2

16. August 2375

Higby V


Wir sind da.

Unser Rutsch aus dem Ultraraum ins Normalkontinuum erfolgte pünktlich, aber es war nicht so aufregend wie die verwirrende Umstülpung beim Wechsel in die andere Richtung. Dann schwenkten wir in einen Orbit um Higby V ein und gingen weich nieder. Und verließen das Schiff sofort, fast verrückt vor Freude, aus der Gefangenschaft zu entkommen.

Draußen war alles öde. Higby V besitzt keinen richtigen Raumhafen, nur eine große, kahle und leere Fläche mit ein paar Gebäuden an einem Ende. Wir strömten aus dem Schiff, tollten umher wie kleine Kinder und machten uns nicht groß Gedanken um die Raumhafenbestimmungen. Mirrik rannte das Landefeld hinauf und herab, brüllte und stampfte mit seinen Beinen auf, und ich begann eine Art verrückten Tanz mit Jan Mortenson, und Steen Steen war sein(e) eigene(r) Tanzpartner (in), und Dr. Horkkk vergaß seine Würde und kletterte auf einen Baum und so weiter. Selbst Kelly Wachmann, die als Androide nicht an einem gestreßten Nervensystem litt, wirkte erleichtert, aus dem Schiff heraus zu sein. Währenddessen beobachteten uns die Mannschaftsmitglieder, schüttelten die Köpfe und gaben auch auf andere Weise ihrem Spott über die Ladung aus verrückten Sonderlingen Ausdruck, die sie gerade durch den Ultraraum ans Ziel befördert hatten. Ich kann ihnen keinen Vorwurf daraus machen. Wir müssen ziemlich komisch ausgesehen haben.

Dann betrachteten wir unser neues vorübergehendes Zuhause.

Higby V ist kein anheimelnder, behaglicher Ort. Vielleicht war er das einmal, vor einer Milliarde Jahren, als die Erhabenen hier ihren Außenposten errichteten. Aber wie der Mars, mit dem es seit der Zeit der Erhabenen ebenfalls ein wenig bergab gegangen war, handelt es sich bei Higby V heute nicht gerade um einen idealen Kurort. Der Planet ist etwa so groß wie die Erde, hat aber nur die Masse einer Welt von der Größe Merkurs, was geringe Dichte und geringe Gravitation bedeutet. Überhaupt keine schweren Elemente. Die Atmosphäre verflüchtigte sich bereits vor langer Zeit ins All, ebenso wie die Gase der verdunsteten Ozeane. Es gibt vier Kontinente, und sie werden durch gewaltige Becken voneinander getrennt, die einst die Wassermassen der Meere enthalten haben. Während der langen Periode, in der der Planet keine Lufthülle besessen hatte, war er einem intensiven Bombardement aus Meteoriten und anderem Weltraumschutt ausgesetzt, und deshalb stößt man überall auf Krater, genau wie auf dem Mars.

Vor siebzig Jahren war eine Terraforming-Mannschaft hier. Sie installierte Atmosphäre-Generatoren, und inzwischen existiert eine ganz annehmbare Druck-Quantität. Die Luft ist zwar ein wenig dünn, aber sie reicht aus, um Leben zu ermöglichen. Unglücklicherweise verursacht das Wind, der vorher auf Higby V nicht existiert hat, und dieser Wind weht wie ein Messer über die kargen, weiten Ebenen, saugt den Sand auf und wirbelt ihn umher. Pflanzliches Leben breitet sich allmählich aus, und eines Tages wird es mit seinen Wurzeln den Sand am Boden halten — doch im Augenblick ist es noch nicht soweit. Der Zweck des gegenwärtigen Projekts hier besteht darin, mit Hilfe eines gewöhnlichen Zyklus aus Verdunstung und Kondensation und Niederschlag ein autarkes Wasserversorgungssystem zu schaffen, und entlang des ganzen Horizonts kann man die Hydrolyse-Pylonen sehen, die Tag und Nacht Wasserdampf in Regen verwandeln. Als dadurch hervorgerufene unmittelbare Folge kommt es alle fünf oder sechs Stunden zu einem schauderhaften Wolkenbruch.

