3 Branch

CAMP MOLLY, OSKOVA, BOSNIEN-HERZEGOWINA NATO FRIEDENSTRUPPEN (IFOR)

FIRST AIR CAVALRY / U.S. ARMY 1996

02.10 Uhr

Es regnete. Straßen und Brücken waren weggeschwemmt, die Flüsse blockiert. Sämtliche Einsatzkarten mussten neu geschrieben werden. Überall steckten Fahrzeugkonvois fest. Erdrutsche spülten lauernde Minen auf Landstraßen, die eben erst mühsam geräumt worden waren.

Wie der auf dem Berggipfel gestrandete Noah hockte Camp Molly hoch über einem Staatenbund aus Schlamm und Dreck. Seine Sünder waren ruhig gestellt, die Welt fürs Erste in Schach gehalten. Bosnien, fluchte Branch. Armes Bosnien.

Der Major eilte über einen Bohlenweg, der wie im wilden Westen durch den Schlamm gelegt worden war, damit wenigstens die Stiefel sauber und trocken blieben. Wir stehen Wacht gegen ewige Dunkelheit, geleitet von unserer Rechtschaffenheit. Es war das große Mysterium in Branchs Leben, dass er zweiundzwanzig Jahre, nachdem er St. John’s entkommen war, um Hubschrauber zu fliegen, immer noch an so etwas wie Erlösung glauben konnte.

Suchscheinwerfer geisterten durch schlampig aufgestellte Stacheldrahtverhaue, über Panzersperren, Minen und noch mehr Stacheldraht. Die schweren Panzerfahrzeuge der Kompanie hielten ihre Kanonen und Maschinengewehre auf die fernen Hügel gerichtet. Die Dunkelheit verwandelte die Rohre der Raketenwerferbatterien in Orgelpfeifen barocker Kathedralen. Branchs Hubschrauber schimmerten wie große, vom frühen Wintereinbruch überraschte Libellen im Regen.

Branch konnte das Lager um sich herum spüren, seine Abgrenzungen, seine Wachtposten. Er wusste, dass die Wachen diese schlimme Nacht in Schutzpanzern ertragen mussten, die zwar die Kugeln von Heckenschützen, aber nicht den Regen abhielten. Er fragte sich, ob die Kreuzritter, die hier auf ihrem Weg nach Jerusalem durchgezogen waren, ihre Kettenhemden ebenso gehasst hatten wie diese Ranger ihr Kevlar. Jede Festung ein Kloster, bestätigte ihm ihre Wachsamkeit, jedes Kloster eine Festung.

Obwohl es offiziell keinen Feind für sie gab, waren sie von Feinden umgeben. Zwar ging die Zivilisation in Elendslöchern wie Mogadischu, Kigali und Port au Prince im großen Stil den Bach runter, aber die »neue« Armee war an einen strikten Befehl gebunden: Du sollst keinen Feind haben. Keine Verluste, kein Geländegewinn. Man besetzte einen sicheren Standort, und zwar genau so lange, wie die Politfritzen brauchten, um kräftig mit den Säbeln zu rasseln und sich wieder wählen zu lassen. Und dann ging es sofort ab zum nächsten hoffnungslosen Fall. Die Landschaften veränderten sich. Der Hass blieb überall der gleiche. Beirut. Irak. Somalia. Hatai. Seine Akte las sich wie eine Verwünschung. Und jetzt das hier. Das Dayton-Abkommen hatte diesen geographischen Kunstgriff namens Separationszone zwischen Muslimen, Serben und Kroaten geschaffen. Wenn sie dieser Regen voneinander abhielt, dann hoffte er, er würde niemals aufhören.

Im Januar, als die First Air Cavalry auf einer Pontonbrücke über die Drina herübergekommen war, hatten sie ein Land vorgefunden, das an die aufgewühlten Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges erinnerte. Die Felder, auf denen wie Soldaten drapierte Vogelscheuchen flatterten, waren kreuz und quer von Schützengräben durchzogen. Schwarze Raben befleckten den weißen Schnee. Skelette knackten unter den Rädern ihrer Jeeps. Aus den zerschossenen Häusern tauchten Menschen auf, die mit Steinschlossgewehren, manchmal sogar mit Armbrüsten und Speeren bewaffnet waren. Die Stadtguerilla grub ihre eigenen Rohrleitungen aus, um daraus Waffen zu bauen. Branch verspürte nicht die geringste Lust, sie zu retten, denn sie waren brutal und grausam und wollten nicht gerettet werden.

Jetzt hatte er den Kommandobunker erreicht, in dem Stab und Nachrichtenzentrale untergebracht waren. Einen Moment lang ragte der Erdhügel im dunklen Regen wie ein halb fertiger Zikkurat vor ihm auf, primitiver noch als die ersten ägyptischen Pyramiden. Er erklomm ein paar Stufen und stieg dann steil zwischen aufgestapelten Sandsäcken hinab. Drinnen reihten sich an der gegenüberliegenden Wand elektronische Konsolen aneinander. Davor saßen uniformierte Männer und Frauen, die Gesichter von den Bildschirmen ihrer Laptops gespenstisch angestrahlt. Die Deckenbeleuchtung war wegen der besseren Lesbarkeit der Bildschirme reduziert.

Das Publikum bestand aus ungefähr drei Dutzend Leuten. Es war ziemlich früh und kalt für eine solche Zusammenkunft. Unablässig prasselte der Regen gegen die Gummilappen des Eingangs schräg hinter ihm.

»Hallo, Major, herzlich willkommen. Hier, ich dachte mir gleich, dass das für jemanden reserviert ist.«

Branch sah die Tasse heißer Schokolade auf sich zukommen und wehrte sie mit gekreuzten Fingern ab. »Weiche, Satanas«, sagte er, nur halb im Scherz. Die Versuchung lag in den kleinen Dingen. Es war absolut möglich, direkt an der Front zu verweichlichen, insbesondere in einem Kampfgebiet, das so hervorragend versorgt wurde wie das hier in Bosnien. Im Geiste der Spartaner wies er auch die Doritos zurück.

»Hat sich schon was getan?«, erkundigte er sich.

»Nicht die Bohne.« Mit einem gierigen Schluck machte McDaniels Branchs Kakao zu seinem Eigentum.

Branch blickte auf die Uhr. »Vielleicht ist die Sache damit gegessen. Vielleicht ist ja überhaupt nichts geschehen.«

»Oh, Ihr, die Ihr schwachen Glaubens seid«, sagte der dürre Kampfhubschrauberpilot. »Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen, so wie wir alle.«

Alle bis auf Branch und seinen Kopiloten Ramada. Sie hatten die letzten drei Tage damit verbracht, den Südteil des Landes auf der Suche nach einem vermissten Konvoi des Roten Halbmonds zu überfliegen. Sie waren hundemüde zu dieser mitternächtlichen Veranstaltung zurückgekehrt. Ramada war schon da und überflog auf einem nicht benötigten Bildschirm eifrig seine E-Mails von zu Hause.

»Warte, bis du die Bandaufnahmen gesehen hast«, sagte McDaniels. »Komisches Zeugs. Drei Nächte hintereinander. Gleiche Zeit. Gleicher Ort. Inzwischen schon fast eine angesagte Nummer. Wir sollten Eintrittskarten verkaufen.«

Es gab nur Stehplätze. Nur wenige Soldaten saßen hinter ihren Computerplätzen, die mit der Eagle-Basis unten in Tusla vernetzt waren. Am heutigen Abend bestand die Mehrheit aus Zivilisten mit Pferdeschwänzen, üblen Ziegenbärtchen oder T-Shirts mit Aufdrucken wie ICH ÜBERLEBTE OPERATION JOINT ENDEAVOUR oder BEAT ALL THAT YOU CAN BEAT, worunter natürlich mit Leuchtmarker MEAT gekritzelt stand.

Branch ließ den Blick über die Gesichter wandern. Viele von ihnen kannte er. Einige konnten sich einen Dr. oder Prof. vor den Namen klemmen. Alle rochen nach Grab. In Einklang mit dem surrealen Alltag in Bosnien hatten sie sich selbst den Namen Zauberer gegeben, Zauberer wie in Oz. Das UN-Kriegsverbrechertribunal hatte gerichtsmedizinische Ausgrabungen an Hinrichtungsstätten in ganz Bosnien angeordnet. Die Zauberer waren ihre Totengräber. Tagein, tagaus bestand ihre Aufgabe darin, die Toten sprechen zu lassen. Da die meisten Massaker im amerikanisch kontrollierten Sektor auf das Konto der Serben gingen, die jeden dieser professionellen Spürhunde sofort umgebracht hätten, hatte Colonel Frederickson beschlossen, die Zauberer im Militärlager unterzubringen. Die Leichen selbst wurden in einer ehemaligen Kugellagerfabrik am Stadtrand von Kalejisa aufbewahrt.

Die Anwesenheit des Wissenschaftlervölkchens hatte sich als ziemlich anstrengend herausgestellt. Zunächst gingen die Respektlosigkeit, die Scherze und die Pornofilme der Zauberer als willkommene Abwechslung durch, doch im Laufe des Jahres waren sie zu einer ausgenudelten Blödelklamotte heruntergekommen. Sie futterten mit größter Begeisterung ungenießbare Fertignahrung und tranken den gesamten Vorrat an Cola-light weg.

Mit dem miesen Wetter war alles noch schlimmer geworden. In den vergangenen beiden Wochen hatte sich die Anzahl der Wissenschaftler verdreifacht. Jetzt, nachdem die Wahlen in Bosnien vorüber waren, nahm die IFOR ihre Präsenz nach und nach zurück. Die Soldaten durften wieder nach Hause, ganze Camps wurden geschlossen. Die Zauberer verloren ihren bewaffneten Geleitschutz. Sie wussten, dass sie ohne Schutz nicht bleiben konnten. Eine große Anzahl von Massengräbern und Massakern würde unentdeckt bleiben.

In ihrer Verzweiflung hatte Christie Chambers, Dr. med., einen Aufruf über das Internet losgelassen. Von Israel bis Spanien, von Australien bis Seattle hatten Archäologen ihre Schaufeln fallen gelassen, Labortechniker unbezahlten Urlaub genommen, Ärzte ihren Tennisurlaub abgebrochen und Professoren ihre besten Studenten losgeschickt, damit die Exhumierungen weitergeführt werden konnten. Ihre eilig zusammengeschusterten ID-Marken lasen sich wie ein Who-is-Who der Nekro-Wissenschaften. Alles in allem, das musste Branch zugeben, waren sie nicht die schlechteste Gesellschaft, wenn man auf einer einsamen Insel wie Camp Molly gestrandet war.

»Verbindung steht«, verkündete Sergeant Jefferson von ihrem Bildschirm.

Der ganze Raum schien den Atem anzuhalten. Hinter ihm bildete sich eine Traube. Alle wollten sehen, was KH-12, der Spionagesatellit, zeigte. Links und rechts flimmerte auf sechs Bildschirmen das gleiche Bild.

