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1. Oktober 2375

Higby V


Ein paar sehr geschäftige Wochen. Wir alle haben zwei- oder dreimal so hart wie sonst gearbeitet und viele Überstunden gemacht, und aus diesem Grund habe ich in der Zwischenzeit keine Eintragung in diese für dich bestimmte Aufzeichnung gesprochen, Lorie. Mal sehen, ob ich dich mit einem einzigen, atemlosen Wortschwall auf den neuesten Stand bringen kann.

Die wichtigste Sache ist, daß wir uns inzwischen mit Haut und Haaren meiner völlig verrückten Idee verschrieben haben, die Gruft im Asteroiden zu finden.

Es geschah langsam und schrittweise, so, wie es oftmals zu umwälzenden Ereignissen kommt. Wenn man in Treibsand einsinkt, dann wird man nicht mit einem einzigen, raschen Schluck — glubb! — bis zum Grund des Sumpfes gesaugt. Nein, man sinkt langsam tiefer und glaubt zuerst, bei dem Treibsand handele es sich nur um gewöhnlichen Morast, aus dem man sich jederzeit befreien könne, wenn man nur wolle. Man glaubt, es sei ein Kinderspiel, wieder herauszukommen, wenn man nur zu dem Entschluß kommt, diesen bestimmten Sumpf eigentlich nicht durchqueren zu wollen. Plötzlich steckt man bis zu den Schienbeinen drin, und man ist ein bißchen beunruhigt, und man bewegt sich schneller, weil man annimmt, das könnte einem helfen. Aber dadurch sinkt man nur noch tiefer ein, doch man bleibt kühl und zuversichtlich. Und allmählich, wenn man bis zur Hüfte drinsteckt und langsam noch tiefer sinkt, beginnt man sich einzugestehen, daß man es nur noch schlimmer macht, wenn man dagegen ankämpft, und daß man wirklich ganz schön in der Patsche sitzt.

Erst fand ich die Kugel. Dann betrachteten wir diese faszinierenden Bilder. Besonders die Sequenz mit dem Asteroiden und der Felsgruft. Woraufhin ich vorschlug, die Gruft zu finden. Woraufhin sich Pilazinool mit seinem großen Prestige für die Suche aussprach. Woraufhin wir die Idee ernsthaft in Erwägung zogen und sie bisher so weit verwirklichten, daß wir uns die Computersimulationen besorgt haben, die ich erwähnt hatte. Und dann… und dann…

Einer der ersten Schritte auf dem Weg, uns selbst die Schlinge um den Hals zu legen, bestand darin, uns einen Telepathen vom Militärstützpunkt zu entleihen, so daß wir unsere astronomischen Daten an das Observatorium übermitteln konnten. Wir griffen nicht auf Marge Hotchkiss zurück. Ich habe Dr. Schein klargemacht, daß ihr Verhalten nicht sonderlich kooperativ ist. Dr. Schein sprach daraufhin mit dem Stützpunktkommandanten, und wir bekamen einen der anderen auf Higby V stationierten Telepathen. Vielleicht kennst du ihn: Ron Santangelo.

In natura ist er ein blasser junger Mann von höchstens neunzehn Jahren, mit wäßrig-blauen Augen, sandfarbenem Haar und einem allgemein fragil wirkenden Körperbau. Er macht den Eindruck, poetisch veranlagt zu sein. Vielleicht ist er das. Früher muß er einmal eine virangonianische Tätowierung auf beiden Wangen gehabt haben, doch offenbar hat er sich das noch einmal überlegt und sie dann entfernen lassen — allerdings nicht von einem sehr tüchtigen Chirurgen, denn die Umrißnarben sind noch zu sehen. Ich möchte wetten, er verabscheut diesen Planeten.

Seine erste Aufgabe bestand darin, TP-Kontakt mit dem Observatorium von Luna City aufzunehmen und festzustellen, ob man dort die Simulationen anfertigen konnte, die wir brauchten. Wir entschieden uns für Luna City nach einer langen Debatte, in deren Verlauf ein halbes Dutzend Observatorien zum Vorschlag kamen, einschließlich einem auf Thhh, dem von Marsport und sogar des fast vergessenen Mount Palomar. Wir entschlossen uns aber dazu, es mit dem größten und besten zu versuchen. Schließlich war eine TP-Verbindung nach Luna nicht teurer als nach Marsport oder Mount Palomar, und auch der Zeitfaktor war gleich. Und ungeachtet des Chauvinismus von Dr. Horkkk sind weder thhhianische Astronomen noch thhhianische Computer auch nur annähernd so nahe wie die der Erde oder der irdischen Kolonien; jeder weiß das.