Eigentlich sollte ich nicht zu sehr herumnörgeln. Wenn es nicht zu der Erosion gekommen wäre, die von all dem Regen und dem Wind in letzter Zeit verursacht wurde, dann wäre die Fundstelle der Erhabenen-Artefakte niemals entdeckt worden.

Ich kann mir dennoch einen angenehmeren Ort für die Durchführung archäologischer Ausgrabungen vorstellen. Die Temperatur hier liegt die ganze Zeit knapp über dem Gefrierpunkt. Der Himmel ist immer nur grau. Die Sonne ist alt und müde, und ihr Licht dringt nur selten durch die Wolken hindurch. Und es gibt keine Städte hier, nur Siedlungen, die nicht hochentwickelter sind als Pionier-Kolonien, keine Entspannungsmöglichkeiten, nichts. Man müßte ein heiliger Asket sein, sollte es einem hier gefallen.

„Von welchem Nutzen ist dieser Planet für irgend jemanden?“ erkundigte sich Jan Mortenson. „Warum machen sie sich die Mühe, ihn zu terraformen?“

Steen Steen vermutete, er verfüge vielleicht über radioaktive Erze. Mirrik zermalmte diese dumme Vorstellung und wies darauf hin, daß sich hier keine Metalle befänden, die schwerer als Zinn sind — und auch diese leichten Metalle nicht eben im Übermaß. Pilazinool glaubte an eine gewisse strategische Bedeutung, vielleicht als ein Haltepunkt zum Auftanken oder als Station zur Überwachung der wichtigeren Welten im nächsten Nachbarsystem. Aber Leroy Chang, mit der treuen Angewohnheit aller Harvard-Absolventen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit seiner Abneigung der Erde gegenüber Ausdruck zu verleihen, platzte mit seiner eigenen Erklärung heraus, warum dieser Planet den Bedürfnissen der Terraner entsprechend umgewandelt wurde: aus politischen Erwägungen und Habsucht. Wir schnappten ihn uns, sagte er, damit ihn kein anderer mit Beschlag belegen könne. Schlicht und einfach Imperialismus. Und dummer Imperialismus noch dazu, da wir seit der Jahrhundertwende jedes Jahr ein paar Milliarden Krediteinheiten verpulverten, um einen Ort zu unterhalten und zu entwickeln, der keine natürlichen Ressourcen besitzt, kein touristisches Potential und auch keinen anderen wesentlichen Wert.

Dr. Schein stellte diese Interpretation in Frage, und daraufhin entstand eine politische Diskussion, die alle mit einbezog. Von mir mal abgesehen. Das ist ein Schuh, den ich mir nicht anziehe.

Mirrik wurde es zu langweilig, als diese Auseinandersetzung ihren Lauf nahm, und er ging davon und begann, die Grasnarbe aufzugraben, einfach nur, um beschäftigt zu sein. Nervös warf er mit seinen Stoßzähnen einige Tonnen Erde zur Seite, starrte in das Loch, das er gegraben hatte, und gab einen dröhnenden Schrei von sich. Wahrscheinlich glaubst du jetzt, er habe rein durch Zufall eine Fundstätte verborgener Erhabenen-Artefakte entdeckt.

Nun, das hatte er nicht. Aber er hatte etwas gefunden: einen Friedhof der Eingeborenen von Higby V. In einer Tiefe von etwa achtzig Zentimetern hatten die ausgestorbenen Einwohner dieses Planeten rund ein Dutzend ihrer Angehörigen begraben, komplett ausgestattet mit Waffen, beinernen Halsketten und langen weißen Reihen, die wie Zähne aussahen. Die Skelette waren klein und breit, mit großen Hinterbeinen versehen und weiter oben mit kleinen Greifpfoten.

„Schütten Sie es wieder zu“, ordnete Dr. Schein an.

