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16. (?), 17. (?), 18. (?) November 2375

Irgendwo im Ultraraum


Seit einem Monat habe ich keinen Nachrichtenwürfel mehr in die Hand genommen, ich weiß. An diesen Reisen durch den Ultraraum ist irgend etwas, das mir den Schwung nimmt, Mitteilungen zu sprechen. Ich weiß nicht einmal genau, welches Datum wir haben. Irgendwo an Bord des Schiffes gibt es einen Erdnorm-Kalender, aber ich bringe es nicht über mich, ihn zu suchen.

Wir haben den Laden auf Higby V ganz planmäßig dichtgemacht und die Fundstelle verschlossen zurückgelassen, so daß die nächsten Archäologen, die sich damit befassen — hoffentlich handelt es sich bei ihnen um eine weniger launische Gruppe, als die wir uns erwiesen haben —, alles intakt vorfinden. Der Kreuzer kam am fünfundzwanzigsten an und nahm uns auf. Zentralgalaxis ist von uns nicht davon unterrichtet worden, daß wir die Kugel mitgenommen haben. Dadurch sind wir zu so etwas wie Renegaten geworden, aber es wird noch Monate dauern, bis die Bürokraten zu Hause dahinterkommen, und bis dahin können wir vielleicht mit einem neuen, prächtigen Fund aufwarten, um sie zu beruhigen. Mirrik hat es nach seinem besoffenen Tanz durch das Laboratorium am eigenen Leib erfahren: Jeder Sünder kann Erlösung finden, wenn die Rendite seiner Sünde nur spektakulär genug ist.

Bei unserem Raumschiff handelt es sich um einen gewöhnlichen Interstellar-Kreuzer, der auf einer Route durch den oberen Quadranten verkehrt, zwischen Rigel und Aldebaran. GGC 1145591 liegt ein bißchen abseits dieser Strecke, aber nicht allzu viel, und einen dortigen Zwischenstop zu arrangieren, war nicht weiter schwierig. Es kostete nur Geld. Altes irdisches Sprichwort: Geld regiert die Welt. Am Ziel wird uns eine gemietete Planetenfähre zur Verfügung stehen, so daß wir das Planetensystem von GGC 1145591 nach unserem Asteroiden durchsuchen können. Sie ist bereits von Aldebaran aus auf dem Weg, um uns dort zu erwarten. Auch das kostete Geld. Dr. Schein hat unser Daumenkonto bereits vor langer Zeit überzogen, aber er ist sehr geschickt in Verhandlungen mit Computern und hat uns einen Kredit besorgt. Diese neue finanzielle Decke wird uns so lange wärmen, bis uns Zentralgalaxis auf die Schliche kommt. Das Allmächtige Proton möge uns beschützen, wenn wir auf dieser Expedition Pech haben — wenn wir eine Niete ziehen, dann werden wir bei unserer Rückkehr, um einen alten, aber treffenden Ausdruck zu benutzen, in einen ziemlich sauren Apfel beißen müssen.

Unsere Unterkünfte hier sind so gemütlich und komfortabel wie an Bord des Schiffes, das uns nach Higby V brachte. Geräumige Kabinen, eine gut ausgestattete Bibliothek, Unterhaltungsmöglichkeiten, ordentliches Essen. Die Besatzung bleibt unter sich, wir bleiben unter uns. Während einer Reise im Ultraraum verschiebt sich das Zeitgefühl auf sonderbare Weise: Manchmal stelle ich fest, daß ich über einen Zeitraum, der etwa zwei oder drei Tage umfassen mag, ohne Schlaf ausgekommen bin, und dann wiederum schlafe ich mehrere Tage — glaube ich jedenfalls.