Santangelo tastete sich hilfsbereit durch einen ganzen Haufen Relaisstationen hindurch und übermittelte unsere Anfrage nach Luna City, eine Aufgabe, die rund eine Stunde in Anspruch nahm. Die Jungs am anderen Ende wußten bereits über unsere Kugel Bescheid — von der Pressemitteilung, die wir herausgegeben hatten —, und sie waren natürlich ziemlich aufgeregt darüber, an der Suche nach dem verborgenen Asteroiden der Erhabenen teilnehmen zu können.

Ich glaube, sie wußten nicht, welch unsicheres Terrain sie betraten. Wir auch nicht. Treibsand. Tiefer Treibsand.

Jetzt standen wir vor dem Problem, wie wir unsere Daten an das Observatorium weitergaben. Das hätten wir am einfachsten dadurch bewerkstelligen können, indem wir unsere Fotos an Bord des nächsten Ultraraum-Schiffes, das auf Higby V Zwischenstation machte, nach Luna brachten. Einer der regulär verkehrenden Multispringer wurde für Mitte September erwartet und würde das Solsystem auf seinem weit herumführenden Kurs einige Wochen nach Weihnachten erreichen. Luna City hätte das Material untersuchen, über TP antworten und uns unsere Informationen bis etwa Ende Januar liefern können.

Doch es erschien uns unerträglich, so lange warten zu müssen. Deshalb berieten sich unsere drei Chefs und entschieden dann, die Daten via TP an Luna City zu übermitteln. Du hast richtig gehört: eine TP-Übertragung von Fotografien. Ich kann dein Schaudern bis hierher spüren.

Ron Santangelo wurde noch blasser als sonst, als wir ihm sagten, was er für uns bewerkstelligen solle. Andererseits aber muß man ihm auch zugute halten, daß er nicht laut kreischend in die Nacht hinausfloh. Statt dessen fungierte er als unser technischer Ratgeber. Nach seinen Anweisungen führten wir folgende Arbeiten aus:

Wir begannen damit, ein Standard-Stereofoto von der Tausende von Parsek umfassenden Szene anzufertigen, mit der die Roboter-Sequenz eingeleitet wird. Die meisten Arbeiten in der Dunkelkammer erledigte Jan, und schließlich legte sie eine tadellose Vergrößerung vor: zwei Meter lang, einen Meter breit und mit einer scheinbaren optischen Tiefe von ebenfalls einem Meter. Dieses Bild fotografierten wir erneut und benutzten dabei eine Trickkamera des Militärstützpunkts, die dazu in der Lage ist, ein Stereo-Hologramm in ein ganz gewöhnliches und altmodisches zweidimensionales Foto umzuformen. Sie lieferte uns ein Bündel von Abzügen, wobei jeder einzelne eine flache Sektion des Stereobildes darstellte. Es war so, als hätten wir ein Messer genommen und den dreidimensionalen Abzug in ein Paket aus einzelnen Schichten zerschnitten.

Es dauerte gut eine Woche, all diese Arbeiten auszuführen, bei denen uns Dr. Horkkks kleiner Computer unterstützte. Wir mußten ihn dazu völlig neu programmieren. (Dr. Horkkk ist jetzt damit beschäftigt, das ursprüngliche Programm für linguistische Analyse neu zu entwickeln, und er flucht dabei hingebungsvoll in Thhhianisch und vielen anderen Sprachen.) Jetzt verfügten wir über die erste astronomische Aufnahme, die in eine zur TP-Übertragung geeignete Form gebracht worden war.

Armer Ron.

Für die Übermittlung verkroch er sich in einer stillen Ecke des Laboratoriums. Er kennzeichnete jedes Foto und ordnete ihm so seinen Platz im umfassenden Bild zu, so daß die Montage am anderen Ende wieder zusammengesetzt werden konnte. Dann teilte er jedes einzelne Bild in eine Reihe von zehn Quadratzentimeter große Gitter auf. Und dann begann er damit, den Informationsgehalt jedes Gitters an die anderen Mitglieder des TP-Verbindungsnetzes zu übertragen.