Mirrik protestierte. Da wir ohnehin nur herumstanden und auf die Militäreskorte warteten, die uns zu unserem eigentlichen Arbeitsplatz geleiten sollte, wollte er sich die Zeit damit vertreiben, dieses Zeug auszugraben. Die Neugier Saul Shahmoons war ebenfalls geweckt. Aber Dr. Schein wies korrekterweise darauf hin, daß wir hierhergekommen waren, um die Artefakte der Erhabenen auszugraben, und nicht, um unsere Kräfte an den Überbleibseln unbedeutender lokaler Zivilisationen zu verzetteln. Wir hätten nicht das Recht, diesen Ort anzutasten, und es käme einer Art Vandalismus gleich, grüben wir uns dennoch hinein. Denn die Untersuchung stünde rechtmäßig den Archäologen zu, die sich auf die Eingeborenenrasse von Higby V spezialisiert hatten. Auch wenn es bisher keine solchen Spezialisten gäbe, so eines Tages doch ganz gewiß. Mirrik sah die Logik dieser Argumentation ein und schüttete das, was er gerade ausgegraben hatte, wieder sorgfältig zu.

Eins zu null für Dr. Schein. Ich bewundere Professionalität.

Schließlich kam unsere Millitäreskorte an und brachte uns vom Landefeld zu der Ansammlung von Aufblashütten, die die größte Metropole von Higby V darstellten. Hier hatten wir eine Menge Nebensächlichkeiten zu erledigen. Dr. Schein nahm die Sache in die Hand, sich davon zu überzeugen, daß unsere Finanzmittel einem hiesigen Konto überwiesen worden waren, damit wir an der PX-Basis[4] Lebensmittel und Ausrüstungsgüter erstehen konnten. Normalerweise sollten solche finanziellen Transaktionen ganz automatisch von Zentralgalaxis durchgeführt werden, aber niemand mit der angemessenen Ehrfurcht Geld gegenüber würde sich jemals blind darauf verlassen, daß Zentralgalaxis so etwas ohne Komplikationen bewerkstelligte. Und deshalb zog Dr. Schein eine Überprüfung vor. Zu einer solchen Überprüfung war die Einschaltung ins Telepathen-Verbindungsnetz erforderlich. Der diensthabende Telepath war eine wirklich seltsame Person namens Marge Hotchkiss, und wenn du bei deiner täglichen Arbeit jemals mit ihr zu tun haben solltest, Lorie, dann sende ihr stellvertretend für mich ein richtig scheußliches Gedankenmonster, ja? Diese Hotchkiss ist pummelig und häßlich, hat kleine graue Schweinsaugen und einen deutlich sichtbaren Schnurrbart. So um die Fünfunddreißig, nehme ich an. Bis auf ihre telepathische Begabung ist sie wahrscheinlich ein außergewöhnlich gewöhnlicher Mensch, eine Frau von jener Art, die normalerweise zu einem zurückgezogenen, altjüngferlichen Leben in einem verfallenen Apartmenthaus bestimmt ist. Hier draußen aber ist sie eine von etwa fünfzig Frauen auf einem von einigen tausend Männern bevölkerten Planeten, und deshalb ist sie hinter ihrem Schalter ziemlich arrogant geworden. Als Dr. Schein sie um die Herstellung der Verbindung bat, antwortete sie mit einem hämischen Grinsen und bestand zunächst auf seinem Daumenabdruck. Er legte ihr dar, daß er für das Gespräch keine Abhebung von seinem Daumenkonto vorzunehmen gedenke, daß er nur eine Kontostandsinformation von Zentralgalaxis anfordere und dafür nicht bezahlen müsse. Sie verlangte seinen Daumenabdruck dennoch als Beleg. Er gab ihr also den Abdruck, und daraufhin benötigte sie eine ganze Weile, die Verbindung herzustellen. „Eine Menge Interferenzen im Äther“, erklärte sie uns.

