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23. August (glaube ich) 2375

Higby V


Eine Woche sind wir nun schon dabei. Kein Glück. Ich glaube fast, man hat uns zum Narren gehalten.

Die Fundstelle liegt direkt am Hang und ist durch die kürzlich erfolgte Erosion zutage gefördert worden — aber ich glaube, das sagte ich bereits. Als die Erhabenen ihr Lager auf Higby V errichteten, gab es die obersten vierzig Meter des Bodens hier noch nicht: Das ganze sandige und kiesige Erdreich hat sich in den Jahrmillionen nach ihrer Zeit aufgeschichtet, angehäuft von den Winden und Regenfluten jener längst vergangenen Tage, als dieser Planet noch ein Wetter besaß. Dann, nachdem wir hierhergekommen sind und das Wetter wieder eingeführt haben, begann die oberste Bodenschicht zu erodieren, was im letzten Jahr schließlich zur Entdeckung der charakteristischen Artefakte der Erhabenen geführt hat. Gut.

Im letzten Jahr kamen dann Dr. Schein und einige gerade promovierte Studenten von Marsport hierher, um die vorbereitenden Untersuchungen durchzuführen. Sie setzten Neutrino-Magnetometer und Sonarsonden und Dichtesensoren ein und berechneten, daß die Fundstelle von Hinterlassenschaften der Erhabenen eine große linsen- und trichterförmige Zone umfaßt, die bis tief in den Hang hineinreicht. Gut. Sie bedeckten die ganze Fundstelle mit einem Wetterschild aus Kunststoff und gingen fort, um die Gelder für ein umfangreiches Ausgrabungsunternehmen zu beschaffen, an dem ich teilnehmen darf. Gut. Hier sind wir. Gut. Wir haben die üblichen Neuvermessungsarbeiten in Angriff genommen. Gut. Gut. Gut. Wir stehen noch immer mit leeren Händen da. Ganz und gar nicht gut.

Ich weiß nicht, was verkehrt läuft.

Im Grunde genommen haben wir folgendes zu tun: Wir müssen die Hügelkuppe ganz vorsichtig abtragen, um das freizulegen, was vor einer Milliarde Jahren die Oberfläche des Bodens gewesen ist. Dann graben wir uns vorsichtig tiefer, Schicht um Schicht, bis zum Vorkommen der Erhabenen-Artefakte. Dann holen wir alles ganz vorsichtig heraus, Stück für Stück, und verzeichnen die relativen Positionen der Funde auf ein Dutzend verschiedene Arten. Wenn wir vorsichtig genug sind, könnten wir hier etwas Neues über die Erhabenen erfahren. Sind wir es nicht, werden unsere Namen in das schwarze Buch der Archäologie eingetragen, direkt neben denen der hirnlosen Kretins, die den Marstempel auseinandergenommen haben, um zu sehen, was sich darunter befindet — und ihn dann nicht wieder zusammensetzen konnten. Oder den Vollidioten, die den Schlüssel zur Deutung der plorvianischen Hieroglyphen fanden und ihn über Bord warfen, in einen Methanozean hinein. Oder dem Schwachkopf, der auf die dsmaaliansche Urne trat und sie zerbrach. Die erste Regel der Archäologie lautet: Geh vorsichtig mit den Fundstücken um. Sie sind unersetzlich.

Nein, das ist die zweite Regel. Die erste heißt: Finde die Fundstücke.

Wir begannen mit einer Abtastung der Hügelkuppe. Wir fanden einige intrusive Higby-V-Begräbnisstätten, die etwa 150000 Jahre alt sind und somit aus der letzten Periode datieren, bevor der Planet seine Atmosphäre verlor. Die Eingeborenen dieser Welt sind für uns von keinem besonderen kulturellen Interesse; sie sind nie weit über das Niveau von Steinzeitmenschen hinausgekommen. Und wie Dr. Schein bereits deutlich gemacht hatte, sind wir ausschließlich hier, um die Hinterlassenschaften der Erhabenen zu untersuchen. Doch wann auch immer wir über dieses Eingeborenen-Zeug stolperten, mußten wir es mit einem gewissen Respekt behandeln, da es vielleicht für jemand anders von speziellem Interesse ist. Kelly Watchman kam mit ihrem Unterdruck-Bohrkern zum Einsatz, und wir transportierten das ganze Zeug zu einer freien Fläche jenseits des Hügels, wo Steen Steen und ich die Dinge versiegelten und zum Zwecke einer zukünftigen Untersuchung kennzeichneten.