Ich habe mir nie viel Gedanken darüber gemacht, wie man Bilder mittels Telepathie überträgt. In meiner naiven und einfältigen Art nahm ich an, daß Ron irgendwie Beschreibungen jedes einzelnen Abschnitts eines Fotos weitergab (weißt du, so etwa: „Hier oben, zwei Komma acht fünf Zentimeter von der oberen linken Ecke entfernt, haben wir einen null Komma neun Millimeter großen Stern, der auf der rechten Seite ein wenig verschwommen ist…“). Aber das hätte natürlich nie funktioniert. Bestenfalls hätte das eine vage Annäherung an die ursprünglichen Fotos ergeben. Und auf vagen Annäherungen basierende Computerberechnungen tendieren dazu, noch weitaus vagere Annäherungen zu ergeben. Wie man in der Datenverarbeitungs-Branche sagt: Kommt Mist rein, kommt Mist raus.

Jan hatte eine weitaus phantasievollere Idee, wie Ron das bewerkstelligte. „Ich glaube“, sagte sie, „er blickt jeden kleinen Abschnitt des Gitters genau an, bis er sich ihn fest eingeprägt hat. Dann überträgt er das vollständige Bild an den nächsten TP in der Verbindungskette. Und so geht es weiter und immer weiter, bis das Bild schließlich Luna City erreicht, in allen ursprünglichen Details.“

Das war natürlich weitaus besser, als zu versuchen, das Bild in Worte und Maße zu formen und diese Dinge zu diktieren. Aber Jans Vorstellung haftete ein kleiner Makel an, und Steen Steen entdeckte ihn.

„Wie“, fragte er/sie gemein, „verwandelt der letzte TP in der Kette das übertragene gedankliche Bild in eine Fotografie zurück?“

Jan dachte, es gäbe vielleicht eine Art Gerät, in die der TP das Bild hätte hineindenken können und das es auf maschinelle Weise in ein Foto umformte. Saul Shahmoon hörte das zufällig und klatschte in die Hände. „Eine von Gedanken in Tätigkeit gesetzte Kamera! Herrlich! Einfach herrlich! Wann wird sie erfunden?“

„Dann gibt es so ein Ding also nicht?“ fragte Jan.

„Leider nein“, entgegnete Saul.

Es stellte sich heraus, daß Ron Santangelo die Details dieser Bilder auf die einfachste Art und Weise übermittelte. Er benutzte dazu eine Methode, die vor mehr als dreihundert Jahren erfunden worden war, damit die primitiven Weltraumsatelliten und Sonden Fotografien vom Mond und den anderen Planeten zur Erde übertragen konnten. Wir waren ganz verlegen über unsere Unwissenheit, als wir das herausfanden. Wie du wahrscheinlich weißt, war nur folgendes dazu notwendig: Jedes kleine Foto wurde vor einem optischen Abtaster angebracht, der die entsprechende Verteilung von Schwarz und Weiß in Datenbits verwandelte. Ron nahm dann die Ausdrucke zur Hand und gab sie ins TP-Netz ein. Er übermittelte keine Bilder und auch keine verbalen Beschreibungen. Er übertrug solche Dinge wie:

0000000000000010000000000000 0000000000000110000000000000 0000000000000111000000000000 0000000000000111000000000000 0000000000001111000000000000 0000000000001111000000000000

Und so weiter und so weiter und so weiter, Tausende von Bits für jedes Foto.

Der Computer am anderen Ende der Übertragungskette konnte diese Kombinationen aus Einsen und Nullen ohne die geringste Schwierigkeit in ein nach Hell und Dunkel abgestimmtes Bild verwandeln. Dann erst wurde eine Methode benutzt, die Jans Vermutung nahekam. Dann würde unser TP tatsächlich das ganze mentale Abbild der Fotografie auf einmal an einen speziell geschulten TP im Luna City Observatorium senden, der dieses Bild daraufhin mit der Computerkopie verglich und sorgfältig alle notwendigen Korrekturen ausführte. Schließlich mußte das ganze Durcheinander dann zu einem Duplikat des ursprünglichen dreidimensionalen Fotos zusammengesetzt und an die Astronomen weitergegeben werden, die daraufhin endlich mit der Arbeit beginnen konnten.

Was für ein Riesenumstand!

Noch treffender: Was für ein Riesenaufwand!

