9 La Frontera — Die Frontier - Die Grenze

GALÂPAGOS-GRABENSYSTEM

Um genau 17.00 Uhr bestiegen die Expeditionsteilnehmer die Elektro-Busse. Sie wurden mit nummerierten Merkblättern, Handbüchern und Kladden versorgt, auf denen groß und deutlich GEHEIM stand. Alle trugen Kleidung mit dem Logo von Helios. Die schwarzen Kappen wirkten sehr martialisch und Ali beschränkte sich auf ein T-Shirt mit dem geflügelten Sonnenmotiv auf dem Rücken. Beinahe lautlos schoben sich die Busse aus dem ummauerten Gelände auf die Straße hinaus.

Mit seinen Horden von Fahrradfahrern erinnerte Nazca City an Peking. In derartig explodierenden Städten mit so engen Straßen war man zu den Stoßzeiten mit dem Fahrrad schneller unterwegs. Ali musterte die Gesichter, registrierte ihre Herkunft aus allen Ländern rings um den Pazifik. Landkarten, deren Geheimhaltung inzwischen aufgehoben war, wiesen Goldgräberstädte wie Nazca als echte Knotenpunkte aus, deren Nervenenden sich bis weit in die Umgebung erstreckten. Der Reiz, den sie ausstrahlten, war simpel: billige Grundstückspreise, jede Menge wertvolle Mineralien und Erdöl, keinerlei behördliche Zwänge, die Chance, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Ali hatte eigentlich deprimierte Flüchtlinge erwartet, Existenzen, die sonst nirgendwo mehr hinkonnten. Aber was sie dort draußen erblickte, waren die Gesichter gut ausgebildeter Bürokaufleute, Bankangestellter und Unternehmer - ein kompletter, hoch motivierter Dienstleistungssektor. Als zukünftigem Umschlagplatz sprach man Nazca City ein ähnliches Potenzial wie San Francisco oder Singapur zu. In nur vier Jahren war die Stadt zur Hauptverbindung zwischen dem äquatorialen Subplaneten und den großen Städten entlang der Westküste Nord- und Südamerikas geworden.

Mit einiger Erleichterung sah Ali, dass die Bewohner von Nazca City normal und gesund aussahen. Die meisten größeren Stützpunkte wie Nazca waren nachträglich mit Lampen ausgerüstet worden, die Tageslicht simulierten, weshalb diese Fahrradfahrer so braun wie Strandläufer waren. In den letzten Jahren hatte es immer wieder Fälle von Knochenauswüchsen, vergrößerten Augen, seltsamen Krebserkrankungen und sogar Ausbildungen von Schwanzstummeln gegeben. Eine Zeit lang hatten religiöse Vereinigungen die Hölle selbst für die körperlichen Verformungen verantwortlich gemacht. Ihrer Meinung nach gab es ein riesiges Straflager unter der Erde, und jede Kontaktaufnahme zog Strafe nach sich. Wenn sich Ali jetzt umsah, hatte sie den Eindruck, als hätten die Arzneimittelfirmen die Prophylaxe für die Hölle inzwischen bestens im Griff. Offensichtlich hatte sie sich ganz umsonst davor gefürchtet, sich hier unten in eine Kröte, einen Affen oder eine Ziege zu verwandeln.

Die Stadt wirkte eher wie ein überdimensionales überdachtes Einkaufszentrum mit eingetopften Bäumen und blühenden Büschen. Es gab Restaurants, Coffee Bars und hell erleuchtete Kaufhäuser, in denen von Arbeitskleidung über sanitäre Einrichtung bis hin zu Sturmgewehren alles zur Auswahl stand. Der ordentliche Eindruck wurde lediglich von einigen Bettlern mit fehlenden Gliedmaßen sowie den Schmugglerware feilbietenden fliegenden Händlern ein wenig getrübt.

Ali blickte hinaus. Eine lange Wurst aus Gaze zog sich neben der Straße hin, etwa sieben Meter hoch und ungefähr so lang wie ein Fußballplatz. Die Vorderseite war mit ins Auge fallenden hangul-Buchstaben versehen. Ali konnte kein Koreanisch, doch sie wusste sehr wohl, was ein Treibhaus war. Es gab noch mehr davon. Wie riesige plumpe Larven lagen sie auf dem Boden ausgestreckt. Durch die milchigtrüben Hüllen sah sie Feldarbeiter, die Gemüse aus dem Boden zogen oder in Obstgärten auf kleinen Leitern standen. Papageien und Aras segelten an dem Buskonvoi vorbei. Ein Affe begleitete sie eine Weile hüpfend. Den hier illegal eingedrungenen Tierarten schien es auffällig gut zu gehen.

Sie erreichten eine vor noch nicht allzu langer Zeit dem Stein abgerungene Ringstraße, die um die Stadt herumführte, und ließen das Gewühl aus Fahrradfahrern hinter sich. Mit zunehmender Geschwindigkeit erhielten sie einen neuen Eindruck von dem gewaltigen hohlen Salzdom, der diese Kolonie barg. Es war wie Leben in einem Einweckglas. Das gesamte Gewölbe, das ungefähr fünf Kilometer im Durchmesser und vielleicht dreihundert Meter in der Höhe maß, war hell erleuchtet. Oben in der richtigen Welt musste bald die Sonne untergehen. Hier unten gab es keine Nacht. Das künstliche Sonnenlicht von Nazca City brannte 24 Stunden am Tag.

Bis auf ein leichtes Dösen war in der vergangenen Nacht nicht an Schlaf zu denken gewesen. Die kollektive Aufregung der Gruppe grenzte ans Kindische, und auch Ali wurde vom Geist des Abenteuers gepackt. Die allerletzten Vorbereitungen ihrer Mitreisenden empfand sie als rührend. Sie beobachtete einen Burschen auf dem Sitz schräg gegenüber, der sich mit vornübergebeugtem Oberkörper die Fingernägel mit einer derartigen Akkuratesse schnitt, als hinge sein gesamtes zukünftiges Leben davon ab. Ein wenig neidisch hatte sie zugehört, wie die Leute noch einmal Ehegatten, Geliebte oder Eltern anriefen und ihnen versicherten, dass es hier im Subplaneten völlig ungefährlich sei. Ali sprach für sie alle ein stilles Gebet.

Die Busse hielten in der Nähe eines Bahnhofs, und die Passagiere stiegen aus. Obwohl er brandneu sein musste, wirkte der Zug altmodisch. Es gab einen Bahnsteig mit einem schwarz und entengrün bemalten Eisengeländer. Weiter hinten bestand der Zug hauptsächlich aus Güterund Erzwagen. Schwer bewaffnete Soldaten patrouillierten die Bahnsteige am Ende des Zuges entlang, wo flache Wagen von Arbeitern mit Ausrüstungskisten beladen wurden. Die drei vorderen Waggons waren elegante, außen mit Aluminium verkleidete und innen mit imitierter Kirsche und Eiche ausgestattete Schlafwagen. Wieder einmal staunte Ali darüber, wie viel Geld in die Entwicklung hier unten gepumpt wurde. Vor nur fünf oder sechs Jahren war das alles wahrscheinlich noch Hadal-Territorium gewesen. Die luxuriösen Schlafwagen kündeten davon, wie zuversichtlich die Führungsspitze hinsichtlich der menschlichen Okkupation war.