Andere wichtige Ablagerungen befanden sich nicht im oberen Teil des Hügels. Glücklicherweise. Das nächste Stadium bestand darin, die restlichen Überlagerungen zu entfernen. („Überlagerungen“ ist einer dieser komischen archäologischen Fachbegriffe, Lorie, mit denen man sich dauernd herumplagen muß. Es ist ein Ausdruck für die Boden-, Kies- oder Felsschicht — oder was auch immer —, die auf dem lagert, was man auszugraben beabsichtigt. Ich weiß, es hört sich blöd an, aber was man auch davon halten mag, es gehört nun einmal zum fachlichen Jargon.)

Um eine Überlagerung schnellstmöglich abzutragen, benutzt man einen hydraulischen Heberaum. Bei dieser Arbeit handelt es sich um nichts weiter als um ein äußerst zielgerichtetes Spülen und Abpumpen: Man schiebt die Schläuche genau im richtigen Winkel in den Hang des Hügels hinein, dreht das Wasser auf und zack! Die Überlagerung wird abgeschnitten und weggespült. Dr. Schein und Leroy Chang verbrachten einen halben Tag damit, Druckstärken und Spülwinkel zu berechnen. Dann stopften wir die Schläuche in den Hang, warfen die Kompressoren an, und innerhalb von fünf Minuten gelang es uns, etwa die obersten zwanzig Meter des Hügels abzutragen. Theoretisch hätten wir unsere Fundstelle nun freigelegt haben müssen.

Theoretisch.

Die Praxis sieht anders aus. Unsere modernen technischen Apparaturen verleiten uns manchmal zu der Annahme, die Archäologie sei eine einfache Sache. Aber Geräte können versagen, und in vielerlei Hinsicht unterscheiden wir uns nicht so sehr von den einfachen Pionieren vor vierhundert Jahren, die mit Picken und Schaufeln herumhackten, bis sie gefunden hatten, wonach sie suchten.

Unser Problem scheint darin zu bestehen, daß Dr. Scheins Vermessungen vom letzten Jahr ein wenig fehlerhaft sind und daß die Fehlerquote schwankt. Was bedeutet, er hat sich in einigen Punkten weitgehender geirrt als in anderen. Das ist verzeihlich: Bei einer Untergrundvermessung handelt es sich um eine schwierige Angelegenheit, selbst wenn man Neutrino-Magnetometer und Sonarsonden und Dichtesensoren zur Verfügung hat. Das macht es aber nicht leichter. Wir wissen, direkt vor uns liegen unglaubliche Schätze aus Relikten der Erhabenen (Zumindest glauben wir, daß wir das wissen.). Doch bis jetzt haben wir sie nicht gefunden.

Mirrik rackert sich heldenhaft ab, um die restliche Überlagerung abzutragen. Das muß manuell bewerkstelligt werden, denn wir sind zu nah an der vermuteten obersten Schicht der Erhabenen-Fundstelle, als daß wir es riskieren könnten, ein so umfassend wirkendes Hilfsmittel wie einen hydraulischen Hebebaum einzusetzen. Kelly wartet unmittelbar hinter Mirriks gewaltiger linker Schulter, und ab und zu holt sie mit ihrem Bohrkern einige Bodenproben hervor. Der Rest von uns schaufelt Dreck beiseite, wartet ungeduldig, spekuliert, spielt Schach und langweilt sich reichlich.