McDaniels, Ramada und drei weitere Piloten kauerten vor einem eigenen Schirm. »Branch«, sagte einer, woraufhin sie ihm eilig Platz machten.

Der Bildschirm war prächtig mit lindgrüner Geographie überzogen. Ein Computer legte eine geisterhafte Landkarte über das Satellitenbild und die Radardaten.

»Zulu Vier.« Ramada zeigte zuvorkommend mit seinem Kugelschreiber auf einen bestimmten Punkt.

Direkt unter seinem Stift geschah es wieder. Das Satellitenbild blühte in einem rosafarbenen Hitzeausbruch auf.

Die Sergeantin markierte das Bild und gab eine andere Suchmaske ein. Die Darstellung wechselte von Wärmestrahlen zu einer anderen Strahlung. Die gleichen Koordinaten, nur andere Farben. Dann arbeitete sie sich methodisch durch mehrere weitere Variationen des gleichen Themas. Am Bildschirmrand sammelten sich kleine Aufnahmen säuberlich in einer Reihe untereinander, bei denen es sich um PowerPoint-Dias handelte, visuelle Situationsberichte aus vorangegangenen Nächten. In der Bildschirmmitte war die Realzeit zu sehen. »SLR. Jetzt UV«, kommentierte Jefferson. Mit ihrer tiefen Altstimme hätte sie Gospels singen können. »Das dort ist Spectro. Gamma.«

»Halt! Sehen Sie’s?« Eine helle Lichtpfütze breitete sich in Zulu Vier aus.

»Und was zum Teufel bedeutet das?«, raunzte einer der Zauberer am Bildschirm direkt neben Branch. »Was sind das für Messwerte? Strahlung, Chemikalien, oder was?«

»Stickstoff«, erwiderte sein fetter Nachbar. »Genau wie in der letzten Nacht. Und in der vorletzten.«

Branch lauschte ihrer Unterhaltung. Ein anderes Wunderkind pfiff durch die Zähne. »Seht euch nur diese Konzentration an. Normalerweise sind in der Atmosphäre so an die achtzig Prozent Stickstoff, stimmt’s?«

»Achtundsiebzigkommazwo.«

»Hier haben wir es mit fast neunzig zu tun.«

»Es verändert sich. In den letzten beiden Nächten hatten wir beinahe sechsundneunzig Prozent. Aber dann wird es immer weniger. Bei Sonnenaufgang ist es kaum mehr über normal.«

Branch bemerkte, dass er nicht der Einzige war, der die Ohren spitzte. Auch seine Piloten hatten die Lauscher aufgestellt, den Blick fest auf die Monitore gerichtet.

»Ich kapier das nicht«, sagte ein junger Kerl mit Aknenarben im Gesicht. »Wo kommt dieser ganze Stickstoff her?«

Branch wartete das allgemeine Schweigen ab. Vielleicht hatten die Zauberer ja eine Antwort parat.

»Ich sag’s euch doch schon die ganze Zeit, Leute.«

»Hör schon auf, Barry, und verschone uns mit deinem Schwachsinn.«

»Aber ich sage euch doch, dass ...«

»Erzählen Sie es mir«, sagte Branch. Drei Brillen wandten sich zu ihm um.

Der junge Bursche namens Barry schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. »Ich weiß, es hört sich verrückt an. Aber ... es sind die Toten. Das alles ist kein großes Geheimnis. Organische Stoffe zerfallen. Totes Gewebe setzt Ammoniak frei. Und das ergibt, falls ihr das vergessen habt, Stickstoff.«

»Und dann oxidiert Nitrosomonas das Ammoniak zu Nitrat. Und Nitrobacter oxidiert das Nitrat zu anderen Nitraten.« Der fette Nachbar leierte seinen Text wie von einer Schallplatte herunter. »Die Nitrate werden von Grünpflanzen aufgenommen. Mit anderen Worten: der Stickstoff taucht niemals an der Erdoberfläche auf. Es muss sich um etwas anderes handeln!«

»Du redest von nitrierenden Bakterien, aber wie du sicherlich weißt, gibt es auch denitrierende Bakterien. Und die dringen auch nach oben durch.«

»Wollen wir doch einfach festhalten, dass der Stickstoff von der Verwesung herrührt«, sagte Branch zu dem Burschen namens Barry. »Das liefert uns trotzdem keine Erklärung für eine derartige Konzentration, oder?«

Barry holte weit aus. »Es gab Überlebende«, erklärte er. »Es gibt immer Überlebende. Von ihnen wissen wir, wo wir überhaupt graben müssen. Drei von ihnen sagten, dass es sich hier um eine der großen Hinrichtungsstätten handelt, die in einem Zeitraum von mehr als elf Monaten benutzt wurde.«

»Ich höre«, sagte Branch, der nicht genau wusste, worauf die Ausführungen abzielten.

»Wir haben dreihundert Leichen dokumentiert, aber es gibt noch mehr. Vielleicht eintausend. Vielleicht noch viel mehr. Allein aus Srebrenica gibt es noch fünf- bis siebentausend ungeklärte Fälle. Wer weiß, was wir unter dieser obersten Schicht finden? Wir waren gerade dabei, Zulu Vier zu öffnen, als uns der Regen in die Quere kam.«

»Elender Regen!«, fluchte die Brille zu seiner Linken.

»Das sind ziemlich viele Leichen«, sagte Branch geduldig.

»Genau. Ziemlich viele Leichen. Ziemlich viel Verwesung. Ziemlich viel Ausstoß von Stickstoff.«

»Alles Blödsinn.« Der Fette wandte sich jetzt mit mitleidigem Kopfschütteln an Branch. »Barry sieht schon wieder Gespenster. Der Körper des Menschen besteht nur zu drei Prozent aus Stickstoff, sagen wir also drei Kilogramm pro Person. Macht zusammen 15 000 Kilo. Die rechnen wir in Liter und dann in Kubikmeter um. Das reicht höchstens aus, um einen Würfel von dreißig Metern Kantenlänge zu füllen. Wir haben es hier jedoch mit wesentlich mehr Stickstoff zu tun, der zudem jede Nacht austritt und gegen Morgen wieder verschwindet. Es muss sich um etwas anderes handeln.«

Branch lächelte nicht. Seit Monaten musste er mit ansehen, wie sich die Leichenexperten gegenseitig makabre Streiche spielten, angefangen von dem Totenschädel im Telefonzelt bis zu oberschlauen Wortgefechten wie diesem Kannibalengeschwätz hier. Sein Unverständnis hatte weniger mit ihrem Geisteszustand, als mit dem Empfinden seiner eigenen Leute für Recht und Unrecht zu tun. Über den Tod machte man keine dummen Witze.

Er sah Barry fest in die Augen. Der Bursche war nicht dumm. Er hatte darüber nachgedacht. »Wie erklären sich die Veränderungen?«, wollte Branch wissen. »Wie lässt sich das Ansteigen und Abklingen des Stickstoffgehalts durch die Verwesung erklären?«

»Was ist, wenn die Ursache regelmäßig wiederkehrt? Wenn die Überreste durcheinandergewühlt werden, aber nur zu bestimmten Stunden?«

»Blödsinn.«

»Immer mitten in der Nacht.«

»Blödsinn.«

»Wenn sie logischerweise annehmen, wir könnten sie nicht sehen?«

Wie zur Bestätigung von Barrys Theorie bewegte sich der Fleck auf dem Bildschirm abermals.

»Was zum Teufel ...!«

Branch löste sich von Barrys ernstem Blick und schaute auf den Bildschirm. Das Telefoto sprang in peristaltischen Zuckungen dichter ans Geschehen heran. »Näher geht’s nicht«, sagte der Captain. »Das sind zehn Quadratmeter.«

Man konnte die kreuz und quer durcheinander liegenden Knochen im Negativ erkennen. Hunderte menschlicher Skelette stapelten sich dort in einer riesigen, unkoordinierten Umarmung.

»Warte mal ...«, murmelte McDonald, »seht doch ...«

Branch konzentrierte sich auf den Bildschirm. »Da.« Es sah aus, als hätte sich der Leichenberg von unten her bewegt.

»Diese verdammten Serben«, fluchte McDaniels. Niemand widersprach seiner Einschätzung. In letzter Zeit benahmen sich die Serben so, als könnten sie tun und lassen, was sie wollten. Jede Seite hatte im Namen Gottes oder der Geschichte oder im Namen nationaler Grenzen oder der Rache die entsetzlichsten Gräueltaten begangen. Aber besonders die Serben waren dafür bekannt, dass sie sich Mühe dabei gaben, ihre Sünden zu vertuschen. Bis zum Eintreffen der First Air Cavalry hatten die Serben längst überall Massengräber ausgehoben, die Überreste ihrer Opfer in Bergwerksschächte geworfen oder mit schwerem Gerät zu Dünger zerschrotet.

»Also was jetzt, Bob?«

Branch blickte auf, weniger irritiert von der Stimme, als von ihrer Unverfrorenheit in Anwesenheit Untergebener. Denn Bob war der Colonel. Was wiederum nur heißen konnte, dass die fragende Stimme Maria-Christina Chambers gehörte, der Königin der Leichenfledderer. Branch hatte sie nicht bemerkt, als er den Raum betreten hatte.

Chambers war Professorin für Pathologie an der Oklahoma University, befand sich gerade in ihrem Sabbatjahr und verfügte über genügend graues Haar und einflussreiche Vorfahren, um in jeder Gesellschaft Zutritt zu haben. Als Krankenschwester in Vietnam hatte sie an mehr Kampfeinsätzen als die meisten Green Berets teilgenommen. Der Legende zufolge hatte sie sich bei der Tet-Offensive sogar selbst ein Gewehr geschnappt. Sie verabscheute Mikrowellenfraß, schwor auf Coors-Bier und benahm sich auch sonst gerne so ungehobelt wie ein Bauernbursche aus Kansas. Die Soldaten mochten sie. Branch war da keine Ausnahme. Auch der Colonel kam gut mit ihr aus. Nicht jedoch, was diese Angelegenheit anging.

»Sollen wir schon wieder vor diesen Scheißkerlen kuschen?«

Es wurde so still im Raum, dass Branch Finger über die Tastatur laufen hörte.

»Dr. Chambers ...«, versuchte ein Corporal zu vermitteln.

»Klappe!«, zischte ihn Chambers an. »Ich rede gerade mit deinem Boss.«

»Christie«, flehte sie der Colonal an.

Chambers ließ sich an diesem Morgen gar nichts bieten. Man musste ihr jedoch hoch anrechnen, dass sie diesmal unbewaffnet war, nicht einmal ein Reagenzglas stand in Reichweite. Sie schleuderte wütende Blicke um sich.

»Kuschen?«, fragte der Colonel.