»Wohin bringen sie uns jetzt?«, murmelte jemand laut. Er war nicht der Einzige. Stimmen waren laut geworden, Helios hülle sich hinsichtlich der einzelnen Stationen der Reise unnötig in Geheimnisse. Ohnehin wisse niemand, wo sich ihre Forschungsstation befinden.

»Punkt Z-3«, antwortete Montgomery Shoat.

»Davon habe ich noch nie gehört«, meldete sich eine Frau zu Wort, eine von den Planetologen.

»Gehört zu Helios«, erwiderte Shoat. »Ganz weit draußen.«

Ein Geologe entfaltete ein Messtischblatt, um Punkt Z-3 zu suchen. »Das finden Sie nicht auf Ihrer Karte«, fügte Shoat mit hilfsbereitem Lächeln hinzu. »Das spielt jedoch keine große Rolle, wie Sie schon bald erkennen werden.«

Seine Nonchalance rief einiges Murren hervor, was er jedoch ignorierte.

Am Abend zuvor war ihnen Shoat anlässlich eines von Helios organisierten Banketts für die frisch eingetroffenen Wissenschaftler als ihr Expeditionsleiter vorgestellt worden. Er war eine für die Aufgabe hervorragend ausgesuchte Figur mit kräftigen, an den Armen hervorstehenden Adern und unverkennbar großer sozialer Energie, gleichzeitig wirkte er auf eigenartige Weise abstoßend, was nicht nur an dem unglücklichen, vor Ehrgeiz zusammengekniffenen Gesicht mit dem schiefen Gebiss lag. Es war seine ganze Art, dachte Ali. Seine Überheblichkeit. Er bediente sich eines sehr begrenzten Repertoires an Charme, kümmerte sich aber nicht darum, ob man davon beeindruckt war. Hinterher erfuhr Ali gerüchteweise, er sei ein Stiefsohn des Heliosmagnaten C. C. Cooper. Es gab noch einen anderen, legitimen Sohn und Erben des Cooperschen Vermögens, was Shoat dazu zwang, gefährlichere Aufgaben zu übernehmen - wie z. B. Wissenschaftler zu weit abgelegenen Vorposten des Helios-Imperiums zu begleiten. Es hörte sich fast nach Shakespeare an.

»Hier drinnen werden wir uns die nächsten drei Tage aufhalten«, verkündete er ihnen. »Brandneue Waggons. Suchen Sie sich ein Abteil aus. Wenn Sie wollen, auch Einzelbelegung. Es ist genügend Platz vorhanden.« Er verfügte über die Großspurigkeit eines Mannes, der daran gewöhnt ist, den Gastgeber in einem Haus zu spielen, das ihm eigentlich nicht gehört. »Machen Sie sich’s gemütlich. Einen Waggon weiter finden Sie einen Speisewagen. Wer will, kann auch den Zimmerservice rufen und sich einen Film anschauen. Wir haben keine Kosten gescheut. Helios wünscht Ihnen eine gute Reise.«

Niemand drängte weiter auf die Bekanntgabe ihres Zielortes. Ein angenehmes Bimmeln kündigte ihre Abfahrt an. Wie ein Floß, das auf einen sich träge dahinwälzenden Strom hinaustrieb, schob sich die Helios-Expedition geräuschlos tiefer ins Erdinnere. Die Geleise führten fast unmerklich nach unten. Als Hauptantriebsquelle wurde die Schwerkraft genutzt. Die Lok war hinten angehängt und nur dazu da, die Wagen zu diesem Bahnhof zurückzuziehen. Unaufhörlich vom Mittelpunkt der Erde angezogen, ließ ein Waggon nach dem anderen die funkelnden Lichter von Nazca City hinter sich.

Sie näherten sich einem Tor mit der Aufschrift PORTAL 6. Der Zug glitt durch eine schmale Wand gestauter Luft, eine Klimaschleuse, dann waren sie drinnen. Sofort sanken sowohl Temperatur als auch Luftfeuchtigkeit. Das tropische Klima von Nazca City verflüchtigte sich. In dem Eisenbahntunnel war es fünf Grad kälter, und die Luft war trocken wie in der Wüste. Ali wurde bewusst, dass sie jetzt endlich die unverfälschte Hölle betreten hatten. Doch hier gab es weder Feuer noch Schwefel. Man kam sich eher vor wie auf einer staubigen Hochebene.

Die Schienen glänzten, als sei jemand mit dem Polierlappen darüber hinweggegangen. Der Zug wurde schneller, und alle suchten ihre Plätze auf. Ali fand einen Bastkorb mit frischen Orangen, Toblerone und Keksen in ihrem Abteil vor. Der kleine Kühlschrank war gut ausgestattet. Auf dem Kopfkissen in ihrer Koje lag eine einzelne rote Rose. Als sie sich hinlegte, sah sie über sich einen Videobildschirm, auf dem man aus hunderten Titeln ausgewählte Filme ansehen konnte. Sie verrichtete ihre Nachtgebete und fiel in einen traumlosen Schlaf.

Am nächsten Morgen zwängte sich Ali in die enge Duschkabine und ließ das heiße Wasser durchs Haar rinnen. Die Annehmlichkeiten waren nicht zu fassen. Sie hatte den Zimmerservice bestellt und setzte sich zu einem Omelette mit Toast und Kaffee an das winzige Fenster. Die runde Scheibe erinnerte an das Bullauge eines Schiffes. Dahinter war nichts als Dunkelheit, was ihrer Meinung nach die kleinen Öffnungen rechtfertigte. Erst dann sah sie die Aufschrift ELLIS - SCHUSSSICHERES GLAS auf der Scheibe.

Um neun Uhr begann das Gruppentraining im Speisewagen. Am ersten Morgen im Zug beschränkte man sich auf eine kurze Rekapitulation der Kenntnisse, die sie sich in den vergangenen Monaten hatten aneignen sollen: Erste Hilfe, Klettertechniken, grundsätzliche Waffenkunde und so weiter. Die meisten hatten ihre Hausaufgaben gemacht, wodurch die Sitzung eher als Aufwärmphase diente.

Am Nachmittag weitete Shoat den Unterricht aus. An einem Ende des Speisewagens wurden Diaprojektoren und ein großer Videoschirm aufgestellt. Shoat kündigte Vorführungen von Expeditionsteilnehmern über ihre jeweiligen Spezialgebiete an. Die ersten beiden Vortragenden waren ein Biologe und ein Mikrobotaniker. Ihr Thema war der Unterschied zwischen Troglobiten, Trogloxenen und Troglophilen. Die erste Kategorie lebte tatsächlich in einer troglo oder höhlenartigen Umgebung. Die Hölle war ihre biologische Nische. Die Zweiten, die xenes, mussten sich erst allmählich daran anpassen, so wie etwa die augenlosen Salamanderarten. Die Dritte, die troglophiles, wie Fledermäuse und andere Nachttiere, suchten die unterirdische Welt nur gelegentlich auf der Suche nach Nahrung oder einem Nistplatz auf. Den restlichen Nachmittag über stellte sich noch eine ganze Reihe weiterer Spezialisten vor.

