Ich hielt die aufgereihten Perlen in die Höhe und reichte sie dem Mann mit dem kantigen Kinn und dem kurzgeschnittenen weißen Haar. Sein Gesicht war von Wind und Wetter gegerbt, und in jedem Ohr schimmerte ein kleiner goldener Ring. Links von ihm saß mit untergeschlagenen Beinen Bosk aus Port Kar. Clitus Vitellius hielt sich wachsam im Hintergrund. Hinter dem Mann mit dem kurzen weißen Haar, bei dem es sich um Samos aus Port Kar, den Führer im Kapitänsrat dieser Stadt handelte, stand ein schlanker grauäugiger Mann in der grünen Tunika der Ärzte. Er hie ß Iskander.
Ich kniete vor diesen Männern. Zwei Sklavinnen hielten sich abseits bereit, Getränke und Früchte zu reichen.
Samos legte die Halskette vor sich auf einen winzigen Tisch und betrachtete sie ratlos.
»Das ist alles?« fragte er.
»Ja, Herr«, antwortete ich.
Iskander, der Arzt, hatte mir ein seltsames Getränk eingeflößt. »Es wird dich entspannen«, hatte er gesagt, »und dir ein eigentümliches Gefühl vermitteln. Wenn ich zu dir spreche, wird dein Gedächtnis unnatürlich klar sein. Du wirst dich mit aller Genauigkeit auch an die unwichtigsten Details erinnern. Außerdem wirst du auf meine Vorschläge eingehen.«
Ich kenne die Droge nicht, die er mir einflößte; je denfalls zeigte sie Wirkung. Unter ihrem Einfluß und im Banne der beruhigenden, doch befehlsgewohnten Stimme Iskanders ging ich auf seine Vorschläge und Befehle ein und begann vom Haus des Belisarius zu erzählen und von den Dingen, die ich darin erlebt hatte. Gewiß hätte ich mich auch ohne das Mittel erinnert – doch nun erfüllte mich eine Kla rheit des Geistes, die mir auch das unwichtigste, nebensächlichste Detail in aller Deutlichkeit vor Augen führte. Eine dünne blonde Sklavin namens Luma schrieb meine Worte mit. Ihre kurze blaue Tunika ließ erkennen, daß sie früher einmal der Kaste der Schriftgelehrten angehört haben mußte. Sie kniete dicht neben Bosk aus Port Kar.
»Was kommt es darauf an«, hatte Samos gefragt, »ob ein Wort eher gesprochen wird als ein anderes?«
»So etwas kann sogar von großer Bedeutung sein«, antwortete Iskander. »Man muß das so sehen wie den Mechanismus einer Armbrust oder den Schlüssel zu einem Schloß. Alles muß stimmen, jedes Element muß an seinem Platz sein, sonst fliegt der Pfeil nicht los, sonst öffnet sich das Schloß nicht.«
»Seltsam«, sagte Samos.
»Es kommt dir seltsam vor, weil du mit solchen Dingen nicht vertraut bist«, meinte Iskander, »doch für sich gesehen ist es nicht seltsamer als die Mechanismen von Armbrust und Schloß. Was wir hier nachvollziehen müssen, ist eben dieser Mechanismus, in unserem Falle eine verbale Struktur, ein Dialog, der das gewünschte Verhalten auslöst.«
»Könnte man ihr nicht einfach befehlen, die Reihenfolge der Farben aufzusagen?« wollte Bosk aus Port Kar wissen.
Ich wußte sofort, daß ich das nicht konnte.
»Nein«, antwortete Iskander. »Das vermag sie nicht oder nur unvollkommen.«
»Warum?« fragte Samos. »Wirkt das Mittel denn nicht?«
»Das Mädchen ist sorgfältig vorbereitet worden«, sagte Iskander. »Sie unterliegt einem mächtigen Gegeneinfluß. Mit der Zeit können wir diese Barrie re vielleicht durchbrechen, doch wir wüßten nicht, ob wir nicht etwa eine falsche Erinnerung anzapfen, die ihr eingepflanzt worden ist, um uns zu täuschen. Meiner Ansicht nach würden wir auf überlappende Erinnerungen stoßen, eine Vermengung von Wahrheit und Fälschung. Die beste Aussicht auf Erfolg scheint mir der Versuch zu haben, die Sequenz, die zur Auslösung des gewünschten Verhaltens nötig ist, wiederzuerschaffen.«
»Du meinst also«, fragte Bosk, »daß sie mehrere Farbfolgen im Kopf hat?«
»Ja«, sagte Iskander, »von denen jede wohl eine andere Botschaft ergäbe.«
»Auf diese Weise wüßten wir nicht, welche Nachricht die richtige wäre«, warf Bosk aus Port Kar ein.