Das Wetter ist nicht gerade frühlingshaft. Zum Glück findet zumindest unsere Arbeit unter dem Kunststoffschild statt, doch es schirmt nur die Fundstelle selbst ab. Und jene, die hier tatsächlich beschäftigt sind. Um von den Aufblashütten hierher zu gelangen, müssen wir eine freie Fläche von rund hundert Metern überqueren, mit einer Chance von vier zu eins, daß es regnet, zehn zu eins, daß ein sturmartiger Wind weht, und fünfzig zu eins, daß die Luft so kalt ist, um einem fast das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Wenn es regnet, dann nieselt es nicht nur. Der Wind weht ganz gewiß Tonnen von Staub und feinem Sand heran. Und die Kälte ist von einer Art, die einen nicht einfach nur belästigt, sondern quält. Einigen von uns macht sie nichts aus, wie etwa Pilazinool, auch wenn er enorme Probleme mit Sand in seinen Scharnieren hat. Dr. Horkkk stammt von einem kalten Planeten — man kann sogar im System einer so flammenden Sonne wie Rigel auf kühle Planeten stoßen, wenn sie weit genug vom Zentralgestirn entfernt sind, und er weiß eine frische Brise sehr zu schätzen. Mirrik macht sie nichts aus, weil er eine so dicke Haut hat. Wir anderen fühlen uns ein wenig ungemütlich.

Die Landschaft ist keine Augenweide. Einige Bäume und Sträucher, nur aufgrund ihrer Eigenschaft, die oberste Bodenschicht festzuhalten, ausgewählt und angepflanzt, nicht um ihrer Schönheit willen. Niedrige Hügel. Krater. Pfützen.

Vater würde sich ins Fäustchen lachen, wüßte er von meinen düsteren Gedanken, denen ich die ganze Woche über nachgehangen habe. „Geschieht dem naiven Dummkopf ganz recht!“ würde er sagen. „Soll er in seiner Archäologie einsäuern! Soll er mit ihr zusammen verknöchern!“

Du hast Glück gehabt, Lorie. Du hast die wirklich scheußlichen Familienkonferenzen verpaßt, die sich mit meiner Berufswahl auseinandersetzten. Vater verabscheut es, viel Lärm zu machen, wenn wir dich besuchen. Du hast auch so eine ordentliche Dosis der Auseinandersetzungen mitbekommen, aber es war nicht einmal eine Prise dessen, was zu Hause los war.

Ich muß sagen, ich war von Vater ziemlich enttäuscht, als er an meinem Wunsch, Archäologe zu werden, herumzumäkeln begann.

„Such dir einen richtigen Beruf!“ schrie er immer wieder. „Laß dich zum Ultraraum-Piloten ausbilden, wenn du hinauswillst in die Galaxis! Hast du eine Ahnung, wieviel Moos die verdienen? Oder von der Höhe ihrer Pensionen? Vom ganzen Geldausgeben haben sie entzündete Daumen. Oder werde zu einem Juristen für interplanetares Recht, ja, das ist ein Beruf! Die Vergehen und strafbaren Handlungen von Aliens! Das Pfänden von Vermögenswerten auf Welten mit nichtverbaler Kommunikation! Unendliche Möglichkeiten, Tom, unendliche! Weißt du, ich kenne einen Juristen auf Capella XII: Er ist nur auf dem Gebiet von Farbveränderungs-Garnituren und Metamorphkostümen tätig, und er hat ein Auftragspolster von zehn Jahren für sich und seine sechs Angestellten!“

Solltest du dir dies jemals anhören, Lorie, dann hoffe ich, du weißt die Geschicklichkeit zu schätzen, mit der ich die Stimme unseres Herrn und Meisters nachahme. Ich habe den richtigen Tonfall aus mit herzlicher Väterlichkeit gemischter unaufrichtiger Heuchelei getroffen, nicht wahr? Nein, vergiß das wieder. Eigentlich ist Vater kein Heuchler. Er bleibt nur seinen eigenen Prinzipien treu.

Wir wissen alle, er ist kein intellektueller Typ, doch zumindest ich habe gespürt, daß er trotz seines intensiven Bemühens, Geld anzuhäufen und einen fleißigen Daumen zu behalten, ein gewisses Interesse auch an subtileren Werten hat. Schließlich besitzt er einen akademischen Grad von Fentnor, und wenn es sich auch nur um Betriebswirtschaft handelt — Fentnor läßt keine Analphabeten gehen. Ich hatte auch den Eindruck, daß Vater alles andere ist als eine Art reaktionärer Eigenbrötler, der seinem Sohn die Berufswahl zu diktieren versucht. Er erschien mir immer als aufgeschlossener Mensch, als jemand mit der Devise,Leben und leben lassen.’

