1. Mai 2376
Mirt
Jetzt weiß ich, daß ich die ganze Zeit über nur zu mir selbst gesprochen habe, als ich diese Nachrichtenwürfel mit Worten füllte. Lorie wird sie nie abspielen. Während der letzten neun Monate war ich in dem Glauben, Hörbriefe für meine Schwester auf der Erde anzufertigen, doch in Wirklichkeit habe ich für mich selbst eine Erinnerung an meine Abenteuer verfaßt, ein Tagebuch zum eigenen Zeitvertreib.
Und ich glaube, ich sollte die Aufzeichnung mit diesem Wissen beenden, indem ich den Ausgang dieses Abschnitts der ganzen Geschichte schildere. Denn die Geschichte ist hiermit nicht zu Ende, im Gegenteil: Sie fängt gerade erst an. Was jetzt auf uns zukommt, ist die eigentliche Forschung, das Aussortieren des gewaltigen Schatzes an neuen Erkenntnissen, den wir entdeckt haben. Das aber verspricht aufregender und gleichzeitig weniger dramatisch zu werden — wenn ich mich damit nicht zu verwirrend ausdrücke. Ich meine folgendes: Das nächste Stadium der Untersuchungen wird sich nicht als solch sprühende Kaskade sich überstürzender Ereignisse darstellen — hoffentlich nicht.
Anfang April brachte uns die Stolz des Alls nach Mirt. Nachdem die verborgene Sonne mittels Infrarotortung ausgemacht worden war, berechneten Dihn Ruuu, Commander Leonidas und Nick Ludwig gemeinsam den Kurs. Zehn Lichtminuten von der dunklen Schale entfernt, in der sich die Welt der Erhabenen befindet, hielten wir vorsichtig an. Niemand wußte zu sagen, welche Abwehrwaffen gegenüber einem Raumschiff zum Einsatz gebracht werden mochten, das sich ohne Genehmigung weiter näherte.
Die Schale, die eigentlich Mirt ist, ist das imponierendste Ding, das ich jemals gesehen habe. Aus einer Entfernung von zehn Lichtminuten betrachtet, füllt sie die Hälfte des Himmels aus — ein gewaltiger, dunkler, gewölbter Schild mit einem Durchmesser, der den der gesamten Umlaufbahn der Erde übertrifft.
Dihn Ruuu setzte die Funkgeräte der Erhabenen ein, die er sich auf McBurney IV besorgt hatte, sendete ein Signal nach Mirt und ersuchte um eine Zugangsgenehmigung für uns. Der Roboter brauchte dreieinhalb Stunden, um die Nachricht durchzugeben. Aufgrund unserer Entfernung von der Sphäre mußte es zu einer zehnminütigen Verzögerung zwischen der Sende- und Empfangszeit eines Signals kommen, doch das allein konnte Dihn Ruuus offensichtliche Schwierigkeiten nicht erklären, Mirt dazu zu überreden, uns Zutritt zu gewähren. Der unverständliche Austausch fremder Worte ging weiter.
Schließlich erhob sich Dihn Ruuu. „Es ist alles erledigt“, teilte er uns mit. „Sie geben uns die Erlaubnis.“
„Hattest du wegen sprachlicher Veränderungen Verständigungsschwierigkeiten mit ihnen?“ fragte ich.