Alle sind ganz außer sich, besonders aber Dr. Schein und Dr. Horkkk. Sie wandern dauernd umher, davon überrascht, daß sie jemals den Mut aufgebracht haben, Higby V zu verlassen und sich auf diese Suche zu begeben. Weißt du, Dr. Horkkk ist kaum der Typ des entzückten, romantischen, schwärmerischen Abenteurers, und soweit ich seinen Gesichtsausdruck zu interpretieren vermag, scheint er zu denken: „Das kann ich doch nicht sein!“ Dr. Schein macht einen ebenso verwirrten Eindruck. Pilazinool andererseits ist vollkommen selbstsicher, schraubt nur noch selten seine Glieder ab und glaubt offenbar, wir seien vom Schicksal Auserwählte. Nun, das wird sich noch herausstellen.

Bisher bestand meine hauptsächliche soziale Leistung auf dieser Reise darin, Jan wieder zu ihrer Fixierung auf Saul zu verhelfen.

Ich weiß nicht genau, wie ich das zustande gebracht habe. Ich hatte geglaubt, Jan und ich sendeten und empfingen auf der gleichen Wellenlänge.

Ich will damit nicht sagen, daß sich irgend etwas sehr Leidenschaftliches zwischen uns abgespielt hätte oder daß wir sogar kurz davor standen, den Status einer zeitlich begrenzten Ehe zu beantragen oder etwas ähnlich Absurdes. Unsere Beziehungen sind erstaunlich keusch gewesen. Wir haben uns ein bißchen eingehender mit den Aspekten körperlicher Annäherung befaßt, ja, aber es ist nichts zwischen uns geschehen, was man uns selbst in einer völlig puritanischen Ära hätte ankreiden können. Vielleicht war es dumm und einfältig von mir, mich so zurückhaltend verhalten zu haben. Wir sind erwachsen. Gerade was diesen Punkt betrifft.

Trotz aller Keuschheit schienen Jan und ich eine Art Team gebildet zu haben, und ich glaube kaum, daß irgend jemand etwas dagegen einzuwenden hatte — Leroy Chang ausgenommen. Als jüngsten und attraktivsten Vertreter der Erde in dieser Expedition wurde Jan und mir von den anderen eine Art von väterlicher Billigung zuteil. Sie strahlten uns reichlich an, jedoch komme mir dabei immer herabgesetzt vor.

In der letzten Zeit strahlen sie uns nicht mehr an, denn Jan verbringt ihre Zeit wieder mit Saul. Wenn ich sie sehe, gefriert mein Innerstes, direkt bis zum absoluten Nullpunkt herunter.

Ich weiß nicht, was ich gemacht oder gesagt oder nicht gemacht und nicht gesagt habe, auf daß sie mir gegenüber so abgekühlt ist. Vielleicht fing ich an, sie zu langweilen. Manchmal kann ich schrecklich unschuldig und blauäugig sein — mein schlimmster Fehler, da stimmst du mir sicher zu.

Vielleicht hat sie plötzlich ein gewaltiges Interesse an der Philatelie entwickelt.

Vielleicht hat sie überhaupt nie ein Auge auf mich gehabt, sondern mich nur benutzt, um Saul ein bißchen eifersüchtig zu machen.

Wer weiß das schon? Ich nicht. Ich habe keine blasse Ahnung.

Das geht nun schon zehn oder zwölf Tage so. Ich will nicht um den heißen Brei herumreden: Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Ich habe absolut kein Recht dazu, Jan gegenüber irgendwelche Besitzansprüche zu stellen — wenn man bedenkt, daß alles, was sich zwischen uns abgespielt hat, nur eine Art romantisiertes Händchenhalten war. Mehr oder weniger jedenfalls. Aber es gefällt mir ganz und gar nicht, wenn ich sie für zwei oder drei Stunden in Sauls Kabine verschwinden sehe. Und daß die Tür auch noch verriegelt ist.

Eine Vorstellung allein kann manchmal eine schreckliche Belastung sein.


Ein angenehmer Nebeneffekt dieses Aspekts der bisherigen Reise besteht darin, daß ich eine Chance erhielt, Kelly Wachmann besser kennenzulernen. Wie du weißt, machen mich Androiden nicht sonderlich an, und bis vor ein paar Wochen habe ich kaum mit ihr gesprochen. Abgesehen von Fachsimpeleien während der Ausgrabung und Dingen wie „Scheußliches Wetter heute, nicht wahr?“ und „Reich mir doch bitte mal das Salz“ und „Kannst du mir sagen, wie spät es ist?“.