Ron sah ein wenig verdrießlich aus, als er seine Aufgabe in Angriff nahm, aber wir anderen, die wir keine Ahnung vom gewaltigen Umfang der Arbeit hatten, waren in bester Stimmung. Wir schlenderten zwischen dem Abtaster und Ron hin und her, reichten ihm die graufarbenen Ausdruckseiten mit ihren endlosen Reihen von Einsen und Nullen, und er saß nur da, speiste die Daten ins TP-Netz ein und sah immer blasser und bleicher und melancholischer aus. Jan und Saul waren inzwischen bereits damit beschäftigt, einen zweidimensionalen Abzug des zweiten Fotos herzustellen, das wir übertragen wollten, der Nahaufnahme des Weißen Zwergs und seiner stellaren Nachbarn.

Bis zum dritten Tag hielt Ron der Belastung stand.

Wir Nicht-Telepathen reden viel über die wunderbare Herrlichkeit, mit dem Verstand die ganze Galaxis durchstreifen zu können. Dabei übersehen wir vermutlich den unermeßlichen Streß dabei. Und die Tatsache, daß Plackerei Plackerei bleibt, mit oder ohne TP.

Ron übermittelte. Er arbeitete wie besessen, zwei Stunden Dienst, zwei Stunden Pause, vier Schichten am Tag; und während der restlichen Zeit wartete er ganz ungeduldig darauf, weitermachen zu können. Gott allein weiß, warum. Er identifizierte sich nun genauso mit dem Projekt wie wir, obwohl es für ihn nicht sehr aufregend gewesen sein kann, still in einer Ecke zu sitzen und acht Stunden am Tag Dinge wie 0000011100000 zu übertragen.

Der Streß begann sich auf ihn auszuwirken. Er schwitzte stark, und seine Tätowierungsnarben traten auf seltsame Weise noch deutlicher hervor und glühten auf seinen eingefallenen Wangen. Warum sich ein so ruhiger und zurückhaltender Bursche wie. er unter die Nadeln eines virangonianischen Tätowierers begeben hat, ist mir ein Rätsel. Darüber hinaus waren die Tätowierungen ziemlich obszön — der virangonianischen Vorstellung von Obszönität entsprechend. Das hat Mirrik jedenfalls gesagt. Irgendwann würde ich gern einmal herausfinden, warum Virangonianer Münder für so obszön halten, denn das ist es, was Ron auf seinen Wangen hat: zwei große, die Zähne zeigende Münder.

Wir konnten zusehen, wie seine Erschöpfung Stunde um Stunde zunahm, und wir versuchten, nett zu ihm zu sein und ihm dabei zu helfen, sich zu entspannen. Mirrik erzählte Geschichten; Steen Steen führte ein ziemlich schwieriges Kunststück vor; Jan ging mit ihm spazieren und kam ein wenig erhitzt und zerknittert wieder zurück. Ich war nicht sehr glücklich darüber, aber ich sagte mir, es sei nichts weiter als ein Opfer-für-die-große-Sache. Am zweiten Tag übertrug Ron die Daten mit nur noch zwei Drittel der Geschwindigkeit, mit der er begonnen hatte, und am nächsten Tag war er noch langsamer. Und er hatte noch nicht einmal die Hälfte der Arbeit geschafft. Während der vierten Schicht am dritten Tag hielt er plötzlich inne, sah sich im Laboratorium um, zwinkerte und fragte: „Wie spät ist es? Weiß irgend jemand, wie spät es ist? Meine Uhr will es mir nicht sagen. Ich habe sie gefragt, aber sie will es mir einfach nicht sagen.“

Dann erhob er sich. Und als hätten sich alle Knochen seines Körpers von einem Augenblick zum anderen aufgelöst, sackte er in sich zusammen und stürzte zu Boden.