»Genau.«

»Was sollen wir denn sonst tun, Christie?«

Jedes schwarze Brett im Camp war dienstbeflissen mit dem von der NATO herausgegebenen Steckbrief bestückt, den die Gesichter der fünfundvierzig Männer zierten, die der schlimmsten Kriegsverbrechen angeklagt waren. Die Einsatztruppen der IFOR hatten den Auftrag, jeden dieser Männer bei Antreffen sofort festzunehmen. Wundersamerweise hatte die IFOR es in neun Monaten trotz groß angelegter Geheimdienstunterstützung nicht geschafft, auch nur einen von ihnen aufzuspüren. Wie allgemein bekannt war, hatte die IFOR sogar mehr als einmal in die andere Richtung geschaut, um nicht mitanzusehen, was sich direkt vor ihren Augen abspielte. Man hatte seine Lektion aus Somalia gelernt. Dort waren bei der Jagd auf einen Tyrannen vierundzwanzig Angehörige eines Kommandotrupps in einen Hinterhalt geraten, abgeschlachtet und an den Füßen hinter Armeelastwagen herbeigeschleift worden. Branch selbst war dem Tod in jener Gasse nur um wenige Minuten entronnen.

Hier ging es in erster Linie darum, jeden einzelnen Soldaten heil und gesund bis Weihnachten nach Hause zurückzubringen. Selbstschutz war angesagt. Selbst um den Preis wichtiger Beweise. Selbst um den Preis der Gerechtigkeit.

»Ihr wisst nicht, was sie da treiben«, sagte Chambers.

Das Knochenfeld tanzte in dem schillernden Stickstoffflecken.

»Nein, wissen wir nicht.«

Chambers ließ sich nicht einschüchtern. Sie war einfach großartig »Ich werde nicht zulassen, dass sich in meiner Gegenwart irgendwelche Abscheulichkeiten abspielen«, zitierte sie dem Colonel. Sie zog ihre Argumentation sehr geschickt auf, indem sie verkündete, dass sie und die Wissenschaftler in ihrer Abscheu nicht allein standen. Das Zitat stammte von der Truppe des Colonels selbst. In den ersten vier Wochen ihres Einsatzes in Bosnien war eine Patrouille Zeuge einer Vergewaltigung geworden. Man hatte den Soldaten befohlen, sich nicht von der Stelle zu rühren und nicht einzugreifen. Der Zwischenfall hatte sich rasch herumgesprochen. Aufgebrachte einfache Soldaten hatten sich in diesem und in anderen Camps geschworen, sich fortan nach ihrem eigenen Verhaltenscodex zu richten. Vor hundert Jahren hätte jede Armee der Welt angesichts dieser Unverschämtheit sofort zur Peitsche gegriffen. Zwanzig Jahre zuvor hätte der Chef der Militärgerichtsbarkeit ein paar Köpfe rollen lassen. Doch in der modernen Freiwilligenarmee ging so etwas unter der Rubrik »Regel Sechs« als Initiative von unten durch.

»Ich sehe nirgendwo Gräueltaten«, sagte der Colonel. »Ich sehe keine Serben herumhantieren und auch sonst kein menschliches Tun. Es könnte sich ebenso gut um Tiere handeln.«

»Verdammt noch mal, Bob!« Sie hatten das alles schon ein Dutzend Mal durchgekaut, wenn auch nicht in aller Öffentlichkeit.

»Meine Leute haben Zulu Vier lokalisiert, das Massengrab geöffnet und fünf wertvolle Tage damit zugebracht, die oberste Leichenschicht auszugraben, bevor uns dieser elende Regen zwang, die Arbeit einzustellen. Es handelt sich um den Schauplatz des bei weitem größten Massakers. Dort liegen mindestens noch achthundert Leichen. Bis jetzt ist unsere Dokumentation tadellos gewesen. Die Beweise, die uns Zulu Vier liefert, dürften die schlimmsten Übeltäter überführen - aber nur, wenn wir unsere Arbeit beenden können. Ich bin nicht bereit zuzulassen, dass sie von Hyänen in Menschengestalt zunichte gemacht wird. Ein Massaker anzurichten ist schon schlimm genug, aber anschließend auch noch die Leichen zu fleddern? Es ist eure verdammte Aufgabe, diesen Ort zu schützen!«

»Nein, das ist nicht unsere Aufgabe«, erwiderte der Colonel. »Wir müssen hier keine Gräber bewachen.«

»Die Menschenrechte hängen davon ab, dass ...«

»Die Menschenrechte sind nicht unsere Aufgabe.«

Plötzlich wirbelte ein Schwall atmosphärischen Knisterns herein, einzelne Worte wurden verständlich, dann war alles wieder still.

»Ich sehe ein Grab, das seit zehn Tagen strömendem Regen ausgesetzt ist«, fuhr der Colonel fort. »Ich sehe die Natur am Werk, und sonst nichts.«

»Lass uns sicher gehen, wenigstens dieses eine Mal.« Chambers blieb hartnäckig. »Mehr verlange ich nicht.«

»Nein.«

»Einen Hubschrauber. Eine Stunde.«

»Bei dem Wetter? Nachts? Sieh dir die Gegend doch an! Alles voller Stickstoff!«

Die elektrische Einfärbung auf allen sechs Bildschirmen pulsierte im Gleichtakt. Ruhet in Frieden, dachte Branch. Aber die Knochen bewegten sich schon wieder.

»Direkt vor euren Augen ...«, murmelte Christie.

Mit einem Mal fühlte sich Branch überwältigt. Es kam ihm geradezu obszön vor, dass diese Menschen der einzigen Geborgenheit, die ihnen geblieben war, beraubt werden sollten. Auf Grund der schrecklichen Art und Weise, auf die sie ums Leben gekommen waren, waren diese Toten dazu verurteilt, von der einen oder anderen Partei zurück ans Tageslicht gezerrt zu werden, und das womöglich immer wieder. Wenn nicht von den Serben, dann von Chambers und ihren Bluthunden. In diesem grauenhaften Zustand würden sie ihre Angehörigen noch einmal sehen, und der Anblick würde sie bis ans Ende ihrer Tage heimsuchen.

»Ich fliege hin«, hörte er sich sagen.

Als der Colonel sah, dass diese Worte von Branch kamen, fiel ihm die Klappe herunter.

»Major?«, fragte er.

In diesem Moment taten sich Abgründe im Universum auf, die Branch bislang nicht wahrgenommen, ja, von denen er nicht einmal geträumt hatte. Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass er eine Art Lieblingssohn war, in dessen Hände der Colonel die Division eines Tages gerne übergeben hätte. Zu spät erkannte er das Ausmaß seines Verrats.

Branch fragte sich, was ihn dazu veranlasst hatte. Ebenso wie der Colonel war er ein Mustersoldat. Er kannte die Bedeutung von Pflicht und Gehorsam, sorgte für seine Männer, sah im Krieg weniger eine Berufung als einen Beruf, drückte sich vor keinerlei Unannehmlichkeiten und war so mutig, wie es seiner Klugheit und seinem Dienstgrad zustand. Er hatte seinen Schatten unter fremden Sonnen über den Boden wandern sehen, hatte Freunde begraben, Wunden empfangen und Leid über seine Feinde gebracht. Trotzdem betrachtete sich Branch nicht als Vorturner. Er glaubte nicht an Helden. Dazu waren die Zeiten zu verworren. Und doch war er es, Elias Branch, der den Vorschlag unterstützte.

»Jemand muss schließlich den Anfang machen«, knurrte er mit schmerzhafter Selbsterkenntnis.

»Jemand«, echote der Colonel.

Da er seiner Sache selbst nicht ganz sicher war, versuchte Branch nicht, seine Andeutung genauer auszuführen. »Sir, jawohl, Sir«, sagte er stattdessen.

»Halten Sie es für so dringend notwendig? Es ist nur, weil wir schon so weit vorangeschritten sind. Was erhoffen Sie sich von einer derartigen Aktion?«

»Vielleicht«, entgegnete Branch, »können wir ihnen diesmal in die Augen schauen.«

»Und dann?«

Branch kam sich idiotisch und allein vor. »Bringen wir sie dazu, zu antworten.«

»Woraufhin sie wiederum lügen werden«, sagte der Colonel. »So wie immer. Was dann?«

Branch war verwirrt.

»Wir bringen sie dazu, das Terrain zu verlassen.« Er schluckte.

Ungebeten kam Ramada Branch zu Hilfe. »Bitte um Erlaubnis, Sir«, sagte er, »und melde mich freiwillig, mit Branch zu gehen, Sir.«

»Ich auch«, sagte McDaniels.

Aus den verschiedenen Ecken des Raums meldeten sich noch drei andere Freiwillige. Ohne darum zu bitten, stand Branch jetzt ein ganzes Expeditionskorps an Kampfhubschraubern zur Verfügung. Es war eine schreckliche Tat, eine demonstrative Unterstützung, die dicht an Vatermord herankam. Branch senkte den Kopf. Der Colonel seufzte und Branch fühlte sich für alle Zeiten aus dem Herzen des Alten entlassen. Es war die Freiheit der Einsamkeit, die er nie gewollt hatte, doch jetzt gehörte sie ihm.

»Dann gehen Sie«, sagte der Colonel.


04.10 Uhr

Branch flog tief an, mit ausgeschalteten Scheinwerfern. Die beiden anderen Apache-Hubschrauber pirschten wie grimmige Wölfe links und rechts von ihm. Er gab dem Vogel vollen Stoff: 145 km/h. Er wollte die Sache hinter sich bringen.

Branch führte sie mit Hilfe von Instrumenten durch die Dunkelheit, die er verachtete. Seiner Meinung nach genossen Nachtsichtinstrumente ein ungerechtfertigtes Vertrauen, das er nicht teilte. Aber in dieser Nacht, in der sich außer seiner Truppe nichts am Himmel bewegte, und in der die eigentliche Gefahr, diese Stickstoffwolke, für das bloße Auge nicht sichtbar war, verließ sich Branch doch auf das Zielerfassungs-Monokel seines Helms und das Display.

Auf dem Bildschirm war ein vom Camp übermitteltes virtuelles Bosnien zu sehen. Ein Softwareprogramm namens PowerScene synchronisierte alle aktuellen Satellitenbilder, die Aufnahmen einer in großer Höhe kreisenden Boeing 707 Night Stalker sowie Tageslichtfotos von ihrem Einsatzgebiet zu einer fast in Realzeit erstellten 3D-Simulation. Vor ihnen lag, wie schon einige Sekunden zuvor, die Drina. Auch auf ihrer virtuellen Karte würden Branch und Ramada Zulu Vier erst dann erreichen, wenn sie tatsächlich dort angekommen waren. Man musste sich nur ein wenig daran gewöhnen. Die 3D-Bilder waren so gut, dass man bereitwillig an sie glaubte, und doch zeigten ihre Karten keineswegs an, wo man sich augenblicklich befand. Sie zeigten lediglich an, wo man gerade eben gewesen war, wie eine Erinnerung an die eigene Zukunft.