Ich glaube sogar, ich habe niemals zuvor mit einem Androiden wirklich gesprochen. Ich kannte einige, die mit mir zusammen das College besuchten, aber sie hingen dauernd zusammen und machten sich nicht die Mühe, sich um die Gesellschaft von richtigen Menschen aus Fleisch und Blut zu bewerben. Und ich meinerseits habe nie versucht, mich ihnen aufzudrängen. Vater hat natürlich einige Androiden, die für ihn in ziemlich hochrangigen Stellungen arbeiten, aber auch in diesem Fall ist es mir nie in den Sinn gekommen, Freundschaft mit ihnen zu schließen. Ich bin den Angehörigen von Minderheiten immer ausgewichen oder habe mich ihnen gegenüber sehr zurückhaltend verhalten; es ist das allgemein verbreitete Schuldbewußtsein der hochprivilegierten Klassen, das mich immer zögern ließ.

Ich sprach mit Kelly zum erstenmal an jenem Abend, bevor Jan und ich uns auseinanderzuleben begannen. Ich war an diesem Abend deshalb nicht mit Jan zusammen, weil sie über Kopfschmerzen und Unwohlsein geklagt hatte und fortgegangen war, um die Nichtskammer des Schiffes aufzusuchen — in der Hoffnung, daß ihr einige Stunden Ausschaltung aller sensorischen Reize helfen würden, sich zu entspannen. Die anderen gingen ebenfalls ihren eigenen Beschäftigungen nach: Dr. Schein und Dr. Horkkk schrieben Berichte, Pilazinool und Mirrik fochten eine erbitterte Schlacht auf dem Schachbrett, 408b hatte sich mittels Meditation in höhere Sphären begeben und so weiter. Ich wanderte im Schiff umher und fühlte mich allein gelassen und einsam, und als ich in der Bibliothekskabine war, kam Kelly zu mir herein und fragte: „Kann ich mich eine Weile zu dir setzen, Tom?“

„Ich würde es sehr zu schätzen wissen, Kelly“, sagte ich würdevoll, sprang auf, um ihr einen Sessel heranzuziehen und lud sie mit einer ritterlichen Geste ein, Platz zu nehmen — die Überkompensation des schon erwähnten Schuldgefühls.

Wir setzten uns und sahen uns über den Tisch hinweg an, der aus einem einzelnen, glitzernden Kristall bestand. Ich fragte sie, ob sie gern etwas zu trinken hätte, und sie lehnte — natürlich — ab, sagte aber, sie hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn ich einen Drink nähme. Ich gab zurück, mir stände ebenfalls nicht der Sinn danach. Diese vornehmen und affektierten Manöver dauerten einige Minuten.

Dann sagte sie mit gesenkter Stimme: „Dieser Mann verfolgt mich schon den ganzen Abend. Wie kann ich ihn loswerden?“

Ich wandte mich zur Kabinentür um und warf einen flüchtigen Blick auf Leroy Chang, der auf dem Korridor herumschlich. Leroy ist der einzige richtige Schleicher, den ich jemals gesehen habe. Er starrte mich voller Wut an, als wolle er mir sagen, wie ekelhaft es von mir sei, mich erneut zwischen ihn und die Frau zu stellen, der er nachjagte. Dann pirschte er sich davon, wobei er bestimmt etwas vor sich hinbrummte und sich einen Schnurrbart herbeisehnte, an dem er hätte zupfen können.