Was natürlich vollkommener Humbug war. Der Grund, aus dem heraus die Telepathie die einzig praktikable Möglichkeit der interstellaren Kommunikation darstellt, besteht natürlich gerade darin, daß es überhaupt keine Interferenzen gibt, kein statisches Rauschen, keine relativistischen Verzögerungen, keine der Unterbrechungen und Störungen, mit denen man es auf normalen Kommunikationskanälen zu tun hat. (Die Bezeichnung „normal“ kannst du wieder streichen! Ich meine natürlich „elektronisch“.) Marge Hotchkiss brauchte nur hinauszutasten, den nächsten Telepathen in der Relaiskette zu berühren und unsere Nachricht mittels unmittelbarer Übertragung an Zentralgalaxis zu schicken. Doch es machte ihr Spaß, uns hinzuhalten. Schließlich gab sie jedoch die Nachricht durch und bestätigte die Ausführung der Guthaben-Überweisung.

Dr. Schein, Dr. Horkkk und Pilazinool gingen fort, um ihre Daumenabdrücke oder äquivalente Identifikationsmerkmale registrieren zu lassen, so daß sie hier über das Konto verfügen konnten. Saul Shahmoon wurde die Aufgabe übertragen, von der Zentrale der Basis unsere Ausgrabungs-Genehmigung einzuholen. Für den Rest von uns gab es eine Zeitlang nicht viel zu tun, und ich begann ein Gespräch mit dieser komischen Hotchkiss.

„Meine Schwester gehört zum TP-Netz“, sagte ich.

„Oh.“

„Sie heißt Lorie Rice. Sie arbeitet drüben auf der Erde.“

„Oh.“

„Ich dachte, Sie kennen sie vielleicht. Im allgemeinen nehmt ihr Telepathen doch mit all den anderen überall Kontakt auf. Früher oder später müssen sie mit jedem anderen TP des ganzen Kommunikationsnetzes zu tun bekommen.“

„Ich kenne sie nicht.“

„Lorie Rice“, sagte ich. „Sie ist sehr nett, das muß ich wirklich sagen. Ich meine, sie hat diese wundervolle Neugier auf das ganze Universum — sie will alles über alles wissen. Und zwar deshalb, weil sie ans Bett gefesselt ist. Sie kann nicht viel herumkommen, und somit ist das TP-Netz für sie so etwas wie Auge und Ohr. Sie kann das ganze Universum durch die Augen anderer Menschen sehen, via Telepathie. Und wenn Sie jemals Kontakt zu ihr gehabt hätten, dann würden Sie sich daran erinnern, denn…“

„Hören Sie, ich bin beschäftigt. Verschwinden Sie.“

„Ist das freundlich? Ich möchte nur ein bißchen plaudern. Wissen Sie, ich vermisse meine Schwester wirklich sehr, und was macht es Ihnen schon aus, wenn ich Sie frage, ob Sie einmal mit ihr gesprochen haben. Ich…“

Sie erteilte mir dadurch eine Abfuhr, indem sie die Augen ins Kopf innere rollte, so daß nur noch das Weiße zu sehen war. Es war ihre nette Art, deutlich zu machen, daß sie sich in eine andere TP-Verbindung eingeschaltet hatte.

„Rutsch mir doch den Buckel runter“, brummte ich und wandte mich ab.

Jan Mortenson hatte neben mir gestanden. „Ich wußte gar nicht, daß deine Schwester ein TP-Kommunikateur ist“, sagte sie nun. „Das muß ziemlich aufregend sein!“

„Besonders für jemanden wie sie“, gab ich zurück. Ich habe Jan davon erzählt, daß du gelähmt und deshalb gezwungen bist, dein ganzes Leben im Krankenbett zuzubringen. Jan war sehr mitfühlend. Sie wollte wissen, warum man nicht ein shilamakkaartiges Transplantat entwickeln könne, um dich in einen synthetischen Körper zu verpflanzen, damit du aufstehen und herumgehen kannst. Das ist die auf der Hand liegende Frage, die alle stellen, und ich erklärte ihr, daß wir diese Möglichkeit vor langer Zeit geprüft haben und zu dem Schluß gekommen sind, es sei zu gefährlich, um es in deinem Fall zu versuchen.