„Die Sprache der Mirt Korp Ahm“, gab der Roboter kühl zurück, „ist keinen Veränderungen unterworfen.“
„Niemals? Nicht einmal über Millionen oder Milliarden von Jahren hinweg?“
„Seit meiner Herstellung hat sich nicht eine einzige Silbe gewandelt.“
„Das ist unglaublich“, sagte ich. „Eine Sprache, die sich in fast einer Milliarde Jahre überhaupt nicht verändert…“
„Die Mirt Korp Ahm haben eine kontinuierliche Entwicklung nie geschätzt“, sagte Dihn Ruuu. „Sie suchen Perfektion, und wenn sie sie erlangt haben, suchen sie nicht weiter.“
„Woher wissen sie, wann die Perfektion erreicht ist?“
„Sie wissen es.“
„Und dann versuchen sie nicht mehr, irgend etwas zu verbessern?“
„Das ist der große Unterschied zwischen Ihrem Volk und dem, dem ich diene, Tom. Aus dem, was ich bisher über euch in Erfahrung bringen konnte, ziehe ich den Schluß, daß ihr Erdenmenschen nie zufrieden seid. Ihr seid immer auf der Suche. Die Mirt Korp Ahm hingegen können Zufriedenheit finden, wenn sie bei irgendeiner Aufgabe Perfektion erreichen. Ihr würdet sogar noch versuchen, die Perfektion selbst zu verbessern.“
Nun verstand ich, warum wir in dem 250 Millionen Jahre umfassenden Zeitraum, der von unserer archäologischen Aufzeichnung erfaßt wird, auf nur so wenige Veränderungen in der Kultur der Erhabenen gestoßen sind. Und warum sie eine Milliarde Jahre überdauern konnten.
„Wenn die Mirt Korp Ahm keinen Forschergeist besitzen“, fragte Jan, „warum haben sie dann die halbe Galaxis kolonisiert?“
„Das war vor langer Zeit“, sagte Dihn Ruuu, „als es für sie noch viel zu entdecken gab. Wie Sie wissen, sind diese Kolonien längst aufgelöst. Die Mirt Korp Ahm kehrten ihren Drang nach vorn um und zogen sich auf ihren Ursprungsplaneten zurück.“
„Als du eben Mirt angerufen hast“, schaltete sich Dr. Schein ein, „hast du da mit irgendeinem Mirt Korp Ahm gesprochen?“
„Ich habe nur mit Geschöpfen meiner eigenen Art kommuniziert“, sagte der Roboter.
„Aber… leben die Mirt Korp Ahm überhaupt noch auf der Innenseite der Sphäre? Oder steuern wir nur eine weitere Roboterwelt an?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Dihn Ruuu. „Ich fürchte, irgend etwas Seltsames ist geschehen. Doch man wollte mir keine Informationen über die Mirt Korp Ahm geben.“
Wir näherten uns der Schale von Mirt, und sie öffnete sich für uns. Eine gewaltige Sektion der dunklen, düster glühenden Sphäre schwang beiseite — eine Sektion, die mindestens so groß war wie Ohio —, und wir tauchten hindurch. Wir flogen mit abgeschalteten Triebwerken und befanden uns erneut im Zugriff jenes Kraftfeldes, mit dem die Welten der Mirt Korp Ahm Raumschiffe steuern.
Wir hatten großes Glück, uns an Bord eines Militärschiffes aufzuhalten und nicht in einem gewöhnlichen Ultraraum-Kreuzer für die Beförderung von Passagieren und Fracht. Somit war unser Schiff mit Bildschirmen ausgerüstet, mit deren Hilfe wir unser Hineinschweben in die Sphäre von Mirt beobachten konnten. Wir sahen die riesige Außenschale der Hülle, die kolossale, mit Scharnieren versehene Schleuse, und wir entdeckten dabei die Andeutung eines strahlenden Glanzes, der aus dem Innern stammte. Dann flogen wir in die Sphäre hinein, in ein überwältigendes Reich aus Licht. Im Zentrum dieses geschlossenen Universums befand sich die Sonne, weiß, nicht größer als die der Erde. Die von ihr freigesetzte Strahlung funkelte und glitzerte auf der phantastischen Weite der Sphären-Innenwand.
Eine einzelne, gigantische Stadt bedeckte die Oberfläche. Spinnenartige Türme stachen Hunderte von Metern hoch in den Himmel — Sonnenenergie-Akkumulatoren, wie ich später erfuhr. Hier loderten blauschimmernde Flammenzungen, dort drehten und wanden sich gewaltige Ausleger. Straßen sprühten wie Feuerfunken. Dunkle Pyramiden aus schwarzem Metall bedeckten riesige Flächen. Alles schien in Bewegung zu sein, sich auszudehnen, über angrenzende Gebiete zu quellen und wachsend und pochend Leben und Kraft in sich aufzusaugen. So hatte ich mir die Heimatwelt der konservativen und fortschrittsfeindlichen Mirt Korp Ahm nicht vorgestellt.
