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12. Dezember 2375

Dritter Planet von GGC 1145591


Wir sind hier ziemlich auf uns allein gestellt. Und alles ist außerordentlich seltsam. Als ich einen so gesetzten Beruf wie Archäologie ergriff, habe ich nicht im Traum daran gedacht, daß ich dadurch einmal so etwas erleben würde.

Wir befinden uns in einem Sonnensystem, in dem es kein Tageslicht gibt. Wir scheinen verzaubert zu sein, in Gnome verwandelt, dazu verurteilt, durch finstere Tunnel zu laufen, die nur von einem trüben, purpurnen Glühen beleuchtet werden, einem matten Schimmer, der von irgendwo weit über uns herabsickert. Aber hier gibt es keine Tunnel. Wir befinden uns auf der Oberfläche eines Planeten. Das ganze Universum ist auf einen Faktor reduziert: immerwährende Finsternis.

Selbst auf Pluto bewirkt die Sonne noch eine Art Tageslicht.

Hier nicht. Die Sonne dieses Systems ist ein toter Stern oder besser gesagt: ein Stern, der in den letzten Zügen liegt, so daß wir die Heftigkeit des Todeskampfes spüren können. Unsere Stimmung ist gedrückt. Wir sprechen kaum miteinander. Es kommt nicht mehr zu den kleinen Streitereien, die manchmal unter uns ausbrachen. Dieser Ort bewirkt eine mysteriöse Faszination. Ich fühle mich, als sei ich im Innern eines Käfigs aus Träumen gefangen.

Die Besatzung des Ultraraumkreuzers, der uns hierherbrachte, hatte es ziemlich eilig damit, wieder zu verschwinden. Der Kreuzer kam in diesem Sonnensystem aus dem Ultraraum und landete auf dem dritten Planeten, der keinen Namen hat. (Wir versuchen, einen zu finden.) Die Besatzung lud unsere Ausrüstung aus. Dann flog sie wieder ab, rasch.

Unsere gemietete Planetenfähre hat uns bereits erwartet. Sie ist ein bißchen klein, aber sie wird ausreichen. Beförderungskapazität: fünfundzwanzig Personen, Passagiere und Besatzung. Aufgrund von Mirriks Übertonnage werden wir elf zu Lastberechnungszwecken als zusammen zwanzig Personen eingestuft. Die Fähre hat eine Besatzung von zwei Mann. Der Captain ist der personifizierte Held eines kitschig-naiven Weltraumwestern: der Typ des erfahrenen Sternen- und Planeten-Veteranen, mit trüb gewordenen blauen Augen und einer Haut, die von der kosmischen Strahlung gebräunt wurde. Er kaut ein leicht berauschend wirkendes Kraut von einem Planeten der Sonne Deneb, und wohin er auch geht, er spuckt überall herum. Dieses Kraut verleiht ihm einen Geruch, der dem eines widerlich süßen Parfüms ähnelt, was seinem Draufgänger-Image ein wenig abträglich ist. Er heißt Nick Ludwig und behauptet, schon seit dreißig Jahren Mietschiffe zu fliegen. Er habe schon eine Menge Charterflüge für Millionäre durchgeführt, aber noch nie für Archäologen. Der Copilot ist ein Androide namens Webber Registrator, und sein äußeres Erscheinungsbild ist wie üblich hinreißend. Ein seltsames Team.

Die Planetenfähre dient uns einerseits als Transportmittel und andererseits auch als Unterkunft, denn wir haben hier nicht die Möglichkeit, Aufblashütten aufzupumpen. Wann immer wir nach draußen gehen, müssen wir uns einem kompletten Luftschleusen-Zyklus unterziehen und zudem Druckanzüge anlegen, was eine zeitraubende Plage ist. Diese Welt besitzt keine Atmosphäre. Genauer gesagt: Es gibt zwar eine, aber sie ist steinhart gefroren. Die Temperatur hier liegt rund fünf Grad über dem absoluten Nullpunkt, und unter solchen Bedingungen gefriert alles: Wasserstoff, Sauerstoff, die ganze Tabelle des periodischen Systems. Unsere Anzüge sind natürlich isoliert, doch wenn eine Naht platzte, wäre es ein schneller Tod.