„Der arme Teufel“, sagte ich. „Ich vermute, er hat ein sexuelles Problem.“

Kelly ließ ein strahlendes Lächeln aufblitzen. „Wann wird er begreifen, daß ich nicht daran interessiert bin, ihm bei der Lösung behilflich zu sein?“

Ich hatte plötzlich Mitleid mit dem umherschleichenden Leroy. Die Androidin, die mir gegenüber saß, sah außerordentlich begehrenswert aus. Kellys funkelndes, kastanienbraunes Haar fiel fast bis zu den Schultern herab; es glühte und glänzte in einem Schimmer, der nur in den Schöpfungsbottichen der Androiden entstehen kann. Ihre dunkelgrünen Augen waren wie kostbare Juwelen. Ihre makellose Haut war nicht die Haut von Normalsterblichen. Und in ihrer sorglosen Art trug sie nur einen enganliegenden Aufsprüh-Umhang, was nicht viel mehr war als ein bißchen Flaum hier oben und ein bißchen mehr weiter unten. Sie war eine verführerische Erscheinung — und die Laboratoriumstechniker, die sie aus Aminosäuren und Elektrizität erschaffen hatten, hatten ihr einen grausamen Streich gespielt, denn sie hatten Kelly nicht das geringste Verlangen nach Sex mitgegeben. Wahrscheinlich hätte sie Leroy Chang auf gewisse Weise zufriedenstellen können — wenn sie gewollt hätte. Aber sie wollte nicht, und sie wollte nicht einmal wollen, und sie konnte auch Leroys Motive nicht verstehen. Für sie sind die grundlegenden Triebe der Menschen genauso fremdartig wie für uns das Bestreben der Shilamakka, sich selbst in Maschinen zu verwandeln.

Aber sie war wunderhübsch: ein strahlendes Bild sinnlicher, neunzehnjähriger Weiblichkeit, eine Art Traumgeschöpf. Alle Androiden sind attraktiv, in einer standardisierten, stereotypen Art und Weise, aber wer auch immer das Programm für Kelly entwickelt hat, er muß ein Bottichpoet gewesen sein. Als ich mit ihr zusammensaß und mich in einer Art kultivierter Plauderei übte, kam ich mir fast so vor wie der Held einer dieser Tridem-Filme: für alle Zeiten verstrickt in einem Netz aus romantischer Konversation mit geheimnisvollen Schönheiten, an Bord eines Raumschiffes, das weit entfernte Welten ansteuert.

Allerdings war niemand so aufmerksam, mir ein Drehbuch in die Hand zu drücken. Im Verlaufe des Gesprächs mußte ich mir die Dialoge selbst ausdenken. Kelly schien jetzt, nachdem ich sie vor Leroy dem Sittenstrolch errettet hatte, geneigt zu sein, in der Bibliothek zu verweilen und die ganze Nacht hindurch mit mir zu reden. Nach den ersten zehn Minuten aber mußte ich feststellen, daß ich meinen Vorrat an seichten Konversationsfloskeln erschöpft hatte. Es ist nicht einfach, Gesprächsthemen zu finden, wenn man sich an Bord eines Ultraraumkreuzers befindet, eingeschlossen in einem versiegelten Behälter und somit abgeschnitten von allen Kontakten zum Rest des Universums. Man kann nicht einmal über das Wetter reden. Sobald man über seine Reaktionen auf die während des Eintritts in den Ultraraum erfolgende Innen-Umstülpung gesprochen hat, ist man am Ende.

Um der mentalen Vorstellung, kaltblütiger Star einer aufregenden Tridem-Show zu sein (Tom Rice, intergalaktischer Geheimagent), Genüge zu tun, mußte ich in der Lage sein, irgend etwas zu sagen. Und so plapperte mein Mund weiter, während mein Gehirn aussetzte. Was ist das eine Thema, das man mit dem Angehörigen einer Minderheit nicht diskutieren sollte? Nun, dies natürlich: Wie es ist, zu einer Minderheit zu gehören. Man sollte nicht riskieren, jemandem auf die Füße zu treten, Salz auf frische Wunden zu streuen oder seine Neugier auf etwas zu konzentrieren, über das die der Minderheit angehörende Person ganz unglücklich ist, et cetera. Ganz klar.