Nach einem Mittagessen mit Hamburgern und kaltem Bier hatte man ihnen einen neuen Hollywood-Film versprochen. Doch der Projektor funktionierte nicht, und an diesem Punkt fing Shoat an zu straucheln. Seinen Orientierungstag hatten bisher Wissenschaftler bestritten, die daran gewöhnt waren, öffentlich zu sprechen oder zumindest ihre Themengebiete einigermaßen anschaulich zu erklären. Shoats Versuch, den Abend mit einem anderen Unterhaltungsprogramm zu beleben, war etwas ganz anderes.

»Da wir uns inzwischen besser kennen gelernt haben«, verkündete er, »möchte ich Ihnen einen Burschen vorstellen, dem wir uns alle schon bald anvertrauen werden. Wir können von großem Glück reden, dass wir ihn der U.S. Army ausspannen konnten, wo er ein berühmter Kundschafter und Fährtenleser war. Ihm eilt der Ruf voraus, ein vorbildlicher Ranger zu sein, ein wahrer Veteran der Tiefe. Dwight«, rief er. »Dwight Crockett. Ich sehe Sie dort hinten. Nur keine falsche Scham. Kommen Sie nach vorne!«

Shoats Fährtenleser war offensichtlich nicht auf so viel Rummel um seine Person vorbereitet. Er, wer auch immer er sein mochte, sträubte sich gegen Shoats Aufforderung, und nach einigen Sekunden drehte sich Ali um. Bei dem widerspenstigen Dwight handelte es sich ausgerechnet um den Fremden aus dem Fahrstuhl. Was um alles in der Welt hatte er hier verloren?

Nachdem alle Augen auf ihn gerichtet waren, stieß sich Dwight von der Wand ab und stellte sich gerade hin. Er trug neue Levis und ein weißes Hemd, das am Hals eng geschlossen und an den Handgelenken zugeknöpft war. Seine dunkle Gletscherbrille glitzerte wie die Augen eines Insekts. Er wirkte so fehl am Platz, wie manche Rancharbeiter, die Ali damals im texanischen Hügelland gesehen hatte, kauzige Einzelgänger, die sich in menschlicher Gesellschaft so unwohl fühlten, dass sie am besten in ihren einsamen Bretterbuden weit draußen aufgehoben waren. Die Tätowierungen und Narben auf seinem Gesicht ließen einen gewissen Mindestabstand ratsam erscheinen.

»Soll ich jetzt irgendetwas sagen?«, fragte er aus dem Hintergrund.

»Kommen Sie doch nach vorne, wo wir Sie alle sehen können«, forderte ihn Shoat beharrlich auf.

»Das gibt’s doch nicht«, flüsterte jemand neben Ali. »Ich habe schon von diesem Kerl gehört. Ein richtiger Bandit.«

Dwight drückte sein Missfallen nur mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln aus. Als er schließlich nach vorne kam, teilte sich die Menge.

»Dwight ist derjenige, der Ihnen wirklich etwas erzählen kann«, sagte Shoat. »Er hat keine höhere Schulbildung genossen, er verfügt über keine besondere akademische Ausbildung. Wenn es jedoch um Erfahrung draußen im Feld geht ... Er hat acht Jahre in der Gefangenschaft der Hadal zugebracht. In den letzten drei Jahren hat er die Haddies für die Rangers, die Special Forces und die SEALS gejagt. Keiner von uns hat sich jemals auf die andere Seite der elektrifizierten Zone gewagt. Aber unser Freund Ike hier kann uns berichten, wie es ist. Dort draußen.«

Shoat setzte sich. Jetzt war Ike an der Reihe.

Er stand vor seinem applaudierenden Publikum, und seine Unbeholfenheit wirkte liebenswert, vielleicht sogar ein bisschen Mitleid erregend. Ali schnappte einige der gemurmelten Bemerkungen auf. Deserteur. Berserker. Kannibale. Sklaventreiber. Tier. Alle diese Kommentare wurden atemlos ausgestoßen, beinahe bewundernd. Eigenartig, dachte sie, wie sich Legenden bilden. Sie ließen ihn wie einen Soziopathen erscheinen, dabei waren sie von ihm angezogen, von der Romantik seiner angeblichen Taten fasziniert.

Dwight ließ sie in ihrer Neugier baden. Stille breitete sich aus, und die Leute fingen an, unsicher auf ihren Stühlen zu rutschen. Ali hatte schon Hunderte von Malen gesehen, wie sich Amerikaner und Europäer in Situationen des Schweigens wanden. Im Gegensatz dazu wirkte Dwight geduldig und gelassen. Schließlich wurde sein Schweigen zu viel.

»Haben Sie nichts zu sagen?«, fragte Shoat.

Dwight zuckte die Achseln. »Wissen Sie, das heute war der interessanteste Tag für mich seit langem. Ihr Leute hier versteht euer Geschäft wirklich.«

Shoat war verärgert. Vielleicht hatte er sich die ganze Sache als Horrorkabinett gedacht. »Wie sieht’s mit Fragen aus? Irgendwelche Fragen?« »Mr. Crockett«, fing eine Frau vom MIT an. »Oder soll ich Sie lieber mit Captain oder einem anderen Rang ansprechen?«

»Nein«, antwortete er, »bei denen bin ich rausgeflogen. Ich habe keinen Rang mehr. Und den Mister können Sie auch weglassen.«

»Schön, dann also Dwight«, fuhr die Frau fort. »Ich wollte fragen, ob .«

»Nicht Dwight«, unterbrach er sie. »Ike.«

»Ike?«

»Fahren Sie fort.«

»Die Hadal sind verschwunden«, sagte sie. »Tag für Tag drängt die Zivilisation die Nacht ein kleines Stück weiter zurück. Ich möchte gerne wissen, ob es dort draußen wirklich so gefährlich ist.«

»Alle Dinge können aus dem Ruder laufen«, antwortete Ike ausweichend.

»Aber es besteht doch wohl keine Gefahr für uns?«, fragte die Frau.

Ike sah Shoat an. »Hat Ihnen dieser Mann das erzählt?«

Ali fühlte sich unwohl. Der seltsame Bursche wusste etwas, was sie nicht wussten.

Shoat trieb die Diskussion hastig voran.

»Weitere Fragen?«, sagte er.