Der Arzt des Militärstützpunktes meinte, es sei nur einfach Erschöpfung, und er befahl Ron, eine Woche lang keine TP-Arbeiten durchzuführen. Dann brachte er ihn zu einer mehrtägigen Tiefschlaf-Regeneration fort. Es gab zwei andere verfügbare Telepathen auf Higby V: Marge Hotchkiss, und einen schwermütigen Israeli namens Nachman Ben-Dov. Da das Kommunikationsnetz rund um die Uhr für eintreffende oder hinausgehende Nachrichten in Betrieb gehalten werden mußte, ergab sich daraus ein Problem für die Einteilung des Dienstplans. Da Ron dem Netz eine Zeitlang nicht mehr zur Verfügung stand, mußten Hotchkiss und Ben-Dov zwölf Erdnorm-Stunden am Tag arbeiten, nur um Routineaufträge anzunehmen und weiterzuleiten. Das waren täglich vier Stunden mehr als das festgelegte Maximum für TP-Arbeit, und somit konnten beide absolut keine Zeit für uns erübrigen. Da sie bereits seit jenen drei Tagen, in denen Ron die ganze Zeit über bei uns im Laboratorium Daten übertragen hat, Überstunden gemacht hatten, waren beide nicht sonderlich von einer Erweiterung ihrer Pflichten begeistert. Besonders Marge nicht.

Dr. Schein ließ einige Beziehungen spielen, und es gelang uns, zu einer Abmachung zu kommen. Zunächst einmal kam man überein, daß die TP-Gruppe auf Higby III, wo in der letzten Zeit einige verstreute Landwirtschaftssiedlungen entstanden sind, alle eintreffenden und für Higby V bestimmten Nachrichten entgegennahmen. Über eine ganz gewöhnliche Funkverbindung sollten diese Mitteilungen dann weitergeleitet werden; wir verpflichteten uns, die Extrakosten dafür zu übernehmen. Das befreite das hiesige TP-Personal von rund der Hälfte seiner Belastung. Die Militärs waren willens — widerwillig —, den größten Teil ihrer herausgehenden Nachrichten so lange zurückzuhalten, bis Ron sich erholt hatte, und das war ebenfalls sehr hilfreich. Die beiden anderen Telepathen mußten weiterhin pro Kopf vier Stunden täglich für die Erledigung von Routinearbeiten bereitstehen. Aber dadurch hatte jeder von ihnen täglich vier Stunden für uns Zeit.

Doch wir wollten natürlich nicht, daß es erneut zu Nervenzusammenbrüchen kam. Wir entschieden uns für folgende Arbeitseinteilung: Während Marge schlief, sollte Ben-Dov zum Laboratorium kommen und zwei Zwei-Stunden-Schichten für uns übermitteln. Dann sollte ihn jemand zur Stadt zurückfahren und Marge holen, die ihrerseits heraufkam und zwei Zwei-Stunden-Schichten arbeitete, während Ben-Dov im städtischen Nachrichtenbüro die üblichen Arbeiten erledigte. Dann legte sich Ben-Dov ein wenig aufs Ohr, und Marge kehrte zur Stadt zurück, um ihren vierstündigen Dienst im Büro anzutreten. Damit hatten wir die vier Tagesschichten, die auch Ron für uns tätig gewesen war, und es ließ den beiden Telepathen andererseits noch Spielraum genug, ihre eigentliche Arbeit zu verrichten, ohne sich dabei zu erschöpfen. Doch unsere Übertragungszeiten waren nun verschieden. Ron hatte es vorgezogen, seine tägliche Übertragung in einem einzigen Sechzehn-Stunden-Schub zu erledigen, zwei Stunden Arbeit, zwei Stunden Pause, über die ganzen vier Schichten hinweg, woran sich acht Stunden Erschöpfungsschlaf anschlossen. Aber Marge und Ben-Dov waren nicht auf diese Weise tätig. Ihre Schlafzeiten verschoben sich ständig: Mal waren sie am Abend weggetreten, dann mitten am Tag; mal begannen sie ihre acht Stunden TP-Übertragung (vier Stunden Arbeit, vier Stunden Pause) nach dem Frühstück und leisteten dann weitere acht Stunden (vier Stunden Arbeit, vier Stunden Pause) nach dem Abendessen, mit einem Nickerchen dazwischen. Mit Schlaftabletten ist es natürlich nicht weiter schwierig, die Schlummerzeiten den eigenen Launen entsprechend zu gestalten, und du kennst ja die eigenartigen Lebensgewohnheiten der TP-Sippschaft. Doch unser tägliches Leben im Lager gewann eine neue, sehr seltsame Qualität, da ständig jemand zugegen sein mußte, um dem TP zu Diensten zu sein: ihm einen Imbiß bringen, die Computerausdrücke aufeinander abstimmen und so weiter. Wir versuchten, an der Fundstelle einen normalen Zeitplan für die Ausgrabungsarbeiten einzuhalten — ja, wir graben noch immer, trotz dieses ganzen Wirbels — und dennoch jemanden bereitzustellen, der dem TP das Händchen hält, ganz gleich wie spät es ist.