»Genau«, meinte Iskander. »Aber wir wissen, daß der richtige Dialog die entscheidende Nachricht auslöst.«
»Sonst würde ja der vorgesehene Empfänger auch nicht wissen, welche Nachricht nun wirklich den entscheidenden Gehalt besitzt.«
»Richtig«, stellte Iskander fest.
»Dann mach weiter«, entschied Samos, und Iskander setzte sein Verhör fort. Ich hielt dem Mann mit dem klobigen Kinn und dem kurzgeschnittenen weißen Haar die Perlenkette hin. Samos legte mein Werk auf den kleinen Tisch vor sich.
»Ist das alles?« fragte er.
»Ja, Herr.«
»Das ergibt keinen Sinn«, sagte er.
»Nun dreht sich alles um das Halsband«, sagte Iskander. »Ich habe getan, was ich konnte. Sollte darin eine Bedeutung liegen, ist es an anderen, sie zu enträtseln.«
»Gib mir das Halsband«, sagte Bosk aus Port Kar.
Samos kam der Bitte nach.
Der Pirat betrachtete die Sklavenperlen. »Seht, wie häufig die gelben Kugeln vorkommen! Jede dritte ist gelb.«
»Ja«, sagte Samos.
»Warum ist das wohl so?« fragte Bosk lächelnd.
»Keine Ahnung.«
»Aus der Tatsache, daß jede dritte Perle gelb ist«, erklärte Bosk, »können wir schließen, daß die Schlüsselsymbole aus Kugelpaaren bestehen, die durch die gelben Perlen getrennt werden. Seht, dieses Paar besteht aus einer roten Perle, gefolgt von einer blauen Perle, und das nächste Paar aus einer orangefarbenen und einer roten Perle. Von diesen Kombinationen gibt es mehrere. Man könnte doch nun annehmen, daß eine rote und eine blaue Perle etwa einem Buchstaben des Alphabets entsprechen.«
»Und wenn die Reihenfolge umgedreht würde?« fragte Samos.
»Zweifellos würde das Symbol dann für einen anderen Buchstaben stehen.«
»Leider fehlt uns aber der Schlüssel zu diesem Kode«, sagte Iskander.
»Wir können ja alle Kombinationen durchprobie ren«, rief Samos und schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Gehen wir zunächst einmal davon aus, daß die Nachricht in der goreanischen Sprache abgefaßt ist«, sagte Bosk. »Soweit wir wissen, ist Belisarius, den wir nur dem Namen nach kennen, Goreaner. Sein Name könnte allerdings nur eine Kodebezeichnung sein.«
»Ja?« fragte Samos.
»Wie ihr seht, ist die am häufigsten vorkommende Farbkombination blau und rot. Der in der goreanischen Sprache am meisten vorkommende Buchstabe ist Eta. Wir könnten doch nun mal annehmen, daß die ses blau-rote Paar für ein Eta steht.«
»Ah!« machte Samos.
»Die dann am häufigsten vorkommenden Buchstaben sind Tau, Al-Ka, Omnion und Nu. Dann kommen Ar, Ina, Shu und Homan und so weiter.«
»Woher weiß man das?« fragte Samos.
»Das beruht auf Buchstabenzählungen«, sagte Bosk, »die man in einer Vielzahl von Manuskripten vorgenommen hat.«
»Das ist alles von Schriftgelehrten festgestellt worden?« wollte Samos wissen.
»Ja.«
»Weshalb interessieren sich diese Leute für solche Dinge?«
»Studien dieser Art wurden ursprünglich im Zusammenhang mit den Sardar-Jahrmärkten durchgeführt«, sagte Bosk, »bei Begegnungen zwischen Schriftgelehrten, denen es darum ging, das Schreibschrift-Alphabet zu standardisieren und zu vereinfachen. Auch spielen hier pädagogische Aspekte mit hinein. Als Nebenergebnis wurde dabei nicht nur die Reihenfolge der Buchstabenhäufigkeit ermittelt, sondern auch die Häufigkeit in ungefähren Prozentzahlen. So kommt Eta beispielsweise hundertmal häufiger vor als Altron. Über vierzig Prozent der Sprache bestehen aus den ersten fünf Buchstaben, die ich eben nannte – Eta, Tau, Al-Ka, Omnion und Nu.«
»Das kommt mir unwahrscheinlich vor«, sagte Samos.