Ali erhob sich. »Sie waren ihr Gefangener«, sagte sie. »Würden Sie uns ein wenig von ihren Erfahrungen mitteilen? Was haben sie mit Ihnen gemacht? Wie sind diese Hadal eigentlich?«

Im Speisesaal wurde es still wie in einem Grab. Das war eine Lagerfeuergeschichte, der sie die ganze Nacht hindurch lauschen würden.

Aber Ike lächelte sie abwehrend an. »Zu jener Zeit habe ich nicht viel zu sagen.«

Enttäuschung machte sich breit.

»Sind Sie der Meinung, dass die Hadal immer noch irgendwo dort draußen sind? Besteht die Chance, dass wir welche von ihnen zu Gesicht bekommen?«, fragte jemand.

»Dort, wohin wir fahren?«, fragte Ike zurück. Wenn sich Ali nicht täuschte, provozierte er Shoat absichtlich, indem er sich am Rande von Informationen bewegte, die man ihnen bislang noch vorenthalten wollte.

Shoat wurde noch ärgerlicher.

»Wohin fahren wir eigentlich?«, wollte jetzt ein anderer Mann wissen.

»Kein Kommentar«, antwortete Shoat für Ike.

»Sind Sie schon jemals in unserem Zielgebiet gewesen?«

»Noch nie«, sagte Ike. »Natürlich habe ich schon etliche Gerüchte gehört. Aber ich hätte sie niemals für wahr gehalten.«

»Gerüchte worüber?«

Der Zug schlingerte plötzlich leicht und wurde zu einem kurzen Halt abgebremst. Alle gingen an die kleinen Fenster, und Ike war erst einmal vergessen. Shoat stellte sich auf einen Stuhl.

»Schnappt euch euer Gepäck und eure Habseligkeiten, Leute. Wir müssen umsteigen.«

Ali teilte sich einen offenen Plattform wagen mit drei Männern und etlichen Frachtstücken, überwiegend schwere Maschinenteile. Sie lehnte sich an eine Kiste mit der Aufschrift SUBPLANET, DIFFERENZIALGETRIEBE. Einer der Männer hatte Blähungen und grinste die ganze Zeit über entschuldigend.

Die Fahrt verlief reibungslos. Der Tunnel mit seinem gleichmäßigen Durchmesser von sieben Metern war von Menschen geschaffen. Das Schienenbett bestand aus zermahlenem, mit Öl besprühtem Schotter. Von oben sickerte rostiges Licht aus nackten Glühbirnen herab. Ali musste die ganze Zeit über an ein sibirisches Straflager denken. An den Schachtwänden verliefen Drähte, Kabel und Rohre. Nach den Seiten gingen immer wieder Nebenschächte ab. Kein Mensch war zu sehen, immer nur Raupenfahrzeuge, Verladeeinrichtungen, Bagger, aufgestapelte Gummireifen und Betonfundamente. Die Geleise unter ihren Rädern gaben ein lückenlos dahingleitendes Geräusch von sich. Ali vermisste das Schlackern der Schienen. Sie erinnerte sich an eine Eisenbahnreise mit ihren Eltern, auf der sie bei diesem Rhythmus eingeschlafen war, während die Welt draußen vorüberzog.

Ali reichte dem Mann, der noch wach war, einen ihrer frischen Äpfel aus den Gewächshäusern von Nazca City.

»Meine Tochter mag Äpfel sehr gerne«, sagte er und zeigte ihr ein Bild.

»Ein hübsches Mädchen«, sagte Ali.

»Haben Sie auch Kinder?«, erkundigte er sich.

Ali zog sich die Jacke bis über die Knie.

»Ich glaube, ich könnte nicht ertragen, ein Kind zurückzulassen«, antwortete sie rasch. Der Mann zuckte zusammen. »So habe ich es nicht gemeint«, fügte Ali rasch hinzu.

Der Zug glitt gleichmäßig dahin, ohne abzubremsen, ohne jemals stehen zu bleiben. Ali und ihre Nachbarn improvisierten eine Latrine mit einem Minimum an Privatsphäre, indem sie einige Kisten auseinanderschoben. Sie aßen gemeinsam zu Mittag, wobei jeder seinen Teil beisteuerte. Gegen Mitternacht hellten die Wände von Zimt zu hellgelb auf. Als der Zug an einer langen Reihe maritimer Fossilien vorüberfuhr, schliefen fast alle. Hier gab es Außenskelette zu sehen, dort uraltes Seegras, dort einen Schwarm winziger Brachipoden. Der Bohrschneider hatte sich ungestraft durch den wertvollen Fund gefräst.

»Hast du das gesehen, Mapes!«, brüllte eine Stimme auf dem Wagen vor ihr. »Anthropoda!«

»Trilobitomorpha!«, kam die begeisterte Antwort von hinten. »Sieh dir nur diese Rückenfurchen an! Mensch, ich glaub ich träume!«

»Der hier, Mapes! Frühes Ordovizium!«

»Ach was, Ordovizium!«, brüllte Mapes. »Kambrium, Mensch! Sehr frühes. Und der Stein dort! Ach du Scheiße, vielleicht sogar spätes Präkam!«

Die Fossilien sprangen, ringelten und verwoben sich in einem kilometerlangen Gobelin. Dann wurden die Wände wieder kahl.

Um drei Uhr morgens kamen sie zum ersten Mal an Spuren eines Überfalls vorbei. Zuerst sah es nach kaum mehr als einem Autounfall aus. Es begann mit einem lang gezogenen Kratzer an der linken Wand, wo irgendein Fahrzeug gegen den Fels geprallt sein musste. Die Spur sprang abrupt zur rechten Wand, wo sie zu einer tiefen Furche wurde, prallte wieder auf die gegenüberliegende Seite und abermals zurück.

Die Spuren wurden gewalttätiger, verwirrender. Abgerissene Steinbrocken vermischten sich mit Scheinwerferglas, dann folgte ein zerrissenes Stück schweren Maschendrahts. Die Rillen und Kratzer setzten sich auf der linken Seite fort, dann wieder rechts. Das verrückte Hin- und Herspringen hörte erst mehrere Kilometer weiter unten auf. Nur ein wirres Metallknäuel war von der turbulenten Fahrt übrig geblieben.

Sie rauschten vorbei. Der Fels war rußgeschwärzt und von tiefen Rillen überzogen. Ali erinnerte sich an ihre Aufenthalte in afrikanischen Kriegsgebieten, als sie das sternförmige Spritzmuster einer Explosion erkannte.

Hinter der nächsten Kurve kamen sie an zwei weiße Kreuze, die auf lateinamerikanische Weise in einer seitlichen Grotte aufgestellt waren. In das Felsgestein waren Haarbüschel, Kleiderfetzen und Tierknochen genagelt worden. Häute. Abgezogene Haut. Es war eine Gedenkstätte.

Danach legten sie viele Kilometer in tiefem Schweigen zurück. Hier, vor ihren Augen, lagen all ihre Kindheitslegenden von verzweifelten Kämpfen gegen biblische Mutanten. Das hier war kein Fernsehbericht, den man einfach ausstellen konnte, nicht die Höllenvision eines Dichters in einem Buch, das man zurück ins Regal stellen konnte. Das hier war die Welt, in der sie jetzt lebten.