„Wie lange leidet sie schon daran?“ fragte Jan.

„Seit ihrer Geburt. Zunächst glaubte man, es auf chirurgischem Wege beheben zu können, doch dann…“

Dann wollte sie wissen, wie alt du bist, und ich sagte ihr, du seist meine Zwillingsschwester. Jan wurde so rot wie eine überreife Tomate und meinte: „Wenn sie eine TP ist und du ihr Zwillingsbruder, dann mußt auch du ein TP sein und genau in diesem Augenblick meine Gedanken lesen!“

Also mußte ich es wieder mal herunterleiern: daß wir ganz offensichtlich zweieiige und keine eineiigen Zwillinge sind, da du ein Mädchen bist und ich nicht, und daß ein zweieiiges Zwillingspaar nicht unbedingt die telepathische Begabung gemeinsam haben muß und daß du tatsächlich der einzige Telepath in der Familie bist. Ich fügte hinzu, es sei ein allgemein weit verbreiteter Irrglaube anzunehmen, ein Telepath könne die Gedanken eines Nicht-Telepathen lesen. „Sie können nur mit den Positivbewußtseinen anderer Telepathen Kontakt aufnehmen“, sagte ich. „Meine Gedanken kann Lorie nicht lesen. Und ich kann die Ihren nicht lesen, genausowenig wie die irgendeines anderen Menschen. Aber die fette Marge dort drüben könnte Lories Gedanken lesen, wenn sie wollte.“

„Wie schade für deine Schwester“, sagte Jan. „Einen Zwillingsbruder zu haben und nicht über TP mit ihm sprechen zu können. Erst recht, wenn sie an einen Ort gefesselt ist und ein solches Bedürfnis danach hat zu wissen, was außerhalb ihres Zimmers geschieht.“

„Sie ist ein tapferes Mädchen“, sagte ich, und das stimmt. „Sie wird damit fertig. Außerdem braucht sie mich nicht. Sie hat Tausende von TP-Freunden, im ganzen Universum verstreut. Acht Stunden täglich verbringt sie damit, ins kommerzielle telepathische Kommunikationsnetz eingeschaltet zu sein und Nachrichten weiterzugeben, und ich glaube, die anderen sechzehn Stunden bleibt sie ebenfalls im Äther, nur aus Spaß. Und während dieser Zeit empfängt sie Telepathen-Klatsch von überall her. Wenn sie überhaupt schläft, dann ist mir das bisher entgangen. Das Leben hat ihr übel mitgespielt, aber sie hat eine Art Ausgleich.“

Jan war wirklich sehr daran interessiert, alles über dich zu hören, und ich erzählte ihr noch viel mehr. Was ich hier nicht zu wiederholen brauche, da du ohnehin darüber Bescheid weißt. Ich glaube, ich habe Jan vielleicht ein wenig unterschätzt. In den letzten paar Tagen habe ich zu begreifen begonnen, daß es sich bei ihrer Schön-aber-dumm-Schale nur um äußeres Gebaren handelt. Tatsächlich ist sie weitaus feinfühliger und komplexer, als sie den Eindruck macht. Ich weiß nicht, woher ich diese blöde Vorstellung habe, schöne Frauen seien immer oberflächlich. Nicht, daß sie von blendender Genialität wäre, aber sie hat noch mehr Qualitäten als nur Kurven und ein Zehntausend-Volt-Lächeln.

Inzwischen war der größte Teil unserer mannigfaltigen Registrierungen und Anmeldeformalitäten erledigt. Doch wir standen noch eine weitere halbe Stunde herum und warteten darauf, daß Saul Shamoon mit unserer Ausgrabungsgenehmigung zurückkehrte. Dr. Schein konnte nicht begreifen, was ihn so lange aufhielt. Er befürchtete, Saul sei in eine Art bürokratische Straßensperre geraten, die möglicherweise unsere ganze Arbeit auf diesem Planeten unmöglich machte. Das brachte Pilazinool so aus der Fassung, daß er seinen linken Arm bis hin zum zweiten Ellbogen abschraubte.