»Es stimmt aber«, antwortete Bosk. »Außerdem bestehen über sechzig Prozent der Sprache aus diesen fünf Buchstaben zuzüglich Ar, Ina, Shu und Homan.«
»Trotzdem könnten wir alle denkbaren Kombinationen ausprobieren«, schlug Samos vor.
»Ganz recht«, sagte Bosk, »denn ich glaube, daß hier ein ganz einfacher Schlüssel angewendet wurde. Immerhin hat Belisarius die Nachricht ohne Hilfsmittel vom Halsband ablesen können.«
»Wäre das denn sicher genug?« wollte Samos wissen.
»Die Sicherheit einer solchen Verschlüsselung ruht nicht in sich selbst, sondern im allgemeinen darin, daß sie gar nicht als verschlüsselte Nachricht erkannt wird. Zum Beispiel handelt es sich nicht um einen unverständlichen Text auf einem Stück Papier, der doch sofort an eine Geheimbotschaft denken ließe und alle Neugierigen anspornen würde, sondern auf den ersten Blick doch um nichts weiter als eine unauffällige Holzperlenkette, kitschig und billig, dazu geeignet, den Hals einer unwürdigen Sklavin zu schmücken.«
Samos hob das Gebilde in die Höhe.
»Außerdem«, fuhr Bosk aus Port Kar fort, »wußte die Sklavin selbst nichts von der Rolle, die sie in dieser Angelegenheit spielt. Erst ziemlich spät bekam sie überhaupt mit, daß sie eine Nachricht in sich trug. Ein weiterer Sicherheitsfaktor liegt in der Art und Weise, wie der Impuls ausgelöst wird, der zur Herstellung des Halsbandes führt, und in dem zusätzlichen Befehl, der es ihr unmöglich macht, die Perlen aneinanderzureihen, wenn nicht vorher das richtige Schlüsselereignis stattgefunden hat.« Bosk lächelte. »Wenn man dann außerdem bedenkt, daß hier nur ein einfacher Schlüssel verwendet wurde, der ein Kodebuch oder Entschlüsselungstabellen überflüssig macht, dann ergibt sich hieraus eine Kette von Umständen, die nicht nur für größtmögliche Sicherheit sorgt, sondern die Kommunikation zugleich denkbar einfach hält. Wie ich schon sagte, konnte Belisarius das Halsband sofort lesen.«
»Das ist unseres Gegners wahrhaft würdig«, stellte Samos fest.
»Dieser Ansicht bin ich auch«, meinte Bosk.
»Könnten wir diesen Belisarius nicht gefangennehmen?« fragte Samos.
»Wir wissen nicht, wo er ist«, antwortete Bosk und wandte sich an Iskander. »Wenn wir diesen Belisarius fänden, könnten wir deiner Meinung nach die gewünschten Informationen von ihm erhalten?«
»Vielleicht«, sagte Iskander. »Ich nehme aber an, daß ein einziges Wort, vielleicht sogar von Belisarius selbst gesprochen, diesen Schlüssel in seinem Kopf auslöschen würde.«
»Kann der Feind denn so raffiniert sein?« wollte Samos wissen.
Iskander deutete auf mich. »Ich glaube schon. Ihr seht ja, was er vermag.«
Samos blickte mich an. »Ich möchte nur wissen, warum man das Mädchen nicht umgebracht hat, als es seinen Zweck erfüllt hatte.«
Ich erschauderte.
»Offenbar glaubt man, nichts befürchten zu müssen«, sagte Bosk. »Man hält das Geheimnis für unergründbar.«
»Darf ich etwas sagen, ihr Herren?« fragte ich.
»Ja.«
»Belisarius«, begann ich, »war der Meinung, andere würden die Nachricht nicht verstehen, selbst wenn sie sie lesen könnten. Er meinte, sie würde bedeutungslos klingen.«
Samos wandte sich an Bosk. »Kapitän«, sagte er, »sieh zu, was du machen kannst.«
»Gern«, erwiderte Bosk lächelnd. »Luma«, sagte er zu dem Mädchen neben sich. »Schreib mir die Reihenfolge der Perlen auf einen Bogen – in weit auseinanderliegenden Reihen. Dann gibst du mir deinen Schreibstift und das Papier.«
»Ja. Herr.«
Nach wenigen Minuten hatte ihre schnelle Hand die Aufgabe erfüllt.