Zulu Vier befand sich fünfzehn Kilometer südöstlich von Kalejisa in Richtung Srebrenica und anderer Orte des Grauens am Ufer der Drina. Die schlimmsten Massaker hatten entlang dieses Flusses unweit der Grenze zu Serbien stattgefunden.

»Meine Güte!«, murmelte Ramada vom Rücksitz des fliegenden Schlachtschiffes, als ihr Zielgebiet in Sicht kam. Branch löste den Blick von PowerScene und widmete seine Aufmerksamkeit dem Echtzeit-Nachtsichtgerät. Ein Stück weiter vorne sah er, was Ramada gemeint hatte.

Die Gaskuppel über Zulu Vier erhob sich tief rot und bedrohlich vor ihnen. Es sah aus wie ein biblischer Beweis für einen Riss im Universum. Beim Näherkommen nahm der Stickstoff die Gestalt einer riesenhaften Blume an, deren Blütenblätter sich dort, wo die Gase auf kalte Luft trafen und wieder nach unten sanken, unter dem Baldachin aus Mischwolken kräuselten. Selbst als sie die tödliche Blume bereits erreicht hatten, erschien das Gebilde noch immer mit einem Balken ständig erweiterter Information in Leuchtschrift auf ihrem PowerScene. Die Perspektive wechselte. Branch betrachtete seine Apaches aus Satellitenperspektive, wie sie gerade an der Stelle ankamen, die sie soeben passiert hatten.

»Riecht ihr das auch? Over.« Das musste McDaniels sein, der schräg hinter ihm die Flanke deckte.

»Riecht wie ein Eimer Spülmittel.« Auch diese Stimme kannte Branch sehr gut: Teague bildete die Nachhut.

Jemand fing an, die Melodie aus der Werbung zu summen.

»Riecht eher wie Pisse.« Ramada. Schonungslos wie immer. Branch bekam eine erste Nase von dem Duft und atmete sofort wieder aus. Salmiakgeist. Das Nebenprodukt von Stickstoff. Es roch nach Pisse, abgestandener Morgenpisse, ungefähr zehn Tage alt.

»Masken«, sagte er und drückte sich seine eigene fest aufs Gesicht. Lieber kein Risiko eingehen. Der Sauerstoff strömte kühl und sauber in seine Atemwege.

Die Giftwolke brütete breit und flach, ungefähr eine Viertelmeile hoch über dem Gelände. Branch versuchte, die Gefahren mit Hilfe seiner Instrumente und künstlicher Lichtfilter einzuschätzen, aber sie verrieten ihm nicht viel.

Elendes Zeug! Sie mussten sich eben vorsehen.

»Alle herhören!«, sagte er. »Lovey, Mac, Schulbe, Teague. Ihr geht alle einen guten Kilometer von dem Ding entfernt in Stellung und rührt euch nicht, während Ram und ich das Monster im Uhrzeigersinn umrunden.« Er dachte sich das alles beim Reden aus. Warum nicht im entgegengesetzten Uhrzeigersinn? Warum nicht darüber hinweg? »Wir fliegen eine weite, hohe Spirale und stoßen dann wieder auf eure Gruppe. Wir lassen uns mit dem verflixten Ding erst dann näher ein, wenn wir näher darüber Bescheid wissen.«

»Klingt wie Musik in meinen Ohren«, pflichtete ihm Ramada auf dem Navigator-Pilot-Kanal bei. »Keine Abenteuer. Keine Helden.«

Abgesehen von einem Schnappschuss, den er Branch gezeigt hatte, hatte Ramada seinen neu geborenen Sohn zu Hause in Oklahoma noch kein einziges Mal gesehen. Er hätte nicht zu diesem Ausflug mitkommen müssen, aber er wollte nicht zurückbleiben. Sein Vertrauensvotum bereitete Branch ein noch schlechteres Gewissen. In Zeiten wie diesen hasste Branch sein eigenes Charisma. Es lastete auf ihm wie ein Fluch. Mehr als ein Soldat war schon daran gestorben, dass er ihm auf dem Pfad zum Bösen gefolgt war.

»Noch Fragen?« Branch wartete. Keine Fragen.

Er schwenkte nach links und scherte in einer scharfen Kurve aus dem Verband aus. Im Uhrzeigersinn pirschte er sich an, flog zunächst eine großzügige Spirale und zog die Kreise dann immer enger. Das wolkige Gebilde hatte ungefähr zwei Kilometer Durchmesser. Das vor Maschinengewehren und Raketen starrende Schlachtschiff vollführte die erste Umkreisung bei Höchstgeschwindigkeit, eine reine Sicherheitsmaßnahme, falls dort unten auf dem Waldboden irgendein Spatzenhirn mit mehr Sliwowitz als Blut in den Adern und einer SAM auf der Schulter auf sie lauerte.

Branch war nicht hier, um einen Krieg zu provozieren, sondern um dieses eigenartige Gebilde zu erkunden. Irgendetwas ging hier draußen vor sich. Aber was?

Am Ende der ersten Runde drosselte er abrupt die Geschwindigkeit und entdeckte in einiger Entfernung seine anderen Helikopter als dunkle Verdichtungen mit blinkenden roten Positionslichtern. »Sieht nicht gerade sehr belebt aus«, sagte er. »Hat von euch jemand was gesehen?«

»Nada«, meldete sich Lovey.

»Bei uns auch nix«, meinte McDamels.

Die Meute im Camp teilte Branchs elektronisch ergänzte Aussicht. »Ihre Sicht taugt keinen Schuss Pulver, Elias.« Das war Maria-Christina Chambers höchstpersönlich.

»Doktor Chambers?«, antwortete er. Was tat sie denn im Netz?

»Es ist immer wieder der gleiche Mist, Elias. Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Wir verlassen uns viel zu sehr auf diesen hoch technisierten optischen Firlefanz. Die Kameras sind auf den Stickstoff getrimmt, also kriegen wir auch nichts anderes als Stickstoff zu sehen. Besteht die Möglichkeit, dass Sie mal kurz reingehen und persönlich ein Auge riskieren?«

So gut Branch sie leiden konnte, und so gern er genau das getan hätte - sich persönlich an Ort und Stelle von den obskuren Vorgängen überzeugen -, so klar war es auch, dass diese Dame in seiner Befehlskette nichts zu suchen hatte.

»Solche Anweisungen müssen vom Colonel kommen.

Over«, sagte er.

»Der Colonel hat uns verlassen. Meiner bescheidenen Meinung nach hat er ihnen völlige Entscheidungsfreiheit eingeräumt.«

Die Tatsache, dass Christie Chambers ihre Anfrage direkt über die Einsatzverbindung laufen ließ, konnte nur bedeuten, dass der Colonel die Kommandozentrale tatsächlich verlassen hatte. Die Botschaft war unmissverständlich: Wenn Branch schon so verdammt unabhängig war, dann sollte er seinen Kram gefälligst auch selbst erledigen.

»Verstanden«, erwiderte Branch, um Zeit zu gewinnen. Was jetzt? Zurückfliegen? Bleiben? Weiter nach dem vergrabenen Schatz suchen? »Mache mich an nähere Einschätzung der Gegebenheiten«, funkte er. »Werde meine Entscheidung durchgeben. Ende.«

Er hielt den Apache knapp außerhalb der dichten, undurchsichtigen Masse in der Luft und schwenkte die in der Nase des Hubschraubers installierte Kamera und die Sensoren hin und her. Es war, als stünde man dem ersten Atompilz Auge in Auge gegenüber. Wenn er nur etwas sehen könnte! Voller Abneigung der modernen Technologie gegenüber stellte er das Infrarot-Nachtsichtgerät einfach ab, stieß das Okular zur Seite und schaltete die Fahrwerkscheinwerfer ein. Sofort war die geisterhafte Erscheinung der purpurfarbenen Riesenwolke verschwunden.

Jetzt sah Branch, dass sich vor ihm ein Wald erstreckte. Scharf geschnittene Schatten flohen vor dem grellen Scheinwerferlicht. Um den Mittelpunkt des Wäldchens waren die Bäume blattlos. Der in den vorangegangenen Nächten ausgetretene Stickstoff hatte sie entlaubt.

»Großer Gott!« Chambers’ Stimme tat ihm in den Ohren weh.

Im Funknetz brach das reinste Inferno los.

»Was zum Teufel war das denn?«, brüllte jemand.

Branch kannte die Stimme nicht, aber dem Hintergrund nach zu schließen, klang es, als sei in Camp Molly das reinste Tohuwabohu losgebrochen. »Bitte um Wiederholung. Over«, sagte er.

Jetzt meldete sich wieder Chambers: »Sagen Sie nicht, Sie hätten das nicht gesehen. Als Sie die Scheinwerfer einschalteten ...«

Die Zentrale summte und zwitscherte wie eine Schar aufgeregter tropischer Vögel. Jemand schrie: »Holt den Colonel! Auf der Stelle!« Und eine andere Stimme brüllte: »Zurückspulen! Ich will das sofort noch einmal sehen!«

»Was zum Henker ist da los?«, meldete sich McDamels aus dem undifferenzierten Geschnatter.

Branch und seine Piloten warteten und lauschten dem Chaos im Lager. Dann meldete sich eine militärische Stimme. Es war Master Sergeant Jefferson. »Echo Tango, hört ihr mich? Over.«

»Hier Echo Tango an Basis«, antwortete Branch. »Empfang laut und deutlich. Ist Gefahr im Verzug? Over.«

»Einspeisung von LandSat meldet massive Bewegung. Irgendetwas geht da drinnen vor sich. Das Infrarot zeigt einfach nur mehrere unidentifizierbare Bewegungen. Ist bei euch wirklich nichts zu sehen? Over.«

Branch blinzelte durch das Blätterdach. Der Regen lag wie flüssiges Plastik auf seiner Plexiglasscheibe und verwischte ihm die Sicht. Er neigte den Apache, um Ramada ungehinderte Sicht zu verschaffen. Aus dieser Entfernung sah das Gelände zwar toxisch, sonst aber friedlich aus. Er zog ein Stück zur Seite, um einen besseren Ausgangspunkt zu haben, und richtete die Scheinwerfer direkt auf das Ziel. Zulu Vier lag nicht weit vor ihnen, zwischen den wie nackte Spieße aufragenden Stämmen des vernichteten Waldes.

»Dort drüben«, sagte Chambers.

Man musste wissen, wonach man zu suchen hatte. Es war eine große Grube, offen und von Regenwasser überflutet. Auf der Oberfläche des Tümpels schwammen Stöcke. Knochen, schoss es Branch durch den Kopf.

»Können wir eine Vergrößerung bekommen?«, fragte Chambers.

Branch blieb auf Position, während die Spezialisten im Lager am Bild herumfummelten. Dort draußen, hinter dem Plexiglas, lag die Apokalypse: Seuchen, Tod, Krieg. Das komplette Programm, bis auf den letzten Reiter, die Hungersnot. Was um alles in der Welt hast du hier verloren, Elias?