Aber lebten hier tatsächlich noch irgendwelche Mirt Korp Ahm?
Oder sorgten nur die Roboter der Erhabenen dafür, daß diese Welt lebendig blieb? Führten sie die Tätigkeiten und Traditionen ihrer ausgestorbenen Schöpfer in unermüdlichem Gehorsam weiter?
Wir landeten und setzten auf einer Zielscheibe auf, die zehnmal größer war als die auf McBurney IV. Umsäumt wurde sie von vibrierenden Generatoren und Akkumulatoren, die furchtbar komplex und groß waren. Roboter, bei denen es sich um die Zwillingsbrüder unseres Dihn Ruuu hätte handeln können, begrüßten uns. Wir wurden vom Schiff fort und an Bord eines Fahrzeugs gebracht, das aussah wie eine Träne aus Bernstein, und dann begann unsere Besichtigungstour.
„Die fortgesetzte Konfrontation mit Wundern“, so die Paradoxisten, „läßt das ganz Gewöhnliche prachtvoll und seltsam erscheinen.“ Vielleicht. Ich will hier keine Liste der Rätsel von Mirt aufstellen. Warum um Worte ringen für das, was alle in leuchtenden Farben in den Tridem-Bildern betrachten können? Wir nahmen all die Pracht einer Milliarden Jahre alten Zivilisation in uns auf — diese dürftige Umschreibung soll ausreichen. Unsere maschinellen Gastgeber waren eifrig bemüht, uns alles zu zeigen.
„Doch wo sind die Mirt Korp Ahm selbst?“ fragten wir immer wieder. „Existieren sie noch?“
„Sie existieren noch“, erklärte uns schließlich Dihn Ruuu, der es von den anderen Robotern erfahren hatte. „Aber sie haben sich gewandelt. Sie sind nicht mehr die, als die ich sie in Erinnerung habe.“
„Wo befinden sie sich?“
„Sie werden speziell umsorgt.“
„Wann können wir sie sehen?“
„Zu gegebener Zeit“, sagte der Roboter. „Im richtigen Augenblick.“
Wir bezweifelten den Wahrheitsgehalt dieser Worte. Wir alle waren davon überzeugt, daß die Erhabenen vor langer Zeit ausgestorben waren. Und daß die Roboter — unfähig, diese traurige Tatsache zu akzeptieren — sich selbst etwas vormachten und seit Millionen Jahren ohne ihre Herren lebten. Wir irrten uns. Nachdem ihrer Meinung nach der rechte Zeitpunkt gekommen war, erlaubten sie uns, die Mirt Korp Ahm aufzusuchen. Es war am neunten Tag unseres Besuches. Ein Fahrzeug von einer Art, wie wir es bisher noch nicht benutzt hatten, brachte uns auf einem nach unten führenden Kurs in die Tiefen der Sphäre. Ein Dutzend Ebenen unterhalb der Oberfläche tauchten wir ein in eine kühle, grüne Welt des Schweigens, wo vor uns schwebende Lichtkugeln an kompliziert ineinander verwickelten Netzwerken entlangglitten.
„Die gegenwärtige Mirt-Korp-Ahm-Bevölkerung, so wurde mir mitgeteilt, beträgt 4852. In den vergangenen hunderttausend Jahren ist es zu keiner bedeutenden Veränderung dieser Zahl gekommen. Der letzte wirkliche Todesfall wurde vor 38551 Jahren verzeichnet.“
„Und die letzte Geburt?“ fragte Mirrik.
Dihn Ruuu starrte ihn eine ganze Weile schweigend an und antwortete dann: „Vor ungefähr vier Millionen Jahren. Danach wurden sie steril.“
Eine Schiebetafel rollte zur Seite, und durch eine dicke Kristallwand starrten wir auf einen Vertreter der Mirt Korp Ahm.
Wir blickten in einen höhlenartigen, sechseckigen Raum, der mich an die Felsgruft erinnerte, in der wir Dihn Ruuu gefunden hatten; eine umfangreiche Geräteanordnung umgab eine tassenförmige Liege aus glänzendem, blauen Metall. Auf dieser Liege thronte ein großes Geschöpf. Es war etwa zweimal so groß wie ein Mensch, hatte einen kuppeiförmigen Kopf und vier Arme, und es war mit Schuppen bedeckt: ein Erhabener, der tatsächlich genauso aussah wie jene, die wir in den Projektionen der Kugel gesehen hatten.