Schließlich kehrte Saul zurück. Mit der Ausgrabungs-Genehmigung. Schien damit überhaupt keine Schwierigkeiten gehabt zu haben. Doch er hatte fünfundvierzig Minuten im PX-Postamt zugebracht, um sich für seine Sammlung einen Satz Higby-V-Briefmarken zu besorgen.

Wir luden unsere Ausrüstung in einen Landkriecher und fuhren ab.

Die Nacht brach an, schnell und gründlich. Higby V besitzt nicht einen einzigen Mond. Diese Welt gehört zu der Art von Planeten, auf der die Nacht so plötzlich anbricht, als habe man einen Schalter betätigt — wenn man sich so wie wir in unmittelbarer Nähe des Äquators befindet. Klick — und es ist dunkel. Unserem Fahrer gelang es dennoch, uns nicht in irgendeinen Krater hineinzusteuern, und eine Stunde später waren wir am Ziel.

Dr. Schein, der sich bereits letztes Jahr hier aufgehalten hatte, als es zu der Entdeckung gekommen war, hatte dafür gesorgt, daß drei aufgepumpte Aufblashütten für uns bereitstanden: eine als Laboratorium und die beiden anderen als Schlaf- und Wohnunterkünfte. Außerdem befand sich hier noch ein großer gewölbter Schirm aus Kunststoff, der die am Hang liegende Fundstelle bedeckte, wo die Artefakte der Erhabenen ausgemacht worden waren.

Als die Zeit kam, uns unsere Schlafplätze zuzuweisen, entwickelte sich ein kompliziertes moralisches Problem. Ich glaube, es wird dir Spaß machen, es dir zu vergegenwärtigen.

Das Problem ging auf die Tatsache zurück, daß sich im Innern der Blashütten keine Trennwände befanden und folglich auch keine Privatsphäre existierte. Unter uns befanden sich zwei unverheiratete Erdenmenschen weiblichen Geschlechts, und entsprechend dem albernen sozialen Tabu wäre es unmoralisch und ungebührlich, Jan und Kelly bei den Männern schlafen zu lassen. (Der Umstand, daß Kelly überhaupt keinen Wert auf eine Privatsphäre legte, ist unbedeutend, da Androiden die Gleichbehandlung gegenüber menschlichen Wesen aus Fleisch und Blut beanspruchen, einschließlich des Rechts, unsere Neurosen zu teilen. Kelly besitzt den uneingeschränkten Status einer vollwertigen, menschlichen Frau, und sie anders zu behandeln hieße, sich der Rassendiskriminierung schuldig zu machen, nicht wahr?)

Die Lösung, die Dr. Schein vorschlug, sah folgendermaßen aus: Alle Männer — er selbst, Leroy Chang, Saul Shahmoon und ich — sollten in einer Aufblashütte unterkommen und Jan und Kelly in der anderen. In Ordnung, das wurde den elementaren Anstandsformen gerecht, aber…

Jan und Kelly würden dadurch bei den Aliens schlafen müssen, und einige von ihnen waren männliche Vertreter ihrer Spezies. (Steen Steen und 408b konnten von dieser Kategorie ausgenommen werden: Steen, weil er/sie beide Geschlechter in sich/ihr vereinte, und 408b, weil es keins von beiden zu besitzen schien.) Ich vermute, die verkalkten Moralapostel auf der Erde gerieten ganz aus der Fassung bei der Vorstellung, Jan und Kelly zögen sich vor den Augen irgendwelcher Männer an und aus — selbst wenn es sich dabei um Aliens handelte. (Jedenfalls würden sie sich wahrscheinlich über Jan aufregen; über die Lebensumstände von Androiden scheinen sich diese bornierten Typen keine großen Gedanken zu machen.) Das war es jedoch nicht, was Dr. Schein Sorgen machte. Er wußte, daß Kelly keine moralischen Blockaden besitzt. Und daß Jan, während sie die üblichen Tabus in Hinsicht auf die vier menschlichen Männer beachtet, überhaupt nicht damit rechnet, daß Pilazinool oder Dr. Horkkk oder Mirrik vielleicht eine Bedrohung ihrer Tugend darstellten. Statt dessen machte er sich Sorgen darüber, die Aliens könnten sich beleidigt fühlen. Wenn Jan die Bekleidungstabus zwar uns, aber nicht ihnen gegenüber beachtete, konnte dies dann nicht so ausgelegt werden, als bedeutete es, sie betrachte sie als minderwertige Lebensformen? Sollte sich ein Mädchen nicht allen intelligenten Lebensformen gegenüber sittsam verhalten — oder niemandem? Wo ist in diesem Fall die Gleichheit der galaktischen Rassen, von der man so viel spricht?