»Wir beginnen«, sagte Bosk, »indem wir die häufigste Paarung blau und rot gleich Eta setzen. Die nächsthäufige Sequenz ist orange und rot. Nehmen wir einmal an, dies sei Tau.«
Ich hockte vor der Plattform und sah zu. Niemand sagte etwas. Samos und Clitus Vitellius folgten jeder Handbewegung des großen Mannes. Bosk arbeitete schnell, zuweilen mit zornig gerunzelter Stirn. Mehr als einmal änderte er seine ursprünglichen Vermutungen und trug einen anderen Buchstaben ein, dem zuweilen ein dritter und vierter folgten.
Endlich legte er den Schreibstift aus der Hand und starrte mit schiefem Blick auf das Papier in seinem Schoß.
»Ich habe die Nachricht«, sagte er ernst.
Samos wandte sich an die beiden Sklavinnen, die in einer Ecke knieten. »Fort mit euch, Sklavinnen!« befahl er. Sie eilten aus dem Zimmer.
Ärgerlich starrte Bosk auf die Worte, die er hingeschrieben hatte. »Das ergibt tatsächlich keinen Sinn«, sagte er.
»Wie lautet denn die Botschaft?«
›»Halbohr kommt‹«, las Bosk vor und fügte hinzu: »Sinnlos.«
»Nein!« flüsterte Samos mit bleichem Gesicht. »Das ist ganz und gar nicht sinnlos.«
»Was bedeutet es denn?« wollte Bosk aus Port Kar wissen.
»Wann hast du diese Nachricht überbracht, Skla vin?« wandte sich Samos an mich.
»In der letzten Passage-Hand, Herr«, erwiderte ich.
»Ich eroberte die Sklavin von zwei Männern an der Grenze zur Salerischen Konföderation«, sagte Clitus Vitellius. »Das war bei Frühlingsanfang.«
Seit dieser Zeit war ich Sklavin gewesen bei Clitus Vitellius, Thurnus aus Tabukfurt, in der Festung Turmussteine und im ›Glockenkragen‹. Außerdem hatte ich Elicia Nevins gedient und im ›Chatka und Curla‹ gearbeitet.
»Es ist zu spät«, sagte Samos niedergeschlagen.
»In welcher Hinsicht?« fragte Bosk aus Port Kar.
»Halbohr ist zweifellos schon auf Gor gelandet«, sagte Samos grimmig.
»Wer ist denn dieser Halbohr?« fragte Bosk.
»Seinen richtigen Kur-Namen kennen wir nicht«, antwortete der Kapitän. »Auf Gor ist er lediglich als Halbohr bekannt.«
»Und was ist dieses legendäre Wesen?«
»Ein hoher Feldherr der Kurii«, antwortete Samos.
»Hat seine Ankunft auf Gor etwas zu bedeuten?« wollte Bosk aus Port Kar wissen.
»Zweifellos ist er auf diese Welt gekommen, um die weiteren Aktionen der Kurii zu leiten!«
Ich wußte nicht, was Kur und Kurii waren. Offenbar handelte es sich um den Gegner.
»Und es hat etwas zu bedeuten, daß er gerade jetzt nach Gor gekommen ist?« hakte Bosk nach.
»Ich habe das dumpfe Gefühl, daß es so ist«, erwiderte Samos. Er schien zutiefst erschüttert zu sein, was mich überraschte, hatte er doch einen starken, strengen Eindruck auf mich gemacht. Die Nachricht mußte wirklich Schlimmstes verheißen, wenn sich ein mächtiger Mann wie er davon beunruhigen ließ.
»Was heißt nun das Ganze?« fragte Bosk aus Port Kar.
»Ich fürchte, daß die Invasion kurz bevorsteht.«
»Invasion?« warf Clitus Vitellius ein.
»Es gibt einen Feind«, sagte Samos.
»Einen Feind Ars?« fragte Clitus Vitellius zornig.
»Einen Feind Ars und Port Kars und Cos’ und Tarnas – einen Feind der ganzen Welt!«
»Halbohr«, sagte Bosk aus Port Kar nachdenklich. »Den möchte ich gern kennenlernen.«
»Ich auch!« rief Clitus Vitellius.
»Ich habe so einiges über ihn gehört«, sagte Samos aus Port Kar. »Ich glaube nicht, daß ich seine Bekanntschaft machen möchte.«
»Wir müssen ihn aufspüren«, forderte Bosk.
»Wir haben aber nicht den geringsten Anhaltspunkt«, sagte Samos und betrachtete das Halsband, das wieder auf dem Tisch vor ihm lag. »Wir wissen nur, daß Halbohr sich irgendwo auf Gor befindet.«
In der Schale der winzigen Lampe neben uns knisterte das Öl.
Geistesabwesend blickte Samos mich an. Dann sagte er zu den Wächtern hinter mir: »Bringt sie in die Gehege und kettet sie fest.«