber mit dir sprechen würde. Und um deine Frage zu beantworten: Nein, ich bin nicht vergewaltigt worden, und ich habe auch kein Verlangen danach, danke vielmals.“
„Wie hast du Leroys Absicht vereitelt?“
„Ich hab’ ihm ins Gesicht geschlagen. Es war keine Ohrfeige. Es war ein Schlag. Dann hab’ ich getreten.“
„Und er gab auf. Was meine Theorie beweist, daß…“
„Wir wollten das Thema wechseln.“
„Du hast zuerst von Vergewaltigung zu sprechen begonnen“, sagte ich.
„Ich will dieses Wort nicht mehr hören!“
„In Ordnung.“
„Und ich meine noch immer, es war gemein von dir, einfach weiterzugraben, als Leroy mich zu… attackieren begann.“
„Ich bitte um Entschuldigung. Ich war ganz besessen von dem, was ich tat.“
„Was war dieses Ding überhaupt?“
„Das würde ich selbst gern wissen“, sagte ich. „Sollen wir zum Laboratorium rübergehen, um zu sehen, ob sie inzwischen eine Antwort auf diese Frage gefunden haben?“
„Lieber nicht. Wir würden sie nur stören.“
„Wahrscheinlich hast du recht.“
„Es geht mir nicht darum, jetzt unbedingt herumzunörgeln, Tom“, sagte sie. „Es ist nur so, daß Leroy mir einen Schrecken eingejagt hat. Und als mir niemand zu Hilfe kam…“
„Willst du dich bei Dr. Schein über ihn beschweren?“
Sie schüttelte den Kopf. „Leroy wird mich nicht wieder belästigen. Es gibt keinen Grund, die Sache an die große Glocke zu hängen.“
Ich bewundere Jans Haltung. Und ich kann hier genausogut zugeben, daß ich Jan selbst ebenfalls bewundere. Was das betrifft, bin ich in meinen Hörbriefen bisher ein wenig flüchtig gewesen. Einerseits deshalb, weil ich nur ganz allmählich entdeckt habe, wie interessant ein Mädchen wie Jan in Wirklichkeit ist und wie anziehend auch in physischer Hinsicht und so. Andererseits deshalb — nun, verzeih mir, Lorie —, weil mir immer mulmig dabei zumute war, mit dir über mein Liebesleben zu diskutieren. Nicht etwa, weil es mich verlegen machte, dich an solchen Dingen teilhaben zu lassen, sondern weil ich fürchte, dich damit zu verletzen.
Nun, jetzt ist’s raus. Doch vielleicht lösche ich all dies aus dem Würfel, bevor ich ihn dir gebe.
Was ich dir zu sagen versuche ist folgendes: Ich möchte bestimmte Aspekte des Lebens, die dir aufgrund deiner physischen Verfassung verschlossen sind, nicht ansprechen. Wie Liebe und Heirat und so etwas. Es ist schon schlimm genug, daß ich ein körperlich aktives Leben führe, herumgehen und allerlei Dinge tun kann und du nicht. Aber du bist auch von all den gesellschaftlichen und emotionalen Aspekten ausgeschlossen — wie etwa sich zu verabreden oder zu verlieben oder eine zeitbegrenzte oder permanente Ehe einzugehen —, und mir ist unbehaglich zumute, dich an all dies zu erinnern, indem ich über meine eigenen Abenteuer mit Mädchen spreche. Und die sind umfangreich und zahlreich genug, trotz der Ansicht Mutters, in meinem Alter sollte ich mich ernsthafter nach einer dauerhaften Partnerin umsehen.
Ist das nicht großartig? Wie taktvoll ich dir erkläre, warum ich dir bestimmte Dinge nicht sagen möchte — wie ich mir so große Mühe gebe, dir zu erklären, daß ich dich nicht an Dinge erinnern möchte, an die ich dich trotzdem dauernd erinnere. Prima. Sobald ich einen etwas umständlicheren Weg gefunden habe, dir zu verdeutlichen, warum ich mich in solchen Dingen so unklar ausdrücke, werde ich diese Stelle im Würfel ganz bestimmt löschen.