Ich kann dein ungeduldiges und amüsiertes Schnaufen hören und wie du eine deiner charakteristischen, vernünftigen Antworten gibst. Wahrscheinlich hättest du darauf hingewiesen, daß keiner der Aliens selbst Kleidung trägt oder irgendein die Privatsphäre betreffendes Tabu einzuhalten hat oder auch nur andeutungsweise nachvollziehen könnte, aus welchem Grund die Erdenmenschen das Bedürfnis haben, gewisse Teile ihres Körpers zu bedecken. Du hättest ebenfalls bemerkt, daß die galaktische Gleichberechtigung nichts mit Sex zu tun hat — und das ist es, was unserem Problem mit der Bekleidung zugrunde liegt — und daß es für ein Mädchen ganz in Ordnung ist, einem männlichen Geschöpf seiner eigenen Spezies gegenüber Zurückhaltung zu üben und die männlichen Vertreter anderer Rassen gleichzeitig scheinbar zu demütigen. Aber nicht immer regiert der gesunde Menschenverstand die Welt, Lorie. Dr. Schein hatte eine lange, vertrauliche Unterredung mit Jan, konferierte dann mit Saul Shahmoon und Leroy Chang, und schließlich trug er die ganze Sache — sehr aufgeregt — Dr. Horkkk vor. Der sie für so außerordentlich komisch hielt, daß er alle seine Arme verknotete, eine Geste, mit der die Bewohner von Thhh schallendes Gelächter zum Ausdruck bringen. Er sprach die Überzeugung aus, daß keiner der Nichtmenschen sich beleidigt fühlen werde, wenn ihnen die jungen Damen nicht die angemessene Zurückhaltung zukommen ließen.

Und damit war das Problem gelöst. Zu was für einem Haufen von Verrückten wir Terraner doch bei solch überkommenen Schwachsinnigkeiten werden können!

Wir vier Männer bekamen Mirrik den Bulldozer als Schlafgenossen, da bei den anderen für ihn nicht genug Platz war. Jan und Kelly schliefen bei Dr. Horkkk, Pilazinool, 408b und Steen Steen. Und soweit ich weiß, finden dort drüben jede Nacht wilde Orgien statt.

Ich schlief schlecht. Es war nicht nur Mirriks Duft, an den ich mich mit der Zeit gewöhnen werde, sondern die Aufregung, die mich erfaßt hatte. Nur hundert Meter entfernt von einem kostbaren, eine Milliarde Jahre alten Schatz zu schlafen, in dem sich die Artefakte der mächtigsten und hochentwickeltsten Rasse des ganzen Universums stapeln. Welche Wunder erwarten uns in jenem Hang?

Ich werde es bald wissen. Es ist jetzt früh am Morgen. Blasses, trübes Licht sickert über den Horizont. In unserer Schlafblase war ich als erster auf den Beinen. Doch als ich nach draußen kam, entdeckte ich Dr. Horkkk, der sich mit einer seltsamen Art von Gymnastik beschäftigte. Pilazinool saß auf dem Boden, demontiert bis auf den Torso und einen Arm, und polierte seine abgeschraubten Glieder. 408b meditierte. Diese Aliens brauchen nicht viel Schlaf.

In einer Stunde machen wir uns an die Untersuchung der Fundstelle. Alles weitere später.

Загрузка...