Irgendwann zweigten ungefähr jeden Kilometer Seitenwege und grob gehauene Tunnel ab, die manchmal als Lager oder Mine identifiziert wurden, anonym und abweisend. Bei einigen davon konnte man an ihren Endpunkten winzige Lichtquellen erkennen. Andere waren dunkel wie tiefe Brunnen, verlassen. Was waren das für Leute, die sich in eine solche Zurückgezogenheit begaben. H. G. Wells hatte es in seiner Zeitmaschine durchaus richtig beschrieben: Die Unterwelt war nicht von Dämonen, sondern von Proleten bevölkert.

Ali roch die Siedlung, lange bevor sie sie erreicht hatten. Der Dunst bestand zum Teil aus Erdöl, zum Teil aus ungeklärtem Abfall, aus Kordit und Staub. Ihre Augen tränten. Die Luft wurde dicker, dann faulig. Es war fünf Uhr morgens.

Die Tunnelwände weiteten sich und öffneten sich dann über einem von Höhlen zernarbten, im Dreck schier erstickenden Schacht, der von türkisblauen, mit mehreren Scheinwerfern angestrahlten Klippen überragt wurde. Ansonsten war Punkt Z-3, vor Ort auch »Esperanza« genannt, nur schwach beleuchtet. Die Last der Dunkelheit wog hier offensichtlich zu schwer, als dass man sie mit der spärlichen Stromration aus Nazca City abschütteln konnte. Trotz der farbenfrohen Klippen machte der Ort keinen freundlichen Eindruck - schon gar nicht als Wohnort für das ganze kommende Jahr.

»Hier hat Helios ein Forschungsinstitut hingestellt?«, fragte einer von Alis Reisegefährten. »Wozu das denn?«

»Ich habe eigentlich etwas Moderneres erwartet«, ergänzte ein anderer. »Hier sieht’s aus, als hätten sie nicht mal Wasserspülung.«

Der Zug schob sich durch eine Öffnung im funkelnden Gestrüpp eines rasiermesserscharfen Stacheldrahtverhaus. Ein Stück weiter sahen sie ziemlich weit oben einen vertrockneten Körper hängen. Das Wesen zog eine beinahe fröhliche Grimasse.

»Hadal«, sagte ein Wissenschaftler. »Muss wohl versucht haben, die Siedlung anzugreifen.«

Alle reckten die Hälse. Die Fetzen, die von dem Leichnam herab hingen, waren jedoch zweifellos amerikanische Militärkleidung. Der Soldat hatte versucht, über den Stacheldraht zu klettern. Etwas musste hinter ihm her gewesen sein.

Die Geleise endeten innerhalb eines Bunkerkomplexes, der vor blitzenden Kanonen nur so starrte. Über seine Funktion bestand nicht der geringste Zweifel. Bei einem Angriff auf die Siedlung konnten sich die Bewohner hierher zurückziehen. Der Zug war ihre letzte Chance, von hier wegzukommen.

Jetzt schob sich der Zug in den Bunker, stoppte, und sofort machten sich mehrere Gruppen von Bahnarbeitern mit großen Händen und bloßen Füßen an die Arbeit. Diese Leute waren dermaßen degeneriert, dass einige von ihnen selbst anatomisch kaum noch als Menschenwesen zu erkennen waren. Es lag nicht nur an ihren Muskelbergen, den Abraham-Lincoln-Augenbrauen oder den gutturalen Lauten, mit denen sie sich verständigten. Sie rochen auch anders, irgendwie nach Moschus. Und bei einigen wuchsen merkwürdige Knochen aus der Haut. Viele hatten sich die Köpfe mit Streifen aus Sackleinwand verbunden, um sich vor dem trüben Licht der Verladestation zu schützen. Während Ali und die anderen von den Plattformwagen herunter stiegen, lösten die Bahnarbeiter Ketten und Haltegurte und entluden die schweren Kisten mit der Hand. Ali war von ihrer gewaltigen Kraft und ihren Verunstaltungen fasziniert. Mehrere der Riesen registrierten ihre Aufmerksamkeit und lächelten.

Zwischen Kartons, Kisten und Bergbaugeräten wanderte Ali an den Waggons entlang. Auf einem flachen Vorsprung, der dramatisch über den Rand des großen Abgrunds hinausragte, stieß sie zu den anderen. Der Vorsprung war von einem steinernen Geländer umgeben, wie man es von den Aussichtsplattformen am Grand Canyon kannte. An Stelle von Münzfernrohren war das Geländer hier jedoch mit Geschützhalterungen und Kanonen bestückt. Tief unten sah sie das obere Teilstück eines Pfades, der sich an der Wand des Absturzes entlangschlängelte, bis er von der pechschwarzen Dunkelheit verschluckt wurde.

Ein paar der Ortsansässigen gesellten sich zu den Expeditionsteilnehmern. Sie mussten sich schon seit Monaten oder Jahren nicht mehr gewaschen haben. Die Flicken auf ihrer vor Dreck starrenden Kleidung sahen nicht wie angenäht, sondern wie angelötet aus. Sie starrten die Neuankömmlinge mit ihren Bergarbeiteraugen an, weiß leuchtenden Löchern in rußverschmierten Gesichtern. Ali konnte sich nicht des Eindrucks einer milden Form von Schwachsinn erwehren, ähnlich dem stupiden Gleichmut, der manche Zootiere befällt. Die Griffe an ihren Pistolen und Macheten glänzten speckig. Offensichtlich wurden sie häufig benutzt.

Ein verhungert aussehender Mann hielt im Auftrag der Gemeinde eine Begrüßungsrede. Ali vermutete, dass er der Bürgermeister war. Er zeigte stolz hinauf zu den Türkisklippen und erging sich dann in einem historischen Abriss der Stadt Esperanza, angefangen von der ersten menschlichen Niederlassung vor vier Jahren über die Ankunft der Eisenbahn ein Jahr darauf und den zwei Jahre zurückliegenden Angriff, der von der hiesigen Bürgerwehr mutig zurückgeschlagen worden sei, bis hin zu den neuesten Gold-, Platin- und Iridiumfunden. Schließlich holte er zu einer Beschreibung der Zukunft seiner Stadt aus, den Plänen für Wolkenkratzer entlang der Steilklippe, einen Atomreaktor, Beleuchtung rund um die Uhr in der gesamten Höhle, einer professionellen Sicherheitstruppe, einen zweiten Tunnel, ja, eines Tages vielleicht sogar ein eigener Aufzugsschacht zur Oberfläche.

»Entschuldigung«, unterbrach ihn jemand. »Wir haben eine lange Fahrt hinter uns. Wir sind müde. Wenn Sie uns jetzt verraten würden, wo sich die Forschungsstation befindet?«

Der Bürgermeister starrte hilflos auf seine Notizen.

»Forschungsstation?«, fragte er verwundert.