Vielleicht war dies einmal eine recht freundliche Erdnorm-Welt. Sie ist ein wenig größer als die Erde, und die Gravitation beträgt 1,25 g. Das reicht völlig aus, um alle Bewegungen zu verlangsamen, doch wirklich unangenehm ist es nicht. Die Atmosphäre, die hier in Eisklumpen herumliegt, war offenbar unsere nette Sauerstoff-Stickstoff-Mischung. Eine Terraforming-Mannschaft könnte diese Welt wahrscheinlich in einen anständigen Urlaubsplaneten verwandeln, indem sie den thermonuklearen Reaktionen der hiesigen Sonne so lange Dampf macht, bis die Sachen hier wieder aufgetaut sind.

Die hiesige Sonne…

Wir sind wie besessen von dieser Sonne. Ich träume von ihr, und da bin ich nicht der einzige. Wenn wir die Fähre verlassen, vergessen wir, was wir eigentlich wollten, und starren sie einige lange Minuten an.

Wir setzen Teleskopgläser auf, um sie besser erkennen zu können. Mit dem bloßen Auge ist nicht sonderlich viel zu sehen. Wir sind zwar nur 110 Millionen Kilometer von ihr entfernt und somit ein ganzes Stück näher als die Erde unserer Sonne, aber dafür ist dieser Stern sehr klein. Und dunkel. Die sichtbare Scheibe ist nur etwa ein Zehntel so groß wie die unserer Sonne von der Erde aus gesehen. Kraftlos flackert sie vor dem Hintergrund des Alls, und wir müssen den ganzen Himmel absuchen, um sie ausfindig zu machen.

Wahrscheinlich hat GGC 1145591 noch eine Lebensspanne von einer Million Jahren vor sich, aber auch Sterne sterben einmal, und dieser liegt im Totenbett. Der Todeskampf einer Sonne dauert lange. Wenn sie ihren Treibstoff, den Wasserstoff, verbrannt hat, beginnt sie sich zusammenzuziehen, erhöht damit ihre Dichte und verwandelt die potentielle Energie der Gravitation in Hitze. Das ist hier geschehen, vor vielen Milliarden Jahren, vor so langer Zeit, daß der Verstand ausklinkt bei dem Versuch, sie sich vorstellen zu wollen. Diese Sonne ist in grauer Vorzeit, Äonen selbst vor der Entwicklung der Erhabenen, in sich selbst zusammengestürzt und zu einem Weißen Zwerg mit einer Dichte von vielen Tonnen pro Kubikzentimeter geworden. Und sie verbrannte weiter und immer weiter, kühlte dabei allmählich ab und wurde dunkel.

Als Schwarzer Zwerg jetzt erscheint sie durch das Teleskop wie ein ausgedehnter Lavateich. Man kann das Leuchten geschmolzenen Metalls beobachten — oder um was es sich auch handeln mag —, und Inseln aus Asche und Schlacke treiben in diesem Glutmeer umher. Die durchschnittliche Oberflächentemperatur der Sonne liegt bei 980 Grad, und deshalb wird wahrscheinlich selbst jetzt niemand auf ihr landen. Die Aschemassen sind etwa 300 Grad warm. Im Innern des Sterns ist es viel heißer, dort, wo die zusammengepreßten Nukleonen ein noch immer beträchtliches Bewegungsmoment besitzen. Selbst eine Dunkelsonne erzeugt Wärme, aber die ganze Zeit über weniger und immer weniger. In einer Million Jahren wird dieser Schwarze Zwerg tot sein, nur noch ein großer Ball aus Asche, der durchs All treibt, kalt, ausgebrannt. Dann ist der letzte Lichtschimmer aus diesem Sonnensystem verschwunden und der Sieg der Nacht vollständig.

Wir haben nicht die Absicht, länger hierzubleiben als unbedingt erforderlich. Sobald wir den Asteroiden ausfindig gemacht haben, auf dem die Erhabenen die Felsengruft installierten, machen wir uns zu ihm auf den Weg.