Erschrocken und bestürzt vernahm ich, wie mein Mund zu Kelly Wachmann sagte: „Weißt du, ich hatte eigentlich nie sonderlich intensiven gesellschaftlichen Kontakt zu Androiden.“

Sie war taktvoll. „Es gibt nicht viele von uns.“

„Nein. Das ist es nicht. Ihr wart in meinen Augen immer so anders, daß ich mich euch gegenüber unsicher fühlte. Ich meine Androiden im allgemeinen, nicht dich im besonderen. Es fällt mir so schwer, mir vorzustellen, wie es sein muß, ein Androide zu sein. Praktisch in jeder Hinsicht ein Mensch zu sein und doch kein…“

Meine Stimme verklang einfältig.

„Kein richtiger Mensch zu sein?“ vervollständigte Kelly für mich.

Ich war entsetzt. „Etwas in der Richtung, ja.“

„Aber ich bin ein Mensch, Tom“, sagte sie sanft. „Zumindest in jeder juristischen Hinsicht. Das ist durch alle Rechtsinstanzen gegangen und entschieden. Ob man im Mutterleib oder im Bottich gezeugt wurde, man ist ein vollwertiger Mensch, wenn man das menschliche Chromosomenmuster besitzt, und kein Mensch, wenn man es nicht hat. Ich habe es, und deshalb bin ich es.“ Sie klang nicht aggressiv oder so, als wolle sie zu einer verbalen Attacke ansetzen. Sie stellte nur Tatsachen fest. Kelly kann niemals wirklich erregt sein, ganz gleich, wie ihre Chromosomen beschaffen sind.

„Trotzdem“, sagte ich. „Viele Leute — ich brauche das dir nicht extra zu erklären — haben diese Angewohnheit, Androiden für… nun, für nicht ganz echt zu halten.“

„Vielleicht ist das einfach nur Neid“, antwortete Kelly gelassen. „Die Tatsache, daß wir nicht altern, daß unsere Lebenserwartung dreimal so groß ist wie die natürlich gezeugter Menschen, muß eine gewisse Ablehnung hervorrufen. Ich zum Beispiel kam im Jahre 2289 aus dem Bottich, wußtest du das?“

Fast neunzig. Wie ich vermutete.

„Zum Teil deswegen“, gab ich zu. „Aber es gibt noch andere Gründe. Es ist so, daß wir euch erschaffen haben. Dadurch nehmt ihr — das ist nicht meine Ansicht, mußt du wissen, aber ich kenne eine Menge Leute, die so denken —, dadurch nehmt ihr in der Rangordnung aller Dinge irgendwie einen Platz unter uns ein.“

„Wenn ein Mann und eine Frau ein Kind zeugen, betrachten sie es dann als etwas, das ihnen gegenüber geringerwertig ist?“

„Manchmal ja“, sagte ich. „Aber das spielt hier keine Rolle. Ein Kind auf natürliche Weise zu zeugen ist eine Sache. Leben in einem Laboratoriumsbottich zu schaffen eine andere. Es ist fast gottgleich.“

„Und so“, meinte Kelly, „zeigt ihr gottgleichen Wesen euer gottgleiches Wesen, indem ihr euch den künstlichen Menschen, die ihr erschafft, überlegen fühlt. Obwohl euch Androiden überleben und euch in vielerlei Hinsicht übertreffen.“

„Wir fühlen uns euch gegenüber gleichzeitig über- und unterlegen, Kelly. Und das ist der Grund, warum so viele von uns euch nicht mögen und euch mißtrauen.“

Sie dachte darüber nach. „Wie kompliziert ihr natürlich Gezeugten doch sein könnt! Warum müßt ihr euch so viele Gedanken über Unter- oder Überlegenheit machen? Warum akzeptiert ihr nicht einfach alle Besonderheiten und konzentriert euch auf wirklich wichtige Dinge?“