Pilazinool, der alle vierundzwanzig Stunden nur eine Stunde Schlaf braucht, erfüllte weitaus mehr als nur seinen Anteil an dieser Arbeit. Was bedauerlich war, denn seine Talente wurden woanders dringender gebraucht.

Es gelang uns, den größten Teil der Daten zu übermitteln. Es war keine reine Freude, Marge im Laboratorium zu haben, und es machte noch weitaus weniger Spaß, sie zwischen der Stadt und unserem Lager hin und her zu fahren — ich gab mir alle Mühe, solchen Aufträgen aus dem Weg zu gehen —, aber ich muß ihr auch einen Punkt zugute halten: Sie besitzt eine ausgezeichnete TP-Vitalität. Sie kam her, nahm die Datenblätter, begann mit der Übertragung und erledigte die eintönige Arbeit noch schneller als Ron in seinen besten Zeiten — und ganz offensichtlich auch müheloser. Ich vermute, sie hätte ohne weiteres Überstunden machen können, ohne sich dadurch zu erschöpfen. Aber das kam ihr natürlich nie in den Sinn.

Ben-Dov ist ein eigenartiger Mensch: etwa fünfzig Jahre alt, ergrauendes Haar, dickbäuchig, ein Gesicht, das dauernd rasiert werden müßte. Und er hat überhaupt nicht diesen Eroberer-der-Wüste-Ausdruck, den die meisten Israelis hervorzubringen versuchen. Hinter seinem schlampigen Äußeren aber ist er eisenhart. Wir unterhielten uns ein wenig. Er sagte mir, daß er bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr Israel nie verlassen habe, dafür aber weit im Landesinnern herumgekommen sei. Er ist in Kairo aufgewachsen, hat in Tel-Aviv und Damaskus studiert und auch Amman, Jerusalem, Haifa, Alexandria, Bagdad und die anderen bedeutenden israelischen Städte besucht. Dann verspürte er das Verlangen, auf Reisen zu gehen, und er verpflichtete sich zum TP-Dienst für den Ben-Gurion-Kibbutz auf dem Mars. Wie viele andere Telepathen blieb er auf der Wanderschaft, entfernte sich mit jedem Stellungswechsel immer weiter von der Erde und bevorzugte immer so öde und trostlose Planeten wie Higby V.

Mirrik, der sich sehr für Religionen interessiert — ich glaube, ich habe dir das bereits gesagt —, wurde ganz aufgeregt, als er herausfand, daß Ben-Dov Israeli ist. „Erzählen Sie mir etwas über die ethischen Werte des Judentums!“ dröhnte der gewaltige Dinamonianer ungeduldig. „Ich selbst bin Paradoxist; ich habe viele der irdischen Glaubensbekenntnisse studiert, aber einem richtigen Juden bin ich noch nie begegnet. Die Lehren von Moses über…“

„Es tut mir leid“, sagte Nachman Ben-Dov sanft. „Ich bin kein Jude.“

„Aber Israeli, nicht wahr? Ist das nicht die jüdische Nation der Erde?“

„Es gibt eine ganze Menge Juden in Israel“, sagte Ben-Dov. „Meine Religion aber ist der Authentische Buddhismus. Vielleicht haben Sie von meinem Vater gehört, dem Führer der Israelischen Buddhisten-Gemeinde: Mordecai Ben-Dov?“

Das hatte Mirrik nicht. Aber er wußte bereits einiges über den Authentischen Buddhismus, und seine Stoßzähne sanken enttäuscht herab, als seine Chance verblaßte, etwas über die ethisch-moralisch-philosophischen Strukturen der Lehren von Moses zu erfahren. Das ist das Problem mit der Ausbreitung einer globalen Kommunikation: Stammesgefüge fallen auseinander. Plötzlich hat man Authentische Buddhisten in Israel, Mormonen in Tibet, Reformierte Methodisten-Baptisten am Kongo und so weiter. Ich muß zugeben, daß mich Ben-Dovs Buddhismus dennoch stutzig machte.