»Das wissenschaftliche Institut«, rief ein anderer.

Shoat trat vor den Bürgermeister. »Bitte begeben Sie sich doch erst einmal hinein«, wandte er sich an die Wissenschaftler und deutete auf den Bunker. »Wir haben für warmes Essen und sauberes Wasser gesorgt. In einer Stunde gibt es für alles eine nähere Erklärung.«

»Es gibt keine Forschungsstation«, verkündete Shoat.

Erzürntes Aufheulen. Shoat wiegelte mit einer Handbewegung ab. »Keine Station«, wiederholte er. »Kein Institut. Kein Hauptquartier. Keine Labors. Nicht einmal ein Basislager. Alles reine Erfindung.«

»Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«, schrie eine Frau.

»Im Auftrag von Helios hüte ich das größte Geschäftsgeheimnis aller Zeiten«, erwiderte Shoat. »Es handelt sich dabei um geistiges Eigentum, abgesehen von einem nicht unbeträchtlichen geographischen Besitz.«

»Was quatschen Sie da überhaupt?«

»Helios hat gewaltige Summen ausgegeben, um den Wissensstand zu entwickeln, der Ihnen alsbald zugänglich gemacht wird. Es geht um das letzte große Geheimnis dieser Welt.«

»Gefasel!«, brüllte jemand. »Sagen Sie uns sofort, wohin Sie uns entführen wollen! Sonst ...«

Shoat zuckte nicht einmal mit der Wimper.

»Ich darf Ihnen den Leiter der kartografischen Abteilung von Helios vorstellen«, sagte er und öffnete eine Tür.

Der Kartograf war ein winziger Mann mit Beinstützen. Sein Kopf war zu groß für seinen Körper. Er lächelte mechanisch. Da Ali ihn nicht im Zug gesehen hatte, vermutete sie, dass er schon vorher eingetroffen war, um sich auf sie vorzubereiten. Der Mann machte das Licht

aus. »Vergessen Sie den Mond«, dozierte er.

»Vergessen Sie den Mars. Sie werden schon bald über den Planeten innerhalb unseres Planeten wandern.«

Ein Videoschirm flackerte auf. Das erste Bild war eine Standaufnahme einer vergilbten Landkarte von Mercator. »Hier sehen Sie die Welt von 1587«, sagte der kleine Mann, dessen Silhouette am unteren Rand des großen Bildschirms hin und her tanzte. »In Ermangelung unverbrüchlicher Tatsachen, bediente sich der junge Mercator der Berichte des Marco Polo, die ihrerseits auf unbestätigtem Hörensagen und auf Überlieferungen basierten. Zum Beispiel das hier« - er zeigte auf ein missgestaltetes Australien - »war frei nach der Phantasie gestaltet. Eine mittelalterliche Hypothese, mehr nicht. Allein die Logik besagte, dass die Kontinente im Norden von Kontinenten im Süden ausbalanciert werden mussten, also erfand man einen mythischen Ort namens Terra Australis Incognita, den Mercator auf dieser Landkarte eingetragen hat. Und jetzt kommt die wundersame Überraschung: Mit Hilfe dieser Karte fanden die Seefahrer Australien.«

Der Kartograf zeigte mit dem Stift nach oben. »Dort oben befindet sich eine zweite Landmasse, die allein Mercators Phantasie entsprang. Man nannte sie Polus Arcticus. Und auch in diesem Falle entdeckten die Forscher die Arktis, indem sie sich auf eine Fiktion davon verließen. Einhundertundfünfzig Jahre später zeichnete der französische Kartograf Philippe Buache einen gigantischen - und nicht minder phantastischen -antarktischen Pol, um Mercators imaginäre Arktis auszutarieren. Und auch diesmal wurde die Landmasse von Forschern entdeckt, die eine rein fiktive Karte benutzten. Genau so verhält es sich mit der Hölle und dem, was Sie jetzt gleich sehen werden. Man könnte sagen, meine kartografische Abteilung hat eine Realität erfunden, damit Sie sie erforschen können.«

Ali blickte sich um. Die einzige Gestalt, die ihr im Publikum auffiel, war Ike. Ihr Interesse für ihn war ihr unerklärlich. In dem verdunkelten Raum sah er mit seiner Sonnenbrille besonders merkwürdig aus.

Aus der alten Karte wurde ein großer Globus, der sich hinter dem Kartografen auf dem Bildschirm drehte. Es handelte sich um eine Satellitenaufnahme in Realzeit. Wolken ballten sich vor Bergmassiven oder trieben über blauen Meeren dahin. Auf der Nachtseite glommen die Lichter der Städte wie Waldbrände.

»Das hier nennen wir Level I«, sagte der Kartograf. Als der weite Pazifik vor ihnen lag, hielt der Globus an. »Bis zum Zweiten Weltkrieg waren wir sicher, dass der Meeresboden eine gewaltige ebene Fläche war, bedeckt von einer gleichmäßigen Schicht Meeresablagerungen. Dann wurde der Radar erfunden, was uns einen ziemlichen Schock versetzte.«

Das Videobild flackerte.

»Und siehe da, er war nicht flach.« Milliarden Tonnen Wasser verschwanden. Das Publikum genoss jetzt einen ungehinderten Blick auf den Meeresboden, der mit seinen Gräben, Verwerfungen und unterseeischen Gebirgen faltig und verwarzt aussah.

»Unter Einsatz immenser Kosten hat Helios die Zwiebel nun noch weiter abgeschält. Wir haben ein Mosaik überlappender Bilder aus Luftaufnahmen und seismischen Informationen zusammengefügt. Wir haben jede noch so kleine Information gesammelt, von Erdbebenstationen, von Sonar schlitten, die hinter Schiffen hergezogen wurden, von den Seismographen der Erdölbohrer und von Erdtomographien, die über einen Zeitraum von 95 Jahren aufgezeichnet wurden. Anschließend haben wir die Angaben mit Satellitendaten der Erhebungen auf dem Meeresboden kombiniert, sowie der Schwerkraftfelder, des Erdmagnetismus und der atmosphärischen Gase. Diese Methoden sind allesamt seit geraumer Zeit in Gebrauch, wurden aber noch nie zuvor auf diese Weise miteinander verbunden. Hier nun sehen Sie das Ergebnis, eine Folge entblätterter Ansichten der Pazifikregion, Schicht für Schicht.«

»Jetzt rückt er ja langsam raus damit«, grunzte einer der Wissenschaftler. Auch Ali spürte es. Etwas Unerhörtes kam auf sie zu.

»Sie alle haben schon einmal topographische Aufnahmen des Meeresbodens gesehen«, fuhr der Kartograf fort. »Aber dabei handelte es sich bestenfalls um einen Maßstab von 1:29 Millionen. Unsere Abteilung hat jetzt für Level II einen Maßstab entwickelt, der Sie fast auf dem Meeresboden spazieren gehen lässt: 1:16.«

Er drückte auf die Maus, die er in der Hand hielt, und die Aufnähme vergrößerte sich. Ali kam sich vor wie die schrumpfende Alice im Wunderland. Ein farbiger Punkt mitten im Pazifik raste auf sie zu und wurde zu einem gewaltigen Vulkan.