Auf seiner Umlaufbahn kommt dieser Planet dem Asteroidengürtel sehr nahe. Dort gibt es Tausende von Asteroiden, und vielleicht dauert es Wochen, den richtigen zu finden. Wir haben mit einem sehr kleinen Informationsfetzen begonnen: der Kugelsequenz, die das Raumschiff der Erhabenen bei der Landung auf einer weiten Ebene zeigte. Es war möglich, daraus die Krümmung der Oberfläche des Asteroiden zu errechnen. Aus dem daraus resultierenden Wert konnten wir den ungefähren Durchmesser ermitteln. Bei einigen dieser Arbeiten hat uns das Luna City Observatorium unterstützt. Wir haben es mit einer möglicherweise großen Fehlermarge zu tun, da wir über die Dichte des Asteroiden nur Vermutungen anstellen können. Aber wir können zumindest neunzig Prozent der Himmelskörper im Asteroidengürtel, die nicht unseren Parametern in Hinsicht auf die Größe entsprechen, aus unserer Suche ausklammern.

Wir verwenden nun die Abtastgeräte unserer Planetenfähre. Captain Ludwig hat seine Ausrüstung justiert und benutzt sie nun dazu, den ganzen Asteroidengürtel zu durchsuchen. Sobald er damit einen Asteroiden der richtigen Größenklasse aufgespürt hat, läßt er vom Fährencomputer die entsprechende Umlaufbahn berechnen. Bisher hat er ein Dutzend gefunden, die den spekulativen Erfordernissen zu genügen scheinen. Die Suche wird noch eine Woche andauern. Dann beginnen wir damit, die Asteroiden zu überprüfen, einen nach dem anderen. Hoffentlich finden wir nicht noch zu viele andere.


Ich glaube, ich beginne die Schwierigkeiten zu verstehen, die ich mit Jan gehabt habe.

Alle drei Stunden muß jemand die Fähre verlassen, um in einer Entfernung von tausend Metern eine Leuchtrakete zu starten. Das hat etwas mit den Messungen von Nick Ludwig zu tun — irgend etwas mit Triangulation —, und ich will nicht behaupten, ich verstünde, worum es dabei geht. Wir wechseln uns damit ab, und Dr. Schein besteht darauf, daß wir jeweils zu zweit hinausgehen, um der Sicherheit willen. Heute morgen, als die Leuchtraketenzeit wieder näher rückte, meinte Dr. Schein: „Tom, Sie und Jan legen bitte Druckanzüge an und erledigen das mit der Rakete, ja?“

Ich hatte nichts dagegen, und ich ging zum Regal, wo die Druckanzüge untergebracht sind. Aber kaum war Dr. Schein außer Sichtweite, warf mir Jan einen giftigen Blick zu und flüsterte: „Willst du wirklich nicht lieber mit Kelly rausgehen?“

„Kelly ist heute morgen mit anderen Dingen beschäftigt“, sagte ich, ohne überhaupt verstanden zu haben, was sie meinte.

Das war heute morgen. Jan zog sich schließlich den Anzug an und begleitete mich in eisigem Schweigen hinaus. Wir starteten die Rakete und kehrten wieder zurück. Aber jetzt ist bei mir endlich der Groschen gefallen.

Jan hat erst damit begonnen, mir die kalte Schulter zu zeigen, nachdem sie an jenem Abend in die Bibliothek des Kreuzers gekommen war und mich dabei überraschte, wie ich mit Kelly sprach. Ich nehme an, Jan glaubt, ich hätte mit ihr rumgemacht und nun eine Affäre mit ihr.

Ich schwöre, ich habe Kelly gegenüber nicht einen einzigen Versuch in dieser Richtung unternommen. Kelly und ich sind gute Freunde geworden, aber auf einer rein platonischen Ebene. Etwas Konkreteres könnte sich zwischen uns beiden nicht abspielen — und das weiß Jan. Kelly ist nicht die eine große Ausnahme unter einer Million Androiden, die Gefallen an sexuellen Dingen fände. Oder ist Jan nur einfach eifersüchtig auf die Zeit, die ich mit Kelly verbringe? Manchmal beneide ich Androiden. Der Aspekt der menschlichen Natur, zwei verschiedene Geschlechter zu besitzen, kann einem ganz schön Kopfzerbrechen bereiten.