Ob Jude oder nicht, er war ein ausgezeichneter TP-Operateur. Er und Marge arbeiteten sich prächtig durch den Berg aus Datenblättern. Als seine Ruhewoche vorbei war, kehrte Ron Santangelo an seine Arbeit zurück — die er sich jetzt mit den beiden anderen teilte —, und die Kopf-zu-Kopf-Übertragung unseres ersten Fotos wurde beendet. Von Luna City kam eine Bestätigung zurück: Sie hatten die Übertragung entschlüsselt und versuchten nun, den dargestellten Raumsektor zu lokalisieren.

Zu diesem Zeitpunkt etwa versuchte ich, etwas Zweifelhaftes und Anrüchiges in die Wege zu leiten.

Nachdem er seine Tagesschicht beendet hatte, nahm ich Ben-Dov beiseite und sagte: „Ergab sich während der Übermittlung der Daten ein Anlaß, mit einem auf der Erde als Relaisstation arbeitenden Mädchen namens Lorie Rice Kontakt aufzunehmen?“

„Nein“, gab er zurück. „Wir haben nicht ein Bit über die Erde durchgegeben.“

„Kennen Sie sie? Es ist meine Schwester.“

Er dachte einen Augenblick nach. „Nein, ich glaube nicht. Wissen Sie, der Weltraum ist ziemlich groß, und es gibt eine ganze Menge Mitglieder des Kommunikationsnetzes…“

„Nun, Sie könnten etwas durch sie übertragen, nicht wahr? Indem Sie die anderen Relaisstationen eine Pause machen lassen. Und wenn Sie das tun, dann könnten Sie vielleicht einen oder zwei Extragedanken erübrigen, nur um ihr ein Hallo von Tom zu bestellen und ihr zu sagen, daß es ihm gutgeht und er sie ziemlich vermißt…“

So wie Nachman Ben Dov mich ansah, hätte man glauben können, ich hätte gerade vorgeschlagen, Israel solle Ägypten, Syrien und den Irak an die Araber zurückgeben.

„Völlig ausgeschlossen. Die grundlegende Regel des TP-Dienstes lautet: Keine Schwarz-Übertragungen. Ich würde dadurch meinen Eid brechen. Und ich könnte darüber hinaus in erhebliche Schwierigkeiten geraten. Es gibt Mithör-Kontrolleure, wissen Sie.“

Ich vergaß den Einfall schnell wieder. Ich kann Ben-Dov für seine Ablehnung keinen Vorwurf machen: Er hatte recht und ich unrecht. Aber es wäre nett gewesen, wenn ich dir eine kurze Nachricht hätte senden können. Ich versuche mir vorzustellen, daß dich diese Hörbriefe eines Tages wirklich erreichen, aber wenn ich mir den ganzen Stapel Nachrichtenwürfel ansehe, die ich bisher für dich besprochen habe, dann kommen mir Zweifel. Seit Juni hast du nichts von mir oder über mich gehört, und ich wünschte, ich könnte es mir leisten, dich anzurufen und dir zu sagen, was ich hier mache.

Nun, wie dem auch sei: Letzten Dienstag waren unsere TPs mit der Übertragung der Daten der ersten Fotografie fertig. Unmittelbar darauf begannen sie mit der Übermittlung der stellaren Nahaufnahme. Damit sind sie noch immer beschäftigt.

In der Zwischenzeit haben wir unsere Ausgrabungen fortgesetzt, doch unsere Funde sind ganz gewöhnlich und somit langweilig. Normalerweise — wenn wir die Kugel nicht hätten — wären wir über die Fülle der Erhabenen-Artefakte entzückt gewesen, die wir bis heute aus dem Hügel herausgeholt haben. Aber jetzt sind wir alle, selbst unsere drei Chefs, wie besessen von dem bohrenden Verlangen, spektakuläre Entdeckungen sofort zu machen, anstatt die Scherben-und-Krümel-Routine der gewöhnlichen Archäologie weiterzuverfolgen. Gute Wissenschaft kennt keine Ungeduld, ich weiß, aber wir brennen darauf, uns auf die Suche nach dem Roboter in der Felsgruft zu machen und den Rest dieser einstmals vielversprechenden Fundstelle unwichtigeren Plackerern zu überlassen.

Und gestern erhielten wir die Bestätigung dafür, daß unsere Erwartung, spektakuläre Entdeckungen zu machen, nicht zu hochgegriffen waren. Gestern war nämlich der letzte Tag des Monats, und das TP-Netz legte uns seine Rechnung vor.