Lebenserhaltungssysteme umgaben ihn, hüllten ihn praktisch ganz ein. Ein Dutzend kugelförmiger Gebilde waren an seinen Gliedmaßen befestigt. Auf seiner Brust war ein kompliziert wirkendes Gerät festgeschnallt. Drähte drangen aus dem Kopf, dem Körper, den Handgelenken. Der ganze prächtige Raum stellte eine einzige Maschine dar, die dazu diente, das flackernde und zu erlöschen drohende Lebenslicht in diesem Geschöpf zu erhalten, es zu ernähren, die Funktionen seiner Organe aufrechtzuerhalten und die Gifte des Alters abzufiltern.
Denn dieser Erhabene war alt. Ungeheuer, furchtbar alt.
Sein Körper war faltig und aufgequollen. Seine Schuppen überlappten sich nicht mehr, sondern klafften aufgrund des aufgequollenen Leibes auseinander, waren an einigen Stellen sogar ganz abgeblättert und offenbarten Falten einer weichen, gräulichen Haut. Die Augen waren trüb. Die Gesichtszüge waren apathisch und schlaff.
Der Erhabene bewegte sich nicht. Er gab durch nichts zu erkennen, daß er sich unserer Anwesenheit bewußt war. Er hätte ein wächsernes Bildnis seiner selbst sein können, wenn nicht das undeutlich zu erkennende, atmende Heben und Senken der Brust gewesen wäre.
Commander Leonidas hatte einen seiner Telepathen vom Schiff mitgebracht. „Können Sie seine Gedanken lesen?“ fragte er ihn. „Empfangen Sie irgend etwas?“
Der TP, der mit uns hierhergekommen war, ein Mann namens Davis, schob sich nahe an die Kristallwand heran und justierte seinen Geist in tiefer Konzentration. Als er sich einige Augenblicke später ab wandte, war sein Gesicht blaß und voller Ekel zerfurcht.
„Ein Kohlkopf“, sagte Davis leise. „Das Bewußtsein eines Kohlkopfes… eines geisteskranken Kohlkopfes.“
„Ozymandias“, murmelte Mirrik. „Sieh meine Werke, die gewaltigen, und verzweifle.“
„So geht es ihnen allen“, sagte Dihn Ruuu. „Ihre Körper werden vielleicht bis zum Ende der Zeit überleben. Ihr Geist jedoch… ihr Geist…“
„Sie sind mehr tot als lebendig“, stellte Dr. Schein fest. „Und doch leben sie weiter.“
„Damit wird ihnen kein guter Dienst erwiesen“, flüsterte Dr. Horkkk. „Dieses Leben im Tod muß furchtbar sein! Ihre Zeit ist vorüber. Lassen wir sie in Frieden ruhen.“
Ja, das meine ich auch: Lassen wir sie in Frieden ruhen.
Und somit bleibt von der Milliarde Jahre alten Größe nur dies übrig: apathische Geschöpfe, die in Kristallkäfigen dahinsiechen, während ihre immer fleißigen Roboter gedeihen und sich vermehren und eifrig dienen. Unsere Suche ist vorüber. Wir haben die Erhabenen gefunden. Wir sind eingedrungen in das, was ungestört hätte bleiben sollen. Wir haben den Alptraum der stolzesten Rasse der Galaxis gesehen, einen Alptraum, der sich aus unsagbar alten Bildern formt.
Ich wünschte, man hätte uns nie gestattet, das zu entdecken.
Wir verließen diese Unterwelt aus statischem und wie eingefrorenem Leben, in der der Tod betrogen wird, kehrten zur glänzenden Oberfläche Mirts zurück und glaubten, wir hätten nun den Gipfel des Berges aus Rätseln erreicht.
Wir irrten uns, denn Mirt hielt noch eine weitere Überraschung für uns bereit, eine, die das Leben eines jeden Geschöpfes in der Galaxis vollständig verändern wird und uns allen ein neues und unbekanntes und aufregendes Zeitalter eröffnet.