Wir haben inzwischen siebzehn Asteroiden lokalisiert, auf denen sich die Gruft der Erhabenen möglicherweise befinden kann. Captain Ludwig glaubt, er hätte nun praktisch den ganzen Gürtel abgesucht, aber um ganz sicherzugehen, will er ihn noch drei weitere Tage abtasten, bis zum 20. Dezember also. Dann machen wir uns auf und untersuchen sie.

Unsere Aussichten, eine Gruft, die eine Milliarde Jahre alt ist, auf einem Asteroiden zu finden, von dem wir nicht einmal sicher sein können, daß er der richtige ist, erscheinen mir jetzt als außerordentlich gering. Wahrscheinlich haben die anderen den gleichen Eindruck. Aber wir äußern unsere Zweifel nicht. Wir versuchen sogar, nicht einmal daran zu denken. Zumindest versuche ich das. Es beginnt sich jetzt meinem Verständnis zu entziehen, wie wir jemals einen derart verrückten Plan in Angriff nehmen konnten. Wir haben die bedeutendste Fundstelle von Erhabenen-Artefakten im Stich gelassen, die bisher entdeckt wurde, wir widersetzen uns Zentralgalaxis, wir verpulvern einen ganzen Batzen Geld, um von Stern zu Stern zu stromern…! Archäologen sollten standfeste Leute sein, geduldige Plackerer, die sich Jahr für Jahr an ihre eigentliche Arbeit halten. Und was machen wir statt dessen? Wie konnten wir zulassen, daß dies geschah? Wie kommen wir dazu, zu glauben, wir würden irgend etwas finden?

Finstere Gedanken auf dem finsteren Trabanten einer finsteren Sonne.

Offenbar macht sich Dr. Schein ähnliche Gedanken. Diese abenteuerliche Suche entspricht ganz gewiß nicht seinem Wesen. Die Anspannung ist ihm anzusehen. Wir machen uns ein wenig Sorgen über ihn. Gestern hat er angesichts Steen Steen die Nerven verloren und den Calamorianer wirklich runtergemacht, nur weil Steen durch Zufall einen Datenkorrektierer einschaltete, zwei Infoschübe in den Computer eingab und so einige Stunden Rechenarbeit veranlaßte. Dr. Schein regte sich so auf, daß wir alle geschockt waren, besonders, als er Steen direkt ins Gesicht sagte: „Sie wären überhaupt nicht hier, wenn es nach meinem Willen gegangen wäre! Sie sind mir der rassischen Ausgewogenheit wegen aufgehalst worden!“

Steen beherrschte sich ziemlich gut. Seine/ihre Tentakel vollführten einige sich windende Bewegungen, und seine/ihre Haut kräuselte sich unheilverkündend. Ich rechnete damit, daß eine militante Zurechtweisung in Hinsicht auf Dr. Scheins Engstirnigkeit aus ihm/ihr herausplatzte. Aber Steen hat einige Stunden zuvor mit Mirrik über das Christentum diskutiert, und ich vermute, er/sie war in einer Art Jesus-Stimmung, denn was Steen sagte, war: „Ich vergebe Ihnen, Dr. Schein. Sie wissen nicht, was Sie sagen.“

Ein ganz und gar albernes Intermezzo. Aber es war beunruhigend, unseren netten und freundlichen und rationalen Dr. Schein so aus der Haut fahren zu sehen. Er muß besorgt sein. Ich bin es auch.


Wie du weißt, bin ich berühmt für meine geschickten Annäherungsversuche. Als ich also ein paar Tage über Jans Bemerkung über mich und Kelly nachgedacht hatte, arbeitete ich einen geschickten Plan aus, um die Sache mit ihr in Ordnung zu bringen.

Wir gingen erneut hinaus, um die Leuchtrakete zu starten. Das Abwechslungsschema sah eigentlich 408b als Begleitung für mich vor, aber ich traf ein Arrangement mit Pilazinool, und so mußte Jan einspringen. Als wir die Luftschleuse verließen und hinaustraten auf das Eisplateau, sagte ich: „Was hast du mit dieser Bemerkung über mich und Kelly gemeint?“ Sehr geschickt.