Niemand hatte viel über die Kosten all der harten TP-Arbeit verlauten lassen. Es war nur wichtig gewesen, die Daten zu übertragen — über so schmutzige Dinge wie Geld konnte man irgendwann später reden. Nun, dieses Später hatte uns eingeholt. Ich weiß nicht einmal, wie hoch die Rechnung wirklich war. Aber das kann man sich auch so vorstellen: Über etwa fünfzehn Tage hinweg und für acht Übertragungsstunden täglich beschäftigten wir eine ganze TP-Gruppe mit einer permanenten Kopf-zu-Kopf-Verbindung zur Erde.

Es ist schlicht und einfach so, daß wir das ganze für das zweite Jahr vorgesehene Budget für die zweiwöchige TP-Kommunikation ausgegeben haben.

Wie es mit den Finanzen einer Expedition in der Regel der Fall ist, so hat auch diese einen ziemlich großen Daumen. Die Einzelheiten kenne ich nicht, aber wir erhalten Zuschüsse von einem halben Dutzend Universitäten, von einigen privaten Stiftungen und den Regierungen von sechs Planeten. Das ganze Geld war dafür vorgesehen, den Flug nach Higby V und zurück möglich zu machen, (bescheidene) Gehälter an das Expeditionspersonal auszuzahlen und die Kosten der Ausgrabungsarbeiten selbst und die der Veröffentlichung unserer Resultate abzudecken. All die Gelder zusammen sollten es uns ermöglichen, die Fundstelle zwei Jahre lang zu untersuchen. Rücklagen für die Begleichung horrender TP-Rechnungen waren nicht gebildet worden.

Deshalb waren wir nun in Schwierigkeiten.

Gestern abend kam Dr. Schein spät zur mir und fragte: „Tom, sind Sie sicher, daß Sie keine latenten TP-Gaben besitzen?“

„Ganz sicher, Sir.“

„Mit einer Zwillingsschwester als Operateurin?“

„Ich bin durch und durch getestet worden“, erklärte ich. „Ich besitze nicht einmal die Spur einer TP-Veranlagung. Meine Schwester hat das Familienmonopol.“

„Sehr bedauerlich. Wenn wir einen eigenen TP hätten und nicht die offiziellen Wucherpreise zahlen müßten…“ Kopfschüttelnd ging er wieder fort. Eine halbe Stunde später trat auch Dr. Horkkk an mich heran und befragte mich über meine möglichen TP-Fähigkeiten. Versuchen Sie es, flehte er mich an. Versuchen Sie, Kontakt zu einem TP aufzunehmen. Ich war geneigt, ihm zu sagen, daß ich genausogut hätte versuchen können zu fliegen. Manchmal reicht ein Versuch allein nicht aus.

Und außerdem: Glaubten sie wirklich, ein unabhängiger Telepath könnte sich über die Gemeinnützigkeitsgesetze hinwegsetzen und das Kommunikationsnetz benutzen, ohne dafür zu bezahlen?

Heute morgen stellte sich unsere Situation wie folgt dar: Wir müssen den Asteroiden finden, denn wir haben ganz einfach nicht genug Geld, die Arbeiten hier auf Higby V über die geplanten zwei Jahre weiterzuführen. Da wir jetzt alles verpulvert haben, müssen wir innerhalb relativ kurzer Zeit mit außergewöhnlichen Resultaten aufwarten. Der erste Happen einer ermutigenden Nachricht kam gestern abend von Luna City. Sie haben die Computersimulation angefertigt und den Raumsektor tatsächlich lokalisiert, der auf unserem Foto dargestellt ist. Sie haben Rigel, Prokyon, Aldebaran, Arkturus und einige andere uns bekannte Sterne identifiziert.

Das ist nicht gerade der große Durchbruch für uns. Das Foto zeigt einen Raumkubus mit einem Volumen von einigen tausend Kubiklichtjahren, und darin einen einzelnen Weißen Zwerg (der möglicherweise ausgebrannt ist) und einen einzelnen Asteroiden zu finden, ist ein nahezu unmögliches Unterfangen. Doch Luna City hat uns damit zumindest bestätigt, daß die Roboter-und-Gruft-Sequenz in unserer Galaxis aufgenommen worden ist, und das muntert uns ein bißchen auf. Wenn es ihnen mit Hilfe der Nahaufnahme tatsächlich gelingt, das betreffende Sonnensystem zu finden, dann können wir es schaffen.

Wir müssen es.

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