»Das reicht nicht«, beschwerte sich Chambers in seinem Kopfhörer. »Wir vergrößern lediglich die Verzerrung.«

Branch wusste, dass sie ihre Frage wiederholen würde. Es war der logische nächste Schritt. Aber sie kam nicht mehr dazu.

»Da! Schon wieder, Sir!«, kam die Stimme des Master Sergeant über den Funk. »Ich zähle drei, Berichtigung, vier Wärmeechos, Gestalten, die sich bewegen. Ganz deutlich. Sehr lebendig. Bei euch immer noch nichts zu sehen? Over.«

»Nichts. Was denn für Gestalten, Basis? Over.«

»Sehen aus wie etwa menschengroß. Sonst keine Einzelheiten. Der LandSat gibt einfach keine bessere Auflösung her. Wiederhole. Wir haben hier mehrere Gestalten auf dem Schirm, direkt auf dem Gelände oder in nächster Umgebung. Darüber hinaus jedoch keine genauere Bestimmung.«

Branch saß da mit dem vibrierenden Steuerknüppel in der Hand. Auf dem Gelände oder in nächster Umgebung? Branch schwenkte nach rechts, suchte sich einen besseren Beobachtungspunkt, glitt seitwärts, dann höher, ohne auch nur einen Zentimeter dichter heranzugehen. Ramada drosselte das Licht und suchte das Terrain ab. Dann stiegen sie bis über die abgestorbenen Bäume. Direkt von oben gesehen, war die Wasseroberfläche sichtlich aufgewühlt. Es war keine wilde Erschütterung, aber es handelte sich auch nicht um das zarte Wellenkräuseln, das beispielsweise von fallenden Blättern hervorgerufen wird. Dazu war das Muster zu arythmisch. Zu lebhaft.

»Wir beobachten dort unten eine gewisse Bewegung«, gab Branch über Funk weiter. »Ist so etwas auch auf euren Kamerabildern festzustellen, Basis? Over.«

»Sehr gemischte Ergebnisse, Major. Nichts Genaues. Ihr seid zu weit weg.«

Branch beobachtete den Tümpel mit finsterer Miene und versuchte, sich eine logische Erklärung dafür zurechtzuschustern. Nichts auf der Erdoberfläche konnte das Phänomen erläutern. Weder Menschen noch Wölfe noch irgendwelche Aasfresser. Abgesehen von der Bewegung, die die Wasseroberfläche aufwühlte, war das Gebiet absolut leblos. Was auch immer diese Unruhe auslöste, musste sich im Wasser selbst befinden. Fische? Nicht ganz abwegig, denn Flüsse und Bäche waren über die Ufer getreten und erstreckten sich bis in den Wald hinein. Welse womöglich, oder Aale? Jedenfalls musste es sich um Gründlinge handeln, groß genug, um von einer Infrarot-Satellitenaufnahme wahrgenommen zu werden.

Es bestand keine unmittelbare Notwendigkeit, der Sache näher nachzugehen. Wäre er allein gewesen, hätte Branch sich trotzdem nicht davon abhalten lassen, genauer nachzusehen. Er brannte förmlich darauf, näher heranzugehen und dem Wasser sein Geheimnis zu entreißen. Aber es stand ihm nicht frei, seinen Impulsen nachzugehen. Er hatte Männer dabei, die seinem Kommando unterstanden. Hinter ihm saß ein frisch gebackener Vater. So wie er es gelernt hatte, verwarf Branch seine Neugier und gehorchte seiner Pflicht.

Plötzlich streckte sich das Grab nach ihm aus. Ein Mensch richtete sich aus dem Wasser auf.

»Jesus!«, zischte Ramada.

Branchs erschrockener Reflex ließ den Apache scheuen. Ohne den Blick von dem unheimlichen Bild zu lösen, tarierte Branch den Helikopter wieder aus.

»Echo Tango Eins?« Der Corporal war erschüttert.

Der Mann war schon seit vielen Monaten tot. Bis zur Hüfte schob sich das, was von ihm übrig war, langsam aus dem Wasser. Der Kopf war nach hinten gekippt, die Handgelenke mit Draht gefesselt. Einen Moment sah es so aus, als starrte er zum Hubschrauber herauf, Branch direkt in die Augen. Selbst aus der Entfernung konnte Branch so einiges über den Mann sagen. Er war wie ein Lehrer oder ein Beamter gekleidet, zweifellos kein Soldat. Den Verpackungsdraht um seine Handgelenke hatten sie schon bei anderen Gefangenen aus dem serbischen Sammellager bei Kalejisa gesehen. Das Austrittsloch der Kugel gähnte deutlich sichtbar auf der linken Seite seines Hinterkopfes.

Der menschliche Kadaver tanzte ungefähr zwanzig Sekunden wie eine Schaufensterpuppe auf der Stelle. Dann kippte die makabre Marionette zur Seite, fiel schwer auf den Rand der Grube und blieb halb im Wasser liegen. Es sah beinahe so aus, als hätte jemand eine Requisite achtlos zur Seite geworfen, nachdem ihr Schockeffekt verpufft war.

»Elias?«, fragte Ramada flüsternd.

Branch reagierte nicht. Du hast es herausgefordert. Da hast du den Salat.

Er rief sich Regel Sechs in Erinnerung. Ich werde nicht zulassen, dass sich in meiner Gegenwart irgendwelche Abscheulichkeiten abspielen. Die Abscheulichkeit war bereits geschehen: die Ermordung und Verscharrung wehrloser Zivilisten. Alles bereits Vergangenheit. Das hier jedoch, diese Entweihung, ereignete sich in der Gegenwart. Seiner Gegenwart.

»Ram?«, fragte er. Ramada wusste, worauf er hinaus wollte.

»Klare Sache«, lautete seine Antwort.

Doch Branch ging nicht sofort runter. Er war ein umsichtiger Mensch. Zuerst galt es noch ein paar Einzelheiten zu klären.

»Basis? Ich brauche ein paar Informationen«, gab er über Funk durch. »Meine Turbine atmet Luft. Verträgt sie auch diese Stickstoff-Atmosphäre?«

»Tut mir Leid, Echo Tango«, sagte Jefferson. »Davon weiß ich nichts.«

Chambers schaltete sich aufgeregt dazwischen. »Womöglich kann ich Ihre Frage beantworten, Major. Augenblick, ich erkundige mich rasch bei unseren Leuten.«

Bei deinen Leuten? Die Dinge gerieten allmählich außer Kontrolle. Chambers hatte bei dieser Entscheidung absolut nichts mitzureden. Kurz darauf meldete sie sich wieder. »Sie können es auch gleich aus erster Hand hören, Elias. Hier ist Cox, unser Chemiker von der Uni Stanford.«

Eine neue Stimme war zu hören. »Habe Ihre Frage vernommen«, sagte der Bursche aus Stanford. »Sie wollen wissen, ob ein Luftatmer Ihr gepanschtes Konzentrat verträgt.«

»So was in der Richtung«, erwiderte Branch.

»Äh ... Hmm«, sagte Stanford. »Ich sehe gerade auf die chemische Analyse, die vor fünf Minuten vom LandSat heruntergeladen wurde. Aktueller kriegen wir’s nicht. Die Wolke weist 89 % Stickstoff auf. Ihr Sauerstoff ist runter auf 13 %, nirgendwo annähernd normal. Sieht aus, als hätte es den Wasserstoffanteil am meisten erwischt. Kaum was da. Dann also zu Ihrer Frage, Major.«

Er machte eine Pause, und Branch sagte: »Wir sind ganz Ohr.«

»Ja«, meldete sich Stanfords Stimme wieder.

»Ja was?«, wollte Branch wissen.

»Ja, Sie können rein. Ich rate Ihnen, das Gebräu nicht unbedingt einzuatmen, aber Ihre Turbinen schlucken das Zeug. Nema problema.«

Das universelle Achselzucken hatte auch schon das Serbokroatische erobert. »Verraten Sie mir nur noch eines«, hakte Branch nach. »Wenn es kein Problem gibt, warum soll ich dieses Zeug dann nicht einatmen?«

»Darum«, sagte der Chemiker. »Es wäre wahrscheinlich nicht besonders, äh, umsichtig.«

»Meine Parkuhr läuft ab, Mr. Cox«, sagte Branch. Umsichtig! Meine Fresse!

Er hörte den Tausendsassa aus Stanford schlucken. »Äh, verstehen Sie mich bitte nicht falsch«, sagte der Mann. »Stickstoff ist ein hervorragendes Stöffchen. Der Großteil von dem, was wir einatmen, besteht aus Stickstoff. Ohne Stickstoff gäbe es überhaupt kein Leben. In Kalifornien drüben bezahlen die Leute einen Haufen Geld dafür, um die Stickstoffproduktion auszuweiten. Schon mal was von Blaualgen gehört? Der Trick dabei ist, Stickstoff organisch zu produzieren. Mit seiner Hilfe funktioniert das Gedächtnis angeblich bis in alle Ewigkeit.«

»Ist das Zeug ungefährlich?«, unterbrach ihn Branch.

»Ich würde an Ihrer Stelle nicht landen, Sir. Gehen Sie auf keinen Fall runter. Es sei denn, Sie sind inzwischen gegen Cholera, sämtliche Arten von Gelbsucht und eventuell Beulenpest immun. Mit all der Sepsis im Wasser dürfte die biologische Verseuchung dort unten jede Skala sprengen. Der ganze Hubschrauber müsste unter Quarantäne gestellt werden.«

»Klartext«, versuchte es Branch abermals, diesmal mit gepresster Stimme. »Kann meine Maschine da drin fliegen oder nicht?«

»Klartext: ja«, fasste der Chemiker zusammen.

Der faulige Wassertümpel kräuselte sich direkt unter ihnen. Bleiche Kronen tanzten auf seiner Oberfläche. Blasen blubberten wie auf der geologischen Ursuppe. Wie tausend Lungen, die noch einmal ausatmeten. Und ihre Geschichte erzählen wollten.

Branch traf seine Entscheidung. »Sergeant Jefferson«, gab er über Funk durch. »Haben Sie Ihre Handfeuerwaffe parat?«

»Jawohl, Sir, selbstverständlich, Sir«, kam die Antwort. Es war vorgeschrieben, auch im Lager jederzeit eine Schusswaffe bei sich zu führen.

»Laden Sie sie durch, Sergeant.«

»Sir?« Die Vorschrift besagte ebenfalls, dass die Waffe niemals geladen sein durfte, es sei denn bei einem direkten Angriff.

Elias wollte den Witz nicht noch mehr in die Länge ziehen. »Der Mann, der da eben über Funk zu hören war«, sagte er. »Sollte sich herausstellen, dass er sich geirrt hat ... Erschießen Sie ihn.«

»Ins Bein oder Kopfschuss, Sir?«

Solche Scherze waren ganz nach McDaniels Geschmack.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis Branch die anderen Helikopter rings um die Gaswolke positioniert, seine Bewaffnung abermals überprüft und die Sauerstoffmaske festgezurrt hatte.