Jans Helm verbarg ihren Gesichtsausdruck. Die Stimme, die aus dem Funkgerät meines Druckanzugs drang, war betont neutral. „Welche Bemerkung?“

„Letzte Woche. Als du mich fragtest, ob ich nicht lieber mit Kelly hinausgehen wollte.“

„Ich denke, du ziehst ihre Gesellschaft der meinen vor.“

„Aber das stimmt doch nicht! Jan, ich schwöre dir…“

„Gib mir die Leuchtrakete.“

„Verdammt noch mal, Jan, das bildest du dir doch alles nur ein! Kelly ist ein Android, zum Teufel auch! Wie kannst du annehmen, es hätte sich auch nur das geringste…“

„Willst du den Zünder betätigen, oder soll ich das machen?“

Ich zündete die Rakete. „Gib mir eine Antwort, Jan. Warum glaubst du, ich und Kelly… Kelly und ich… wir…“

„Über dieses Thema möchte ich wirklich nicht sprechen.“

Sie wandte sich ab, drehte mir den Rücken zu und starrte mit deutlich zur Schau gestellter Faszination an der Astronomie zur Dunkelsonne hinauf.

„Jan?“

„Ich studiere Sonnenphänomene.“

„Du hörst mir nicht zu.“

„Und du langweilst mich.“

„Jan, ich versuche dir zu erklären, daß du absolut keinen Anlaß hast, eifersüchtig zu sein. Ich bin derjenige, der eifersüchtig sein müßte. Ich habe gesehen, wie du jeweils für Stunden in Saul Shahmoons Kabine verschwunden bist. Wenn du in Saul verliebt bist, dann sag das, und ich schiebe ab. Aber wenn du das alles nur getan hast, um es mir irgendwie heimzuzahlen für meine angebliche Affäre mit Kelly, dann…“

„Ich möchte über nichts davon sprechen“, sagte sie.

Frauen können ziemlich ermüdend sein — du natürlich ausgenommen, Lorie. Ganz besonders aber hasse ich es, wenn sie mit einer abgelutschten Theatralik aufzutreten beginnen und die Wiederholung der großen Liebesszene aus dem letzten Tridem spielen, den sie gesehen haben. Jan erklärte mir nicht ihre Empfindungen für mich. Sie spielte eine Rolle. Die der kühlen, unnahbaren Heldin.

Feuer muß mit Feuer bekämpft werden. Altes irdisches Sprichwort. Ich konnte ebenfalls eine Rolle spielen: die des ungestümen, impulsiven Helden. Dem widerspenstigen Mädchen entgegenstürzen, es in die Arme reißen und seine unvernünftige, widerspenstige Frostigkeit mit einer leidenschaftlichen Umarmung wegschmelzen. Das tat ich. Und natürlich preßte ich auch die Sichtscheibe meines Helms gegen die ihre.

Wir starrten uns gegenseitig an, über die zehn Zentimeter breite Schlucht, die die Helme zwischen uns aufklaffen ließen. Sie wirkte erst überrascht und dann erfreut. Sie wackelte mit dem Kopf, von einer Seite zur anderen. Ich wackelte mit meinem. Der alte Eskimo-Brauch, mit dem man zeigt, daß man sich gern hat: die Nasen reiben. Sie trat zurück, kratzte Eis zusammen und schmierte es mir auf die Sichtscheibe. Ich preßte einen Schneeball und warf ihn nach ihr. Sie fing ihn auf und warf ihn zurück.

Etwa zehn Minuten lang tollten wir auf dem Eis herum. In den unförmigen und steifen Druckanzügen waren wir dabei nicht gerade sonderlich anmutig. Es war wie ein Pas de deux für Dinamonianer. Schließlich ließen wir uns beide erschöpft zu Boden gleiten, streckten uns aus und lachten wie verrückt.

„Dummkopf“, sagte sie.

„Gans.“

„Einfältiger Trottel!“

„Du ebenfalls. Zehnmal so einfältig.“

„Was war zwischen dir und Kelly?“

„Wir haben uns unterhalten. Nur unterhalten. An jenem Abend war sonst niemand da, und Leroy Chang verfolgte sie, und deshalb bat sie um Schutz. Sie ist ein wirklich interessanter Typ. Aber natürlich nicht in dieser Hinsicht.“

„Schwörst du?“

„Ich schwöre. Und jetzt, was Saul und dich angeht…“

„Ach, längst überholt“, sagte Jan. „Absolut prähistorisch.“

„Na klar. Und deshalb hast du während der letzten zwei Wochen praktisch mit ihm zusammengelebt.“

„Ich habe eine Menge über Philatelie gelernt“, sagte Jan geziert.