»Das hier ist der Isakov Seamount, eine unterseeische Erhebung östlich von Japan. Tiefe: 1698 Faden.«

Der Kartograf bewegte seine Maus. Ali wurde zwischen den Wänden einer Schlucht hin und her geworfen. »Vor uns liegt das Challenger-Becken, ein Teil des Marianengrabens.«

Plötzlich tauchten sie von der Ebene in eine senkrechte Spalte hinab. Sie fielen. »5971 Faden«, sagte er. »Das sind 10,8 Kilometer. Der tiefste bekannte Punkt der Erde. Bis jetzt. Wir werden beträchtlich tiefer gehen. Bis vor wenigen Jahren nahm man an, dass das Innere des Ozeangesteins nicht porös und viel zu warm und zu viel Druck ausgesetzt sei, als dass sich darin Lebewesen aufhalten könnten. Inzwischen wissen wir es besser. Die Tiefen unter dem Pazifik bestehen aus Basalt, der alle paar Hunderttausend Jahre von gewaltigen Dampfwolken aus einer Lake aus Schwefelsäure heimgesucht wird, die ihren Weg aus den tieferen Schichten herauffindet. Diese Säurelake frisst sich durch den Basalt. Wir sind davon überzeugt, dass es im Massiv unter dem Pazifik an die 9,5 Millionen Kilometer natürlicher Höhlenwege gibt, in einer durchschnittlichen Tiefe von 5100 Faden, also 30 600 Fuß oder gut 10 Kilometern unterhalb des Wasserspiegels.«

»Neun Millionen Kilometer?«, sagte jemand.

»Genau«, bestätigte der Kartograf. »Natürlich ist nur wenig davon für menschliche Wesen passierbar. Aber was für uns zugänglich ist, ist mehr als genug. Genauer gesagt sind diese Wege schon seit Tausenden von Jahren in Gebrauch.«

Hadal, dachte Ali und hörte das Schweigen um sich herum.

Der Bildschirm wurde grau, zeigte sich von Schnörkeln und Löchern durchzogen. Der Gesamteindruck war der von Würmern, die sich durch einen Lehmklumpen bohrten, wieder auftauchten und sich gleich nebenan wieder ein neues Loch fraßen.

»Von Level 15 an, in ungefähr 6 Kilometern Tiefe, erlauben die Dichte des Felsgesteins und unser begrenzter Technologiestandard einen Maßstab von 1:120 000. Trotzdem ist es uns gelungen, mehr als 18 000 bedeutende unterirdische Gänge auszumachen.

Sie scheinen in Sackgassen oder auf sich selbst zurückzuführen und nirgendwo hinzuführen. Bis auf einen. Wir glauben, dass dieser eine Tunnel erst vor relativ kurzer Zeit von einer Säurewolke ausgebildet wurde, vor weniger als einhunderttausend Jahren, was in geologischen Verhältnissen nur einigen Augenblicken entspricht. Wie es aussieht, kam diese Wolke aus den Regionen unterhalb des Mananengrabens emporgequollen und bohrte sich dann in östlicher Richtung in den immer jüngeren Basalt hinein. Dieser Tunnel verläuft von Punkt A - an dem wir uns heute Morgen befinden - bis hinüber zu Punkt B.« Er spazierte vor dem Bildschirm von Osten nach Westen und zog seinen Stift quer über den gesamten pazifischen Raum. »Punkt B liegt ein Stück diesseits des Marianen-Grabens. Dort taucht der Tunnel tiefer hinab, bis unter den Graben. Wo er von dort aus hinführt, wissen wir nicht genau. Eine Vielzahl von Gängen zieht sich unter dem Asiatischen Plattensystem hin und verschafft uns so Zugang zu den Kellergeschossen Australiens, des Indonesischen Archipels, Chinas und so weiter. Zugänge zur Oberfläche gibt es dort überall, wo Sie nur wollen. Unserer Meinung nach stehen sie in Verbindung zum subpazifischen Netzwerk und unserem Punkt B, aber unsere Überprüfungen sind noch nicht abgeschlossen. Momentan stellt diese Geschichte noch einen blinden kartografischen Fleck dar, so wie einst die Quellen des Nils. Aber nicht mehr lange. In weniger als einem Jahr werden Sie mir berichten, wohin er führt.«

Ali und die anderen brauchten ein paar Sekunden, um ihm zu folgen.

»Sie wollen uns dort hinausschicken?«, keuchte jemand.

Ali war perplex. Erst nach und nach erfasste sie die Monstrosität dieses Unternehmens. Ringsum hörte sie Leute schwer atmen. Was hatte das zu bedeuten, fragte sie sich, eine derart riskante Unternehmung? Man wollte sie unter dem Pazifik durch bis nach Asien schicken?

Warum? Natürlich war das alles eine strategische Kriegslist, ein geopoliti scher Schachzug. Er erinnerte sie weniger an Lewis und Clarks Durchquerung des neuen Kontinents Amerika als an die großen Entdeckungsfahrten, die einst von Spanien, England und Portugal ausgingen.

Mit einem Mal sah sie klar. Ihre Reise war als Proklamation gedacht. Jeden Quadratzentimeter, den diese Expedition betrat, würde Helios als seinen Einflussbereich beanspruchen. Und der Kartograf hatte ihnen soeben offenbart, wohin die Reise ging, nämlich unter dem Äquator hindurch von Südamerika bis hinüber nach China.

Wie in einem Geistesblitz sah Ali den ganzen Plan vor sich aufleuchten. Helios, und damit Cooper, der gescheiterte Präsidentschaftskandidat, beabsichtigte, Ansprüche auf das gesamte Gebiet unterhalb des Pazifischen Ozeans geltend zu machen. Cooper wollte sich eine eigene Nation schaffen. Aber ein Staat von der Größe des Pazifischen Ozeans? Sie musste diese Information unbedingt an January weitergeben.

Ali saß in der Dunkelheit und starrte auf den Bildschirm. Ein solcher Staat wäre größer als alle anderen Staaten der Welt zusammen! Helios würde beinahe der halbe Globus gehören.

Das schiere Ausmaß des Entwurfs ließ sie vor Staunen erstarren. Was für eine imperialistische Vision! Ein ganz und gar psychotischer Gedanke! Und sie und diese Wissenschaftler sollten die Agenten dieser Landnahme werden.

Ihre Nachbarn waren in eigene Gedanken versunken. Die meisten überdachten wohl bereits die Risiken, richteten ihre Forschungsziele neu aus, gewöhnten sich an die Ungeheuerlichkeit der Herausforderung und rechneten sich aus, was für sie bei der Sache heraussprang.

»Shoat!«, brüllte ein Mann.

Shoats Gesicht tauchte entgegenkommend im Licht des Podiums auf.