»Na schön«, sagte er dann. »Schauen wir uns die Sache mal an.«

04.25 Uhr

Er tauchte von oben in die Wolke ein. Seinen getreuen Navigator hinter sich wissend, wollte er ganz langsam heruntergehen. Nur nichts überstürzen. Immer schön eine Gefahr nach der anderen. Mit den drei Schlachtschiffen im Rücken hatte Branch das Gefühl, dieses verdammte Gelände von oben bis unten im Griff zu haben.

Aber der Chemiespezialist aus Stanford hatte sich getäuscht. Apaches kamen mit dieser stickstoffhaltigen Brühe keineswegs zurecht. Er war kaum zehn Sekunden drinnen, als der säurehaltige Dunst anfing, wie wild Funken zu sprühen. Die Funken löschten die bereits in der Turbine brennende Pilotflamme aus und lösten durch weitere Entladungen eine zweite kleine Explosion unter den Rotoren aus. Die Abgastemperaturanzeige schnellte in den roten Bereich, die Pilotflamme verwandelte sich in eine Feuersbrunst von knapp einem Meter Durchmesser.

Es war Branchs Aufgabe, auf alle Notfälle vorbereitet zu sein. Ein Teil der Pilotenausbildung bestand darin, den schlimmstmöglichen Fall zu entwerfen, ein anderer Teil, sich auf den eigenen Absturz vorzubereiten. Ein mechanisches Versagen dieses Kalibers war ihm zwar noch nie untergekommen, doch auch für diesen Notfall verfügte er über die notwendigen Reflexe. Als die Rotoren durchdrehten, korrigierte er die Unregelmäßigkeiten. Als die Maschine nach und nach ihren Geist aufgab und sämtliche Instrumente ausfielen, geriet er nicht in Panik. Dann fiel mit einem Schlag alles aus.

»Ich schmiere ab«, gab Branch seelenruhig durch. Ein Sauerstoffschwall hüllte die Stromführungen über ihren Köpfen in bläulich leuchtendes Elmsfeuer ein. »Autorotation«, gab er durch, als die Maschine - logischerweise

- überhaupt nicht mehr reagierte. Autorotation war ein Zustand mechanischer Lähmung. »Wir stürzen ab«, kommentierte er. Ohne Gefühlsregung. Ohne Schuldzuweisung. Völlig konzentriert auf das Hier und Jetzt.

»Haben Sie einen Treffer erhalten, Major?« Der gute alte Mac.

»Negativ«, beruhigte ihn Branch. »Keine Feindberührung. Unsere Turbine ist hochgegangen.«

Mit Autorotation konnte Branch umgehen. Es war einer seiner ältesten Instinkte, den Steuerknüppel herunterzudrücken und in dieses steile, sichere Gleiten überzugehen, das einen kontrollierten Flug imitierte. Selbst wenn der Motor aus war, drehten sich die Rotorblätter auf Grund der Zentrifugalkraft weiter und ermöglichten so eine einigermaßen kontrollierte Bruchlandung. Jedenfalls theoretisch. Wenn man mit einer Geschwindigkeit von knapp 600 Metern in der Minute fiel, schnurrte die ganze Theorie auf 30 Sekunden Entscheidungsspielraum zusammen.

Branch hatte solche Situationen schon tausendfach geübt, aber noch nie mitten in der Nacht und erst recht nicht mitten in einem von Giftschwaden geschwängerten Wald. Mit dem Antrieb waren auch die Scheinwerfer ausgefallen. Die Dunkelheit sprang ihn so jäh von allen Seiten an, dass er erschrak. Seine Augen hatten nicht genug Zeit, sich an die neuen Sichtverhältnisse anzupassen, und es blieb auch keine Zeit, den NachtsichtSucher herunterzuklappen. Scheiß auf die Instrumente! Wenn sie schon abstürzten, verließ er sich lieber auf die eigenen Augen. Zum ersten Mal empfand er so etwas wie Angst.

»Ich bin blind«, gab Branch mit monotoner Stimme durch.

Er schob die Vorstellung beiseite, im nächsten Moment von Bäumen oder Ästen aufgespießt zu werden und ergab sich voll und ganz seinem Fliegerinstinkt. Nicht zu steil runter, sonst geraten die Rotoren ins Trudeln. In seiner Vorstellung raste der tote Wald wie offene Springmesser in einer dunklen Gasse auf sie zu. Er wusste genau, dass diese Bäume sie alles andere als abfedern würden. Er wollte sich bei Ramada entschuldigen, dem Vater, der jung genug war, um sein Sohn zu sein. Wo habe ich uns nur hineingeritten?

Erst jetzt gab er zu, dass er die Kontrolle verloren hatte. »Mayday«, schickte er über Funk hinaus.

Mit einem metallischen Kreischen tauchten sie in die Baumwipfel ein. Äste durchbohrten die Aluminiumhülle, zerschmetterten die Kufen und streckten sich aus, um der Maschine ihre Menschenseelen zu entreißen. Ein paar Sekunden noch glich ihr Niedergang eher einem Gleiten als einem Sturz. Die Rotoren enthaupteten Baumwipfel, dann schnitten die Bäume die Rotoren ab. Der Wald nahm sie gefangen. Der Apache brach in Stücke.

Der Lärm verhallte. Mit der Nase nach unten um einen Baumstamm gewickelt, schaukelte die Maschine im strömenden Regen wie in einer Wiege. Branch nahm die Fäuste von den Instrumenten. Er ließ los. Es war vollbracht. Ohne jede Vorwarnung wurde er ohnmächtig.

Würgend erwachte er wieder. Seine Maske war voller Erbrochenem. Von Dunkelheit und Rauch umgeben, zerrte er an den Riemen, befreite sich von der Gesichtsschale und japste nach Luft. Sofort schmeckte und roch er das in seine Lungen und in sein Blut eindringende Gift. Es brannte im Hals. Er fühlte sich krank, wie von einer altertümlichen Krankheit befallen, bis in die Knochen verseucht. Maske, dachte er alarmiert.

Ein Arm ließ sich nicht bewegen. Er baumelte schlaff vor ihm hin und her. Mit der gesunden Hand tastete er nach der eben vom Gesicht gerissenen Maske, kippte die Sauerei aus und drückte das Gummi fest ans Gesicht. Der Sauerstoff brannte kalt in den Stickstoffwunden in seiner Kehle.

»Ram?«, krächzte er.

Keine Antwort.

»Ram?«

Er konnte die Leere hinter sich körperlich spüren. Angeschnallt, mit dem Kopf nach unten, mit gebrochenen Knochen und gestutzten Flügeln tat Elias das Einzige, wozu er noch in der Lage war, das, weshalb er hergekommen war. Er hatte diesen dunklen Wald betreten, um zum Zeugen begangener Missetaten zu werden. Also zwang er sich dazu, sich umzusehen. Er verweigerte sich dem Delirium und schaute um sich. Er blickte in die Dunkelheit. Und wartete.

Die Dunkelheit lichtete sich. Es war nicht die aufziehende Morgendämmerung, sondern seine Augen gewöhnten sich nach und nach an die Dunkelheit. Umrisse nahmen Gestalt an. Ein Horizont von Grautönen.

Jetzt bemerkte er auf der anderen Seite der Plexiglasscheibe ein eigenartiges Blitzen. Zuerst hielt er es für schmale Gasschwaden, die vom Gewitter entzündet wurden. Die Lichtblitze zeichneten die Silhouetten mehrerer Objekte auf dem Waldboden nach, ohne sie direkt anzuleuchten. Branch bemühte sich, aus den Eindrücken ringsum etwas herauszulesen, begriff jedoch nur, dass er aus dem Himmel herabgefallen war.

»Mac«, rief er ins Mikro. Er verfolgte das Verbindungskabel bis zum Helm. Abgerissen. Er war allein. Seine Anzeigen gaben immer noch kleine Lebenszeichen von sich. Hier und da glommen ein paar grüne und rote, von irgendwelchen Batterien gespeiste Lämpchen, die jedoch allenfalls bestätigten, dass der Hubschrauber so gut wie tot war.

Branch sah, dass der Absturz ihn in ein Wirrwarr umgestürzter Bäume unweit von Zulu Vier geschleudert hatte. Er spähte durch das von feinen Spinnweben überzogene Plexiglas und sah in einiger Entfernung ein graziles Kruzifix. Er fragte sich, ja er hoffte geradezu, dass ein serbischer Soldat diese ziemlich große, zerbrechlich wirkende Ikone vielleicht als Sühnezeichen für dieses Massengrab aufgestellt habe. Doch dann erkannte er, dass es sich um eines seiner abgerissenen Rotorblätter handelte, das sich im rechten Winkel in einem Baum verfangen hatte. Wrackstücke rauchten auf dem mit nassen Baumnadeln und Blättern bedeckten Boden. Die Nässe war wahrscheinlich Regen. Ziemlich spät dämmerte ihm, dass es sich ebenso gut um seinen auslaufenden Sprit handeln konnte.

Am meisten Sorgen bereitete ihm die Trägheit seiner Reaktionen. Es schien, als begriffe er nur durch einen Nebel hindurch, dass sich der Treibstoff entzünden könne und es höchste Zeit sei, sich und seinen Kopiloten - ob nun tot oder lebendig - aus der Kanzel zu ziehen. Er wollte schlafen. Nein.

Elias hyperventilierte mit dem Sauerstoff aus der Maske und versuchte, sich auf den zu erwartenden Schmerz einzustellen. Er richtete sich auf, drückte sich mit der Schulter an die seitliche Kabinenwand, und spürte, wie Knochen auf Knochen knirschte. Das ausgerenkte Knie schnappte ein, dann wieder aus. Er brüllte vor Schmerz.

Die Kabinentür ließ sich mühelos aufklappen. Er saugte den Sauerstoff tief in die Lungen, als könnte er ihn den bevorstehenden Schmerz vergessen lassen. Im Hinterkopf sagte er die Namen gebrochener Knochen auf. Seine Wunden waren so eloquent. Jede einzelne wollte sich genau und detailliert vorstellen, und alle gleichzeitig. Der Schmerz war ungeheuerlich.

Er starrte mit wildem Blick in den entschwundenen Himmel.

Keine Sterne waren dort oben. Kein Himmel. Nur Wolken und wieder Wolken. Eine endlose Wolkendecke. Jetzt bekam er Platzangst. Mach, dass du rauskommst! Nach einem letzten tiefen Zug ließ er die Maske los und trennte sich von seinem nutzlosen Helm.

Elias zog sich mit dem gesunden Arm aus dem Cockpit. Dann fiel er auf den Boden. Die Schwerkraft machte sich über ihn lustig. Es kam ihm vor, als würde er immer tiefer in sich selbst hineingetaucht.

Innerhalb dieses Schmerzes trieb eine ferne Ekstase seltsame Blüten. Die ausgerenkte Kniescheibe schnappte in ihr Gelenk zurück - eine Erleichterung von geradezu orgiastischer Intensität.