Dihn Ruuu führte uns in ein weites Gewölbe, das vollgestopft war mit den verblüffenden Geräten der Erhabenen, und als wir hindurchschritten, erkannte ich vertraute Objekte in den Regalen.
„Seht nur“, sagte ich. „Gedenkplaketten.“
Ein halbes Dutzend der glänzenden Metallscheiben waren dort aufgestapelt, identisch mit denen, die in den uralten Fundstätten von Artefakten der Erhabenen so häufig ausgegraben worden waren. Von den anderen zeigte niemand sonderlich viel Interesse an meiner Entdeckung. Sie eilten weiter zu einer Art Skulptur, die aus dünnen Speichen bestand, die gebogen und miteinander verflochten waren und dadurch eigenartige Muster bildeten. Ich kümmerte mich nicht darum, rief Dihn Ruuu herbei und fragte den Roboter nach dem Zweck der Plaketten. Er ergriff einige von ihnen, breitete sie auf einer seiner riesigen Hände aus und sagte: „Es sind Aktivatoren.“
„Aktivatoren wovon?“
Um es mir zu verdeutlichen, tastete der Roboter im Regal umher und zog ein kreisförmiges Band aus einem weißen und glatten Metall hervor. Der Ring wies drei Schlitze auf.
„Für den Gedanken Verstärker“, sagte Dihn Ruuu. „Ein Gerät, das die Kommunikation von Bewußtsein zu Bewußtsein möglich macht.“
„Kannst du mir zeigen, wie es funktioniert?“
„Die Aktivatoren müssen in die Schlitze hineingeschoben werden. Dann setzt man den Verstärker auf den Kopf…“
Ich entriß Dihn Ruuu sowohl die Scheiben als auch das Band und schob die Aktivatoren mit zitternden Fingern in die Aussparungen hinein. Dihn Ruuu enthielt sich jeder Stellungnahme. Am gegenüberliegenden Ende der Halle drehte sich Dr. Schein um, sah zu mir zurück und rief: „Was machen Sie da, Tom?“
„Nichts“, gab ich zurück und hob den Gedankenverstärker zum Kopf hinauf.
Ich ließ den Gedankenverstärker sinken, bis er meine Schläfen berührte.
Ich hatte das Gefühl, als würde mir ein Nagel durch die Schädeldecke gehämmert. Ich taumelte. Möglicherweise stürzte ich zu Boden. Ich konnte nichts mehr sehen. Zungen aus Feuer leckten in meinem Hirn. Mein Bewußtsein tropfte aus dem Körper heraus, durchstreifte die weite Halle, nur vom Willen gelenkt…
… und begegnete einem anderen Bewußtseinsinhalt…
Kontakt!
Eine leise Stimme sagte…
Wer ist da? Wer ruft mich an?
Tom Rice, entgegnete ich.
Aber Sie sind kein TP!
Jetzt bin ich es.
Ich wußte, mein Geist berührte den von Davis, den des Telepathen der Stolz des Alls. Ich fühlte mich diesem Fremden näher und enger verbunden als jemals irgendeinem anderen Menschen. Unsere Egosphären trafen sich und hätten miteinander verschmelzen können. Doch ich gab angesichts meiner neuen Kraft einen solch intensiven ätherischen Jubelruf von mir, daß sich Davis benommen und schmerzerfüllt von mir zurückzog und seinen Geist vor mir verschloß. Aber das spielte keine Rolle. Ich konnte keinen Schmerz mehr wahrnehmen, weder fremden noch eigenen. Ich entfernte mich von Davis… trieb weiter fort…
Ins All hinaus.
Wie einfach es war, die Lichtjahre zu überspringen! Mit Staunen und Ehrfurcht durchstreifte mein Bewußtsein die Galaxis. Ich spürte, wie mir hier und dort Gedankenimpulse entgegensickerten, strahlende Lichtspuren, die die Dunkelheit durchteilten, als sich andere TPs fragten, wer dieser Fremde sein mochte.
Und dann empfing ich die Stimme, die ich die ganze Zeit über gesucht hatte.