»Davon hat uns niemand etwas gesagt!«, stieß der Mann wütend hervor.

»Sie haben für ein volles Jahr unterzeichnet«, wies ihn Shoat zurecht.

»Erwarten Sie tatsächlich, dass wir den Pazifischen Ozean unterqueren? Zwei bis vier Kilometer unter dem Meeresboden? Durch unerforschtes Gebiet? Durch Hadal-Territorium?«

»Ich werde Sie auf Schritt und Tritt begleiten«, sagte Shoat.

»Aber niemand wagt sich weiter nach Westen als bis zur Nazca-Platte.«

»Das ist richtig. Wir werden die Ersten sein.«

»Sie sprechen davon, ein ganzes Jahr unterwegs zu sein.«

»Genau aus diesem Grunde haben wir Ihnen in den vergangenen sechs Monaten ein sportliches Aufbauprogramm zugesandt. Die ganzen Kletterwände, Trimmgeräte und Gymnastikübungen waren nicht zu Ihrer kosmetischen Verschönerung gedacht.«

»Sie haben doch keinerlei Vorstellung davon, was uns dort draußen erwartet!«

»Das stimmt nicht ganz«, widersprach ihm Shoat. »Das eine oder andere wissen wir schon. Vor zwei Jahren hat ein militärischer Aufklärungstrupp einen Teil des Weges sondiert. Er ist hauptsächlich auf die Überreste einer prähistorischen Passage gestoßen, auf ein Netzwerk von Tunneln und Kammern, die alle wohlmarkiert und ausgebaut waren und über einen Zeitraum von mehreren tausend Jahren ihren Zweck erfüllt haben. Wir glauben, dass es sich um eine Art Seidenstraße unterhalb des Pazifischen Beckens gehandelt hat.«

»Wie weit sind die Soldaten vorgedrungen?«

»Gut vierzig Kilometer«, antwortete Shoat. »Dann machten sie kehrt und kamen wieder zurück. Sie waren nicht ausreichend ausgerüstet. Wir schon.«

»Was ist mit den Hadal?«

»Seit über zwei Jahren ist keiner mehr gesichtet worden«, sagte Shoat. »Trotzdem hat Helios zu Ihrer Sicherheit eine Schutztruppe verpflichtet. Sie wird uns den ganzen Weg begleiten.«

Ein gesetzter Herr erhob sich. Er hatte Isaac Asimov-Koteletten und eine schwarze Hornbrille. Das »Hi« auf seinem Namensanhänger hatte er durchgestrichen. Ali kannte sein Gesicht von den Umschlägen zahlreicher Bücher: Donald Spurner, der berühmte Primatologe. »Wie steht’s mit den menschlichen Grenzen? Die von Ihnen vorgegebene Route bemisst sich auf ungefähr achttausend Kilometer.«

»Unter Berücksichtigung aller Kurven und Umwege sowie der Zugewinne und Verluste durch die Höhenunterschiede beläuft sich eine genauere Schätzung sogar eher auf zwölf tausend Kilometer«, dozierte Shoat.

»Zwölftausend Kilometer?«, schnaubte Spurner. »In nur einem Jahr? Zu Fuß?«

»Unsere Zugfahrt hierher hat uns bereits locker zweitausend Kilometer davon erspart.«

»Blieben immer noch zehntausend Kilometer. Sollen wir denn ein ganzes Jahr lang dauerlaufen?«

»Mutter Natur kommt uns da ein wenig zu Hilfe«, sagte der Kartograf.

»Wir haben dort unten beträchtliche Bewegung festgestellt«, mischte sich Shoat ein. »Wir glauben, dass es sich um einen Fluss handelt.«

»Einen Fluss?«

»Der von Osten nach Westen verläuft. Über Tausende von Kilometern.«

»Ein theoretischer Fluss. Sie haben ihn noch nicht gesehen.«

»Wir werden die Ersten sein. Wir werden entspannt darauf entlangschippern.«

Allgemeine Verwirrung.

»Was ist mit unserer Versorgung? Wir können unmöglich Verpflegung für ein ganzes Jahr mitschleppen!«

»Wir fangen mit Trägern an. Danach werden wir alle vier bis sechs Wochen durch ein Bohrloch versorgt werden. Man wird von oben direkt durch den Meeresboden bohren, unsere Route anzapfen und Nahrung sowie Ausrüstungsgegenstände hinunterschaffen. An diesen Punkten haben wir übrigens Gelegenheit, Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen. Sie können also mit Ihren Familien sprechen und es wird sogar möglich sein, Kranke oder Verletzte zu evakuieren.«

Das alles hörte sich beinahe vernünftig an.

»Es ist das größte Abenteuer der Menschheit«, sagte Shoat voll falschem Pathos.

»Sie werden bis zum Ende Ihres Lebens Artikel und Bücher darüber schreiben können. Diese Reise verschafft Ihnen Geltung, garantiert Ihnen Preise und wissenschaftliche Anerkennung. Ihre Kinder und Enkel werden Sie immer wieder bitten, die Geschichte des Abenteuers zu erzählen, vor dem Sie heute stehen!«

»Eine gewaltige Entscheidung«, sagte ein Mann. »Das muss ich mit meiner Frau besprechen.« Allgemeines zustimmendes Gemurmel.

»Leider ist unsere Verbindung nach oben gekappt.« Ali wusste, dass das eine schamlose Lüge war. »Selbstverständlich können Sie Post aufgeben. Der nächste Zug nach Nazca City geht in zwei Monaten.« Helios spielte mit harten Bandagen: Absolute Nachrichtensperre. Shoat ließ seinen Blick mit reptilienartiger Gelassenheit über sie wandern. »Ich erwarte nicht, dass jeder, der heute Abend hier ist, auch morgen früh noch dabei sein wird. Es steht Ihnen selbstverständlich frei, nach Hause zurückzukehren.« In zwei Monaten. Mit dem Zug. Damit besaß die Expedition einen gewaltigen Vorsprung vor sämtlichen Informationen, die zu den Medien durchsickern konnten. Shoat blickte auf seine Armbanduhr.

»Es ist spät geworden«, sagte er. »Die Expedition bricht um sechs Uhr auf. Damit bleiben Ihnen nur wenige Stunden, um über Ihre Entscheidung nachzudenken. Aber das wird genügen. Ich glaube fest daran, dass jeder von uns, wenn er diese Welt betritt, seine Entscheidungen bereits getroffen hat.«

Das Licht ging wieder an. Ali blinzelte. Überall stützten sich die Leute auf Stuhllehnen, rieben sich die Hände, stellten Berechnungen an. Gesichter leuchteten vor Aufregung. Alis Gedanken überschlugen sich, sie sah sich nach Ike um, wollte den Vorschlag anhand seiner Reaktion beurteilen. Doch er hatte den Raum verlassen, als es noch dunkel war.



Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen,

daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird.

Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,

blickt der Abgrund auch in dich hinein.


FRIEDRICH NIETZSCHE, Jenseits von Gut und Böse.

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