„Natürlich“, gab ich zurück. „Mit einem hübschen Mädchen in einer verriegelten Kabine weiß er nichts Besseres anzufangen, als ihm seinen Satz an ungezahnten Marsport-Marken zu zeigen.“

„Das stimmt. Genauso ist es gewesen.“

„Ich bitte dich…“

„Ich meine es ernst, Tom! Saul hat mich nicht einmal berührt. Er fürchtet sich vor Frauen. Ich habe ihm jede erdenkliche Chance gegeben, Andeutungen gemacht… nichts. Eine absolute Null-Reaktion.“

„Warum warst du dann so hartnäckig hinter ihm her?“ fragte ich. „Weil es eine Art Herausforderung war?“

„Zuerst deshalb, weil er mir interessant erschien. Ein älterer Mann, weißt du, dunkelhaarig, gutaussehend, mit einem romantischen Flair… Das war, bevor ich meine Aufmerksamkeit dir zuwandte. Ich glaube, ich war ziemlich für ihn entflammt.“

„Aber er hat sich nicht ebenfalls entzündet.“

„Wann auch immer ich den kleinsten Versuch unternommen habe, ihm körperlich näherzukommen, hat er sich hinter seinen Briefmarkenalben versteckt.“

„Armer Saul“, sagte ich.

„Schließlich hab’ ich eingesehen, daß es hoffnungslos ist. Und dann bin ich mit dir gegangen.“

„Doch nachdem wir Higby V verlassen haben, bist du zu Saul zurückgekehrt.“

„Das war nur, um dich eifersüchtig zu machen“, gab Jan zurück. „Um es dir heimzuzahlen für dein Herummachen mit Kelly.“

„Aber ich habe nicht…

„Danach hat es nicht ausgesehen.“

„Die Sünde ist im Auge des Betrachters. Altes…“

„… paradoxistisches Sprichwort, ich weiß“, sagte sie. „Nun, du hättest ja auch schon eine ganze Weile früher erklären können, daß sich zwischen dir und Kelly nichts abspielte. Damit hättest du mir zwei Wochen Briefmarkenbeschau erspart.“

„Aber ich wußte doch nicht, daß es das war, was du gegen mich hattest. Warum hast du es mir nicht gesagt?“

„Und damit dagestanden wie ein kleiner, eifersüchtiger Backfisch?“

„Aber…“

„Aber…“

„Wenn du nur gesagt hättest…“

„Wenn du nur gesagt hättest…“

„Plappernder Nachäffer!“

„Schwachkopf!“


Wir brachen in schallendes Gelächter aus. Ich warf noch etwas mehr Schnee auf sie. Sie warf noch etwas mehr auf mich. Wir rannten zur Fähre zurück. Die Luke der Luftschleuse schloß sich hinter uns, und wir nahmen eilig unsere Helme ab…

Warum müssen Frauen so sein, Lorie?

Warum können sie nicht geradewegs auf einen zukommen und freiheraus sagen, was sie bedrückt? Hätte sich Jan nicht alle möglichen Scheußlichkeiten vorgestellt, die sich zwischen mir und Kelly abspielten, und hätte sie nicht diese Sache mit Saul inszeniert, um mit mir wegen meiner angeblichen Sünden abzurechnen… dann hätten wir nicht soviel Zeit vergeudet und uns gegenseitig zwei trübselige Wochen geschenkt.

Manchmal glaube ich, die Calamorianer machen es richtig. Wenn man zwei Geschlechter in einem Körper unterbringt, der von nur einem Gehirn kontrolliert wird, dann schaltet man damit diese verwirrenden Kommunikationsprobleme aus. Wenn Steen Steen jemals einen Liebeszank mit sich selbst haben sollte, dann braucht er/sie für das Durcheinander, das dadurch entsteht, nur sich selbst Vorwürfe zu machen. Ich meine… ach, vergiß es. Du weißt, was ich sagen will.


20. Dezember


Wir haben jetzt einundzwanzig Asteroiden auf unserer Liste. Morgen nach dem Mittagessen zischen wir ab, um sie nach der Gruft mit dem Roboter abzusuchen.

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