Tom, wie wunderbar! Das hätte ich nie für möglich gehalten!
Ich auch nicht, Lorie. Ich auch nicht.
Mein Geist konzentrierte sich nur noch auf den meiner Schwester und der ihre auf meinen, die anderen Telepathen zogen sich zurück und umgaben uns mit einer Sphäre des Schweigens, ließen uns ungestört in Verbindung treten.
In diesem Augenblick der Vereinigung erfuhren wir all das, was es vom anderen zu erfahren gab. Sie entnahm mir jedes Detail, das ich in den Nachrichtenwürfeln aufgezeichnet hatte, alles über die Langeweile des Ultraraum-Fluges nach Higby V, alles über die Entdeckung von Dihn Ruuu, alles bis hin zu dem Augenblick, als ich den Gedankenverstärker aufsetzte. Lorie braucht die Würfel nicht abzuspielen. Sie kennt bereits jetzt die ganze Geschichte meiner Abenteuer.
Und mit dem ersten aufgeregten Höhepunkt unseres Kontakts wurde mir die Essenz dieses gelähmten Mädchens bewußt, das meine Schwester ist, und ich stellte fest, daß ich sie vorher überhaupt nicht richtig gekannt hatte. Es war dumm von mir gewesen, sie zu bemitleiden und zu verhätscheln, sie von meinem eigenen Glück abzuschirmen zu versuchen, auf daß sie nicht neidisch wurde. Sie ist alles andere als bemitleidenswert, alles andere als neidisch. Sie ist stark, stärker vielleicht als alle anderen Menschen der Galaxis. Und ihre Lähmung macht ihr nichts aus, denn sie hat überall Freunde und beneidet niemanden, mich am allerwenigsten. In der Vereinigung unseres Bewußtseins entdeckte ich, daß in Wirklichkeit ich der Krüppel gewesen bin — ausgeschlossen aus der glänzenden TP-Welt. Während ich sie bemitleidet hatte, hatte Lorie Mitleid mit mir gehabt, und ihr Mitleid ist weitaus intensiver und begründeter gewesen.
Jetzt war alles Mitleid überflüssig geworden.
Das ist Jan, sagte ich und übersandte ihr ein entsprechendes Bild.
Sie ist hübsch, Tom. Ich bin sicher, ihr werdet glücklich zusammen. Aber warum gibst du den Verstärker nicht auch ihr?
Ja. Ja, das mache ich. Jetzt… sofort…
Doch in diesem Augenblick spürte ich ein übermächtiges Zerren. Meine Verbindung zu Lorie wurde unterbrochen, und ich war allein, schrecklich allein, wieder eingesperrt im Kerker meines eigenen Schädels.
„Er kommt wieder zu sich!“ sagte die Stimme Dr. Scheins. „Es scheint mit ihm alles in Ordnung zu sein.“
Ich schlug die Augen auf. Lang ausgestreckt lag ich auf dem kalten, steinernen Boden der weiten Halle. Alle standen dicht gedrängt und besorgt um mich herum. Saul hatte mir den Verstärker vom Kopf genommen. Jan klammerte sich ängstlich an Pilazinool. Ich versuchte aufzustehen, schwankte benommen und schaffte es erst beim zweiten Anlauf.
„Gib mir das Ding!“ schrie ich und griff nach dem Verstärker.
Saul hielt ihn außer Reichweite. „Tom, dieses Gerät kann gefährlich sein!“ sagte Dr. Schein. „Sie wissen nicht…“
„Sie wissen nichts!“ rief ich und stürzte mich auf Saul, der kapitulierte und mir den Verstärker übergab. Ich vermutete, die anderen müssen geglaubt haben, ich sei verrückt geworden. Erschrocken traten sie von mir zurück. Ich winkte Dihn Ruuu herbei und befahl ihm, mir einen zweiten Verstärker zu geben.