»O Gott«, stöhnte er. »Gott sei Dank!«

Hektisch keuchend hielt er, mit der Wange im Schlamm liegend, inne und konzentrierte sich auf dieses Glücksgefühl. Er stellte sich eine Tür vor. Wenn er sie nur erreichen könnte, würden alle seine Schmerzen ein Ende haben.

Nach ein paar Minuten fühlte sich Branch ein wenig gestärkt. Die gute Nachricht war die, dass seine Gliedmaßen durch die Übersättigung seines Kreislaufs mit dem Stickstoff taub wurden. Die schlechte Nachricht war das Gas selbst. Das Zeug roch ziemlich übel. Und es schmeckte wie altes Heu.

»... Tango Eins ...«, hörte er.

Branch hob den Blick zur zerdrückten Kabine seines Apache. Die elektronische Stimme kam vom Rücksitz. »Echo . bestätigen .«

Er erhob sich von der schnöden Verlockung des Waldbodens, wobei er nicht einmal nachvollziehen konnte, wie er sich überhaupt bewegen konnte. Aber er musste sich um Ramada kümmern. Er zog und stemmte sich hoch, bis er einigermaßen aufrecht an der kalten Aluminiumhülle lehnte. Sein Schlachtschiff lag auf der Seite und war schwerer beschädigt, als er angenommen hatte. Branch hielt sich an einem Griff fest und warf, auf das Schlimmste gefasst, einen Blick in den hinteren Teil der Kabine.

Der Rücksitz war leer. Ramadas Helm lag auf dem Sitz. Die Stimme meldete sich wieder, jetzt ganz leise und aus weiter Ferne:

»Echo Tango Eins .«

Branch nahm den Helm und stülpte ihn über den Kopf. Er erinnerte sich daran, dass im Inneren des Helms ein Foto des Neugeborenen klebte.

»Hier Echo Tango Eins«, sagte er. Seine Stimme hörte sich in den eigenen Ohren lächerlich an, elastisch und piepsig, wie in einem Zeichentrickfilm.

»Ramada?« Das war Mac, wütend und zugleich erleichtert.

»Hör endlich auf mit dem Scheiß und erstatte Bericht. Seid ihr Jungs in Ordnung? Over.«

»Hier Branch«, identifizierte sich Branch mit seiner absurden Stimme. Hatte er eine Gehirnerschütterung? Der Absturz musste sein Gehör durcheinander gebracht haben.

»Major? Sind Sie das?« Macs Stimme streckte sich quasi nach ihm aus. »Hier Tango Echo Zwo. Wie sieht es bei euch aus? Erbitte Bericht. Over.«

»Ramada ist verschwunden«, sagte Branch. »Die Mühle ist Schrott.«

Mac brauchte einige Sekunden, bis er die Information verdaut hatte. Als er sich wieder meldete, gab er sich absolut professionell:

»Wir haben Sie auf dem Thermal scanner lokalisiert, Major. Direkt neben Ihrem Vogel. Bleiben Sie, wo Sie sind. Wir kommen sofort zu Ihnen. Over.«

»Nein«, quäkte Branch mit seinem Vogelstimmchen. »Negativ. Haben Sie verstanden?«

Keine Antwort von Mac und den anderen Hubschraubern.

»Auf keinen Fall, ich wiederhole, auf keinen Fall näher kommen. Eure Maschinen vertragen diese Luft nicht.«

Widerstrebend akzeptierten sie seine Erklärung. »Äh, in Ordnung. Roger«, sagte Schulbe.

Dann wieder Mac: »In welcher Verfassung befinden Sie sich, Major?«

»Meine Verfassung?« Abgesehen von starken Schmerzen und einem Totalschaden? Keine Ahnung. Vergänglich?

»Halb so wild.«

»Major.« Mac machte eine peinliche Pause. »Was ist mit Ihrer Stimme, Major?«

Konnten sie das auch hören?

»Das liegt am Stickstoff«, diagnostizierte Dr. Christie Chambers, die vom Lager aus ebenfalls zuhörte. Woran sonst, dachte Branch. »Besteht die Möglichkeit, dass Sie wieder an Sauerstoff herankommen, Elias? Versuchen Sie es, es ist wichtig.«

Branch tastete sich umständlich an Ramadas Sauerstoffmaske heran, doch sie musste beim Sturz abgerissen sein. »Ganz vorne.«

»Dann gehen Sie dorthin«, wies ihn Christie an.

»Geht nicht«, erwiderte Branch. Dazu hätte er sich wieder bewegen müssen. Schlimmer noch, dazu musste er Ramadas Helm und damit seinen Kontakt zur Außenwelt aufgeben. Nein, die Funkverbindung war ihm wichtiger als der Sauerstoff. Kommunikation bedeutete Information. Information war Pflichterfüllung. Und Pflichterfüllung war seine Rettung.

»Sind Sie verletzt?«

Er sah an seinen Gliedmaßen herunter. Merkwürdige elektrische Farbstreifen huschten über seine Schenkel, und mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass es sich dabei um Laserstrahlen handelte. Seine Schlachtschiffe durchstreiften damit das ganze Gebiet, um Ziele für ihre Waffensysteme zu finden.

»Ich muss Ramada finden«, sagte er. »Habt ihr ihn nicht auf dem Scanner?«

Mac ließ nicht locker. »Können Sie sich bewegen, Sir?«

Was redeten sie da bloß? Branch lehnte sich erschöpft an seinen Hubschrauber.

»Können Sie gehen, Major? Können Sie aus eigener Kraft von dort weg?«

Branch überlegte kurz, zog auch die dunkle Nacht in Betracht.

»Negativ.«

»Ruhen Sie sich aus, Major. Bleiben Sie, wo Sie sind. Wir haben ein BioChem-Team losgeschickt. Hilfe ist unterwegs, Sir.«

»Aber Ramada .«

»Nicht Ihre Aufgabe, Major. Wir finden ihn schon. Am besten, Sie setzen sich einfach hin.«

Wie konnte ein Mann so einfach verschwinden? Selbst wenn er tot war, musste sein Körper noch einige Stunden Wärme ausstrahlen. Branch hob den Blick und versuchte, Ramada irgendwo dort oben in den Ästen zu entdecken. Vielleicht hatte es ihn auch in diesen Grabtümpel geschleudert.

Jetzt meldete sich eine andere Stimme. »Echo Tango Eins, hier Basis.«

Das war Master Sergeant Jefferson mit ihrer üppigen, tiefen Stimme. Elias hätte am liebsten seinen Kopf an diesen volltönenden Busen gelegt.

»Sie haben Gesellschaft«, sagte Jefferson. »Ich muss Sie davon unterrichten, Major, dass LandSat unidentifizierte Bewegungen nordnordwestlich von Ihnen anzeigt.«

Nordnordwestlich? Seine Instrumente waren tot, er hatte nicht einmal einen Kompass zur Verfügung. Aber Branch beschwerte sich nicht.

»Das ist Ramada«, behauptete er zuversichtlich. Wahrscheinlich war der Navigator aus dem geborstenen Hubschrauber geklettert und tat das, was Navigatoren normalerweise tun: die Lage peilen.

»Major.« Jeffersons Stimme klang jetzt anders. Obwohl alle anderen zuhörten, galt diese Nachricht ihm allein. »Machen Sie, dass Sie da wegkommen.«

Branch klammerte sich an die Seitenwand des Wracks. Wegkommen? Er konnte sich kaum auf den Beinen halten.

»Jetzt hab ich’s auch.« Das war Mac. »Ungefähr fünfzehn Meter weg von Ihnen. Kommt direkt auf Sie zu. Aber wo zum Henker ist der hergekommen?«

Branch warf einen Blick über die Schulter. Die dichten Schwaden lichteten sich wie eine Fata Morgana. Die Gestalt kam aus dem Walddickicht auf ihn zugewankt. Laserstrahlen huschten hektisch über ihre Brust, Schultern und Beine, was sie wie mit moderner Kunst überzogen aussehen ließ.

»Ich bin dran«, gab Mac durch.

»Ich auch.« Teagues tonlose Stimme.

»Verstanden«, sagte Schulbe. Als belauschte man Haie auf der Jagd.

»Sagen Sie wann, Major, und er geht in Rauch auf.«

»Bleibt weg!«, befahl ihnen Branch mit gepresster Stimme. Ihre Lichter versetzten ihn in Panik. So fühlt man sich also, wenn man mein Feind ist. »Nicht schießen! Es ist Ramada ...«

»Ich habe noch mehr Ziele auf dem Radar«, berichtete Master Sergeant Jefferson. »Zwei, vier, fünf weitere Wärmesignale, zweihundert Meter in südöstlicher Richtung, Koordinaten Charlie Mike acht drei .«

Mac schaltete sich ein. »Sind Sie sicher, Major? Absolut sicher?«

Die Laserstrahlen lösten sich nicht auf, sondern fuhren fort, den verlorenen Soldaten mit ihren wild zuckenden Mustern zu bekritzeln. Selbst mit Unterstützung ihrer neurotischen Krakel, selbst mit der faktischen Eindeutigkeit der unmittelbaren Nähe zu Ramada, war sich Branch nicht sicher, ob er sicher sein wollte, dass es sich um seinen Navigator handelte. Er identifizierte den Mann anhand dessen, was von ihm übrig war. Seine Freude erlosch. »Er ist es«, sagte Branch düster. »Er ist es.«

Bis auf seine Stiefel war Ramada völlig nackt. Er blutete am ganzen Körper, sah wie ein gerade eben ausgepeitschter Sklave aus. An seinen Fußknöcheln zog er irgendwelche Fetzen hinter sich her. Waren das die Serben, fragte sich Branch verwundert. Er erinnerte sich an den aufgebrachten Pöbel in Mogadischu, an die toten Ranger, die man wie den gefällten Achilles hinter den Lastwagen hergeschleift hatte. Aber eine derartige Grausamkeit verlangte eine gewisse Zeit und Hingabe, doch seit ihrem Absturz waren zehn, höchstens fünfzehn Minuten vergangen. Vielleicht rührten die Verletzungen ja vom Absturz her, überlegte er, vom geborstenen Plexiglas. Was sonst hätte ihn so schrecklich zerfetzen können?

»Bobby«, rief er leise.

Roberto Ramada hob den Kopf.

»Nein!«, entfuhr es Branch.

»Was geht dort vor, Major? Over.«

»Seine Augen«, sagte Branch. Sie hatten ihm seine Augen genommen.