Weißt du, warum ich jetzt interessierter an Jan bin, als ich es zu Beginn dieser Expedition war?
Nein, du Neunmalkluge, nicht deswegen, weil ich nach all diesen Wochen in arge Bedrängnis gerate. Sondern deshalb, weil sie mir letzte Woche erzählt hat, daß sie zum Teil nichtmenschlich ist. Ihre Großmutter war eine Brolagonianerin.
Irgendwie macht sie das ungewöhnlicher. Und begehrenswerter, als wenn sie nur eine gewöhnliche Schwedin wäre. Ein wenig Exotik hat mich schon immer fasziniert.
Brolagonianer sind humanoide Aliens, wie du weißt. Sie haben eine glänzende, graue Haut und mehr Zehen und Zähne als wir. Sie sind eine von rund sechs oder sieben Fremdrassen in der Galaxis, die sich aufgrund einer fast genau parallel verlaufenden Evolution erfolgreich mit dem Homo sapiens kreuzen können. Um eine erfolgreiche Vereinigung möglich zu machen, sind zahlreiche DNA-Manipulationen und andere Gentechniken erforderlich, aber es kann bewerkstelligt werden, und es ist bewerkstelligt worden, trotz der Agitation der Liga für Rassenreinheit und anderer reaktionärer Gruppen.
Jan entstammt einer langen Ahnenreihe von Diplomaten. Ihr Großvater war vor sechzig Jahren unser Botschafter auf Brolagon, und er verliebte sich dort in ein einheimisches Mädchen. Sie heirateten und hatten vier Kinder, und eins von ihnen war Jans Vater. Der seinerseits eine Schwedin ehelichte. Doch die brolagonianischen Gene sind nun für immer in der Familie.
Jan zeigte mir einige Merkmale ihres gemischten Blutes. Ich muß schamhaft eingestehen, daß sie mir vorher überhaupt nicht aufgefallen sind.
„Ich habe dunkle Augen“, sagte sie. „Statt blaue, die den blonden Haaren entsprächen. So außergewöhnlich ist das aber eigentlich nicht. Dies hingegen schon.“ Sie öffnete ihre Sandalen. Sie hatte sechs Zehen an jedem Fuß. Reizende Zehen noch dazu. Aber sechs. „Außerdem habe ich vierzig Zähne“, fuhr sie fort. „Du kannst sie zählen, wenn du mir nicht glaubst.“
„Ich glaube dir auch so“, sagte ich, als sie mir ein dentales Gähnen zeigte.
„Meine inneren Organe sind ebenfalls ein wenig verschieden. Ich habe keinen Dickdarm. Das kannst du mir ebenfalls glauben. Der brolagonianische Verdauungsvorgang unterscheidet sich von deinem. Ich besitze auch das brolagonianische Muttermal; es ist genetisch dominant und tritt bei allen Brolagonianern auf, auch bei Mischlingen. Es ist ein recht hübsches Muttermal, eine Art geometrisches Muster in einem ungewöhnlichen Farbton, und wenn ich jemals auf einem von Brolagonianern beherrschten Planeten in Schwierigkeiten geraten sollte, dann brauche ich nur dieses Muttermal zu zeigen — es ist ebenso gut wie ein brolagonianischer Paß.“
„Kann ich es sehen?“ fragte ich.
„Sei kein Lüstling. Es befindet sich an einer peinlichen Stelle.“
„Ich bin nur aus rein wissenschaftlicher Neugier interessiert. Außerdem gibt es keine peinlichen Stellen, nur peinliche Leute. Ich wußte nicht, daß du so prüde bist.“
„Bin ich auch nicht“, sagte Jan. „Aber ein Mädchen muß ein bißchen sittsam sein.“
„Warum?“
„Gemeiner Kerl!“ sagte sie, aber es klang nicht sehr ärgerlich.