Deshalb verletzte es mich, als er meine Absicht, mich mit der Archäologie zu beschäftigen, so hart verurteilte.

Sein eigentlicher Wunsch ist kein Geheimnis: Er möchte, daß ich in seine Fußstapfen trete, ebenfalls ins Immobiliengeschäft einsteige und es schließlich von ihm übernehme. Aber Immobilien bedeuten mir nichts, und ich hab’ ihm das doch schon damals, als ich sechzehn war, deutlich gemacht, nicht wahr? Vater findet seine persönliche Befriedigung — vom Geld ganz zu schweigen —, darin, auf fernen Welten seine Instant-Slums aus Parapithlit-Platten zu errichten, und ich vermute, für ihn ist das eine schöpferische Angelegenheit. Ich gebe zu, einige seiner Projekte waren genial, wie etwa die Kette von Schwebehäusern in der riesigen Gaswelt im Capellasystem oder das Hochschwerkraft-Einkaufszentrum mit ineinander verschachtelten Zentrifugen, das er für die Multiwirbler aus dem Boden stampfte. Nichtsdestotrotz — mir hat es immer an der nötigen Begeisterung für diese Sache gefehlt.

Nun, warum sollte ich mich auch auf einem „nützlichen“ und „profitablen“ Arbeitsgebiet betätigen, um zwei von Vaters bevorzugten Adjektiven zu zitieren? Welche bessere Verwendung gibt es für seine überquellenden Bankkonten als die, daß sie seinem Sohn gestatten, sich dem Studium der reinen Wissenschaft zu widmen?

Wie etwa dem Ausgraben von uralten Relikten auf scheußlich kalten und stürmischen Planeten.

Genug davon. Dir gegenüber brauche ich nicht über Vaters Verbohrtheit zu jammern, denn ich glaube, du teilst meine Empfindungen und bist — wie üblich — hundertprozentig auf meiner Seite. Vater ging seinen Weg, ich gehe meinen, und vielleicht gibt er nach einiger Zeit nach und verzeiht es mir, daß ich den Prozessen in Hinsicht auf Farbveränderungs-Garnituren und all den Wohnungsbauprojekten den Rücken gekehrt habe. Und wenn nicht, dann werde ich auch so irgendwie dem Hungertod entgehen und mich mit dem beschäftigen, was mir am meisten Freude macht, der Archäologie.

Doch ich will nicht behaupten, das gegenwärtige Projekt habe mir bisher Spaß gemacht.

Ich werde eine positive Haltung einnehmen und mir einreden, daß wir jeden Augenblick ins Schwarze treffen können.


Hier kam es zu einer Unterbrechung von drei Stunden, in denen ich bei der Durchführung einer schwierigen und wichtigen, aber langweiligen Arbeit half.

Um einen Blick ins Innere des Hügels zu werfen, mußten wir Fiberteleskope einführen. Das sind lange Glasfasern, die ein klares Bild von einem Ende zum anderen übertragen, wenn man die richtige Beleuchtung wählt. Um sie in den Hügel hineinzubringen, mußten Löcher gebohrt werden, und das wurde von Kelly mit ihren Unterdruck-Gerätschaften erledigt. Bei dieser Arbeit war außergewöhnliche Vorsicht notwendig, da es möglich war, daß der Bohrkopf zufällig direkt in die Fundstelle hineingeriet und einige der Artefakte berührte.

Vielleicht habe ich Kelly unterschätzt. Sie ging ganz ausgezeichnet mit diesen Bohrern um.

Kelly perforierte den Hügel für uns. Dann montierten wir die Fiberteleskope auf Kettenrädern und führten sie sehr behutsam in den Boden ein. Es waren insgesamt vier, jeweils in einem Abstand von zwanzig Metern; Jan und ich arbeiteten an einem der Kettenräder.