»Wir verlieren Sie . Tango .«

»Wiederholen bitte, wiederholen .«

»Seine Augen sind weg.«

»Wiederholen bitte, Augen sind .«

»Diese Drecksäcke haben ihm die Augen rausgerissen.«

Einige Sekunden herrschte Stille. Dann meldete sich die Basis wieder: ». neue Sichtung, Echo Tango Eins. Haben Sie verstanden?«

Macs Cyberstimme meldete sich wieder: »Wir haben hier mehrere Gestalten auf dem Schirm, Major. Fünf Wärmequellen. Zu Fuß. Nähern sich Ihrer Position.«

Branch hörte ihm kaum zu. Ramada kam stolpernd heran, als machten ihm ihre Laserstrahlen schwer zu schaffen. Jetzt wurde Branch die Sache allmählich klar. Ramada hatte versucht, durch den Wald zu fliehen, aber nicht die Serben hatten ihn zur Umkehr gezwungen. Der Wald selbst hatte ihm den Durchgang verwehrt.

»Tiere«, murmelte Branch.

»Wiederholen Sie bitte, Major.«

Wilde Tiere. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert war Branchs Navigator soeben von wilden Tieren bei lebendigem Leib halb aufgefressen worden. Der Krieg hatte aus Haustieren wilde Tiere gemacht. Raubtiere waren aus Zoos und Zirkussen entflohen und durchstreiften die Wildnis. Die Anwesenheit wilder Tiere überraschte Branch nicht. Die verlassenen Kohlenschächte in der Umgebung boten ihnen einen hervorragenden Unterschlupf. Aber welches Tier riss seinem Opfer die Augen aus? Krähen vielleicht, die allerdings nicht in der Nacht, jedenfalls hatte Branch davon noch nie etwas gehört. Oder Eulen? Aber doch sicher nicht, solange die Beute noch am Leben war?

»Echo Tango Eins .«

»Bobby«, sagte Branch noch einmal.

Ramada drehte sich in die Richtung, aus der er seinen Namen vernommen hatte und öffnete den Mund. Er wollte etwas antworten, doch aus seinem Mund quoll nur Blut hervor. Er hatte keine Zunge mehr. Und dann sah Branch den Arm. Unterhalb des Ellbogens waren Ramada Haut und Fleisch weggerissen. Die Knochen des Unterarms lagen blank.

Der geblendete Navigator flehte seinen Erlöser an, brachte jedoch nicht mehr als ein klägliches Wimmern zu Stande.

»Echo Tango Eins, nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass .«

Branch schob sich den Helm vom Kopf und ließ ihn an den Kabeln außerhalb des Cockpits herabbaumeln. Mac, Sergeant Jefferson und Christie Chambers würden sich einen Augenblick gedulden müssen. Er musste jetzt Barmherzigkeit walten lassen. Wenn er Ramada nicht zu sich holte, stolperte der Mann womöglich wieder ins unwegsame Gelände hinaus, wo er entweder im Massengrab ertrinken oder vollends von den Raubtieren zerrissen wurde.

Branch nahm all seine Kraft zusammen, richtete sich auf und stieß sich von der Hubschrauberkabine ab. Langsam tappte er seinem Navigator entgegen. »Alles wird gut werden«, sprach er beruhigend auf seinen Freund ein. »Kannst du näher zu mir kommen?«

Ramada war nur noch bedingt ansprechbar. Aber er reagierte auf die Worte und wandte sich in Branchs Richtung. Der schreckliche Knochen hob sich, um Branchs Hand zu schütteln, obwohl ihm selbst die Hand fehlte. Branch wich dem Stummel aus, legte einen Arm um Ramadas Hüfte und zog ihn an sich. Dann kippten sie beide gegen die Überreste des Helikopters.

In gewisser Weise war Ramadas grauenhafter Zustand ein Segen. Im Vergleich dazu fühlte sich Branch wie befreit, denn jetzt musste er sich mit weitaus schlimmeren Wunden als seinen eigenen beschäftigen. Er bettete den Navigator in seinen Schoß und wischte ihm mit der Handfläche Schmutz und Blut aus dem Gesicht. Während er seinen Freund in den Armen hielt, lauschte Branch dem hin und herschaukelnden Helm.

». Echo Tango Eins ...«, leierte das Mantra weiter.

Er saß im Schlamm, den Rücken an sein Schlachtschiff gelehnt und hielt seinen gefallenen Engel umschlungen: eine Pietà im Dreck.

»Major«, zirpte Jeffersons Stimme in die beinahe absolute Stille.

»Sie befinden sich in Gefahr. Haben Sie verstanden?«

»Branch.« Mac klang von dort oben aggressiv, erschöpft und sehr besorgt. »Sie haben es auf Sie abgesehen, Major. Falls Sie mich hören: Gehen Sie in Deckung. Sie müssen sich verstecken.«

Sie kapierten es nicht. Jetzt war doch alles in Ordnung. Er wollte schlafen.

». dreißig Meter noch!«, schrie Mac weiter. »Sehen Sie etwas?«

Wäre er an den Helmfunk herangekommen, hätte Branch ihnen gesagt, sie sollten sich nicht so aufregen. Der Radau, den sie veranstalteten, machte Ramada nur unruhig. Offensichtlich konnte er sie hören. Je mehr sie schrien, desto mehr stöhnte und wimmerte der arme Roberto.

»Schsch, Bobby.« Branch streichelte ihm den blutverschmierten Kopf.

»Noch zwanzig Meter. Direkt vor Ihnen, Major. Sehen Sie etwas? Hören Sie mich?«

Branch gab Macs aufgeregter Stimme nach. Er blinzelte in die salpetrige Fata Morgana, die ihn und Ramada umfing. Es war in etwa so, als starrte man in ein Glas Wasser. Man konnte kaum sechs, sieben Meter weit sehen, dahinter stand eigenartig verzerrt und wie in einem Traum der Wald. Das angestrengte Starren verursachte ihm Kopfschmerzen, und beinahe hätte er es wieder bleiben lassen. Dann sah er etwas.

Die Bewegung geschah am Rande seiner Wahrnehmung und unterstrich die Tiefe des Bildes eher noch, wirkte wie ein bleicher Schatten vor dem dunkleren Wald. Als er den Blick direkt darauf richtete, war sie auch schon verschwunden.

»Sie schwärmen aus, Major. Sie kreisen Sie ein. Wie Raubtiere. Falls Sie mich hören, hauen Sie ab!«

Ramada röchelte. Branch versuchte ihn zu beruhigen, doch der Navigator wurde von einer panischen Angst erfasst. Er schob Branchs Hand weg und heulte ängstlich in Richtung des toten Waldes.

»Sei ruhig«, flüsterte Branch.

»Wir sehen Sie auf dem Infrarot, Major. Gehen davon aus, dass Sie sich nicht bewegen können. Wenn Sie mich hören, halten Sie Ihren Arsch aus der Schusslinie.«

Ramada würde sie mit seinem Lärm ohnehin verraten. Branch sah sich um, und dort, in unmittelbarer Nähe, baumelte seine Sauerstoffmaske von der Kabine herab. Branch packte sie und hielt sie vor Ramadas Gesicht.

Es funktionierte. Ramada hörte auf zu heulen und saugte mit mehreren vollen Atemzügen Sauerstoff ein. Die Krämpfe setzten einen Augenblick später ein.

Später machte niemand Branch für Ramadas Tod verantwortlich. Doch selbst nachdem die Gerichtsmediziner der Armee zu dem Schluss gekommen waren, Ramadas Tod sei durch einen Unfall erfolgt, glaubten nur wenige daran, dass Branch ihn nicht mit Absicht getötet hatte. Einige waren davon überzeugt, er habe dadurch sein Mitleid mit dem verstümmelten Opfer ausgedrückt. Andere meinten, es sei vielmehr ein Beweis für den Selbsterhaltungstrieb eines Soldaten, dass Branch unter diesen Umständen keine andere Wahl geblieben sei.

Ramada krümmte sich in Branchs Umarmung. Die Sauerstoffmaske löste sich. Ramadas Todesqual verschaffte sich in einem lauten Heulen Luft.

»Alles wird gut«, murmelte ihm Branch zu und drückte ihm die Maske wieder aufs Gesicht.

Ramada blies die Wangen auf und saugte sie wieder ein. Er klammerte sich an Branch, ließ nicht locker. Er drückte die Maske auf Ramadas Gesicht, als handelte es sich um Morphium. Nach und nach hörte Ramada auf zu kämpfen. Branch war sicher, dass er eingeschlafen war. Der Regen trommelte gegen den Apache. Ramada erschlaffte.

Branch hörte Schritte. Das Geräusch verlor sich in der Ferne. Er zog die Maske weg. Ramada war tot. Entsetzt fühlte Branch nach dem Puls. Er schüttelte den von allen Qualen erlösten Körper.

»Was habe ich getan?«, fragte Branch laut und wiegte den Navigator in den Armen.

Der Helm sprach mit vielen Zungen: ». in Deckung ... überall ...«

»Kontakt ... Klar zum Feuern .«

»Tut uns Leid, Major ... jetzt Deckung ... ausdrücklicher Befehl .«

Die Schritte kehrten zurück, viel zu schwer für menschliche Wesen, viel zu schnell. Branch sah gerade rechtzeitig hoch. Der salpetrige Schleier klaffte auf. Er hatte sich getäuscht. Was da aus dem Nebel sprang, waren keine Tiere, jedenfalls keine, die die Erde bewohnten. Trotzdem erkannte er sie wieder.

»Mein Gott«, stieß er mit weit aufgerissenen Augen hervor.

»Feuer«, sagte Mac.

Branch hatte schon so manche Gemetzel miterlebt, aber nichts glich dem, was er jetzt erlebte. Das war keine Schlacht. Es war das Ende der Zeiten. Der Regen verwandelte sich in Metall. Die elektronischen Mini-Granatwerfer beharkten den Boden, pflügten die Deckschicht unter, zerstäubten Blätter, Pilze und Wurzeln. Bäume stürzten reihenweise um. Seine Feinde verwandelten sich in etwas, das aussah wie Fleischklumpen am Straßenrand.

Die Apaches hingen unsichtbar in einem Kilometer Entfernung in der Luft, und so sah Branch in den ersten paar Sekunden, wie das Innere der Erde in vollkommener Stille nach außen gekehrt wurde. Der Waldboden brodelte von einschlagenden Geschossen.

Kurz nachdem die Raketen einschlugen, kam der Artilleriedonner an. Die Dunkelheit verschwand mit einem Schlag. Kein Mensch war geschaffen, ein solches Feuerwerk zu überleben. Es dauerte eine Ewigkeit.

Als sie Branch fanden, saß er immer noch an das Wrack seines Hubschraubers gelehnt auf dem Boden und hielt den toten Navigator im Schoß. Das Wrack war schwarz versengt und so heiß, dass man es kaum anfassen konnte. Wie ein negativer Schatten zeichnete sich Branchs Silhouette auf dem Aluminium ab. Das Metall war unversehrt geblieben, geschützt von seinem Körper und seinem Geist. Danach war Branch nie wieder der Alte.



Deshalb ist es notwendig,

daß wir jenen Gesellen ausfindig machen

und erkennen und uns vor ihm in Acht nehmen,

auf daß er uns nicht betöre.


RUDOLPH WALTER, Der Antichrist (1576)

Загрузка...