„Weil es in der Natur des Menschen liegt“, sagte ich, „das eigene Licht dadurch über den Scheffel zu stellen, indem man jemand anders heruntermacht. Früher waren die Juden oder Neger oder Chinesen oder Katholiken oder Protestanten die Opfer oder irgend jemand anders, der sich zufälligerweise von den anderen Leuten in seiner Umgebung unterschied. Diese Art der Diskriminierung ist heute nicht mehr möglich, hauptsächlich deshalb, weil sich die Rassen und Religionen und Gebräuche auf der Erde so miteinander verknüpft und vermischt haben, daß ein Computer notwendig wäre, um zu ermitteln, wem gegenüber man aufgrund seiner Herkunft Vorurteile entwickeln könnte. Jetzt haben wir Androiden. Es ist haargenau dasselbe. Ihr Androiden lebt länger als wir, ihr habt attraktivere Körper, ihr seid uns in vielen Dingen überlegen, aber wir haben euch erschaffen, und wenn wir auch neidisch auf euch sind, so finden wir doch ein wenig Spaß daran, uns Androidenwitze zu erzählen, Androiden von unseren Gemeinschaften auszuschließen und solche Dinge. Eine Voraussetzung für diese Sache mit der Diskriminierung besteht darin, daß das Opfer zahlenmäßig schwächer als man selbst sein muß und daß es sich um jemanden handelt, den man insgeheim bewundert oder fürchtet. So glaubte man etwa, Juden seien tüchtiger als normale Leute, oder Neger seien anmutiger und agiler als normale Leute, oder Chinesen könnten härter arbeiten als normale Leute. Und so wurden Juden und Neger und Chinesen zugleich beneidet und verachtet. Bis sich die Gene soweit vermischt hatten, daß jeder einen Teil jedes anderen besaß und diese Denkweise somit überholt war.“

„Vielleicht“, sagte Kelly mit einem angedeuteten Lächeln, „besteht die Lösung des Problems mit der Androiden-Diskriminierung darin, schwächliche und häßliche Androiden zu erschaffen!“

„Sie wären nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt, Kelly. Die einzig wirkliche Lösung wäre, den Androiden die Fähigkeit zur Reproduktion zu geben, so daß sie sich überall mit den anderen verheiraten könnten. Aber man sagt, die Entwicklung des fruchtbaren Androiden läge noch fünfhundert Jahre in der Zukunft.“

„Zweihundert“, stellte Kelly gelassen richtig. „Oder weniger. Androidische Biologen befassen sich mit diesem Problem. Jetzt, da wir gleichberechtigt sind, jetzt, da wir nicht länger die Sklaven und Lasttiere sind, als die ihr uns erschaffen habt, haben wir damit begonnen, unsere eigenen Bedürfnisse zu untersuchen.“

Ich fand diese Worte ziemlich verunsichernd.

„Nun, vielleicht wachsen wir am Ende über unsere törichten Einstellungen den Androiden gegenüber hinaus“, sagte ich schwach.

Kelly lachte. „Und wann wird das sein? Du hast die Wahrheit gesagt: Voreingenommenheit ist Teil eures Wesens. Ihr Natürlichen seid so albern! Ihr durchstöbert das ganze Universum auf der Suche nach Leuten, die ihr verachten könnt. Ihr spottet über die Schwerfälligkeit der Calamorianer, ihr macht Witze über die Größe und den Geruch der Dinamonianer, ihr lacht über die Gebräuche der Shilamakka und Thhhianer und all der anderen extraterrestrischen Rassen. Ihr bewundert ihre ungewöhnlichen Talente und Fähigkeiten, aber insgeheim seht ihr von oben auf sie herab, weil sie zu viele Augen oder Köpfe oder Arme besitzen. Habe ich recht?“

Ich hatte den Eindruck, als glitte mir die Kontrolle über den Verlauf des Gesprächs aus den Händen. Ich hatte einfach nur wissen wollen, wie es ist, ein Android zu sein und einen so schwierigen Platz in der modernen Gesellschaft einzunehmen — doch statt dessen wurde ich in die Defensive gedrängt und versuchte, die blöde Voreingenommenheit zu rechtfertigen, die der Homo sapiens so schätzt.