Jetzt sind die Teleskope an Ort und Stelle, und die hohen Tiere starren ins Herz des Hügels. Die Nacht bricht an, und es regnet wieder. Ich bin in der Unterkunft und spreche diese Aufzeichnung. Wenn meine Stimme ein wenig leise ist, dann deswegen, weil ich Saul und Mirrik nicht stören möchte, die hier Schach spielen. Es ist verwirrend, einem so großen Geschöpf wie Mirrik dabei zuzusehen, wie es Schachfiguren mit der Spitze eines Stoßzahns bewegt.

Vom Ausgrabungsplatz kommend läuft Jan auf unsere Hütte zu. Sie macht einen aufgeregten Eindruck. Sie ruft etwas, aber durch die Aufblashüttenwand kann ich sie nicht verstehen.


Eine Stunde später. Es ist jetzt Nacht. Was Jan hatte sagen wollen war, daß sie auf die richtige Ader gestoßen sind. Die Teleskope zeigen uns die Fundstätte der verborgenen Artefakte der Erhabenen. Unsere Abweichung betrug nicht mehr als ein Dutzend Meter. Aus irgendeinem Grund hatten wir die Vermessungswerte falsch interpretiert und waren somit von der Seite herangekommen, doch das läßt sich jetzt korrigieren.

Es ist zu spät, um heute abend noch mit der Ausgrabung weiterzumachen. Morgen früh werden wir als erstes ein ganz neues Übersichtsdiagramm anfertigen, so daß wir eine genaue Positionsbestimmung haben. Dann endlich, wenn all die Vorbereitungen hinter uns liegen, können wir mit der eigentlichen Arbeit beginnen.

In diesem Augenblick hält sich das ganze Team in unserer Unterkunft auf. Draußen schüttet es wieder. Alle sind gespannt und ungeduldig. Dr. Horkkk geht in der ihm eigenen präzisen Art und Weise dauernd auf und ab: ein Dutzend Schritte zurück, Kehrtwendung, mathematisch exakt berechnet, so daß er jeweils die gleiche Strecke zurücklegt, bis auf den Millimeter genau. Steen Steen und Leroy Chang folgen direkt hinter ihm und führen eine Art Diskussion über die Sprache der Erhabenen. Pilazinool und Kelly Wachmann spielen Schach, was, wie du sicher schon vermutet hast, hier unsere große Unterhaltung darstellt. Kelly kam ziemlich durchnäßt von der Fundstelle zurück und zog sich bis auf ihre ziemlich rosafarbene synthetische Haut aus, was Leroy Chang ganz durcheinandergebracht hat: Immer wieder starrt er sie über die Schulter hinweg an. Soviel zu all den sorgfältigen Planungen in Hinsicht auf Sittsamkeit. Kelly ist natürlich ein hübsches Mädchen, aber es ist mir ein Rätsel, wie Leroy von etwas so erregt werden kann, das aus einem Bottich mit Chemikalien stammt. Gut, sie ist nackt, aber sie ist nicht echt, und das nimmt der Nacktheit etwas von ihrem Reiz. Pilazinool hat seine Art der Entkleidungsroutine ebenfalls hinter sich gebracht: Er besteht nur noch aus Kopf und Torso und einem Arm, um bestimmte Bewegungen ausführen zu können, während der Rest seines Körpers in einem durcheinandergewürfelten Haufen neben der Bank liegt. Ab und zu schraubt er eins seiner Beine wieder an oder nimmt eine Antenne ab oder spielt auf andere Weise in seiner nervös machenden Art an sich herum. Übrigens verliert er diese Schachpartie.

Dr. Schein betrachtet Rasterbilder früherer Funde von Erhabenen-Artefakten und bespricht mit Mirrik die technischen Einzelheiten der morgigen Ausgrabung. Mirrik hat eine Menge dazu zu sagen. Saul Shahmoon hat eins seiner Briefmarkenalben hervorgeholt und zeigt 408b und Jan seine wertvollsten Exemplare. Letztere macht keinen besonders interessierten Eindruck. Und ich sitze abseits in einer Ecke und spreche in einen Nachrichtenwürfel.