Der Roboter gehorchte und schob die Aktivierungsplaketten selbst hinein. „Hier“, sagte ich zu Jan. „Setz ihn auf den Kopf!“
„Nein, Tom, bitte nicht… ich habe Angst.“
„SETZ IHN AUF“, sagte ich. Und sie setzte ihn auf, bevor irgend jemand sie daran hindern konnte. Ich schob mir den Verstärker ebenfalls auf den Kopf und schloß die Augen. Diesmal spürte ich so gut wie keinen Schmerz mehr, als mein Bewußtsein die Fesseln des Körpers abstreifte, und ich tastete mich hinaus und begegnete Jan.
Hallo, sagte ich.
Hallo, entgegnete sie, und unsere Egosphären trafen und vereinigten sich zu einer einzigen.
Das also war die Geschichte von elf Archäologen, die auszogen, um irgendwelche Scherben uralter Artefakte auszugraben und schließlich einen totalen Wandel in der Natur des menschlichen Lebens herbeiführten. Übrigens nicht nur des menschlichen. Die Gedankenverstärker funktionieren bei allen organischen Lebensformen, und somit können zum erstenmal auch Aliens am TP-Netz teilhaben. Allein auf Mirt lagern genug Verstärker, um damit die Bevölkerungen von einem Dutzend Planeten zu versorgen.
Morgen verlassen wir Mirt. Vielleicht kehren wir nie zurück. Vielleicht wird das, was wir begonnen haben, von anderen zu Ende geführt, während wir uns um andere Fundstellen kümmern. Wir haben Mirt nur besichtigt; etwas anderes zu behaupten wäre Unsinn.
Wir müssen fort von hier. Wir müssen eine Bestandsaufnahme machen, um einen Überblick darüber zu bekommen, was wir bisher alles entdeckt haben. Erst dann können wir uns an die wirkliche Entschleierung der Geheimnisse der Mirt-Korp-Ahm-Zivilisation machen. Alles ist viel zu schnell gegangen; wir müssen unser Gleichgewicht wiederfinden.
Heute nachmittag werden Jan und ich eine traurige kleine Wallfahrt unternehmen. Es war ihre Idee. „Wir müssen ihnen danken“, sagte sie.
„Wie sollen wir das bewerkstelligen? Sie haben alle Verständigungsmöglichkeiten abgestreift.“
„Das spielt keine Rolle. Wir verdanken ihnen soviel, Tom.“
„Gut, dann komme ich mit. Nach dem Mittagessen?“
„Nach dem Mittagessen, ja.“
Jan wird gleich hier sein. Dann werden wir in die Tiefen von Mirt hinabsteigen. Sie hat recht: Wir verdanken ihnen soviel. Diese Verschmelzung des Bewußtseins, meine neue Fähigkeit, mich zu Lorie hinauszutasten… soviel. Ein letzter Besuch also, um den Mirt Korp Ahm Lebewohl zu sagen und zu versuchen, ihnen für das zu danken, was sie uns hinterlassen haben. Wir werden vor einer Kristallwand stehen und auf einen unfaßbar alten Erhabenen blicken, der sich in den Träumen eines Zeitalters von Größe und Ruhm verloren hat. Und wir werden ihm sagen, daß wir seine Nachfolger sind, jene, die das Universum mit Leben erfüllen, das sie einst besaßen, wir eifrigen kleinen Sucher. Und ich glaube, ich werde ihn bitten, für uns zu beten — wenn die Erhabenen überhaupt zu irgend etwas beteten. Denn ich habe das Gefühl, wir werden eine Menge Fehler machen, bevor wir mit jenen Kräften umzugehen gelernt haben, die uns auf so sonderbare Art und Weise geschenkt wurden.
Jan ist jetzt hier. Wir gehen hinunter zu den Erhabenen.
Dies ist das Ende des Würfels. Und damit endet noch weitaus mehr: ein ganzes Zeitalter. Wir setzen unsere Verstärker auf. Wir umarmen uns mit unserem Bewußtsein. Ich spüre die Nähe von Lorie und begrüße sie. Sie antwortet mir herzlich.
Bleib in Verbindung mit uns, sage ich. Wir zeigen dir etwas, das gleichermaßen interessant und unheimlich ist. Wir zeigen dir die ältesten lebenden Geschöpfe des Universums — jene, die unsere Wohltäter sind und es doch nie erfahren werden.
Wir gehen hinunter, um den Mirt Korp Ahm auf Wiedersehen zu sagen.