Also konnte ich ihr Muttermal nicht sehen.
Aber es macht mich froh zu wissen, daß sie eins hat. Vielleicht hältst du mich für extravagant, aber ich bin sehr angetan von der Neuigkeit, daß Jan nicht ganz menschlich ist. Es erscheint mir so langweilig, sich nur auf die Mädchen der eigenen Spezies zu beschränken.
Natürlich ist sie noch immer schrecklich in Saul Shahmoon verliebt. Zumindest behauptet sie das. Ich bin mir nicht sicher, ob sie es ernst meint. Ich küßte sie, nur als wissenschaftliches Experiment. Um herauszufinden, ob ein Mädchen, das zu einem Viertel Brolagonianerin ist, auf exotische Weise küßt.
Ich habe überhaupt nichts Brolagonianisches an ihrer Art zu küssen entdeckt. Und in Anbetracht der Tatsache, daß sie nach wie vor an ihrer unerwiderten Liebe zu Saul leidet, war sie sogar mit erstaunlichem Enthusiasmus bei der Sache. Vielleicht verliert sie die Geduld mit ihm. Vielleicht hat die Tätschelei mit Leroy heute morgen ihren Geschlechtstrieb zeitweilig erschüttert. Vielleicht…
Ich werde all dieses Zeug ganz bestimmt löschen, bevor sich Lorie den Wüfel anhört. Ich spreche in diesem Augenblick nur noch zu mir selbst. Und diese Methode ist so gut wie jede andere, um seine Gefühle und Empfindungen und all die anderen Dinge eines Tages zu ordnen, an dem man nicht nur eine bedeutende wissenschaftliche Entdeckung gemacht, sondern sich darüber hinaus zumindest ein wenig in einen ungewöhnlichen und attraktiven weiblichen Sonderling verliebt hat. Doch ich möchte es Lorie nicht noch schwerer machen, indem ich ihr diese kleinen Streiflichter einer archäologischen Romanze zeige. Wie schrecklich es doch sein muß, für sein ganzes Leben lang in einem Krankenzimmer eingesperrt zu sein, mit einer Million verschiedener Überwachungsinstrumente, deren Sensoren an die Haut geklebt oder direkt mit dem Nervensystem verbunden sind, und zu wissen, man kann nie aufstehen, küssen oder geküßt werden, zu einer Verabredung gehen, heiraten, eine Familie haben, nichts! Sie hat ihre Telepathie… aber reicht das aus? Dies alles wird gelöscht.
Heiliger Strohsack! Mirrik galoppiert gerade heran. Er muß vor einigen Stunden mit dem Graben aufgehört haben und zum Mexiko-Stern-Wäldchen gegangen sein, um sich ein wenig zu erfrischen, denn er ist so voll, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen habe. Mit Donnergetöse kommt er dahergerannt, mit glänzendem, schweißnassen Körper, und er brüllt etwas, bei dem es sich vermutlich um dinamonianische Poesie handelt. In diesem Augenblick stampft er direkt vor dem Laboratorium eine Art Kriegstanz. Ich gehe besser rüber und führe ihn weg, bevor…
Oh, nein!
Er geht ins Laboratorium hinein! Ich kann es dort drüben poltern und krachen hören!
Eine Stunde später. Mirrik hat ein ziemliches Durcheinander angerichtet, aber daran verliert im Augenblick niemand einen Gedanken. Denn es hat sich herausgestellt, daß die Maschine, die ich gefunden habe, noch immer funktionsfähig ist. Sie stellt eine Art Filmprojektor dar.
Der genau in diesem Augenblick eine Milliarde Jahre alte Bilder von den Erhabenen und ihrer Zivilisation zeigt.