Der Abend scheint endlos zu sein.

Hast du dich jemals ähnlich gefühlt, Lorie? Selbst nach all den Jahren weiß ich eigentlich nicht, wie es in dir aussieht. Ich meine, dort zu liegen, sich kaum bewegen zu können, die Nahrung durch Schläuche zu bekommen und nicht einmal die Möglichkeit zu haben, zum Fenster zu gehen und zu sehen, wie das Wetter draußen ist… Ich habe dich trotzdem niemals gelangweilt oder ungeduldig oder sogar deprimiert gesehen. Wenn du eine Art mentaler Blumenkohl wärst, könnte ich das verstehen. Aber dein Verstand ist aktiv und wachsam und, was die meisten Dinge angeht, wahrscheinlich besser als meiner. Hier bin ich also — hier sind wir alle —, zähle die Minuten bis zum Morgen, und das Warten macht mich ganz krank. Und dort bist du, und du hast nichts, worauf du dich freuen kannst, nur auf einen weiteren Tag der gleichen, gleichmäßigen Heiterkeit.

Ist die Telepathie der Grund? Ich vermute es. Mit deinem Verstand kannst du das ganze Universum durchstreifen. Du kannst mit Freunden auf tausend verschiedenen Planeten sprechen, durch ihre Augen die seltsamsten Landschaften betrachten und alles über alles herausfinden, ohne dein Bett überhaupt verlassen zu müssen. Über längere Zeit hinweg kannst du dich gar nicht gelangweilt oder einsam fühlen. Du brauchst dich nur auf irgendeinen anderen TP einzujustieren, und schon hast du Gesellschaft und Unterhaltung.

Du hast mir immer leid getan, Lorie. Ich bin so gesund und aktiv, kann überall hingehen und soviel unternehmen, und du bist an dein Krankenbett gefesselt… und doch sind wir Zwillinge, die soviel gemeinsam haben sollten. Das ist die Ironie des Schicksals. Heute abend aber frage ich mich, ob ich dich bedauern oder beneiden soll. Ich kann gehen. Du kannst mit Hilfe deiner telepathischen Begabung von Stern zu Stern gleiten, zu grenzenlosen Weiten. Wer von uns ist wirklich der Krüppel?

Müßige Gedanken an einem langen Abend, weiter nichts.

Jan hat es satt, Sauls Briefmarken zu betrachten. Ich habe gehört, wie sie ihm vorschlug, einen Spaziergang zu machen, doch er lehnte ab und meinte, er habe noch mit bestimmten Katalogisierungsarbeiten zu tun. Daraufhin kam Jan herüber und fragte statt dessen mich. Zweite Wahl, wie üblich.

Wir gehen jetzt hinaus und schlendern ein bißchen umher, es sei denn, es regnet noch immer. Sie ist ein netter Kerl. Ihre Fixierung auf Saul ist mir ein Rätsel — er ist zweimal so alt wie sie und ganz offensichtlich passionierter Junggeselle. Nach der Art und Weise zu urteilen, wie er sich hinter seinen Briefmarkenalben versteckt, muß ihm in früheren Jahren eine Frau einen gehörigen Schrecken eingejagt haben. Aber vielleicht findet Jan besonderen Gefallen daran, älteren und schüchternen Männern nachzustellen. Ich glaube, wir sind beide auf unsere eigene Art und Weise verrückt. Aber wie dem auch sei: Wenn sie einen kleinen Spaziergang machen möchte, warum sollte ich dann nein sagen? Es ist eine Möglichkeit, die Zeit zu vertreiben.

Also werde ich den Würfel jetzt zur Seite legen. Das nächste Mal erzähle ich dir vielleicht, wie wir das Grabmal des Kaisers der Erhabenen freilegten und feststellten, daß er noch lebte und nur scheintot war. Oder wie wir den verborgenen Schatz der Erhabenen fanden, Uran im Werte von fünfzig Milliarden Krediteinheiten. An einem langweiligen Abend sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Morgen kommt endlich der Augenblick der Wahrheit. Und jetzt hinein in die Kälte und Finsternis. Ende.

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