Es war das Auftauchen Jans, das mir aus der Klemme half. Sie glitt zu uns in die Kabine, und ihr Gesicht zeigte den fahlen, geisterhaften Ausdruck, der oftmals zu beobachten ist bei den Leuten, die nach einigen Stunden Ruhezeit aus der Nichtskammer herauskommen: Ihre Augen blickten verträumt, und ihre Gesichtsmuskeln waren so entspannt, daß sie wie ein Schlafwandler aussah. Das kommt davon, wenn man mit zugestopften Ohren und abgedeckten Augen in einem warmen Chemikalienbad liegt. Jan schwebte wie die kopflosen Gattinnen von Heinrich VIII. herein, sah mich an, sah Kelly an, lächelte eigentümlich, sagte mit einer silberhellen, trillernden Stimme: „Entschuldigung“ und schwebte wieder hinaus. Sonderbar.

Irgendwie machte das der Diskussion über Rassendiskriminierung ein Ende. Wir versuchten nicht, sie fortzusetzen. Statt dessen begann Kelly über Inschriftsknoten zu sprechen, und nach einiger Zeit sagte ich gute Nacht und ging schlafen. Seitdem haben wir einige Abende zusammen verbracht und uns bis spät nachts unterhalten. Ich glaube, Kelly benutzt mich in gewisser Weise dazu, den linkischen Annäherungsversuchen von Leroy Chang zu entgehen, aber das stört mich nicht. Da Jan mich ganz offensichtlich ignoriert, ist es angenehm, Kelly als Gesprächspartner zu haben. Und ich habe die lohnende Entdeckung gemacht, daß ein Android in vielerlei Hinsicht eine richtige, wirkliche Person sein kann. Am Grunde von Kellys Wesen befindet sich ein Kern aus Ruhe, der von nichts durchdrungen werden kann — was für mich ein Beweis ihres künstlichen Ursprungs ist. Doch jenseits dieser Grundfeste ist sie durchaus Stimmungen unterworfen; sie hat intensive Gefühle, versteht Spaß, ist kultiviert und noch vieles andere mehr. Sie neigt ein wenig dazu, dauernd ihre Menschlichkeit unter Beweis stellen zu müssen, in einer Wenn-du-meine-Haut-ritzt-blute-ich-dann-etwa-nicht?-Art, aber das ist nicht weiter verwunderlich. Ich will nicht behaupten, ich hätte meine Vorurteile abgeschüttelt. Ich denke noch immer, daß Kelly sehr menschlich ist, aber… Und es ist dieses verdammte Aber, das nicht verschwinden will. Doch ich mache Fortschritte.

Es macht mir ein wenig. Angst, daran zu denken, daß es in ein paar hundert Jahren vielleicht zu Heiraten zwischen Menschen und Androiden kommt und Kinder gezeugt werden. Ich frage mich, warum mich diese Vorstellung so erschreckt. Weil wir von einem Spritzer Androidenblut in unser Gen-Reservoir vielleicht verändert werden? Verbessert werden? Dieser Gedanke schmerzt dort, wo meine Vorurteile ihren Ursprung haben.

Aber dann werde ich nicht mehr da sein, um es zu erleben. Das ist tröstlich. Oder?

Nach dieser unklaren Bemerkung, die jetzt zehn Tage zurückliegt, habe ich keine weiteren Aufzeichnungen gesprochen. Der November geht nun allmählich seinem Ende entgegen, und ich habe diesen Würfel nur wieder zur Hand genommen, um den Nachtrag hinzuzufügen, daß wir GGC 1145591 in fünf weiteren Tagen erreichen. Ich bezweifle, ob bis dahin etwas Wichtiges geschieht, und deshalb schließe ich den Würfel jetzt ab.

Es ist alles beim alten geblieben, in jeder Hinsicht. Wann immer ich Jan sehe, ist sie mit Saul zusammen, und sie sind ganz vertieft in die Diskussion über die selbstentwertenden französischen Briefmarken von 2115 oder was auch immer. Kelly hat vorgeschlagen, ich solle zum Gegenangriff übergehen und eine Münzsammlung anlegen. Dieser Vorschlag scheint mir kaum durchführbar. Zum Teufel auch, ich glaube, Saul ist einfach der bessere Mann. Doch ich würde zu gern wissen, warum.

Beiseite mit diesen Nebensächlichkeiten. Die Dunkelsonne erwartet uns.

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